DIE AUTORIN
Jasmin Lee Cori ist ausgebildete Psychotherapeutin mit Privatpraxis in Boulder, Colorado. Sie hat sich auf die Arbeit mit Erwachsenen spezialisiert, die in ihrer Kindheit emotionale Vernachlässigung und Gewalt erfahren haben. Als erfahrene Dozentin führt sie Psychologieseminare an Colleges und Fachschulen sowie Weiterbildungskurse für Therapeuten durch, die eine Beratungstätigkeit anstreben. Sie war außerdem in verschiedenen Sozialdiensten tätig.
Jasmin Lee Cori hat mehrere Bücher geschrieben, unter anderem Das große Trauma-Selbsthilfebuch. Symptome verstehen und zurück ins Leben finden. Darüber hinaus sind zahlreiche Artikel in gedruckter Form, online und in Blogs auf ihrer Website www.jasmincori.com erschienen.
DAS BUCH
Viele Erwachsene plagt ein geringes Selbstvertrauen. Es fällt ihnen schwer, eigene Bedürfnisse anzuerkennen und für sie einzustehen. Sie empfinden Einsamkeit, leiden an Depressionen oder zeigen Suchtverhalten. Der Grund für solche Symptome kann darin liegen, dass sie in der Kindheit zu wenig Zuwendung und Unterstützung durch die Mutter erfahren haben.
Die erfahrene Psychotherapeutin Jasmin Lee Cori beschreibt, warum manche Mütter ihren Kindern nicht oder unzureichend emotional zur Verfügung stehen und was ihr verletzendes Verhalten begründet. Sie erklärt die vielen möglichen Folgen, unter denen Betroffene in der Kindheit und später als Erwachsene leiden können. Und sie zeigt einfühlsam, wie man auch noch viele Jahre später das innere ungeliebte Kind lieben lernt und sich selbst die Mutter sein kann, die man sich damals gewünscht hätte.
Jasmin Lee Cori
Wenn die
Mutterliebe
fehlte
Wie wir das ungeliebte
Kind in uns entdecken
und heilen
Aus dem Amerikanischen
von Ursula Bischoff
Kösel
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Emotionally Absent Mother: How to Recognize and Heal the Invisible Effects of Childhood Emotional Neglect – Updated and Expanded Second Edition« bei The Experiment, New York.
Copyright © Jasmin Lee Cori, 2010, 2017. This edition is published by arrangement with The Experiment, LLC.
Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Weiss Werkstatt, München
Umschlagmotiv: © Roman Thomas / plainpicture.com
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN 978-3-641-22899-6
V002
www.koesel.de
Dem mutterlosen Kind,
das irgendwie überlebte, trotz allem,
was es entbehren musste,
auch wenn die Mutter da war.
Dieses Buch ist dir gewidmet.
Mama, wo warst du?
Meine ersten Schritte …
Ich stand schwankend da, voller Stolz,
beglückt wie ein Vogeljunges, das feststellt,
dass es zu fliegen vermag.
Als ich den Blick zurückwandte, mit einem Lächeln,
das im Begriff war, sich seine Bahn zu brechen,
konnte ich dich nirgendwo entdecken.
Mama, wo warst du?
Mein erster Schultag …
Eingepfercht in einem lauten, klapprigen Bus,
auf dem Weg zu einem seltsamen Ort,
Kinder, zusammengedrängt,
Erwachsene, hinüberschielend,
eine ganz neue Welt für mich.
Mama, wo warst du?
Das erste Mal, als ich weinend nach Hause kam,
eine Zielscheibe kindlichen Gelächters,
ihre verletzenden Worte noch
in meinem Kopf nachhallend.
Ich hätte so gerne ein wenig Zuspruch erfahren,
doch du warst stumm.
Du bist anwesend, auf alten Fotos,
doch in meinen Erinnerungen fehlst du.
Ich kann mich nicht entsinnen,
liebkost oder getröstet worden zu sein.
Es gab keine kostbaren Augenblicke,
die wir teilten, nur wir beide.
An deinen Geruch oder das Gefühl
deiner Berührung erinnere ich mich nicht.
Ich erinnere mich an die Farbe deiner Augen
und den Schmerz tief in ihrem Innern –
ein Schmerz, den du, wie so vieles, zu verbergen pflegtest
hinter der Maske, die ich nicht durchdringen konnte.
Du hast gesehen, aber mich nicht wahrgenommen.
