Cover

SIMON BOROWIAK, geboren 1964, war sieben Jahre Redakteur bei dem Satireblatt »Titanic« und ist Autor des Bestsellers »Frau Rettich, die Czerni und ich« (verfilmt mit Iris Berben). »ALK – fast ein medizinisches Sachbuch« erschien erstmals 2007. Simon Borowiak lebt und arbeitet in Hamburg und veröffentlichte zuletzt den Roman »Sucht«, laut NDR ein beeindruckender Roman »mit einer unaufgeregt alles umfassenden Menschenliebe«.

Außerdem von Simon Borowiak lieferbar:

Sucht

Schade um den schönen Sex

Du sollst eventuell nicht töten. Eine rabenschwarze Komödie

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de
und Facebook.

SIMON BOROWIAK

ALK

Fast ein medizinisches Sachbuch –
jetzt aktualisiert!

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.


PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen
von Penguin Books Limited und werden
hier unter Lizenz benutzt.


Copyright © der Originalausgabe 2006
by Eichborn AG, Frankfurt am Main
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Penguin Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Getty Images/Sam Diephuis

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22985-6
V003

www.penguin-verlag.de

Dr. Wilhelm F. Preuss in enormer Dankbarkeit

Inhalt

Vorwort

1 Der Rausch

Von Schwips bis Tod

2 Das Leben mit Alk

Wer ist Alkoholiker?

Diagnosen offiziell

Das Boro-Schema

Typische Profi-Indizien

Toleranz

Extempore Statistik

Kontrollverlust

Extempore Geschichte

3 Es geht ein Entzug nach Nirgendwo

Das Ausnüchtern

Der Kater

Der Entzug

Delir und Krampf

Was tun bei Entzug?

Methode »Überbrückung«

Methode »Nachtanken«

Methode »Vollprofi«

Der komplette Ausstieg

Infos über körperliche und geistige Folgeschäden

Leber

Bauchspeicheldrüse (Pankreas)

Magen

Dünndarm

Einige Folgen von gestörtem Stoffwechsel und Mangelversorgung

Atemwege

Trinkerbein

Trinkerherz

Hirnzirrhose

4 show me the way to the next entgiftung

Entgiftungs-Potpourri

Mitpatienten

Pflegerei

Sozialarbeiter/Sozialpädagogen

Psychiater

Nach der Entgiftung

Mein Eindruck, mein Fazit, mein Senf

5 Feste Posten, alte Muster

Fester Posten I: Der Suchtdruck

Extempore Selbstbetrug und Schaffensrausch

Fester Posten II: Der Rückfall

Kleines Rückfall-Rätsel

Fester Posten III: Angehörige – Fluch oder Segen?

Die Co-Abhängigkeit

Fester Posten IV: Die Suchtverlagerung

6 Was wissen wir über SUCHT?

Extempore Suchtverständnis für Unabhängige

Sucht-Zutaten

BIO: Ist Alkoholismus angeboren?

SOZ

PSYCH

7 Von der Abwehr zur Bereitschaft

Grundsatzdiskussion: Wer ist hier wirklich gaga?

Die Krankheitseinsicht

Das ALK-Bewusstsein

Lügen, Leugnen, Abwehr oder
Einer geht noch

Trinkmotive = Heilungsansätze

8 Behandlungsformen

Die Therapieziele

Abstinenz – Allheilmittel oder Götze?

Alles über das »kontrollierte Trinken«

Nächste Frage: Ausstieg mit oder ohne professionelle Hilfe?

Chemie, Chemie

Psychotherapie

9 Einige super Alki-Angebote im Überblick

10 Sachdienliche Hinweise

Das Jellinek-Schema oder
Vom Tellerwäscher zum Wrack

Jellinek-Fragebogen: Sind Sie Alkoholiker?

11 Volkes Kehle, Volkes Stimme

Apropos Verbergen: Outing – ja oder jain?

12 Aus meinem Nähkästchen

Versöhnliches Schlusswort

Quellen

Gruß und/oder Dank an

Vorwort

Fragen über Fragen, die in diesem Buch beantwortet werden.

