Das Buch
Ohne es zu wollen ist John Wallace der größten Verschwörung der Welt in die Quere gekommen. Mit tödlichen Folgen. Er wurde bis zum bitteren Ende verfolgt und gequält. Aber letztlich war nicht er selbst es, der den höchsten Preis bezahlen musste, sondern die Liebe seines Lebens. Noch immer sieht er Connies Gesicht, wenn er nachts die Augen schließt. Nur die Abgelegenheit der afghanischen Berge, in die er sich zurückgezogen hat, scheint ihm ein wenig Trost zu spenden. Doch während er mit seiner Kamera einen afghanischen Stamm begleitet, passiert das Unfassbare: Ein neuer Feind taucht auf …
Der Autor
Adam Hamdy war Strategieberater für internationale Firmen und Unternehmen, bevor er sich dem Schreiben von Drehbüchern und Romanen widmete. Aktuell entwickelt er die Serie Oracle für die BBC.
Lieferbare Titel
Pendulum
ADAM HAMDY
FREEFALL
Es gibt eine Regel! Traue niemandem!
Thriller
Aus dem Englischen von
Frank Dabrock
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe Freefall erschien 2018 bei Headline.
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Deutsche Erstausgabe 11 / 2018
Copyright © 2018 by Adam Hamdy
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673, München
Redaktion: Lars Zwickies
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München, unter
Verwendung eines Motivs von © Bigstock (caesart, Kwarkot)
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-23022-7
V001
www.heyne.de
Für all die gebrochenen Menschen, die die Kraft
gefunden haben weiterzumachen
TEIL EINS
1
SYLVIA GREENE HÄTTE sich gerne in ihr Schicksal gefügt. Sie wusste, was sie erwartete, und hatte versucht, darauf vorbereitet zu sein. Aber im Angesicht des Todes erstickten ihre Instinkte jede vernünftige Überlegung. Sie war zu keinem klaren Gedanken fähig und verspürte nur das überwältigende Verlangen, sich gegen die Schlinge zur Wehr zu setzen, die ihren Hals zusammenquetschte. Es spielte keine Rolle, dass sie am Ende des Seils hängen wollte, dass dies die einzige Möglichkeit war, ihre Familie zu schützen. Die dunkelsten, primitivsten Bereiche ihres Gehirns begannen zu rebellieren und ließen ihre Finger in die Höhe schnellen, wo sie das dicke Seil bearbeiteten. Ihre Nägel bohrten sich in die rauen Fasern, während ihre nackten Beine hin und her strampelten und verzweifelt nach Halt suchten.
Sie konnte unter ihren zappelnden Füßen den umgefallenen Stuhl erkennen. Die Schlinge, die in ihren Hals schnitt, verursachte unerträgliche Schmerzen, und ihr Widerstand machte alles nur noch schlimmer. Sie setzte sich so heftig zur Wehr, dass ihre manikürten Nägel abbrachen und ein Stechen ihre Finger durchzuckte. Sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass bald alles vorbei war.
Es gehörte zu ihrem Job, Nachforschungen anzustellen, und sie hatte möglichst viele Informationen gesammelt, bevor sie sich in diese Situation begeben hatte. Sie wusste, dass nach weniger als fünf Minuten der Hirntod eintrat. Dann würde sie keinen Schmerz mehr empfinden. Ihr Herz würde noch für fünfzehn Minuten weiterschlagen, bis es schließlich, wie ein Orchester ohne Dirigent, aus dem Takt geriet und verstummte. Ihr Körper würde aufhören, sich zu bewegen, und kalt werden, bevor die Leichenstarre und der Verwesungsprozess einsetzten. Sylvia hoffte nur, dass Connor sie finden würde und nicht die Jungs. Es war eine schreckliche Vorstellung, dass die beiden sie am Ende des Seils baumeln sehen würden. Mit nichts weiter als ihrer Unterwäsche bekleidet. Blauer Spitzenunterwäsche. Da sie wusste, was sie erwartete, hatte sie extra eine Garnitur in ihrer Lieblingsfarbe angezogen.
Sylvia wünschte, sie hätte nicht an die Jungs gedacht. Als vor ihrem geistigen Auge ihre Gesichter erschienen, verspürte sie einen unbändigen Überlebenswillen. Sie sah, wie die beiden als unbeholfene Kleinkinder ihre Hand umklammert hielten und zu ihr hochschauten, während ihnen die bedingungslose Liebe ihrer Mutter ein Lächeln in die Mondgesichter zauberte. Wie ihre Jungs, als sie schon älter waren und ihren Babyspeck verloren hatten, laut kreischend von der Achterbahn im Thorpe Park durchgeschüttelt wurden. Sie erinnerte sich an die Tränen über ein aufgeschürftes Knie. Daran, wie sie einen ihrer Jungs im Arm hielt, der sich gebannt einen Star Wars-Film anschaute. An das entgeisterte Gesicht, das unter der Bettdecke hervorlugte, als sie einen der beiden dabei erwischte, wie er nach der Schlafenszeit noch Harry Potter las. Dann sah sie Connor, ihren Ehemann, der sie beim Ausziehen beobachtete, erfüllt von heftigem Verlangen und grenzenloser Liebe. Trauer, Glück, Angst, Wut, Hoffnung und Freude, all diese intensiven Gefühle hatten sie geteilt. Sylvia und Connor hatten die Jungs durch die Stürme des Lebens gelotst und versucht, ihnen den bestmöglichen Weg aufzuzeigen. Es brach ihr das Herz, und sie fing an zu weinen, als sie daran dachte, dass die drei ihre Reise ohne sie fortsetzen mussten. Aber es war die einzige Möglichkeit.
