Cover

Das Buch

Amerika, Gegenwart. Timothy Blake ist ein genialer Profiler und steht als inoffizieller FBI-Mitarbeiter auf keiner Gehaltsliste. Er hat nämlich ein geheimes Laster und wird nicht mit Geld entlohnt, sondern mit etwas, das seine dunklen Triebe befriedigt. Als Blake mit seiner neuen Partnerin Special Agent Reese Thistle eine heikle Geldübergabe einfädelt, geht die Sache schief: In einem gestohlenen Wagen finden sie eine Schaufensterpuppe mit einer menschlichen Niere darin. Blake, der sein finsteres Geheimnis sorgsam hüten muss, gerät unter Verdacht …

Der Autor

Jack Heath, geboren 1986, hat sich schon als Kind darüber beklagt, dass ihm die meisten Bücher nicht spannend genug sind. Er begann selbst zu schreiben, recherchierte in Leichenhallen und Gefängnissen und bereiste zahlreiche Länder. Mit »Blake« legt er seinen ersten harten Thriller vor. Heath lebt in Canberra, Australien.

JACK HEATH

THRILLER

Aus dem Englischen von
Angelika Naujokat

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Die Originalausgabe
HANGMAN
erschien 2018 bei Hanover Square Press
Copyright © 2018 by Jack Heath
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Lars Zwickies
Umschlagillustration: Cornelia Niere,
unter Verwendung von © Istockphoto (PeopleImages),
Shutterstock (NikhomTreeVector, Daniela Pelazza)
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-22904-7
V002
www.heyne.de

Für Venetia, in Liebe

1

Je mehr man davon macht, desto mehr lässt man hinter sich. Was ist das?*

Blut klebt zwischen meinen Zähnen. Schmeckt metallisch.

»Hier können Sie nicht rein, Sir«, sagt die FBI-Agentin an der Tür, die mir den Durchgang versperrt.

Ich kaue an meiner Fingerspitze, reiße ein weiteres Stückchen vom Nagel ab. »Ich bin ziviler Berater.«

Die Agentin wirft einen Blick auf meine Billigtreter (Sneaker von Walmart), meine dreckige Jeans, meinen zerlumpten Pullover.

»Können Sie sich ausweisen?«, fragt sie.

Ich habe meinen Ausweis zu Hause gelassen, da ich davon ausging, den Agenten an der Tür zu kennen. In dieser Gegend wird man schließlich schon erschossen, wenn man das Wort »Cop« nur ausspricht.

Am Haus sind einige grüne Stellen, wo sich die Graffiti nicht wegschrubben ließen. Der Briefkasten wurde offenbar mit einem Baseballschläger bearbeitet. Ein Coywolf – eine Mischung aus Coyote und Wolf – humpelt oben auf der Straße um eine umgekippte Mülltonne herum. Sein abgekauter Fuß dürfte irgendwo in einer Bärenfalle stecken.

Ein paar weiße Teenager in Hoodies trinken in der Nähe billiges Bier. Ein Junge zerdrückt seine leere Dose und schleudert sie mit einem Grinsen, das an einen Halloween-Kürbis erinnert, in Richtung des Tieres, das zurückspringt. Die Teenager lachen dreckig, halten aber Abstand, als die Kreatur zwischen zwei vermodernden Zaunlatten davonhumpelt.

Aus dem Inneren des Hauses erklingen Schritte. Laute Stimmen. Ich muss da rein.

»Bitte«, sage ich. »Der …«

»Ohne Ausweis läuft gar nichts«, fällt mir die Agentin ins Wort. »Entfernen Sie sich.«

»Der Leiter der Außenstelle hat mich angefordert.«

Ein paar Haarsträhnen lösen sich unter ihrer Kappe und fallen ihr in die Augen, aber sie lässt sich davon nicht beirren. Sie ist eine Schwarze, knapp über einen Meter siebzig groß – so groß wie ich –, und trägt weder Make-up noch Ehering. Auf ihre toughe, ernste Art ist sie durchaus attraktiv. Laut der Ausweiskarte, die um ihren Hals baumelt, handelt es sich um Agent R. Thistle, FBI-Außenstelle Houston.

»Wie lautet sein Name?«, fragt sie.

»Luzhin«, erwidere ich. »Peter Luzhin.«

Sie mustert mich ein weiteres Mal. Wägt neu ab.

»Wollen Sie auch noch seine Sozialversicherungsnummer wissen?«, frage ich.