Im Zuge einer Entwöhnungstherapie hörte ich fünf Monate lang Vorträge, ließ mich von Therapeuten auseinandernehmen, diskutierte mit Mitpatienten und las mich durch einige Regalbretter Alkoholismus-Literatur. Und wurde zunehmend unwillig: Die Fachbücher waren mir zu fachlich, die Bücher von Betroffenen zu betroffen und die Ratgeber von Nichtbetroffenen zu anmaßend. Also beschloss ich anmaßend, das ultimative Alk-Buch zu schreiben:

Fachlich fundiert, aber verständlich; geschrieben von einem Betroffenen ohne Betroffenheit. Und das alles im Dienste von Aufklärung, Verständnis, Naturwissenschaft und Komik …

Im Gegensatz zu den herkömmlichen Ratgebern bietet »ALK«

sowie

»ALK« ist das Buch für alle, die schon mal einen heben. Und für alle, die schon einen zu viel gehoben haben. Und für alle, die sich mit dem Thema Alkohol beschäftigen müssen. Kurz: das Buch für Genusstrinker, Profi-Trinker, Ärzte, Therapeuten, Winzer, Angehörige, Minderjährige, Getränkelieferanten, Hirnforscher und Penner. Und damit wir uns richtig verstehen: Die Welt ist ein Jammertal, und es steht nirgendwo geschrieben, dass der Mensch den ganzen Rotz ohne kleine Hilfsmittel ertragen müsse. Ich käme auch nicht im Traum auf den Gedanken, jemandem das Recht auf Rausch abzusprechen. Sollten dergleichen Vorwürfe laut werden, weise ich sie schon jetzt zurück. Jeder Mensch sollte das verbriefte Recht auf Ekstase, Entrückung und Verzückung haben. Aber er sollte auch über die möglichen Nebenwirkungen informiert sein.

Im Übrigen wünsche ich mir, dass dieses Buch der Völkerverständigung zwischen Trinkern und Nichttrinkern dienen möge. Soweit das Vorwort von 2005.

Was seither geschah auf dem großen, weiten Suchtsektor: Die Medikamentenabhängigkeit befindet sich nach wie vor im Aufwärtstrend. Cannabis & Co. verzeichnen ebenfalls Wachstumsraten, dito die Spielsucht. Vor Habsucht hat sich der Kapitalismus 2008 fast selbst zerlegt, wurde dann aber mit Steuergeldern (»auf Kasse«) gerettet und wurschtelt einstweilen untherapiert weiter. Die Nikotinsüchtigen wurden mit Pechfackeln und Mistgabeln vor die Stadttore beziehungsweise Restaurants gejagt. Die Zahl der Alkoholtoten pro Jahr wurde etwas nach oben korrigiert; seit dem erstmaligen Erscheinen von »ALK« sind uns ca. 900000 Mitbürger/Mitpatienten unter den Händen weggestorben. Davon allein sechs in meinem kleinen Dunstkreis; drei an körperlichen Schäden, drei haben sich mit der Begründung, das Alkoholikerleben nicht länger ertragen zu können, suizidiert. Wir überlebenden Kollegen konnten zwischenzeitlich einen wirtschaftlichen Schaden von 780 Milliarden Euro anrichten, dabei aber bloß 39 Milliarden Alksteuer einspielen. Die Dauer einer Langzeit-/Entwöhnungstherapie wurde von fünf bis sechs auf zwei bis drei Monate verkürzt. Inzwischen sind vier Präparate/Tabletten gegen den Alkoholismus am Start, wovon ich drei ausprobiert habe. Ich selbst bin inzwischen geheilt, bekehrt und leite jetzt den »Arbeitskreis bibelscheuer Christen«. Quatsch! Schön wär’s! Nochmal: Ich selbst dachte 2005, endlich genug auf dem Gebiet des Alkoholismus gesehen zu haben, musste aber miterleben, dass es immer noch schlimmer krachen kann.

