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DAVID BALDACCI

NO MAN’S LAND

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Norbert Jakober

Zum Buch

Vor dreißig Jahren verschwand John Pullers Mutter Jackie spurlos. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Doch nun tritt plötzlich eine frühere Freundin der Familie mit einer ungeheuerlichen Behauptung auf: Puller senior hätte damals seine eigene Frau ermordet. Tatsächlich zeigt sich, dass der Beschuldigte in der fraglichen Nacht nicht im Militäreinsatz war, wie stets behauptet, sondern heimlich nach Fort Monroe zurückkam. Puller senior selbst kann nichts zu seiner Verteidigung vorbringen, weil er schon seit längerer Zeit schwer dement ist. Also liegt es an Spezialagent John Puller junior, den Fall gemeinsam mit seinem Bruder Bobby aufzuklären.

Was er nicht weiß: Auf der anderen Seite der USA ist gerade ein Schwerverbrecher aus dem Gefängnis ausgebrochen. Auch ihn zieht es nach Fort Monroe – um finstere Rache zu nehmen für etwas, was ihm vor dreißig Jahren angetan wurde …

Zum Autor

David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Mit über 130 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den weltweit beliebtesten Autoren. In seiner Bestseller-Serie um Spezialermittler John Puller sind bereits erschienen: Zero Day, Am Limit und Escape.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel No Man’s Land bei Grand Central Publishing/Hachette Book Group Inc., New York

Copyright © 2016 by Columbus Rose, Ltd.

Copyright © 2018 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung

mehrerer Fotos von Shutterstock (ostill, Smileus, Jerry Voss)

Redaktion: Wolfgang Neuhaus

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-22086-0
V002

www.heyne-verlag.de

Zur Erinnerung an Lynette Collin,

die uns allen ein Engel war

1

Paul Rogers wartete darauf, dass sie kamen, um ihn zu töten.

Seit zehn Jahren schon, seit er im Gefängnis saß, hatte er damit gerechnet.

Nun musste er noch vierundzwanzig Stunden überstehen.

Dann konnte er leben.

Rogers war eins fünfundachtzig groß und gut achtzig Kilo schwer. Kaum etwas davon war Fett. Wer seinen gestählten Körper sah, hätte kaum glauben können, dass er bereits über fünfzig war. Vom Hals abwärts sah er aus wie das Modell eines Athleten. Jeder Muskel war hart und perfekt ausgebildet.

In seinem Gesicht jedoch hatten die Jahre so deutliche Spuren hinterlassen, dass er viel älter wirkte. Seine Züge waren hart und kantig, die Haut rau und wettergegerbt, obwohl er in den zehn Jahren hinter Gittern keinen Sonnenstrahl gesehen hatte. Sein Haar war noch dicht, aber nahezu völlig ergraut. Um Augen und Mund hatten sich zahllose Falten eingegraben, und die breite Stirn war von tiefen Furchen durchzogen.

Sein zerzauster Bart zeigte das gleiche Grau wie sein Kopfhaar. Im Gefängnis waren Bärte eigentlich verboten, aber niemand hier hatte den Mumm, von Paul Rogers eine Rasur zu verlangen.

Das Markanteste an seinem Aussehen waren die Augen unter den buschigen Brauen. Sie waren von einem blassen, wässrigen Blau und wirkten leblos, kalt und leer.

Rogers setzte sich auf, als er sie kommen hörte. Zwei Paar Schuhe im Gleichschritt.

Er hatte noch vierundzwanzig Stunden vor sich. Kein gutes Zeichen.

Die Tür schwang auf, und zwei Wärter standen vor ihm.

»Okay, Rogers«, sagte der Ältere der beiden. »Gehen wir.«

Rogers stand auf, schaute die Männer verwirrt an.

»Ich weiß, eigentlich wäre es erst morgen so weit«, fuhr der Wärter fort, »aber vom Gericht wurde offenbar ein falsches Datum eingetragen. Deinem Antrag auf Bewährung ist stattgegeben. Du bist ein freier Mann.«

Wie benommen trat Rogers vor und hielt den Wärtern die Unterarme hin, damit sie ihm Handschellen anlegen konnten.

Der Ältere schüttelte den Kopf. »Keine Ketten mehr.« Dennoch entging Rogers nicht, dass der Mann den Griff seines Schlagstocks etwas fester umfasste und eine Ader in seiner Schläfe pulsierte.

Die Wärter führten ihn über einen langen Gang, an dem sich zu beiden Seiten verschlossene Zellentüren reihten. Die Häftlinge dahinter unterhielten sich, doch als Rogers in Sicht kam, verstummten sie und beobachteten schweigend, wie er vorüberging, ehe sie wieder zu flüstern begannen.

Rogers betrat einen kleinen Raum, wo er frische Kleidung bekam, blank geputzte Schuhe, seinen Ring, seine Uhr und dreihundert Dollar in bar. Dreißig Mäuse für jedes Jahr hinter Gittern, so sah es die großzügige Regelung in diesem Bundesstaat vor.

Zum Schluss bekam er das vielleicht Wichtigste, eine Busfahrkarte, mit der er in die nächste Stadt gelangen konnte.

Rogers schlüpfte aus dem Gefängnisoverall, zog frische Unterwäsche und die neuen Sachen an. Den Gürtel musste er straff um seine schmale Taille schnallen, damit die Hose nicht rutschte, doch die Jacke saß eng um seine breiten Schultern. Die neuen Schuhe waren eine Nummer zu klein und drückten an den Zehen. Er schnallte sich die Uhr um das Handgelenk, stellte sie nach der Uhr an der Wand, steckte die dreihundert Dollar in die Jackentasche und zwängte den Ring auf seinen kräftigen Finger.