»Die dürften Sie wohl kaum kennen.«

Stimmt. Dürfte ich eigentlich nicht. Tue ich aber. Ich bin in sein Haus eingebrochen und habe sie auf einer Wasserrechnung entdeckt. Der Trick, sich lange Zahlenreihen zu merken, besteht darin, jede einzelne Zahl in einen Konsonanten zu verwandeln und die Vokale dann mit irgendetwas zu ergänzen, was ein einprägsames Bild ergibt.

Aus der Sozialversicherungsnummer des Leiters – 404 62 5283 – wird RZR BN FNHS, und daraus wiederum RaZoR BoNe FuNHouSe. Und das präge ich mir ein, indem ich mir vorstelle, wie Peter Luzhin mit einem Rasiermesser seine Wangen bearbeitet, bis das ganze Fleisch ab ist, der Knochen frei liegt und er sein Werk in aller Ruhe im Zerrspiegel eines Gruselkabinetts betrachtet.

»War nur ein Scherz«, versichere ich der FBI-Agentin.

An diesem Finger ist kein Nagel oder lose Haut mehr übrig, die ich abkauen könnte, also wende ich mich dem Daumen zu. Dieser Zwang wird zu einer dauerhaften Schädigung meiner Nagelhaut und meiner Zähne führen, außerdem gelangen Parasiten in meinen Mund. Aber ich kann trotzdem nicht damit aufhören.

Ein weiterer Agent taucht im Türrahmen auf. Ein Weißer, mager, Raucher, der die Blumenkohlohren eines Wrestlers oder Boxers hat. Die linke Seite seines Jacketts ist von den vielen Stunden ausgebleicht, die er in der texanischen Sonne im Auto zurückgelegt hat. Er trägt keine Ausweiskarte um den Hals, aber ich bin ihm schon begegnet. Sein Name ist Gary Ruciani. Die anderen Agenten nennen ihn »Pope«, weil er italienische Vorfahren hat.

»Hallo, Pope«, sage ich. »Lassen Sie mich rein.«

Die Frau tritt vor, um mir die Sicht zu versperren. »Sir …«

»Oh«, sagt Ruciani, während er die Treppe herunterkommt. »Sie sind’s.«

Dass man sich an mich erinnert, ist nicht immer eine Erleichterung.

»Collins und Richmond sind oben im Schlafzimmer«, sagt er in meine Richtung. Und an Thistle gewandt: »Lass ihn rein. Luzhin weiß wohl nicht mehr weiter.«

Als ich mich an Thistle vorbeidränge, nehme ich einen Hauch ihres Parfüms wahr. Sie weicht vor mir zurück.

In der griechischen Mythologie gibt es diesen Kerl, der eine spartanische Prinzessin heiraten will, aber auf eine Insel verbannt wird, weil sich sein verwundeter Fuß entzündet und zu stinken beginnt. Doch irgendwann kehrt das Heer zu ihm zurück, denn einigen Leuten ist klar geworden, dass man seine Giftpfeile benötigt. Er hilft ihnen dabei, den Krieg zu gewinnen – ist mit den Soldaten im Bauch des hölzernen Pferdes –, und dennoch hassen ihn nach wie vor alle.

Ich komme mir gerade vor wie dieser Kerl, als ich bemerke, wie Ruciani meinen Blick meidet.

Die Dielenbretter knarren, als ich die Küche betrete und an einem schiefen Turm aus dreckigem Geschirr vorbeigehe, der sich in der Spüle stapelt. Oswald Collins ist vor acht Tagen verschwunden. Offenbar hat seine Frau Billie seither nicht mehr abgewaschen. Im Kühlschrank befinden sich drei halbe Brote aus dem Supermarkt und zwei geöffnete Milchkartons. Auf den Kartons sind keine Fotos von vermissten Kindern mehr, aber das liegt nicht etwa daran, dass es keine vermissten Kinder mehr gibt. Denn wenn das so wäre, wäre ich meinen Job los.

In einem zusammengeknüllten Stück Alufolie entdecke ich fünf Cocktailwürstchen. Ich esse eins davon und stecke den Rest in meine Tasche. Für später.

Die Schlafzimmertür ist offen. Billie Collins sitzt auf der nackten Matratze und hat ihren Kopf in den Händen vergraben. Ihr Haaransatz ist grau, die Beine sind nachlässig rasiert. Ihre Shorts zerfasern dort, wo sie an den Säumen gezerrt hat. Ihre Mutter wird bereits ebenso lange vermisst wie ihr Ehemann.