Eine Sache hat sich gar nicht geändert: Was Prognostik und/oder Zeitleisten angeht, darf man bei der Alkoholismustherapie nicht mit großen Sprüngen rechnen; es handelt sich um zähe Millimeterarbeit. Zu Trost & Ansporn stelle ich mir gerne irgendeinen klugen Galileo vor, der von oben die schlechten Stunden der Stagnation und der Rückfälle betrachtet und dann ruft: »Und es bewegt sich doch!«

In diesem Sinne!

HH, d. 8. 8. 2018

1 Der Rausch

Von Schwips bis Tod

»Doch alle Lust will Ewigkeit –,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit«

Nietzsche

bzw.:

»Heute blau, morgen blau
und übermorgen wieder …«

Volksmund

Die medizinische Fachwelt ist sich einig: Der Rauschzustand ist ein wichtiges Standbein des Alkoholismus. Wer sich mit Alkohol beschäftigt, kommt um den Rausch nicht herum. Erst das profunde Rausch-Verständnis ermöglicht ein Verständnis der Krankheit.

Im Folgenden werde ich nun also den komplexen Verlauf von einer ganz normalen Nüchternheit über den Interims-Schwips bis zum Haubitzen-Vollrausch und dem werten Ableben so plausibel beschreiben, dass sogar ein Grundschulkind folgen könnte. Dazu müssen wir zunächst wissen, wie es in uns aussieht.

Wer Bescheid weiß, kann weiterblättern. Wer mal Bescheid wusste, kann Wissen auffrischen. Wer noch nie einen Körper von innen gesehen hat, sollte sich die elektronenmikroskopischen Skizzen einprägen und damit bei der nächsten Gelegenheit (Stammtisch/Selbsthilfegruppe/Staatsexamen) herumprahlen.

Nun gehen wir noch weiter rein; nun zum Rausch.

Den muss man sich wie eine gewaltige Keilerei unter Neurotransmittern vorstellen, quasi wie eine Art neuronale Wirtshausschlägerei.

Wir begeben uns jetzt also ins Allerheiligste, in ein durchschnittliches Hirn, in eine gutbürgerliche, nüchterne Neuro-Kneipe. Nennen wir sie »Zum Oberstübchen«. Dort herrscht geschäftiges Treiben der körpereigenen Substanzen. Aus den Zapfhähnen (Drüsen) quellen Hausmacher-Hormone, Opiate, Morphine, Amine und wie die Stimmungsmacher aus eigener Produktion sonst noch so heißen; hier wird unser sogenanntes »Stimmungs-Büfett« zusammengestellt. Und dieses Stimmungs-Büfett ist üppig: Da gibt es Ärger, Freude, Wut, Lust, Melancholie, Angst, Verzweiflung, Euphorie, Glück, Hochlaune, Tieftrauer, Langeweile, kurz: Kein Anlass, zu dem nicht die entsprechende Spezerei bereitstehen würde. Die Kellner (Botenstoffe, Transmitter) eilen umher und servieren den Gästen (Rezeptoren) den Stoff (Hormone, Morphine etc.). Und wie in jeder gepflegten Kneipe werden hier auch die neuesten Nachrichten ausgetauscht; ständig tauchen Informanten auf und berichten brühwarm über alles, was sich vor der Tür gerade tut (Reize und Reizleitung). Und der Mensch lacht, weint, frohlockt oder grübelt, er fühlt sich pudelwohl oder gähnt oder hat den Blues. So weit aus dem normalen Tagebuch eines nüchternen Mitbürgers. Nun ist der Mitbürger aber unzufrieden mit dem, was das Stimmungs-Büfett heute hergibt. Es kann ja sein, dass ihm gerade zu viel Schmerz oder zu wenig Glück serviert wird, oder ihm ist einfach nur langweilig – und da denkt sich der Mensch: Jetzt etwas Alkohol wäre nicht schlecht! Dann wird es dir anders, vulgo besser ergehen! Schmerzen werden gelindert, Glücksgefühle werden getoppt, und überhaupt könnte etwas Partylaune im Oberstübchen nicht schaden! Der Mensch greift also zum Glase und zimmert sich den Alkohol in die Blutbahn. Und da! Wenig später taucht plötzlich die lustige Rasselbande aus dem Glas im Oberstübchen auf; lauter gut gelaunte C₂H₅OH-Moleküle dringen in das – noch – geordnete Stübchen ein und sorgen dort für Schabernack. Die munteren Ethanol-Lausbuben belagern die Zapfhähne und treiben ihren Scherz mit den Gästen: Die Trauerklöße bekommen sofort Hausverbot, und während die Stimmungstöter murrend das Feld räumen, bekommen die Gäste, die gerne an den guten Sachen wie Frohsinn und Gutlaune nippen, doppelte Portionen.