Die Wärter führten ihn zum Haupttor. Dort bekam er eine Mappe mit den Bewährungsauflagen, in denen detailliert aufgelistet war, was er zu tun und zu lassen hatte. Zu seinen Pflichten gehörten regelmäßige Treffen mit seinem Bewährungshelfer; außerdem gab es strenge Vorgaben hinsichtlich seiner sozialen Kontakte für die Dauer der Bewährung. Hinzu kam, dass er die Gegend nicht verlassen durfte und Personen mit Vorstrafen meiden musste. Zu guter Letzt durfte er sich nicht mit Drogen erwischen lassen und keine Waffe besitzen oder tragen.

Endlich schwang das mit Hydraulik betriebene Metalltor auf und gab Rogers zum ersten Mal seit zehn Jahren den Blick frei auf die Welt außerhalb der Gefängnismauern.

Er trat hinaus.

»Viel Glück«, sagte der ältere Wärter. »Ich will dich hier nie mehr sehen.«

Das massive Tor schloss sich hinter Rogers.

Der ältere Wärter schüttelte den Kopf. »Wenn ich wetten müsste«, sagte er zu seinem jungen Kollegen, »ich würde drauf setzen, dass wir den bald wiedersehen.«

»Warum?«

»Paul Rogers hat in den zehn Jahren, die er hier war, vielleicht fünf Worte gesprochen. Aber der Blick, den er manchmal hatte …« Der Wärter schauderte. »Wir haben ein paar schlimme Psychos hier, aber keiner von denen war mir so unheimlich wie Rogers. Diese Augen – als wäre nichts dahinter. Nichts. Er hat zweimal Bewährung beantragt, aber nicht bekommen, weil er der Bewährungskommission so eine Scheißangst eingejagt hat mit seinem Blick. Na ja, beim dritten Versuch kam er offenbar freundlicher rüber.«

»Was hat er eigentlich verbrochen?«

»Er hat jemanden umgebracht.«

»Und nur zehn Jahre bekommen?«

»Mildernde Umstände, nehme ich an.«

»Hat hier mal jemand versucht, ihn zu schikanieren?«, fragte der junge Wärter.

»Rogers schikanieren? Hast du je gesehen, wie besessen er trainiert? Er ist älter als ich, aber er könnte die schwersten Jungs hier zu Brei schlagen. Ich glaube, er hat nachts gerade mal eine Stunde geschlafen. Bei meinen Runden hab ich ihn dann morgens um zwei in seiner Zelle hocken sehen, wie er vor sich hin starrte oder Selbstgespräche führte und sich dabei den Schädel rieb. Unheimlich, sag ich dir. Trotzdem wollten ihm zwei der brutalsten Hurensöhne zeigen, wer im Knast das Sagen hat, als er herkam.«

»Und?«

»Einer ist seither gelähmt, der andere sitzt im Rollstuhl und sabbert sich an, weil ihm Rogers einen bleibenden Hirnschaden verpasst hat. Mit einem Schlag hat er ihm den Schädel gebrochen. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.«

»Wie ist er denn an die Waffe gekommen?«

»Waffe? Er hat das mit bloßen Händen getan.«

»Heilige Scheiße!«

Der ältere Wärter nickte nachdenklich. »Damit hat er sich einen bleibenden Ruf verschafft. Nie wieder ist ihm jemand in die Quere gekommen. Vor einem solchen Typen haben sie hier Respekt. Hast ja erlebt, wie mucksmäuschenstill die anderen wurden, als er an ihren Zellen vorbeikam. Alle hatten Schiss vor ihm, ohne dass er einen Finger krumm machen musste. Aber er war wirklich ein Typ, wie ich ihn hier drin noch nie gesehen habe.«

»Wie meinst du das?«

»Als er zu uns kam, haben wir ihn gründlich gefilzt – einschließlich aller Körperöffnungen.«

»Und?«

»Er hat Narben.«

»Viele Knackis haben Narben.«

»Nicht so welche. Er hat riesige Narben an beiden Armen und Beinen, am Kopf, am ganzen Oberkörper, sogar an den Fingern. Unheimlich, sag ich dir. Wir konnten nicht mal seine Fingerabdrücke nehmen, weil er keine hat. So was hab ich noch nie gesehen. Und ich hoffe, das bleibt mir in Zukunft erspart.«

»Wie ist er zu den Narben gekommen?«

»Keine Ahnung. Wie ich schon sagte, er hat in den zehn Jahren hier keine fünf Worte gesprochen. Wir konnten ihn ja nicht zwingen, uns zu erzählen, woher er die Narben hat. Vielleicht gehörte er einem perversen Kult oder so an, oder man hat ihn gefoltert … obwohl, dazu hätte es in seinem Fall ein ganzes Bataillon gebraucht. Im Grunde will ich’s gar nicht wissen. Rogers ist ein Freak. Und ich bin froh, dass wir ihn los sind.«

»Aber es wundert mich schon, dass man ihn überhaupt rauslässt.«

»Mich auch«, murmelte der Ältere. »Gnade Gott den armen Schweinen, die diesem Hundesohn in die Quere kommen.«

2

Rogers nahm einen tiefen Atemzug. Als er ausatmete, bildeten sich kleine weiße Wölkchen in der kalten Luft, die sich rasch verflüchtigten.

Ein paar Sekunden stand er einfach nur da, um sich zu orientieren. In gewisser Weise war es so, als würde er neu geboren und aus dem Mutterschoß in eine Welt eintreten, von der er Augenblicke zuvor noch gar nicht gewusst hatte, dass sie existierte.

Sein Blick schweifte von links nach rechts, dann hinauf zum Himmel. Gut möglich, dass sie Hubschrauber schickten, um ihn zu töten.

Aber da war kein Hubschrauber.

Da war niemand, der ihn abschießen wollte.

Vielleicht lag es daran, dass so viel Zeit verstrichen war. Drei Jahrzehnte. Die Leute starben, Erinnerungen verblassten.

Oder hielten sie ihn für tot?

Das wäre ein Fehler, ihr Scheißer.

Rogers dachte an den Irrtum beim Entlassungsdatum.

Falls sie kamen, dann wahrscheinlich erst morgen.

Zum Glück gab es auch an den Gerichten Schlamperei.