Als ich das Zimmer betrete, blickt Agent Richmond auf. In der einen Hand hält er einen Löffel und in der anderen einen fast leeren Becher mit Nudeln. Einige Suppentropfen hängen in den Bartstoppeln an seinem Kinn. »Blake«, sagt er. »Wo haben Sie gesteckt?«

Ich bin Zivilist und darf ohne Aufsicht weder einen Tatort betreten noch mit Zeugen reden. Richmond ist mein Babysitter. Glücklicherweise ist er faul und kennt mich nicht so gut, wie er mich zu kennen glaubt.

»Agent Thistle wollte mich nicht reinlassen«, erkläre ich. »Und wo waren Sie?«

Er wedelt mit seiner fetten Hand in Billies Richtung. Die zuckt zusammen und starrt mich beunruhigt an. Richmond will uns beide glauben machen, dass er hiergeblieben ist, um sie zu trösten. Aber »trösten« ist nicht das richtige Wort. Er vermutet, dass Oswald Collins tot ist, und hofft, Billie in einem schwachen Moment zu erwischen.

»Mrs. Collins«, sage ich. »Ich bin Timothy Blake. Wir haben uns letzte Woche kennengelernt.«

Sie nickt. Ihre geröteten Augen richten sich auf meinen Mund. »Sie bluten.«

Das Blut stammt von meinen Fingernägeln. Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe die letzten sechs Tage nach Ihrem Mann und Ihrer Mutter gesucht. Es gibt keine Spur von ihnen.«

Sie wirkt nicht überrascht. »Warner würde nicht wollen, dass man sie findet.«

Oswald Collins ist ein Alkoholiker, der mit Vorliebe das Geld anderer Leute verspielt. Er hat sich achttausend Dollar von Charlie Warner geliehen, dem Arschloch, das die meisten Verbrechen in Houston finanziert. Danach ist er verschwunden.

Billie redet, als ob Oswald tot wäre, aber ihre Körpersprache sagt etwas anderes. Bei Trauer und Erleichterung erschlaffen Schultern und Nacken. Billie dagegen ist total angespannt, packt die Matratze, als bereite sie sich auf einen Flugzeugabsturz vor. Sie hat Angst.

»Warner würde sehr wohl wollen, dass Oswald gefunden wird«, entgegne ich. »Mit abgetrenntem Kopf oder herausgerissenen Augen. Um die Botschaft zu senden: Das passiert mit Leuten, die ihre Schulden bei mir nicht zurückzahlen.«

Richmond zuckt zusammen. Cops wird beigebracht, mit den Familien der Opfer sanft umzugehen. Aber ich bin kein Cop.

»Daher dachte ich, dass Oswald möglicherweise abgehauen ist«, fahre ich fort. »Aber dann wäre sein Wagen weg. Oder es gäbe einen Beleg dafür, dass er ein Ticket gekauft hat, um aus der Stadt rauszukommen. Selbst wenn er bar bezahlt hätte, wäre er von den Überwachungskameras am Busbahnhof erfasst worden.«

Es gibt Möglichkeiten, unbemerkt zu reisen. Aber die dürfte Oswald nicht kennen.

»Warner hat ihn erwischt«, sagt Billie mit lauterer Stimme.

»Ich habe mit Warners Eintreibern gesprochen«, sage ich. »Die haben ein ebenso großes Interesse, Oswald zu finden, wie Sie. Vermutlich ein noch größeres.«

»Sachte.« Richmond hebt abwehrend die Hände, um mich vom Weiterreden abzuhalten. Er wendet sich Billie zu. »Was Mr. Blake sagen will …«

»Die lügen«, sagt Billie an mich gewandt.

»Nein, Ma’am. Ich merke, wenn mich jemand anlügt.«

Sie hält meinem Blick für einen Moment stand, ehe sie wegschaut.

»Gangs entführen niemanden, der ihnen Geld schuldet«, fahre ich fort. »Und sie holen sich auch nicht die Schwiegermutter. Sie holen sich ein Kind oder den Ehepartner.«

»Wollen Sie damit sagen, dass ich in Gefahr bin?«

»Ist Ihr Mann gewalttätig?«

»Nein.« Billie bewegt sich auf der Matratze. »Nein, natürlich nicht.«

Selbst wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie sie zusammengezuckt ist, als Richmond die Hand gehoben hat, würde ich dennoch wissen, dass sie nicht die Wahrheit sagt. Oswald Collins ist wegen schwerer Körperverletzung und bewaffneten Raubüberfalles vorbestraft.

»Aber er plant nicht weit voraus, stimmt’s?«, frage ich.