Der Fachmann spricht hier von einem Ungleichgewicht beim Austausch der Nervenbotenstoffe. Gewisse Rezeptoren werden blockiert, andere überversorgt. Alkohol wirkt sozusagen als Saboteur und Beschleuniger im Hemmungs-Erregungs-Kreislauf. Durch Blockaden kommt z. B. die sogenannte anxiolytische Wirkung zustande, will sagen: Wir fühlen uns sauwohl, sorgenfrei und entspannt, weil erregende Substanzen nicht mehr weitergeleitet werden.

Nach wiederum anderen Erkenntnissen soll es sogar eigens für die C₂H₅OH-Hallodris vorgesehene Rezeptoren geben, sodass sie eventuell doch direkt in den Funkverkehr eingreifen, aber hierüber streiten noch die Gelehrten. Bis die Wissenschaft endgültig zu Potte gekommen ist, müssen Sie mit dem sogenannten Boro-Schema vorliebnehmen:

Ja, so fühlt der Mensch sich wohl, so lässt sich’s leben, ist doch alles halb so wild bzw. ist das Leben nicht schön, hihi, ich will so bleiben wie ich bin auf der Reeperbahn nachts um halb eins und scheiß auf ora et labora!

Hier machen wir erst mal einen Punkt und nennen den Status quo »Schwips«.

20 Gramm reinen Alkohol (0,2 Liter Wein oder einen halben Liter Bier) kann der Frauenkörper pro Tag wegstecken; Männer dürfen das Doppelte. Sagt jedenfalls die Weltgesundheitsorganisation. Die besagten 20 bzw. 40 Gramm täglich gelten zwar nicht gerade als gesund, aber immerhin noch als »risikoarmer Konsum«. Sprich: Der Körper fackelt nicht lange und zerlegt die giftige C₂H₅OH-Bande in ihre Einzelteile. Die Leber übernimmt dabei die Arbeit als Ausputzer und Mülltrenner. Sie zerlegt den Alkohol in Wasser und CO₂. Alles Giftige und Nutzlose wird über Niere, Lunge, Haut wieder nach draußen befördert, aus dem brauchbaren Restmüll wie all den puren und lotterleeren Kohlehydraten wird das fettige Material für einen schönen Bierbauch gewonnen. Es braucht eine Stunde, und dann ist der Körper mit 10 Gramm Alkohol (entspricht ca. 0,15 Promille) fertig. Aber inzwischen wandert der Alkohol unbehelligt ins Blut, überwindet mühelos die Blut-Hirn-Schranke und schwimmt direkt ins Hirnkastel eini, Malefiz! Und beeinflusst so auch schon in geringen Mengen unser Stimmungs-Büfett.

Wir aber überschreiten jetzt die Grenzen des guten Schwipses und kommen zum sogenannten leichten Rausch. Der bewegt sich zwischen 0,5 und 1,0 Promille. (Alle aufgeführten Werte gelten nur für einen gesunden, erwachsenen und im Trinken nicht geschulten Otto-Normal-Organismus. Trainierte Amateure und Profis stecken selbstverständlich mehr weg als Hobby-Trinker.)

1,5 Promille = 100 Gramm Ethanol = 1 Liter Wein = 2,5 Liter Bier = 0,2 Liter Korn = 10 Stunden Abbauzeit. Schauen wir doch mal nach, was unsere Rasselbande inzwischen im Oberstübchen treibt.