Rogers folgte den Hinweisen in seinen Entlassungspapieren und ging zu der Bushaltestelle, die aus vier rostigen Stangen, einem Dach und einer Holzbank bestand, die abgesessen war von all denen, die in den vergangenen Jahrzehnten darauf gewartet hatten, von hier wegzukommen.

Während Rogers auf den Bus wartete, zog er die Bewährungsunterlagen aus der Jackentasche und warf sie in den Mülleimer. Er hatte nicht vor, die Bewährungsberatung in Anspruch zu nehmen. Für ihn gab es Wichtigeres zu tun, weit weg von hier.

Rogers berührte eine Stelle links an seinem Hinterkopf und fuhr mit dem Finger vom Hinterhauptbein über die Lambdanaht nach oben. Dann weiter über das Scheitelbein bis hinauf zur Scheitelnaht. Diese Teile des Schädels schützten wichtige Bereiche des Gehirns.

Früher hatte Rogers das, was man ihm hier eingepflanzt hatte, als tickende Zeitbombe empfunden.

Heute war es für ihn etwas, das zu ihm gehörte, sein Ich.

Er ließ die Hand sinken und beobachtete, wie der Bus am Straßenrand hielt. Zischend öffneten sich die Türen. Er stieg ein, zeigte dem Fahrer sein Ticket und ging nach hinten.

Ein Schwall von Gerüchen schlug ihm entgegen: gebratenes Essen, Schweiß, billiges Parfum. Die Leute im Bus starrten ihn an, als er an ihnen vorbeiging. Die Finger der Frauen schlossen sich fester um ihre Handtaschen. Die Männer musterten ihn teils furchtsam, teils abweisend, die geballten Fäuste zum Zuschlagen bereit. Die Kinder starrten ihn mit großen Augen an.

So wirkte er nun einmal auf die Leute, das war ihm klar.

Rogers setzte sich auf einen Platz ganz hinten, wo der Gestank aus der Toilette unerträglich war – außer für jemanden, der noch Schlimmeres gerochen hatte. Rogers hatte sehr viel Schlimmeres gerochen und erlebt.

Schräg gegenüber saßen ein Mann Mitte zwanzig und eine Frau im gleichen Alter. Die Frau saß auf dem Gangsitz. Ihr Freund war ein Hüne, eins fünfundneunzig groß, muskelbepackt. Die beiden hatten Rogers als Einzige nicht angestarrt, als er nach hinten gegangen war, weil sie zu beschäftigt gewesen waren, den Mund des anderen mit der Zunge zu erkunden.

Als der Bus losfuhr, lösten sie sich voneinander, und der Riese starrte feindselig zu Rogers herüber. Rogers erwiderte seinen Blick, bis der Mann zur Seite sah. Auch die junge Frau wurde nun auf ihn aufmerksam. Sie lächelte ihn an.

»Sind Sie gerade rausgekommen?«, fragte sie.

Rogers schaute auf seine Kleidung hinunter. Wahrscheinlich waren es die Standardklamotten für entlassene Häftlinge. Vielleicht bestellten sie die Sachen in großen Mengen, einschließlich der Schuhe, die immer eine Nummer zu klein waren, damit die Ex-Knackis niemandem davonlaufen konnten. Vielleicht war sogar die Busstation bei den Leuten in der Gegend als Knasthaltestelle bekannt. Das würde die Blicke erklären, die sie ihm beim Einsteigen zugeworfen hatten.

Rogers wäre nie auf die Idee gekommen, das Lächeln der jungen Frau zu erwidern, also nickte er nur als Antwort auf ihre Frage.

»Wie lange waren Sie drin?«

Er hielt alle zehn Finger hoch.

Sie schaute ihn mitfühlend an. »Eine lange Zeit.« Sie schlug die Beine übereinander, sodass ein nacktes, schlankes Bein in den Mittelgang ragte und Rogers ihre makellose helle Haut bewundern konnte.

Bis zur nächstgelegenen Stadt war der Bus fast eine Stunde unterwegs. Die ganze Zeit baumelte der hochhackige Schuh verführerisch am nackten Fuß der Frau.

Rogers wandte den Blick nicht eine Sekunde davon ab.

Als sie in den Busbahnhof einfuhren, war es dunkel. Fast alle Fahrgäste stiegen aus. Auch Rogers, der den Bus als Letzter verließ.

Als er auf dem Asphalt stand, sah er sich um. Mehrere Fahrgäste wurden von Freunden oder Verwandten begrüßt. Andere holten ihre Sachen aus dem Gepäckraum hinten im Bus. Rogers stand nur da und ließ den Blick schweifen, wie zuvor schon, draußen vor dem Gefängnis. Er hatte keine Freunde oder Verwandten, die ihn hätten empfangen können, und kein Gepäck.

Doch er wartete darauf, dass etwas geschah.

Der junge Riese, der ihn so düster angestarrt hatte, holte sein Gepäck und das seiner Freundin. Währenddessen kam die junge Frau auf Rogers zu.

»Sie sehen aus, als könnten Sie ein bisschen Spaß vertragen.«

Er schwieg.

Sie blickte zu ihrem Freund. »Ich verbringe den Abend heute nicht mit ihm«, raunte sie Rogers zu. »Wie wär’s, wenn wir uns ein paar schöne Stunden machen, nur wir zwei? Ich kenne da was Nettes, wo wir hingehen können.«

Rogers schwieg.

Als ihr Freund mit einem Seesack und einem kleinen Koffer zurückkam, nahm die Frau ihn am Arm und ging mit ihm davon, drehte sich aber noch einmal zu Rogers um und zwinkerte ihm zu.

Rogers’ Blick folgte dem jungen Paar, das die Straße hinunterging, bis es abbog und aus seinem Blickfeld verschwand.

Nun setzte er sich in Bewegung und ging in dieselbe Gasse. Die beiden waren ihm bereits ein gutes Stück voraus.

Rogers griff sich an den Kopf, fuhr mit dem Finger über dieselben Stellen wie zuvor, als folgte er dem Lauf eines gewundenen Flusses.