Deine Wärme erreichte nie das Herz
des kleinen Mädchens, das ich war.
Warum haben wir einander verfehlt, Mama?
Wo warst du?
Lag es an mir?
JC
Inhalt
Einführung
Teil 1 Was wir von der Mutter brauchen
1 Mütterliche Liebe und Zuwendung
Die Mutter als Lebensbaum
Mütter und die Grundbausteine unseres Lebens
Wer kann die Mutterrolle übernehmen?
Die ausreichend gute Mutter
Die Botschaften der Guten Mutter
Was passiert, wenn die Botschaften der Guten Mutter fehlen?
Was bedeutet emotionale Vernachlässigung?
2 Die vielen Gesichter der Guten Mutter
Die Mutter als Quelle des Lebens
Die Mutter als Bindungsperson
Die Mutter als Ersthelferin
Die Mutter als Regulationsinstanz
Die Mutter als Kraftspenderin
Die Mutter als Spiegel
Die Mutter als Mutmacherin
Die Mutter als Mentorin
Die Mutter als Beschützerin
Die Mutter als Zufluchtsort
3 Bindung: Unser erstes Fundament
Wie entsteht Bindungund was kennzeichnet eine sichere Bindung?
Warum ist Bindungso wichtig?
Woher weiß ich, ob eine sichere Mutterbindung bestand?
Was ist, wenn keine sichere Bindungvorhanden war? Woran lässt sich das erkennen?
Was ist ein bindungsbezogenes Trauma?
Ist es fair, die Mutter für eine unsichere Bindungverantwortlich zu machen?
Können wir nachträglich sichere Bindungen entwickeln, und wäre das hilfreich?
Bindungspersonenidentifizieren
Welcher Bindungsstil ist typisch für Sie?
Kann man mehr als ein Bindungsmuster entwickeln?
Wirkt sich die Beziehung zur Mutter auf spätere Beziehungen aus?
Wie schwer ist es, Bindungsmuster zu verändern?
4 Weitere wesentliche Bausteine
Das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit
Ein harmonisches Zuhause
Was falsch läuft, lässt sich korrigieren
Zugehörigkeitsgefühl
Selbstentfaltung
Ein Wachstumsbiotop
Unterstützung der kindlichen Eigenschaften
Berührung
Liebe ist das Medium, Liebe ist die Botschaft
Teil 2 Wenn die Mutterschaft misslingt
5 Mama, wo warst du?
Die Leere, die eine Mutter ausfüllen sollte
Das Bedürfnis nach der physischen Präsenz der Mutter
Was passiert, wenn die Mutter emotional abwesend ist?
Warum war die Mutter emotional abwesend?
Wie ein Kind die emotionale Abwesenheit der Mutter deutet
Wenn die Mutter die einzige Bezugsperson ist
Warum manche Kinder mehr leiden als andere
Beidseitige Distanz
6 Das Leben mit einer emotional abwesenden Mutter
Wer war die Frau mit der Maske?
Magere Kost
Mangelnde Anleitung
Fehlende emotionale Verbindung
Die mechanische Mutter
Schaut jemand hin? Interessiert es jemanden?
Unwissenheit
Keine Zuflucht, keine Hilfe
Das Gefühl, ein mutterloses Kind zu sein
Kein fester Halt
Keine Mutter, kein Selbst
7 Emotionale Vernachlässigung und Gewalt in der Kindheit
Was bedeutet emotionale Vernachlässigung?
Wie unterscheidet sich emotionale Gewalt von emotionaler Vernachlässigung? Kann beides vorliegen?
Wie schlimm ist die Erfahrung?
Folgen der emotionalen Vernachlässigung während der Kindheit
Zusätzliche Auswirkungen der emotionalen Gewalt
8 Was stimmt nicht mit meiner Mutter?
Sie weiß es nicht besser
Sie ist emotional verschlossen
Sie ist nie richtig erwachsen geworden
Wenn eine Mutter keine Liebe und Zuwendung geben kann
Leidet sie an einer psychischen Erkrankung?
Achtung: Wut im Verzug!