Sie antwortet nicht.

»Er gehört zu der Sorte Mensch, die den Gehaltscheck verspielt und sich weiteres Geld borgt, um das verlorene zurückzugewinnen. Die Sorte, die ein frisches Brot anschneidet, bevor das alte aufgebraucht ist, aber ohne das alte wegzuwerfen. Die Sorte, die ihr dreckiges Geschirr nicht spült, auch wenn sie damit Gefahr läuft, ihr Versteck zu verraten.«

»Bitte gehen Sie jetzt«, sagt Billie.

Richmond starrt mich an. Ist sich nicht sicher, warum ich sie gegen mich aufbringe.

»Wieso?«, erkundige ich mich.

»Wie wollen Sie ihn finden, wenn Sie hier rumsitzen und mit mir reden?« Als sie ihn finden sagt, deutet sie auf ihre Zimmertür. Es ist eine unbewusste Geste, die sie nicht beabsichtigt hat. Denn ihr Verstand will mich hier raushaben.

»Ich glaube, dass mir genau das gelingen wird.«

Sie steht auf. »Verschwinden Sie.«

»Niemand hat sich Ihren Mann geholt«, sage ich. »Er versteckt sich, bis der Prozess gegen Charlie Warner vorbei ist. Er hat Sie beauftragt, ihn als vermisst zu melden. Ihrer Ansicht nach war das ein dummer Plan, aber als Sie ihm das gesagt haben, hat er gedroht, Ihre Mutter umzubringen. Wie oft hat er Sie seither besucht? Zweimal? Dreimal? Schläft er hier?«

»Heilige Scheiße«, entfährt es Richmond. Er hat seinen Löffel fallen lassen.

»Das habe ich nicht gesagt!«, kreischt Billie. »So was habe ich nie gesagt!«

»Wenn Sie es getan hätten, wäre diese ganze Sache hier längst vorbei.« Ich bemerke, dass ich wieder an meinem Daumen kaue. Ich stopfe die Hände in meine Hosentaschen. »Hören Sie, er kann Ihre Mutter nicht töten. Wenn er es täte, hätte er kein Druckmittel mehr. Also sagen Sie mir einfach, wo er …«

Billie Collins schaut über meine Schulter hinweg, und ich erblicke blankes Entsetzen in ihren Augen.

»Verdammtes Miststück«, ertönt eine Stimme hinter mir.

Ich drehe mich um und sehe den Kerl von dem Polizeifoto vor mir, das ich mir die ganze Woche über immer wieder angeschaut habe. Oswald Collins hat ein Gesicht wie ein Tintenfisch: weit auseinanderstehende Augen, eine flache Nase und eine Stirnglatze, die seit seiner letzten Verhaftung noch größer geworden ist. Er zielt mit einer zerkratzten Beretta 3032 Tomcat auf die Brust seiner Frau.

Eine alte Dame steht vor ihm. Oswald hält sie am Kragen ihres Flanellpyjamas fest. Sie riecht wie eins dieser Jugendheime, in denen ich aufgewachsen bin. Ihre Augen sind feucht, aber ihr Blick ist wachsam. Mary-Sue McGinness. Billies Mutter.

»Du hast mich verraten!«, faucht Oswald Billie an.

»Hab ich nicht!«

»Jetzt mal sachte«, mischt sich Richmond ein. »Locker bleiben.«

»Halt die Schnauze«, erwidert Oswald.

Es ist eine kleine Handfeuerwaffe, aber da wir zu fünft in diesem winzigen Raum sind, wird Oswald mit Sicherheit jemanden treffen. Die Kammer ist geschlossen, also ist die Waffe mit mindestens einer Patrone Kaliber .32 ACP geladen.

»Du hast es doch gehört!«, ruft Billie. »Ich habe nichts gesagt!«

Ich hebe die Hände und trete zwischen die beiden, blockiere damit Oswalds Schussbahn.

Die alte Dame starrt mich an. Sie atmet schnell und leise.

»Hey, Arschloch«, sagt Oswald zu mir. »Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, okay?«

»Wir sind Ihnen zahlenmäßig überlegen, vier gegen einen«, teile ich ihm mit. »Und da draußen sind noch mehr FBI-Agenten. Es ist vorbei. Seien Sie kein Idiot. Legen Sie die Waffe auf den Boden.«

Venen pulsieren an seinem Hals. Er weiß, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, hier rauszukommen: in Handschellen oder in einem Leichensack. Aber er ist schon einmal in einem texanischen Gefängnis gewesen und ist sich daher nicht sicher, was schlimmer wäre.