Das junge Paar war gerade noch in Sichtweite. Dann bogen sie ab und verschwanden erneut aus seinem Blickfeld.

Rogers beschleunigte seine Schritte und folgte ihnen um die Ecke.

Der Schlagstock traf ihn mit voller Wucht am Arm. Krachend barst das Holz. Die obere Hälfte des Stocks wirbelte durch die Luft und prallte gegen die Mauer.

»Scheiße!«, rief der Hüne, der zugeschlagen hatte. Der Seesack lag offen auf dem Boden. Die junge Frau stand zwei Meter hinter ihrem Freund. Sie hatte sich geduckt, als der Schlagstock zerbrochen und in ihre Richtung gewirbelt war. Dabei war ihr die Handtasche entglitten.

Der Riese ließ den Rest des Schlagstocks fallen, zückte ein Schnappmesser und ließ die Klinge herausschnellen.

»Ich will die dreihundert Mäuse, Mr. Ex-Knacki. Und den Ring. Die Uhr auch. Los, her damit, sonst endest du mit dem Messer im Bauch.«

Dreihundert? Offenbar wussten die beiden, was zehn Jahre im Gefängnis wert waren.

Rogers drehte den Hals nach rechts, spürte das leise Knacken. Er schaute sich um. In den hohen Ziegelwänden auf beiden Seiten der Gasse gab es keine Fenster, also gab es auch keine Zeugen. Und die Gasse war dunkel, weit und breit niemand zu sehen.

»Hast du verstanden?«, blaffte der junge Mann und baute sich drohend vor Rogers auf.

Der nickte.

»Dann rück die Kohle und die anderen Sachen raus! Bist du doof oder was?«

Rogers schüttelte den Kopf. Er war keineswegs doof. Und er würde nichts herausrücken.

»Wie du willst.« Mit einem Satz sprang der Mann nach vorn und stieß zu.

Rogers wehrte den Angriff ab, doch die Klinge schnitt tief in seinen Arm. Nur ließ er sich davon nicht aufhalten, denn er spürte nichts. Während das Blut seinen Ärmel durchtränkte, packte er die Hand mit dem Messer und drückte zu.

Der Hüne ließ das Messer fallen. »Scheiße, Scheiße!«, kreischte er. »Lass los, verdammt, lass los!«

Rogers ließ nicht los. Der Mann sank auf die Knie und versuchte vergeblich, die Finger des Gegners von seiner Hand zu lösen.

Entgeistert verfolgte die junge Frau die Szene.

Mit der freien Hand griff Rogers langsam nach unten, hob den abgebrochenen Griff des Schlagstocks auf.

Der Hüne blickte zu ihm hoch. »Bitte nicht, Mann.«

Rogers schwang den Stock mit solcher Wucht, dass sich Knochenstücke, vermischt mit grauer Hirnhaut, aus dem zertrümmerten Schädel lösten.

Er ließ die Hand des Toten los. Der schlaffe Körper kippte seitwärts auf den Asphalt.

Die Frau wich schreiend zurück. Sie blickte zu ihrer Handtasche, wagte aber nicht, danach zu greifen.

»Hilfe!«, schrie sie. »Hilfe!«

Rogers ließ den Schlagstock fallen und schaute sie an.

Zu dieser Stunde war das Viertel leer und verlassen, deshalb hatte das Pärchen diese Gasse für seinen Hinterhalt ausgesucht. Hier war niemand, der einem Menschen in Not helfen konnte. Die beiden hatten sich dadurch einen Vorteil ausgerechnet. Doch kaum hatte Rogers die Gasse gesehen, hatte er gewusst, dass es ein Vorteil für ihn war.

Dass sie ihm eine Falle stellen wollten, war ihm schon in dem Moment klar gewesen, als die Frau ihn im Bus angelächelt hatte. Schließlich war ihr toter Freund in ihrem Alter und gut aussehend. Rogers dagegen war weder das eine noch das andere. Das Einzige, was sie von ihm gewollt hatte, trug er in der Jackentasche, am Handgelenk und am Ringfinger.

Wahrscheinlich beraubten die beiden regelmäßig Männer, die aus dem Gefängnis entlassen wurden.

Diesmal waren sie an den Falschen geraten.

Die Frau wich zur Ziegelmauer zurück. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Bitte«, flehte sie, »bitte, tun Sie mir nichts. Ich sag keinem, was Sie getan haben. Ich schwör’s! Bitte!«

Rogers bückte sich und hob das Schnappmesser auf.

Sie begann zu schluchzen. »O Gott, nein. Bitte … ich … Er hat mich gezwungen. Er hat gesagt, wenn ich nicht mitmache, passiert mir was.«

Rogers trat auf sie zu und betrachtete ihr bebendes Gesicht. Es ließ ihn kalt, hatte keine Wirkung auf ihn – so wenig wie das Messer, das in seinen Arm geschnitten hatte.

Er spürte nichts, rein gar nichts.

Sie wollte, dass er Mitleid mit ihr hatte. Das wusste Rogers, und er verstand es. Doch es war ein Unterschied, ob man etwas verstand oder etwas empfand.

Ein himmelhoher Unterschied.

Rogers empfand nichts. Nicht für sie. Nicht für sich selbst.

Er rieb sich den Kopf, tastete über die eine Stelle, als könnten seine Finger durch Knochen und Hirnmasse greifen und herausreißen, was dort drinsteckte. Es brannte höllisch, wie jedes Mal in solchen Augenblicken.

Rogers war nicht immer so gewesen. Manchmal, wenn er lange und angestrengt nachdachte, konnte er sich verschwommen an einen anderen Menschen erinnern.

Er blickte auf das Messer, das lediglich eine stählerne Verlängerung seiner Hand war, und lockerte den Griff.

»Lassen Sie mich gehen?« Die Stimme der Frau war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich … ich mag Sie wirklich.«

Rogers trat einen Schritt zurück.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich verspreche Ihnen, ich werde es keinem sagen.«

Rogers machte noch einen Schritt zurück.