Unsachlicher Zwischenruf

Es gibt Menschen, die ihrem sozialen Umfeld zuliebe auf Anordnung der WHO ständig einen kleben haben sollten, weil sie dann erst irgendwie ein Stück weit menschlich und sozialverträglich rüberkommen; man denke da nur an den Typus Verbissen & Verbiestert sowie an karrieregeile Ärmelschoner mit narzisstischem Totalschaden …

Die macht sich inzwischen schon ganz schön »breit«, und nachdem sie bereits aus Jux ein paar Nervenenden eingeseift hat, pfuscht sie jetzt auch noch im Bewegungszentrum herum und gaukelt dem Trinker vor, er sei auf leichter See und habe obendrein einen Sprachfehler. Das aber ist unserem Trinker schnurz, denn zeitgleich sind auch ein paar unserer zu gut gelaunten Freunde in das Allerheiligste eingedrungen, und zwar in die große Schaltzentrale. Die müssen Sie sich etwa so vorstellen: Ein blitzsauberer Raum, in dessen Mitte der Zentralrechner steht. Bewacht wird der Zentralrechner von einem Dragoner in weißem Kittel, bei dessen Anblick man unwillkürlich ausruft: Sieh an! Wenn das nicht mein Über-Ich ist! Ganz harmlos beginnt in der großen Schaltzentrale jetzt das, was später zur Schlägerei ausarten wird. Die Bande foppt das gestrenge Über-Ich und lenkt es von seiner Arbeit ab. Die Arbeit des weißen Dragoners ist es aber, dem Menschen Tipps und moralische Anweisungen zu geben wie »Sei kritisch!« und »Das sagt man nicht zu seinem Chef!« oder »In einen Kiosk einbrechen könnte rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen!« Aber da solche Anweisungen jetzt ausbleiben – im Augenblick spielt die Bande mit dem Dragoner Cowboy und Indianer und fesselt ihn an seinen Bürostuhl –, haben wir den Salat. Der Mensch ohne Über-Ich denkt plötzlich solche Sachen wie: »Das muss dem Chef aber mal gesagt werden!« und »Einbruchdiebstahl – warum eigentlich nicht, höhö?« und »Bo, hat die Titten!« Und der Mensch steht da leise schwankend wie ein Strohhälmchen und plappert in vom Alkohol gebrochenem Deutsch. Und Autofahren geht natürlich auch noch.

Die Wissenschaft hat übrigens festgestellt, dass beim leichten Rausch biochemisch genau die gleiche Post abgeht wie beim Sich-Verlieben: Dopamin, so weit das Auge reicht. Die Symptome gleichen einander ja auch verblüffend: Euphorie, geminderte Kritikfähigkeit, alles rosarot. Und ebenso wenig, wie jemand von sagen wir mal 90 Gramm Alkohol dauerhaft breit ist, ist jemand dauerhaft verliebt! Verliebtheit hat ihre natürliche Halbwertszeit, geht erst langsam zurück, dann allmählich vorüber, es folgen Kater & Depression (Ehe & Familie), und wer erneut berauscht sein will, braucht dafür die nächste Flasche (Freundin). Das mag zynisch klingen, sind aber die knallharten biologischen Fakten, Leute! Hat sich was mit »ewiger Treue«! Darauf ist die Natur nicht eingerichtet! Das ganze Leben ist nur eine Abfolge von mehr oder minder kurzen Strohfeuern! Die einzige Konstante ist und bleibt die Veränderung! Diskutieren Sie diese These mit Ihrem Partner. Falls Sie noch mit ihm reden.

Stoppen wir an dieser Stelle. Bis hierher spricht der Mediziner gerade noch von einem »leichten Rausch«. Der Mensch ist – im Großen und Ganzen – noch immer er selbst, allerdings in einer unzensierten Version. Bis hierher kann der Spruch »in vino veritas« gerade noch gelten. Bis hierher, aber nicht weiter. Denn jetzt verlassen wir den berauschten, aber intakten Menschen und kommen allmählich zur inneren Havarie.