»Ist schon okay«, versichere ich ihm. Mein Herz schlägt gegen meine Lungen, aber meine Stimme bleibt ruhig. Ich nicke vorsichtig und hoffe, dass er meinem Beispiel folgen wird. »Wir können einen Deal machen. Legen Sie nur die Waffe auf den Boden und lassen Sie uns reden, okay?«

Oswalds Finger am Abzug entspannt sich. Sein Arm beginnt sich zu senken.

Richmond zieht blitzschnell seine SIG, zielt und schreit: »Waffe fallen …«

Oswald schießt auf ihn.

Es wird laut im Zimmer, Richmond geht zu Boden, als hätte er einen Tritt in den Bauch abbekommen, und bleibt keuchend liegen. Die SIG fällt auf den Teppich und Oswald setzt hastig den Fuß darauf, um Richmond davon abzuhalten, einen weiteren Versuch zu unternehmen.

Die Mühe hätte er sich sparen können. Richmonds Gesicht läuft dunkelrot an. Er trägt zwar eine Kevlarweste, aber die Kugel könnte eine Rippe gebrochen haben. Er kann nicht richtig atmen.

Oswald schreit irgendetwas, aber das Klingeln in meinen Ohren ist zu laut, um die Worte zu verstehen. Spucke schießt zwischen seinen Lippen hervor wie Spinnenseide.

McGinness hat es geschafft, sich aus seinem Griff zu winden. Sie hockt wie ein Wasserspeier in der Zimmerecke, bereit, zur Seite zu springen, sollte sich die Waffe in ihre Richtung bewegen. Aber Oswald versucht seine Frau ins Visier zu nehmen. Dabei scheint es ihm egal zu sein, dass ich noch immer im Weg stehe. Der Hahn hebt sich, als der Druck auf den Abzug immer größer wird.

Ich schaue über seine Schulter Richtung Tür. »Schießt schon!«, schreie ich.

Oswald fällt darauf rein. Er wirbelt herum, in der Erwartung, die anderen FBI-Agenten hinter sich zu erblicken. Ich stürze mich auf ihn, schlinge meinen Arm um seine Kehle, und versuche, ihm mit der anderen Hand die Waffe zu entreißen.

Er stolpert nach hinten, greift mit der freien Hand an seinen Hals, krallt sich in meinen Ellenbogen und reißt mir dabei ein Stück Haut heraus. Als er versucht, die Waffe über seine Schulter hinweg auf mich zu richten, drücke ich sie in die Höhe und presse seinen Abzugfinger, bis sie eins, zwei, drei Kugeln in die Decke jagt und dann nur noch klickt, weil sie leer ist. Die Knallerei stellt etwas mit der Flüssigkeit in meinem Ohr an, und der Boden beginnt sich zu neigen. Ich klammere mich an Oswald. Mein Unterarm quetscht immer noch seinen Hals. Er gibt gurgelnde Geräusche von sich. Wenn das Blut in sein Hirn gelangt, könnte er noch drei Minuten oder länger bei Bewusstsein bleiben. Falls nicht, wird er in ein paar Sekunden zu Boden gehen.

»Lassen Sie ihn los.« Die Stimme ist über meine jammernden Trommelfelle hinweg kaum zu vernehmen. Im ersten Moment glaube ich, sie gehört Billie, doch dann erblicke ich Agent Thistle – die hübsche schwarze Agentin von unten. Sie steht mit gezückter Dienstwaffe in der Türöffnung und zielt auf mich.

Ich lasse Oswald los und taumele zur Seite. Er sackt zu Boden. Ich hebe die Hände.

»Nicht schießen«, sage ich. »Ich gehöre zu den Guten!«

Thistle wirbelt mich herum und legt mir Plastikhandfesseln an. Vielleicht spürt sie es, wenn sie angelogen wird, genau wie ich.

Aber das spielt keine Rolle. Ich habe den Fall gelöst und werde meine Belohnung bekommen. Mein Mund ist schon ganz trocken vor lauter Vorfreude.

Ruciani drückt Oswald gegen den Boden und erklärt ihm, dass der Staat ihm einen Anwalt zur Verfügung stellen wird, wenn er sich keinen leisten kann. Oswald scheint ihn nicht zu hören. Er blickt zu Billies Mutter hoch, die seine Beretta aufgehoben hat und sie nun auf ihn richtet. Ihre Augen sind voller Hass.

»Tu’s nicht«, sagt er.