Du könntest einfach weggehen, sagte er sich.

Sie blickte über seine Schulter, riss plötzlich die Augen auf. »Ich glaube, er hat sich bewegt«, sagte sie atemlos. »Sind Sie sicher, dass er tot ist?«

Rogers drehte sich zu dem Mann am Boden um.

In diesem Moment nahm er die huschende Bewegung im Augenwinkel wahr. Die Frau hatte sich ihre Handtasche geschnappt und eine Waffe hervorgerissen. Rogers sah, wie die Mündung des Revolvers nach oben zuckte, um auf seine Brust zu zielen.

Blitzschnell schlug er zu und sprang zur Seite, um dem Blutschwall aus ihrer aufgeschlitzten Kehle auszuweichen.

Sie sackte nach vorne, schlug mit dem Gesicht zuerst auf dem Asphalt auf. Ihre Schönheit war für immer ruiniert – nicht, dass es noch von Bedeutung gewesen wäre. Der Revolver landete klappernd auf dem Boden.

Rogers nahm das Geld aus der Brieftasche des jungen Mannes und aus der Handtasche der Frau und steckte die Scheine ein, fein säuberlich gefaltet. Dann legte er den zerbrochenen Schlagstock in die Hand der jungen Frau und steckte den Revolver in ihre Handtasche. Das Schnappmesser drückte er in die Hand des toten Mannes.

Sollten die Cops sich den Kopf darüber zerbrechen, was hier passiert war.

Notdürftig verband er seinen Arm, um die Blutung zu stillen. Dann ließ er sich einen Moment Zeit, um das Geld zu zählen.

Sein Guthaben hatte sich soeben verdoppelt – was erfreulich war, denn er hatte eine lange und schwierige Reise vor sich.

Nach all den Jahren wurde es Zeit, dass er sich auf den Weg machte.

3

John Puller blickte auf seinen schlafenden Vater. Der alte Mann lag in seinem Bett, das in dem Zimmer stand, das sein ganzes Zuhause geworden war.

John fragte sich, für wie lange noch.

Puller senior hatte in den letzten Wochen eine Veränderung durchgemacht. Und das hatte nicht nur mit seinem sich verschlechternden Gesundheitszustand zu tun.

Robert, der ältere seiner beiden Söhne, der in einem Militärgefängnis in Leavenworth, Kansas, eingesessen hatte, war vom Vorwurf des Hochverrats freigesprochen worden. Nun hatte er seinen Dienst als Offizier der United States Air Force wieder angetreten. Das Wiedersehen zwischen Puller senior und Bobby hatte John Puller, dem jüngeren Sohn, Tränen der Rührung in die Augen getrieben.

Doch nach der Freude des alten Mannes über Bobbys Freilassung war eine spürbare Verschlechterung eingetreten, zumindest, was seinen geistigen Zustand betraf. Körperlich war der ehemalige Drei-Sterne-General in einer viel besseren Verfassung als die meisten Männer seines Alters. Doch der immer noch kräftige Körper war an einen zunehmend nachlassenden Verstand gebunden. Möglicherweise hatte der alte Mann nur durchgehalten, um noch mitzuerleben, wie sein Ältester rehabilitiert wurde. Vielleicht gab er jetzt, da dieses Ziel erreicht war, den Kampf auf. Vielleicht war sein Lebenswille erschöpft.

Während John Puller seinen Vater betrachtete, fragte er sich, was hinter den wie aus Granit gemeißelten Gesichtszügen zum Vorschein käme, würde der alte Mann erwachen. Sein Vater war der geborene Kommandant, der dafür gelebt hatte, Männer in die Schlacht zu führen. Genau das hatte er mehrere Jahrzehnte lang mit beträchtlichem Erfolg getan und dafür fast jede Auszeichnung und Beförderung erhalten, die die Armee vorsah. Doch kaum war Puller senior aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, war es, als hätte jemand einen Schalter in ihm ausgeknipst, und er war schnell zu dem geworden, was er heute war.

Die Ärzte sagten, es handle sich um eine Spielart der Demenz, die sich ständig verändere – leider nicht zum Besseren.

Für John Puller war es wie ein Prozess, den sein Vater unweigerlich verlieren würde.

Bobby war auf einem Auslandseinsatz und würde noch Monate fort sein. John war soeben von einer Ermittlung in Deutschland zurückgekehrt und zu seinem Vater gefahren, gleich nachdem das Flugzeug gelandet war.

Es war schon spät, aber er hatte seinen Erzeuger längere Zeit nicht gesehen. Und so saß er nun an dessen Bett und fragte sich, welche Version seines Vaters zum Vorschein kam, wenn der alte Mann erwachte.

Puller senior, der Befehle brüllende Kommandant?

Der Schweigsame?

Der Mann mit den leblosen Augen, die ins Leere starrten?

John zog die ersten beiden Varianten eindeutig der letzteren vor.

Es klopfte an der Tür. John erhob sich und öffnete.

Zwei Männer standen vor ihm. Einer trug die Uniform eines Colonels, der andere war in Zivil.

»Ja?«, fragte Puller.

»John Puller junior?«, erkundigte sich der Mann in Zivil.

»Der bin ich. Und Sie sind?«

»Ted Hull.« Der Mann zückte seinen Ausweis. »CID. Zwölfte MP in Fort Lee.«

»Und ich bin Colonel David Shorr«, stellte der Uniformierte sich vor.

Puller kannte ihn nicht. Aber es gab eine Menge Colonels in der Army.

Puller trat aus dem Zimmer und schloss die Tür. »Mein Vater schläft. Was kann ich für Sie tun? Geht es um einen Einsatz? Eigentlich habe ich zwei Tage Urlaub. Sie können gern mit Don White sprechen, meinem befehlshabenden Offizier.«

»Wir haben bereits mit ihm gesprochen«, erklärte Shorr. »Er hat uns gesagt, wo wir Sie finden.«

»Okay. Worum geht es?«

»Es geht eigentlich um Ihren Vater, Chief Puller. Aber es betrifft mit Sicherheit auch Sie.«

Da Puller Chief Warrant Officer bei der CID war, der Militärstrafverfolgungsbehörde der United States Army, wurde er zumeist mit »Chief« angesprochen. Im Gegensatz zu seinem Vater und seinem Bruder hatte er nicht die Militärakademie in West Point absolviert und stand deshalb nur im Rang eines Unteroffiziers.