Die boshafte Mutter
Mütter, die »verrückt« sind
Das wechselnde Gesicht der Mutter
Mütter, die beziehungsblind sind
Was sich die Mutter nicht eingestehen kann
Teil 3 Die Heilung der seelischen Wunden
9 Der Heilungsprozess
Vertuschungsaktionen
Die Wunden aufdecken
»Defekte« als Defizite umdeuten
Gefühle aufarbeiten
Tagebuch führen
Die heilsame Wirkung der Wut
Trauerarbeit
Die Vergangenheit hinter sich lassen
10 Verbindung mit der Energie der Guten Mutter aufnehmen
Sich der Guten Mutter öffnen
Archetypen
Die Arbeit mit Imagination und Symbolen
Hilfe von der Göttlichen Mutter
Das »Gute« der Guten Mutter verinnerlichen
Eine zweite Chance, eine Gute Mutter zu finden
Das Bedürfnis nach mütterlicher Liebe und Zuwendung in der Partnerschaft befriedigen
Wiederholung früherer Muster
Die heilende Kraft der sicheren liebevollen Bindung
Die Gute Mutter als ständige Begleiterin
11 Die Arbeit mit dem inneren Kind
Einführung in die Arbeit mit dem inneren Kind
Das Kind als Mutter für das Selbst
Die Arbeit mit den Persönlichkeitsanteilen
Geschenke und Lasten
Einschränkungen bei der Arbeit mit dem inneren Kind
Die heutigen Probleme als Folge früherer Probleme
Ablösung von der Mutter
Die eigene bestmögliche Mutter werden
Sicherheit und Geborgenheit für das innere Kind schaffen
Zeit miteinander verbringen
Die Arbeit mit den Botschaften der Guten Mutter
Die Heilung des ungeliebten Kindes
Neuausrichtung
12 Psychotherapie
Parallelen zur Guten Mutter
Besondere Anforderungen in der bindungsorientierten Arbeit
Berührung in der Therapie
Remothering: Das Nacherleben der mütterlichen Liebe und Zuwendung
Von der Abschottung zur sicheren Bindung
Von der Frustration zur inneren Zufriedenheit
Therapeuten als »wegweisende Mutter«
Empfehlungen für Therapeuten
13 Weitere heilsame Schritte und anwendungsorientierte Strategien
Spezifische »Lücken« aufspüren
Eine proaktive Herangehensweise
Die Lücke, die mangelnde Unterstützung hinterlassen hat
Sich Beistand im Hier und Jetzt suchen
Selbstvertrauen aufbauen
Die eigene Stärke entdecken
Schützen, was Ihnen lieb und teuer ist
Sich zeigen und wahrgenommen werden
Einen Platz im Netzwerk des Lebens finden
Sich den Weg durch die Welt der Gefühle bahnen
Die eigenen Bedürfnisse begrüßen
Nähe zulassen
Wohltuende Berührungen annehmen
Den Schritt aus dem Deprivationsbewusstsein wagen
Das Gute verinnerlichen
Auf eine gute Selbstfürsorge achten
Allheilmittel
14 Die Geschichte umschreiben
Die Geschichte Ihrer Mutter
Ihre eigene Geschichte
Das Miteinander zwischen Ihnen und Ihrer Mutter
Die Möglichkeiten ausloten
Eine vernünftige, distanzierte Beziehung beibehalten
Grenzen setzen
Die eigene Wahrheit darlegen
Die Mutter verlassen
Sich innerlich getrennt fühlen
Der Weg zu einer heilsameren Beziehung
Sollte ich ihr verzeihen?
Kann ich auch ohne Gute Mutter eine gute Mutter oder ein guter Vater sein?
Dem Wachstums- und Selbstentfaltungsprozess Zeit lassen
Wird der Heilungsprozess jemals enden?
Anhang
Drei Mütter, drei Botschaften: Eine geführte Visualisierung
Anmerkungen
Literatur
Dank
Die Autorin
Einführung
Nur wenige Erfahrungen im Leben sind so tief greifend wie die Gefühle gegenüber unseren Müttern, die wir zeitlebens mit uns herumtragen. Die Wurzeln einiger dieser Gefühle bleiben im dunklen Labyrinth des vorsprachlichen Erlebens verborgen. Die Zweige erstrecken sich gleichwohl in alle Richtungen: Manche bringen die Erinnerung an wunderbare, sonnige Augenblicke mit sich, während andere abgebrochen sind und gezackte Kanten hinterlassen haben, an denen wir hängen bleiben. Das Thema Mutter ist kein leichtes.