McGinness schürzt die Lippen. Sie zielt auf Oswalds Gesicht und drückt ab.

Klick.

* Die Lösungen der Rätsel finden sich im Anhang.

2

Was ist so zerbrechlich, dass man es schon bricht, wenn man seinen Namen spricht?

Der Krankenwagen-Killer kommt in den Raum aus Beton geschlurft. Die Ketten um seine Knöchel klirren, als würde er Stiefel mit Sporen tragen. Sein Haar ist auf einer Seite verfilzt, aber er ist sauber rasiert. Ich erblicke Reste der Henkersmahlzeit zwischen seinen quadratischen Zähnen. Die Knöchel beider Hände sind gleichmäßig abgeschürft von all den Liegestützen auf dem Betonboden seiner Zelle. Sein Name ist Nigel Boyd.

Ich beobachte ihn von meinem Platz hinter der dicken Glasscheibe aus. Es ist, als würde ich ein Aquarium besuchen. Ein paar Stühle neben mir sitzt die Vertreterin des Texas Department of Criminal Justice – des texanischen Strafjustizministeriums, kurz TDCJ – und spielt an ihrem Handy herum. Boyds Anwalt sitzt neben ihr und versucht vergeblich, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, um ein Gespräch zu beginnen. Es ist nur eine weitere andere Person anwesend, eine weiße Frau mit leicht ergrautem Haar, die ein in Leder gebundenes Notizbuch umklammert hält. Vermutlich eine Reporterin, obwohl Hinrichtungen heutzutage in den Medien keine so große Aufmerksamkeit mehr finden.

Normalerweise sitzen die Familien des Mörders und der Opfer in benachbarten Zuschauergalerien, ohne einander sehen zu können. Der auf der Liege mit dicken Gurten festgeschnallte Verurteilte hat einen freien Blick auf die beiden Gruppen, die dort getrennt voneinander in ihren besten Klamotten sitzen, als wären sie Gäste einer Hochzeitsfeier. Aber keiner von Nigel Boyds noch lebenden Verwandten ist erschienen. Seine Schwester hat ihren Namen geändert, seine Cousins sind nach Kansas gezogen, und sein Vater hat sich eine Schrotflinte in den Mund gesteckt. Daher haben die Familien der Opfer dieses Mal in der einen Galerie Platz genommen, während ich mich den Bürohengsten in der anderen angeschlossen habe.

Dieser Teil des Huntsville Prison trägt den originellen Spitznamen »Todeskammer«. Es ist der bestausgelastete Hinrichtungsraum der USA. Hier werden so viele Menschen getötet, dass es gar nicht so leicht ist, immer genügend tödliche Chemikalien vorrätig zu haben – insbesondere da sich die europäischen Hersteller inzwischen weigern, diese an das TDCJ zu verkaufen. Tennessee hat das gleiche Problem. Dort ist man inzwischen wieder zum elektrischen Stuhl zurückgekehrt. Hier ist auch schon die Rede davon.

Fünf Wärter folgen Boyd in den Raum. Das sogenannte »Festschnall-Team«. Die Leitung hat dabei ein Kerl mit der Figur eines Sitzsacks, der laut Namenschild Woodstock heißt.

Die Wärter führen Nigel Boyd zu der grünen Gummiliege hinüber, die mit Ledergurten und Messingschnallen bedeckt ist. Sie klappen zwei Rechtecke an den Seiten aus, die unter seine Arme kommen, dann binden sie seine Handgelenke darauf fest, als wäre dies eine Kreuzigung. Boyd schwitzt, aber er wehrt sich nicht, als ihn die Wärter auf der Liege festschnallen. Die Todgeweihten scheinen sich nie zu widersetzen, obwohl sie nichts mehr zu verlieren haben.

Schon bald ist Nigel Boyd bewegungsunfähig. Er hat jahrelang einen gestohlenen Ambulanzwagen durch Houston gesteuert und Leute mit einem in Äther getränkten Spüllappen außer Gefecht gesetzt. Dabei hat er den Wagen als mobilen OP benutzt, seine Opfer aufgeschnitten und ihre Organe dann auf dem Schwarzmarkt verkauft. Luzhin glaubt, dass Charlie Warner ein Lungentransplantat von ihm bekommen hat, konnte es aber nicht beweisen. Sechs Jahre später ist es nun für Boyd an der Zeit, sich auf der Liege auszustrecken.

»Zieh den Vorhang hoch«, sagt Woodstock zu einem der anderen Wärter, während er den letzten Gurt festzurrt.