»Ich verstehe nicht, Sir«, sagte er.

Mit seinen gut eins neunzig überragte Puller die beiden Männer, die ihm gegenüberstanden. Die Körpergröße hatte er vom Vater, seine ruhige Art von der Mutter. Sein Dad kannte nur zwei emotionale Zustände: laut und Alarmstufe DEFCON 1.

»Es gibt einen Besucherraum, den Gang hinunter«, schlug Shorr vor. »Dort können wir reden.«

Er ging voraus in den leeren Besucherraum, ließ die anderen eintreten und schloss die Tür. Sie setzten sich. Puller nahm den beiden Männern gegenüber Platz.

Shorr warf Hull einen Blick zu und nickte auffordernd, worauf Hull einen Umschlag hervorholte, mit dem er gegen seine Handfläche tippte.

»Dieser Brief ist in Fort Eustis eingetroffen«, begann der CID-Mann. »Dort wurde er an mein Büro weitergeleitet. Wir haben ihn gelesen und ein wenig nachgeforscht. Als wir erfuhren, dass Sie heute zurückkommen, sind wir gleich losgefahren, um mit Ihnen zu sprechen.«

»Ich bin an der JBLE stationiert«, fügte Colonel Shorr erklärend hinzu. »Deshalb habe ich damit zu tun.«

Puller nickte. Er wusste, dass die Joint Base Langley-Eustis, kurz JBLE, in der Tidewater-Region lag, die Norfolk, Hampton und Newport News, Virginia, umfasste. 2010 waren Fort Eustis in Newport News und die Langley Air Force Base im nahen Hampton zu einem neuen Stützpunkt zusammengefasst worden, der intern als JBLE bekannt war.

»Transport und Logistik«, merkte Puller an.

Shorr nickte. »Ganz recht.«

»Die Zwölfte MP hat ihr Hauptquartier in Fort Lee«, erklärte Hull. »Wir bilden zugleich das Büro der Militärstrafverfolgungsbehörde an der JBLE. Ich bin mal da, mal dort. Prince George County ist nicht allzu weit von Tidewater entfernt.«

Wieder nickte Puller. Das alles war ihm bekannt. »Was steht in dem Brief?«

Er fragte es mit einem flauen Gefühl im Magen, denn sein Vater hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Brief von seiner Schwester in Florida bekommen. Puller war daraufhin in den Sunshine State aufgebrochen und wäre beinahe nicht mehr lebend zurückgekehrt.

»Der Brief war an unser CID-Büro adressiert. Geschrieben hat ihn eine Lynda Demirjian.« In Hulls Erklärung schwang die Frage mit, ob Puller der Name dieser Frau etwas sagte. »Erinnern Sie sich an sie?«

»Ja. Aus Fort Monroe. Ich war noch ein kleiner Junge.«

»Richtig. Sie hat in Ihrer Nähe gewohnt, als Ihr Vater dort stationiert war – damals, bevor die gesamten Aktivitäten nach Fort Eustis verlegt wurden. Lynda war eine Freundin Ihrer Familie. Genauer gesagt, war sie mit Ihrer Mutter befreundet.«

Puller dachte an die Zeit vor dreißig Jahren und sah in seiner Erinnerung eine kleine, füllige Frau mit hübschem Gesicht vor sich, die gern gelächelt und die besten Kuchen gebacken hatte, an die Puller sich erinnern konnte.

»Warum schreibt sie an die CID

»Leider ist sie schwer krank. Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium.«

»Das tut mir aufrichtig leid.« Puller warf einen Blick auf den Brief.

»Sie hat diesen Brief an die CID geschrieben, weil sie nicht mehr lange zu leben hat. Sie möchte etwas loswerden, das sie schon lange beschäftigt.«

Puller wurde ungeduldig. »Und was hat das mit mir zu tun? Ich war damals ein Junge.«

»Ihr Bruder ebenfalls«, warf Shorr ein.

»Sie gehören nicht zur MP, Sir«, stellte Puller fest.

Shorr schüttelte den Kopf. »Aber man war offenbar der Meinung, es könnte nicht schaden, einen Offizier zu unserem … nun ja, Treffen zu schicken.«

»Warum das?«, fragte Puller.

»Mrs. Demirjians Ehemann Stan hat mit Ihrem Vater in Fort Monroe gedient. Natürlich ist er längst im Ruhestand. Erinnern Sie sich an ihn?«

»Ja. Er war mit meinem Vater in Vietnam. Sie haben sich lange gekannt. Aber können Sie mir jetzt endlich verraten, was in dem Brief steht?«

»Vielleicht lesen Sie ihn am besten selbst, Chief«, schlug Hull vor und reichte ihm den Brief. Er war drei Seiten lang und allem Anschein nach in einer Männerhandschrift verfasst.

»Mrs. Demirjian hat ihn nicht selbst geschrieben?«, fragte Puller.

»Nein, sie ist schon zu schwach. Sie hat den Brief ihrem Mann diktiert.«

Puller breitete die Blätter auf dem kleinen Tisch neben seinem Stuhl aus und begann zu lesen. Die beiden Männer beobachteten ihn aufmerksam.

Die Sätze waren lang und weitschweifig; Puller konnte sich vorstellen, wie die todkranke Frau sich bemüht hatte, ihre Gedanken zu sammeln. Dennoch waren sie eher ungeordnet. Wahrscheinlich stand sie unter der Wirkung starker Medikamente, als sie den Brief diktiert hatte. Puller fand die Entschlossenheit dieser Frau bewundernswert.

Nach ein paar einleitenden Worten kam Puller zum eigentlichen Inhalt des Briefes.