Die Gefühle gegenüber Müttern sind sowohl auf der gesellschaftlichen als auch auf der psychologischen Ebene oftmals unbeständig und verworren. Mama und Apfelkuchen sind starke Symbole, die im amerikanischen Bewusstsein mit Lob und Ehre bedacht, in der politischen Arena jedoch vielfach vernachlässigt werden, was sich beispielsweise in der dürftigen Elternzeit-Regelung im Vergleich zu anderen wirtschaftlich hoch entwickelten Nationen widerspiegelt. Wenn uns die Beziehungs- und Erziehungskompetenz ein wirklich ernsthaftes Anliegen wäre, würden wir mehr finanzielle und häusliche Unterstützung sowie Bildungsangebote für Mütter bereitstellen.
Als Erwachsene sind wir uns dessen bewusst. Die meisten würden sicher zustimmen, dass Müttern Ehre gebührt, dass ihre Existenz zu oft als selbstverständlich hingenommen wird und ihr Tun zu wenig Anerkennung findet. Und doch sind viele von uns insgeheim (oder auch weniger heimlich) unzufrieden mit dem, was wir von unseren Müttern erhalten haben, und tragen ihnen nach, dass wichtige Grundbedürfnisse unerfüllt geblieben sind. Gleich, ob es sich um ein schuldhaftes Versäumnis handelte oder nicht: Wir zahlen den Preis.
Das sind heikle Themen – heikel für die Mütter und für uns alle. Im Bestreben, jede Kritik an Müttern im Keim zu ersticken, nehmen einige die Unzufriedenen unter Beschuss. Sie werfen ihnen vor, ihre Mütter als Sündenböcke abzustempeln, sie ungerechterweise für ihr Leid verantwortlich zu machen. Ich bestreite nicht, dass derartige Schuldzuweisungen bisweilen als Ablenkungsmanöver benutzt werden, um sich der Eigenverantwortung für die nicht immer einfache Aufgabe der eigenen Heilung zu entziehen. Doch als Therapeutin werde ich häufiger mit dem Widerstreben der erwachsenen Kinder, an alte Wunden zu rühren, und den riesigen Schuldgefühlen konfrontiert, die es aufzuarbeiten gilt, damit sie ihre Mütter nicht weiter in Schutz nehmen müssen. Es ist, als hätten wir sogar innerhalb unseres eigenen Bewusstseins Angst, sie zu kritisieren. Wir bemühen uns krampfhaft, das Bild der Mutter in unserem tiefsten Innern zu schützen, unsere zerbrechliche Beziehung zu bewahren, indem wir alles leugnen, was sie erschüttern könnte. Damit schützen wir uns vor Enttäuschung, Wut und Schmerz, die wir aus unserem Bewusstsein verdrängt haben. Wie in den folgenden Kapiteln beschrieben, wagen es viele nicht, die schmerzliche Wahrheit aufzudecken und offen auszusprechen, was sie bei ihren Müttern vermisst haben, weil sie mit den Folgen des emotionalen Mangels nicht umgehen können.
Jede Beziehung, die so komplex ist wie die zwischen Mutter und Kind, schließt sowohl Liebe als auch Hass ein. Die meisten Kinder empfinden Hass, wenn ihre Bedürfnisse oder Wünsche unbefriedigt bleiben, obwohl viele es nicht wagen würden, dieses starke Gefühl zu zeigen, denn die Verbindung zur Mutter ist viel zu zerbrechlich. Tatsächlich lieben alle Kinder ihre Mutter, auch wenn diese Liebe verschüttet ist. Der Psychologe Robert Karen erklärte in einer Zusammenfassung seiner Forschungsarbeiten zum Thema Bindung:
»Buchstäblich alle Kinder, selbst die, die Gewalt erfahren haben, lieben ihre Eltern. Das ist im Wesenskern des Kindseins einprogrammiert. Gleich, ob sie verletzt, enttäuscht oder in zerstörerischen Strukturen gefangen sind, die ihnen jede Möglichkeit verwehren, die Liebe zu erhalten, nach der sie sich sehnen: Gebunden zu sein, selbst in Angst gebunden zu sein, bedeutet zu lieben. Mit jedem Jahr, das vergeht, kann diese Liebe etwas schwerer zugänglich sein. Mit jedem Jahr kann das Kind seinen Wunsch nach Verbundenheit stärker leugnen. Es kann sich sogar von seinen Eltern lossagen und leugnen, dass es überhaupt Liebe für sie empfindet. Doch die Liebe ist da, genau wie die Sehnsucht, sie aktiv zum Ausdruck zu bringen und sie erwidert zu bekommen.«1
Karens Worte verdeutlichen, wie vielschichtig diese Beziehung ist. Niemand kann sich vom Wunsch nach Mutterliebe befreien.