»Ist schon oben.«

»Shit.« Woodstock blickt zu den beiden Fenstern hinüber, vor denen eigentlich ein Vorhang hängen sollte, während der Häftling festgeschnallt wird. Er sieht, dass ich ihn beobachte, und schaut rasch weg.

Die Frau mit dem leicht ergrauten Haar und dem Notizbuch bemerkt dies. Sie schleicht zu mir herüber und setzt sich neben mich.

»Hallo«, sagt sie mit sanfter Stimme. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«

Eindeutig eine Reporterin. Dies ist die Aufwärmphase, in der sie versucht, mich für ein Interview in Stimmung zu bringen.

Ich nicke, gebe ihr nichts.

»Ist er ihr …« Sie deutet zu Boyd hinüber, wartet darauf, dass ich die Lücke ausfülle.

»Er ist mein gar nichts«, sage ich.

Der Gefängnisdirektor betritt den Hinrichtungsraum gemeinsam mit einem Geistlichen. Der Direktor ist neu. Ein magerer Kerl in einem grauen Anzug. Den Geistlichen kenne ich aber schon. Er ist ein alter Mann mit traurigen Augen, der in den Raum hineingestolpert kommt, als trüge er die Fußfesseln. Er schiebt Boyd ein Kissen unter den Kopf.

Einen Moment lang herrscht Stille. Der Geistliche legt seine Hand auf Boyds Arm. Jeder im Hinrichtungsraum schaut auf die Uhr.

»Man gewöhnt sich nie daran«, sagt die Reporterin. »Das hier ist meine einundzwanzigste Hinrichtung, und es trifft mich immer noch bis ins Mark.«

Ich gebe ein Knurren von mir.

»Sie gehören wohl zur Familie«, vermutet die Reporterin.

»Ich bin nur der Fahrer. Ich befördere die Leiche hinterher zur Entsorgungsanlage.«

Das versetzt ihr einen Dämpfer. »Oh. Und da mutet man Ihnen zu, sich die Hinrichtungen anzusehen?«

»Hey, sind Sie etwa Reporterin?«, frage ich. »Ich habe jede Menge Storys auf Lager. Unsere ganze Familie ist total durchgedreht. Also, wenn mein Bruder betrunken ist, dann stellt er echt die verrücktesten Sachen an.«

»Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagt die Frau. Sie zieht ihr Handy hervor und sucht sich einen anderen Sitzplatz. Reporter wollen selten mit jemandem reden, der gern mit ihnen reden würde.

Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder Boyd zu. Er hat etwas Hypnotisches. Ist so groß, so muskulös. Ich kann sehen, wie die Venen an seinem Hals pulsieren. Seine Wangen sind grau geworden. Vielleicht hat er geglaubt, dass es nicht so weit kommen würde. Das Oberste Gericht hat sein letztes Gesuch vor einigen Tagen abgewiesen, aber möglicherweise hat er auf die präsidiale Begnadigung gehofft.

In den tiefsten Höhlen ihres Unbewussten glauben manche Menschen, dass alle anderen nicht real sind – dass dies alles bloß ein Videospiel für einen einzelnen Spieler ist und die anderen Figuren ohne Bedeutung sind. Nigel Boyd kann einfach nicht glauben, dass er, der wichtigste Mann im ganzen Universum, sterben soll. Manchmal frage ich mich, ob ich womöglich auch zu diesen Menschen gehöre.

Im Hinrichtungsraum läutet das Telefon.

Der Gefängnisdirektor geht mit großen Schritten darauf zu. Während alle abgelenkt sind, überprüft Woodstock noch einmal den Beutel mit der Infusionsflüssigkeit. Sein Rücken versperrt uns die Sicht, aber ich weiß, was er da tut. Er tauscht das Pentobarbital gegen einen Beutel mit Suxamethoniumchlorid aus.

Suxamethonium ist harmlos, wenn man es schluckt, aber injiziert lähmt es sein Opfer – und es wirkt sogar, wenn man die Vene dabei verfehlt. Ärzte dürfen wegen des hippokratischen Eids keine tödlichen Injektionen verabreichen. Daher fällt diese Aufgabe den Gefängniswärtern zu, die nicht besonders gut darin sind, die richtigen Dosierungen zu errechnen oder Venen zu finden.

Woodstock sieht mich an und nickt kaum merklich.

Ich drehe mich zu der Reporterin um, um zu sehen, ob sie es bemerkt hat. Hat sie nicht. Sie kritzelt in ihrem Notizbuch herum. Ihre »Bis ins Mark treffen«-Bemerkung hat sie wohl nur meinetwegen fallen lassen.