Seine Hand begann zu zittern.

Es war, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt.

Er las weiter, immer schneller, und sein fassungsloses Gesicht spiegelte den atemlosen Wortschwall der sterbenskranken Frau wider.

Als er fertig war, blickte er auf.

Hull und Shorr sahen ihn erwartungsvoll an.

»Die Frau behauptet, mein Vater habe meine Mutter umgebracht.«

»Ja«, bestätigte Hull. »Genau das.«

4

»Das ist doch absurd!«, entfuhr es Puller. »Als meine Mutter verschwunden ist, war mein Vater außer Landes.«

Ted Hull warf Colonel Shorr einen kurzen Blick zu und räusperte sich. »Wie gesagt, wir haben ein bisschen nachgeforscht …«

»Moment. Wann ist der Brief angekommen?«

»Vor einer Woche.«

»Und Sie erzählen mir das erst jetzt

»Chief Puller«, warf Shorr ein, »mir ist klar, dass das nicht einfach für Sie ist.«

»Da haben Sie verdammt recht!«, fuhr Puller auf, rief sich dann aber in Erinnerung, dass sein Gegenüber einen deutlich höheren militärischen Rang innehatte, und fügte ruhiger hinzu: »Das ist … unbegreiflich, Sir.«

»Eben weil es sich um eine so schwerwiegende Anschuldigung handelt, wollten wir der Sache erst nachgehen, bevor wir Sie damit konfrontieren.«

»Und was haben Ihre Ermittlungen ergeben?«

»Ihr Vater war tatsächlich im Ausland, kam aber einen Tag früher als geplant zurück. Er war bereits in Virginia, in der Gegend von Fort Monroe, als Ihre Mutter verschwand.«

Puller blieb einen Moment lang das Herz stehen. »Das beweist noch lange nicht, dass er etwas damit zu tun hat.«

»Keineswegs. Aber wir haben uns die damalige Ermittlungsakte angesehen. Ihr Vater hatte angegeben, zum fraglichen Zeitpunkt außer Landes gewesen zu sein. Das wurde durch die vorliegenden Dokumente bestätigt. Aus diesem Grund kam man damals zu dem Schluss, dass er in keiner Weise etwas mit dem Verschwinden Ihrer Mutter zu tun haben könne.«

»Und warum behaupten Sie jetzt etwas anderes?«

»Weil wir zusätzliche Unterlagen und Belege ausfindig gemacht haben, aus denen hervorgeht, dass Ihr Vater mit einem Privatjet zurück in die Staaten geflogen ist und nicht mit einem Transportflugzeug des Militärs, wie es ursprünglich geplant war.«

»Ein Privatjet? Wem soll der gehört haben?«

»Das wissen wir noch nicht. Sie dürfen nicht vergessen, das alles ist dreißig Jahre her.«

Puller rieb sich die Augen. Es war unfassbar, womit man ihn hier konfrontierte. »Ich weiß, wie lange es her ist. Ich war ja dabei. Mein Bruder und ich. Und mein Vater. Es war die Hölle für uns. Es hat die Familie auseinandergerissen.«

»Das kann ich verstehen«, beteuerte Hull. »Aber der Punkt ist, Ihr Vater hat damals angegeben, zum fraglichen Zeitpunkt außer Landes gewesen zu sein, die Unterlagen belegen jedoch etwas anderes.« Er ließ die Konsequenzen seiner Feststellung unausgesprochen im Raum stehen.

Es war Puller, der sie in Worte fasste. »Sie behaupten also, er hat gelogen? Kann es nicht sein, dass die Unterlagen, die Sie gefunden haben, fehlerhaft sind? Dass sein Name auf der Passagierliste stand, beweist noch nicht, dass er tatsächlich im Flugzeug gesessen hat.«

»Natürlich müssen wir unsere Nachforschungen vertiefen«, entgegnete Hull.

Puller sah die beiden Männer an. »Sie haben noch mehr in der Hand, nicht wahr? Sonst würden Sie nicht hier sitzen.«

»Ich hätte beinahe vergessen, womit Sie Ihr Geld verdienen«, räumte Shorr ein. »Sie sind natürlich damit vertraut, wie solche Ermittlungen ablaufen.«

»Also, was haben Sie noch in der Hand, Colonel?«

»Darüber können wir im Moment nicht sprechen, Chief«, stellte Hull klar. »Die Ermittlungen laufen noch.«

»Sie haben also Ermittlungen eingeleitet, aufgrund eines Briefes, den eine sterbenskranke Frau über Ereignisse geschrieben hat, die dreißig Jahre zurückliegen?«

»Und aufgrund der Tatsache, dass Ihr Vater nicht im Ausland war, wie er damals angegeben hat«, rechtfertigte sich Hull. »Hören Sie, Chief, wenn wir nicht auf diesen Punkt gestoßen wären, würden wir dieses Gespräch gar nicht führen. Es ist ja nicht so, dass es mir Spaß macht, eine Army-Legende vom Sockel zu holen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Damals hat man vielleicht Dinge unter den Teppich gekehrt, die man nicht hätte verschweigen sollen. Die Army hat immer wieder Prügel eingesteckt, weil sie nicht transparent genug war.« Er hielt inne, blickte zu Shorr.

Der übernahm das Wort. »Es wurde eine offizielle Ermittlung eingeleitet, Chief Puller, und jetzt nehmen die Dinge ihren Lauf. Aber wenn keine neuen Hinweise gefunden werden, kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendetwas dabei herauskommt. Die Army hat nicht vor, den Ruf Ihres Vaters zu ruinieren, nur weil eine todkranke Frau einen Brief schreibt.«

»Von welchen neuen Hinweisen sprechen Sie?«, hakte Puller nach.

»Wir haben Ihnen das alles anvertraut, weil wir der Meinung waren, Sie sollten es wissen, Chief Puller. Nicht mehr und nicht weniger«, stellte Shorr unmissverständlich klar. »Die Sache liegt jetzt bei der CID, aber wir wollten Sie über den Stand der Dinge informieren, vor allem über den Brief. In Anbetracht des Gesundheitszustands Ihres Vaters hielten wir es für angebracht, Sie über die Situation in Kenntnis zu setzen.«

Puller wusste nicht, was er erwidern sollte.