Und die hat kaum noch etwas mit der akuten Realität zu tun. (Sonst würden die Geheimdienste der Welt ja auch nicht so viel Geld in die Entwicklung von »Wahrheitsdrogen« investieren, sondern den feindlichen 007 einfach mit Amselfelder abfüllen.)

Wir haben den leichten Rausch verlassen und uns in einen schweren hochgetrunken.

Aus unserer zu Beginn doch recht sympathischen C₂H₅OH-Rasselbande ist inzwischen eine Horde von Vandalen geworden.

Unsere Motorik ist aus dem Gleichgewicht, unser Über-Ich windet sich bereits gefesselt und geknebelt in seinem Bürostuhl und muss hilflos mit ansehen, wie die Vandalen unsere Affekte aufheizen und anstacheln. Denn auch unsere Informanten, die uns normalerweise mit den News (Reizen) von draußen versorgen, leiden unter der Bande: Da werden vormals sachliche Infos zurückgehalten oder an die falschen Adressen geliefert, da werden sogar ganze Botschaften gefälscht und getürkt! Wie soll der Mensch da noch die Peilung behalten? Da werden aus Mücken Elefanten, aus Sympathie wird haltlose Liebe, aus Ablehnung tödlicher Hass, aus Gereiztheit Mordlust, aus Kümmernis tiefste Verzweiflung. Kurz: Aus Normal wird Kingsize. Wir sind groß, stark und unverwüstlich; wir sind klein, arm und elend, wir sind Herr, wir sind Knecht, wir sind Gott, wir sind Wurst. Und dies alles auch gerne rasch und grundlos alternierend, mal so, mal so, und wo doch eh kein Schwein mehr weiß, was gut und was böse ist, wird halt schon mal aus Empörung Freude, aus Krawall Selbstmitleid oder aus Versehen Sex. Unser einstmals wohlsortiertes Stimmungs-Büfett zeigt Zeichen der Verwüstung. Von entspannter Party-Laune nichts mehr zu spüren. Der Körper arbeitet wie am Spieß, um die Randalierer unschädlich zu machen. Der Schweiß tritt uns auf die Stirn. Das ist das Wundersame an Alkohol: Er verursacht im Körper einen Mega-Stress, den er gleichzeitig niederknüppelt! Adrenalin schießt. Die Leber ächzt, die Nieren hauen alles raus, was sie an Flüssigkeit kriegen können. Das Über-Ich murmelt: »Aufhören!« Aber da haben ihm die Randalierer auch schon final einen verplättet. Jetzt haben die Wilden völlig freie Bahn. Sie sind am Ruder und sie sind auf Zerstörungskurs. Sie knöpfen sich den Zentralrechner vor, reißen Kabel raus (Kurzschlüsse) und löschen Dateien (Filmriss). Alles, was früher mal im Dienste von Logik und Vernunft auf den Beinen war, liegt gefesselt und geknebelt in dem Tohuwabohu von durchgedrehten Nervenenden und umherirrenden Botenstoffen, die nicht mehr wissen, wo vorne und hinten ist. Der Körper weiß auch nicht mehr, auf wen er jetzt noch hören soll; er kann nicht mehr geradeaus sehen, nicht mehr geradeaus gehen, verliert die Orientierung; die vormals wie am Schnürchen laufende Koordination zwischen den Körperteilen ist der Anarchie der Zerstörertruppe gewichen, die wie ein Rollkommando durch die Schaltkreise zieht. Und tote Hirnzellen pflastern ihren Weg.

Stopp.