Mütterliche Liebe und Zuwendung ist auch für diejenigen ein schwieriges Thema, die selber Kinder haben. Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, fielen mir die Schuldgefühle und die Abwehrhaltung bei einigen Frauen auf, als sie erfuhren, worum es ging. Dahinter stand der Gedanke: »Man sollte der Mutter nicht so viel Macht zuschreiben. Es gibt noch viele andere Einflussfaktoren im Leben eines Kindes. Es liegt nicht ausschließlich an mir, wie sie sich entwickelt haben.« Das ist richtig, zweifellos. Wir kommen bereits mit verblüffend individuellen Unterschieden zur Welt. Und es gibt noch andere Faktoren während der Kindheit, beispielsweise die Reihenfolge der Geburt, die Bindung zum Vater, seine elterliche Kompetenz, anlage- und umweltbedingte Einflüsse auf die grundlegende Physiologie eines Kindes, Familiendynamik und Stressauslöser in der Gesellschaft an sich.
Trotz der zahlreichen Punkte, die hier von Bedeutung sind, ist der Einfluss der Mutter beispiellos. Eine aufmerksame, kompetente und fürsorgliche Mutter kann viele andere Beeinträchtigungen im Leben ausgleichen. Fehlt diese mütterliche Liebe und Zuwendung, kann sich das als größte Beeinträchtigung überhaupt erweisen, denn wenn die Mutter ihrer Aufgabe nicht gerecht wird, haben die Kinder erhebliche Defizite in ihrer Entwicklung.
Ich habe mich in diesem Buch nicht deshalb auf die Mütter konzentriert, weil ich ihnen mehr Schuldgefühle oder Verantwortung aufbürden möchte, sondern weil das mütterliche Fürsorgeverhalten unsere Entwicklung so nachhaltig prägt. Ich hoffe, dass wir durch ein besseres Verständnis dieser Einflussfaktoren zu einem besseren Selbstverständnis gelangen und – noch wichtiger – die Entwicklungsaufgaben zu Ende führen und die Verletzungen heilen können, die durch unzureichende mütterliche Liebe und Zuwendung entstanden sind.
Wenn Sie selber Kinder haben oder vielleicht noch welche bekommen, hoffe ich, Ihren Blick durch das Aufschlüsseln der mütterlichen Rollen und die Betonung der zentralen Bedeutung der Fürsorgeaspekte zu schärfen. Obwohl einige der damit verbundenen Verhaltensweisen von einem angeborenen Mechanismus gesteuert und weitergegeben werden, müssen viele Frauen diese mütterlichen Kompetenzen bewusst erlernen. Wenn Sie selbst mütterliche Liebe und Zuwendung entbehren mussten, haben Sie es mit einer doppelten Aufgabe zu tun: die eigenen Verletzungen zu heilen und sich für ein anderes Miteinander mit Ihren Kindern zu öffnen, als Sie es bei Ihrer eigenen Mutter erlebt haben.
Zu Beginn meiner Arbeit hatte ich mir zum Ziel gesetzt, mein Verständnis der emotional vernachlässigten Erwachsenen in meinem Bekanntenkreis und in meiner psychotherapeutischen Praxis zu vertiefen. Deshalb suchte ich aktiv nach Betroffenen, die bereit waren, sich für meine Studie zur Verfügung zu stellen. Die Resonanz war groß, ich wurde umgehend mit Zusagen überschüttet. Wie zu erwarten, waren mehr Frauen als Männer bereit, mit einer Fremden über ihre Erfahrungen zu sprechen. Außerdem hatte ich mehr Verbindungen zu Frauen. Ich wählte meine Gesprächspartnerinnen nicht nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus, die demografische oder soziologische Perspektive spielte dabei keine Rolle. Doch ich bin davon überzeugt, dass die mutigen und aufschlussreichen Enthüllungen für uns alle von Nutzen sind. Meine Forschungsergebnisse verteilen sich über das ganze Buch, die meisten finden Sie jedoch im sechsten Kapitel: »Das Leben mit einer emotional abwesenden Mutter«. Dort werden sowohl das Umfeld während der Kindheit als auch die Herausforderungen beschrieben, mit denen sich die Betroffenen im Erwachsenenalter konfrontiert sahen.