»Wir werden Sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal dazu befragen müssen, Chief. Auch Ihren Bruder. Und Ihren Vater, versteht sich.«

»Mein Vater ist dement.«

»Das ist uns klar. Aber wir haben gehört, dass er lichte Momente hat.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

Shorr erhob sich, Hull ebenso. »Danke für Ihre Zeit, Chief«, sagte der Colonel. »Agent Hull wird sich bei Ihnen melden.«

»Haben Sie mit Lynda Demirjian gesprochen?«, fragte Puller. »Und mit ihrem Mann?«

»Noch einmal, die CID wird Sie kontaktieren«, entgegnete Hull ausweichend. »Danke für Ihre Zeit. Es tut mir leid, dass ich Ihnen etwas so Unerfreuliches mitteilen musste.«

Die beiden Männer gingen hinaus, während Puller dasaß und auf den Fußboden starrte.

Nach einigen Augenblicken zog er sein Handy hervor und tippte eine Nummer ein.

Es läutete zweimal, ehe Bobby sich meldete.

»Hallo, kleiner Bruder. Hör mal, es passt gerade nicht so gut. Falls du in Virginia bist, bin ich dir acht Stunden voraus. Kann ich dich in …«

»Bobby, wir haben ein Riesenproblem. Es geht um Dad.«

Bobby Puller zögerte keine Sekunde. »Was ist passiert?«

Puller erzählte seinem älteren Bruder, was sich zugetragen hatte.

Bobby schwieg eine Zeit lang. Alles, was John hörte, war sein Atmen. Dann fragte er: »Kannst du dich an den Tag erinnern?«

John lehnte sich im Stuhl zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich habe draußen gespielt. Ich weiß noch, dass ich zum Fenster geschaut und Mom gesehen habe, im Bademantel, ein Handtuch um den Kopf. Sie muss gerade aus der Dusche gekommen sein.«

»Nein, ich meine später.«

»Später? Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«

»Das glaube ich nicht. Wir haben noch zu Abend gegessen, danach ging Mom weg. Die Tochter unserer Nachbarn kam zum Aufpassen rüber.«

Puller richtete sich auf. »Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«

»Wir haben auch nie wirklich darüber gesprochen, John.«

»Wohin ist Mom an dem Abend gegangen?«

»Ich weiß es nicht. Zu einer Freundin, nehme ich an.«

»Und sie ist nicht mehr zurückgekommen?«

»Offensichtlich nicht«, erwiderte Bobby ein wenig gereizt. »Und jetzt hören wir plötzlich, dass Dad schon in der Gegend war, als es passierte. Der Polizei hat er erzählt, er wäre noch unterwegs gewesen.«

»Dad hat das ausgesagt? Woher weißt du das?«

»Weil CID-Agenten bei uns zu Hause waren, gleich am nächsten Tag. Dad war auch schon zu Hause. Sie haben mit ihm gesprochen. Wir waren oben, aber ich habe alles mitgehört.«

»Warum erinnere ich mich an nichts davon, Bobby?«

»Du warst gerade mal acht. Du hast gar nicht verstanden, worum es geht.«

»Du warst selbst noch keine zehn.«

»Ich war nie ein richtiges Kind, John, das weißt du. Außerdem war es eine traumatische Zeit für uns. Vielleicht hast du ja etwas mitbekommen, hast es aber verdrängt. Ein Selbstschutzmechanismus.«

»Sie werden uns vernehmen. Auch Dad.«

»Na und? Uns können sie gern vernehmen. Und bei Dad wird es ihnen nicht viel bringen.«

»Vielleicht versteht er trotzdem, worum es geht. Dass sie ihn verdächtigen, Mom umgebracht zu haben.«

»Das werden wir kaum verhindern können, John. Es ist eine offizielle Ermittlung. Du weißt besser als jeder andere, was das heißt. Du kannst nichts dagegen tun.«

»Ich muss einen Anwalt für Dad finden.«

»Kennst du einen guten?«

»Shireen Kirk. Sie war lange Militärjuristin und hat vor Kurzem eine eigene Kanzlei eröffnet.«

»Dann solltest du sie anrufen.«

»Erinnerst du dich an Lynda Demirjian?«, fragte John.

»Ja. Nette Frau, hat leckeren Kuchen gebacken. Sie und Mom waren gut befreundet.«

»Kann es sein, dass Mom sie an dem Abend besucht hat?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bobby. »Mom hat mir nicht gesagt, wohin sie geht.«

»Lynda Demirjian ist überzeugt, dass Dad sie umgebracht hat.«

»Ich frage mich, wie sie darauf kommt. Okay, die CID hat herausgefunden, dass Dad schon im Land war, als es passierte, obwohl er das Gegenteil behauptet hat. Aber das ist erst herausgekommen, nachdem Lynda diesen Brief geschrieben hat. Sie muss andere Gründe für ihre Behauptung haben.«

»Ich werde herausfinden, welche Gründe das sind.«

»Glaubst du wirklich, sie werden dich ermitteln lassen? Es geht um Dad. Verdammt, die haben dich auch an meinen Fall nicht rangelassen, falls du dich erinnerst.«

»Und du erinnerst dich sicher, dass es mich nicht wirklich davon abgehalten hat, mich mit deinem Fall zu beschäftigen. Kein bisschen.«

»Es hätte dich leicht deine Laufbahn kosten können. Ich rate dir, lass die Finger davon.«

»Wir können nicht untätig zusehen, Bobby.«

»Also gut. Vielleicht kann ich ein paar Dinge checken. Ich melde mich, falls es etwas Interessantes gibt.«

»Du glaubst aber nicht, dass Dad …« Puller konnte es nicht aussprechen.

»Die Wahrheit ist, wir können es nicht mit Sicherheit wissen. Ich nicht, und du auch nicht.«