In Körper und Geist sieht es jetzt schon aus wie bei Hurrikans unterm Sofa, aber es geht noch eine Windstärke heftiger. Beim Vollrausch herrscht nur noch Mord und Totschlag. Der Zentralrechner glüht und dampft, dann gehen im Oberstübchen die Lichter aus. Der Körper arbeitet auf Notstrom. Und weil da oben bereits alles verwüstet, lahmgelegt oder zu Brei geschlagen ist, dringt die Meute jetzt in andere Bereiche des Hirns vor, in die tieferen und dunkleren Regionen, wo alles gesammelt wird, was bisher noch nicht vom Zentralrechner sortiert werden konnte. In diesem Archiv wütet die Meute und spielt mit allem, was sie findet: Informationsfetzen, Erinnerungsfetzen, Gefühlsfetzen. Eine Flut von Affektfetzen, die (für den Nüchternen) keinen Sinn ergeben – das sind die einzigen Informationen, die noch nach außen dringen. Im flackernden Licht des Notstromaggregats regnet es Fragmente von ehemaligen Gedanken, Splitter von ehemaligem Sinn, unverdaute Brocken von Wahrnehmung, und die Auflösung der werten Persönlichkeit ist vollbracht. Das Licht flackert noch ein Mal auf, dann schaltet auch der Notstrom ab und der Körper ist auf Stand-by. Der Fachmann nennt diesen Zustand auch gerne »Koma«.

Jetzt käme eigentlich das »Magen-Auspumpen« bzw. »Rausch-Ausschlafen« an die Reihe. Die Leber – eines der wenigen noch wachen Organe – würde heroisch weiterschuften, ununterbrochen C₂H₅OH zerlegen, allmählich würden sich die niedergeschlagenen und zu Boden gegangenen Substanzen wieder aufrappeln und ganz, ganz langsam mit den Räumarbeiten beginnen. Doch zum Ausnüchtern kommen wir später; schließlich hatte ich Ihnen in der Inhaltsangabe auch eine Beschreibung des Ablebens versprochen. Voilà!

Der Mensch kann sich nicht nur die Hucke zusaufen, er kann sich auch den ultimativen Schlummertrunk verabreichen. Das muss recht zügig vonstatten gehen, denn es gilt, einige der aufgezeigten Stationen zu überspringen. Es muss ein Sturztrunk her, damit wir während unserer Überdosierung nicht einnicken; es muss im Voraus, also bereits vor dem drohenden Stand-by, genug geladen werden. Genug, um das gesamte System zum Absturz zu bringen.

Dafür muss man Weg und Zeit des Alkohols vom Flaschenhals zum Oberstübchen berechnen. 80% des Alkohols gelangen erst über den Dünndarm ins Blut. Das ist natürlich ein Umweg. Der Mediziner rechnet, dass ca. 50% des Alkohols eine Viertelstunde nach Aufnahme im Blut landen, nach 30 Minuten sind 75% dort angekommen, und nach 60 bis 90 Minuten ist der gesamte Alkoholkonsum ins Blut übergegangen. Laut statistischem Umweltamt muss man sich für das finale Finale 5 Gramm Alkohol pro 1 Kilogramm Körpergewicht auf einen Happs reinzwingen. Die Killer schießen dann im Hauruck-Verfahren von Etappe zu Etappe und bolzen sich schließlich mit geballter Gewalt in unser ältestes Zentrum vor, das zäheste und sturmerprobteste Büro unseres Körpers (Hirnstamm), von dem aus die Basics gesteuert werden, z. B. Atmung, Kreislauf, Verdauung. Ab ca. 5 Promille ist auch in diesem Büro Schicht und der Letzte macht das Licht aus. Üblicherweise stirbt man an Atemlähmung. Es sei denn, es ereilt einen schon vorher die »Aspiration von Erbrochenem«. Im Volksmund: »Ersticken an der eigenen Kotze«.

Denksport

Wenn ein Mensch sich etwa 1 Kilo Alkohol in den Organismus gepumpt hat und stirbt – dann ist doch auch seine Leber tot? Klaro ist die tot. Was passiert jetzt aber mit dem vielen Alkohol im Körper? Wer baut ihn jetzt ab? Verdunsten kann er wohl nicht, weil er ja im System innen drin ist und der Mensch keine wirklich luftdurchlässigen Stellen hat! Also: Bleibt der ganze Stoff drin? Und wenn ja: Wird der Körper dann konserviert?

Etwa so wie eine verdammte Erdbeere im Rumtopf ? Diskutieren Sie diese Frage mit Ihrem Partner!

Wenn er noch lebt.

Aber genug von Freund Hein, kommen wir nun zu einer wirklich schlimmen Angelegenheit.