Der Gefängnisdirektor legt auf. Nun ist auch sein Gesicht grau. Er sieht Boyd an und schüttelt den Kopf.

»Oh, scheiße«, sagt Boyd. »O Gott.«

Tränen schießen ihm in die Augen. Er atmet schwer und schnell, als versuche er die Luft eines ganzen Lebens in diese letzten paar Minuten zu quetschen.

»Fahren Sie fort«, weist der Direktor Woodstock an.

»Warten Sie«, sagt Boyd. »Bitte.«

Woodstock weigert sich, ihm in die Augen zu sehen. Er schiebt die Nadel in Boyds Speichenarterie.

Boyds Schrei lässt die Scheiben erzittern. Selbst die abgestumpfte Reporterin zuckt zusammen.

Der Beutel mit dem Suxamethonium fällt in sich zusammen, während die Flüssigkeit in Boyds Körper gepumpt wird. Boyd geht die Luft aus, und er versucht wieder zu schreien, kann es aber nicht. Das Paralytikum wirkt bereits. Sein Gesicht wird schlaff. Innerhalb von dreißig Sekunden liegt er völlig regungslos da.

Sein Anwalt stößt einen langen, erleichterten Seufzer aus. Er glaubt, es sei vorbei.

Der Geistliche murmelt etwas Unhörbares. Der neue Gefängnisdirektor macht den Eindruck, als würde er sich jeden Moment übergeben. Woodstock legt einen Finger an Boyds Hals. Angeblich, um den Puls zu prüfen.

»Zeitpunkt des Todes«, sagt er und blickt dabei auf die Uhr, »dreiundzwanzig Uhr siebenundvierzig.«

Nur er und ich wissen, dass Boyds Herz noch rast. Er ist bei vollem Bewusstsein, aber durch das Paralytikum sind seine Lungen erstarrt. Er erstickt lautlos auf der Liege.

Woodstock und die anderen Wärter beginnen die Gurte zu lösen. Die Reporterin folgt dem Anwalt und dem Bürokraten nach draußen.

Ich schaue noch eine weitere Minute lang zu, fasziniert von Boyds erschlafftem Körper. Äußerlich tot, aber im Inneren lebendig. Durch das Medikament wurde sein Inneres nach außen gekehrt.

Die Flure im Hinrichtungsgebäude sind so angelegt, dass die Familien der Opfer es nicht auf demselben Weg verlassen müssen wie die Familien der Mörder. Aber ich erblicke ein paar alte Leute auf dem von hohen roten Gefängnismauern umgebenen Parkplatz. Vermutlich die Mütter und Väter von Boyds Opfern. Ein Mann in einer Weste schluchzt vor sich hin und klammert sich dabei an seinen Rollator. Eine Frau in einem Rüschenkleid und mit einer Blume im Haar lehnt an einem Auto. Sie wirkt benommen. Wie jemand, der eine leichte Gehirnerschütterung erlitten hat. Eine andere Frau spricht mit der Reporterin, die mitfühlend nickt, während sie ihr Handy in die Höhe hält, um Tonaufnahmen zu machen.

»Es ist nicht genug«, sagt die trauernde Frau. »Es war so friedlich. Meine Tochter ist nicht so gestorben. Es ist nicht genug.«

Ich kann gut nachvollziehen, was sie empfindet. Mir ist es auch nie genug.

Als die letzten Eltern das Gelände verlassen, tritt Woodstock durch eine gewaltige Flügeltür und rollt eine andere Liege mit einem Leichensack darauf hinaus. Der Sack ist aus einem so dünnen weißen Material, dass ich den Umriss von Nigel Boyds erstarrtem Gesicht darunter erkennen kann. Das Suxamethonium macht es unmöglich zu sagen, ob er noch am Leben ist.

Ich öffne die hinteren Türen des fensterlosen Transporters, auf dessen Seiten Gefahrgutzeichen lackiert wurden. Woodstock hilft mir dabei, die Beine der Liege einzuklappen und sie in den Wagen zu schieben. Er reicht mir ein Bündel Papiere. Sollte uns jemand beobachten – was ich nicht glaube –, würde er vermuten, dass dies die Genehmigungsformulare sind, um die Leiche zur Entsorgungsanlage zu bringen.

Woodstock sagt kein Wort und sieht mich dabei auch nicht an. Er dreht sich einfach um und eilt wieder ins Gebäude zurück.

Ich schließe die Türen des Transporters mit dem Krankenwagen-Killer darin.