In der ersten Auflage der Originalausgabe dieses Buches standen die Folgen des Zusammenlebens mit einer emotional unzugänglichen Mutter im Mittelpunkt. Seither habe ich neue Erkenntnisse über die vielen Erscheinungsformen emotional abwesender Mütter und über die Verbindung von emotionaler Vernachlässigung und emotionaler Gewalt gewonnen. In dieser vorliegenden erweiterten Auflage gehe ich gezielter dem Aspekt der emotionalen Gewalt und der Frage nach, was Mütter zu solchen Verhaltensweisen treibt.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Teil 1 verdeutlicht, was Kinder von ihren Müttern brauchen. Es geht dabei um die verschiedenen Rollen, die eine gute Mutter auszeichnen, und um die Bedeutung der ersten Bindung. In Teil 2 sehen wir, was passiert, wenn die Mutter-Kind-Beziehung misslingt, welche Folgen sich aus emotionaler Vernachlässigung ergeben und was eine Mutter zu einem solchen Verhalten veranlasst haben kann. Teil 3 kreist um die Heilung der damit verbundenen seelischen Wunden. Nach einer Darstellung des möglichen Heilungsprozesses beinhalten weitere Kapitel die Themen Psychotherapie und die Arbeit mit dem inneren Kind. Außerdem zeige ich, wie unerfüllte Bedürfnisse nachgeholt und die Beziehung zur Mutter im Erwachsenenalter neu gestaltet werden kann.
Das Buch enthält eine Reihe von Übungen, die Sie natürlich auslassen können, die ich Ihnen aber dennoch ans Herz legen möchte. Außerdem werden Sie immer wieder aufgefordert innezuhalten, um das Gelesene zu verarbeiten und über Ihre eigene Situation nachzudenken. Ich ermutige Sie, sich immer wieder einen Augenblick Zeit zu nehmen und Ihre Aufmerksamkeit auf die Gedanken zu richten, die Ihnen beim Lesen durch den Kopf gehen, auch wenn Sie die formalen Fragen nicht beantworten möchten.
Da alles, was Sie aus der Lektüre des Buches mitnehmen können, wichtig für Ihr Selbstverständnis und Ihren Heilungsprozess ist, empfehle ich Ihnen, sich Zeit zu lassen. Entscheiden Sie dabei selbst, wann Sie die Arbeit mit bestimmten Informationen als belastend empfinden und welche Form der Unterstützung Sie jetzt brauchen. Behandeln Sie sich selbst wie eine fürsorgliche Mutter, indem Sie sich jedes Mal nur die Themen zumuten, die Sie gut verkraften können. Auf den Rest können Sie später zurückkommen. Obwohl jedes Kapitel auf dem vorherigen aufbaut, sollten Sie so mit dem Buch arbeiten, wie es Ihnen am meisten zusagt.
Ich habe mir in diesem Buch vier Ziele gesetzt:
• Ich möchte Ihnen ein klareres Bild von der mütterlichen Liebe und Zuwendung vermitteln, die Sie entbehren mussten.
• Ich möchte Ihnen helfen, den Zusammenhang zwischen der emotional abwesenden Mutter und den Schwierigkeiten zu erkennen, mit denen Sie in Ihrem heutigen Leben konfrontiert sind. Was früher vielleicht als »Persönlichkeitsdefekt« gesehen wurde, kann jetzt als mütterliches Defizit, als mangelnde mütterliche Liebe und Zuwendung definiert werden. Das trägt dazu bei, das Gefühl abzubauen, an allen Problemen selbst schuld zu sein.
• Ich möchte Möglichkeiten aufzeigen, fehlende Elemente einer guten Mutterschaft auszugleichen – sei es in einer Therapie, in engen sozialen Beziehungen oder indem Sie auf Ihre eigenen Ressourcen zugreifen.
• Ich möchte Ihnen bei der Entscheidung helfen, wie Sie als Erwachsene die Beziehung zu Ihrer Mutter gestalten wollen und wie Sie Ihre diesbezüglichen Strategien und Optionen erweitern können.
Die gute Nachricht ist, dass mangelnde mütterliche Liebe und Zuwendung im späteren Leben kompensiert werden kann – vielleicht nicht vollständig, aber wirksamer, als wir normalerweise zu hoffen wagen. Wir können aktiv zur Heilung des ungeliebten inneren Kindes beitragen und zu innerlich starken, liebevollen Erwachsenen werden. Es lohnt sich, diesen Weg einzuschlagen.
Teil 1
Was wir von der Mutter brauchen