Sie hatte gewusst, dass sie weinen würde. Das war angesichts des schweren Verlusts unvermeidlich. Sie war Anfang vierzig, gesund und intelligent. Ihre Familie bedeutete ihr alles, und sie liebte ihren Job. Aber von alldem musste sie sich jetzt vorzeitig verabschieden, und dass man sie um ihr ungelebtes Leben brachte, schmerzte sie am meisten.
In den letzten Tagen hatte sich Sylvia oft bei der Frage ertappt, ob das alles tatsächlich unvermeidlich war. Wenn sie die Angelegenheit vielleicht anders gehandhabt hätte? Wenn sie ein anderer Mensch gewesen wäre? Wenn sie früher Hilfe gesucht hätte? Aber es nutzte genauso wenig, die Vergangenheit zu bedauern, wie um ihre ungelebte Zukunft zu trauern.
Sie fragte sich, ob sich so ein Schizophrener fühlte. Während ihr Verstand ruhig und aufmerksam alles registrierte, war ein Teil von ihr entschlossen, sich gegen das Unvermeidliche zur Wehr zu setzen. In seinem ungestümen, animalischen Bemühen versuchte er zu atmen, das Seil zu zerreißen und wild um sich zu schlagen. Die schiere Kraft dieser Bestie ließ Sylvias ganzen Körper erzittern, während ihr Gehirn ihr Verhalten zur Kenntnis nahm, als wäre sie eine Fremde, als würde gerade jemand anders sterben.
Plötzlich flackerten in ihrem Blickfeld helle Lichter auf. In Farben, die so bunt waren, dass sie sie schmecken konnte. Die explodierenden Lichter waren überall und erfüllten ihre Augen mit Schönheit. Sylvia hatte gelesen, dass die Synapsen des Gehirns ein letztes Mal unkontrolliert aufzuckten, bevor es den Dienst einstellte. Ihr Körper krümmte sich heftig, als würden die primitiveren Bereiche ihres Gehirns spüren, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Durch die Tränen und die berstenden Farben hindurch konnte sie kaum noch etwas erkennen, und sie hatte das Gefühl, als würde die Welt vor ihr zurückweichen. Dann erblickte sie plötzlich einen weißen Punkt, der heller war als alles, was sie je gesehen hatte. Er wurde größer und verschlang alles um sich herum, bis Sylvia nur noch das glühende Innere einer Sonne sah.
Freefall. Darum starb sie jetzt. Das unliebsame Wort brannte sich durch ihren Kopf und hinterließ nichts als Leere. Das war ihr letzter Gedanke: Freefall.
Sylvias Körper hörte auf, sich zu bewegen, und ihre instinktive Gegenwehr erlahmte. In der Leere fanden ihre Instinkte und ihr Verstand wieder zueinander, als ihr letzter Lebensfunke langsam erlosch. Das Herz in ihrem reglosen Körper schlug noch eine Weile weiter, bis es schließlich zum Stillstand kam und das Blut in ihren Adern langsam abkühlte.
2
DIE STERNE URTEILTEN nicht über ihn. Wallace saß unter dem weiten Himmelszelt, und während er die ewigen Feuer betrachtete, die in unzähligen entfernten Galaxien loderten, vergaß er für einen Moment seine Sorgen. Die Sterne interessierten sich nicht für die Schuldgefühle, die er empfand, weil die Frau, die er geliebt hatte, in seinen Armen gestorben war. Wie die zerklüfteten Berge ringsum würden sie unverändert weiter existieren, wenn Wallace und jeder, der sich an ihn erinnerte, längst tot war. Der Gedanke an die Ewigkeit verschaffte Wallace eine kurze Atempause. Aber er lebte nicht am unermesslichen Firmament, sondern auf der Erde, und war in dem Gefühlschaos gefangen, das das Leben für ihn bereithielt. Seine Schuldgefühle holten ihn in die Wirklichkeit zurück, und die Erhabenheit seiner Umgebung verflüchtigte sich, als ihm erneut bewusst wurde, dass er es nicht verdient hatte, frei zu sein. Er stellte sich Connies verzweifeltes Gesicht vor, aber die emporragenden Gipfel des Hindukusch waren gleichgültig gegenüber seinen Tränen und seiner Trauer.
»Du fehlst mir«, flüsterte er. »Du fehlst mir so sehr.«
Der tiefe Schmerz, der seit ihrem Tod seine Brust erfüllte, wurde allmählich stärker, breitete sich von seinem Herzen über seinen ganzen Körper aus und zerrte daran, als wollte er ihn von innen heraus zerstören. Es war ein vertrautes Gefühl, ein Gefühl, ohne das Wallace nicht leben konnte. Diese schmerzliche Bürde war seine einzige Verbindung zu der Frau, die er einmal geliebt hatte. Er konnte dieses Gefühl nicht abschütteln.
»Ich dachte, ich wüsste, was ich tue«, fuhr er fort. »Aber ich wusste es nicht …«
Die Stille des Waldes wurde von näher kommenden Schritten durchbrochen, und Wallace verstummte.
»Tr’ok Si’ol«, sagte hinter ihm die Stimme eines Jungen, und als Wallace sich umdrehte, sah er, wie Kurik, der jüngste Sohn seines Gastgebers, auf ihn zukam. Seine olivfarbene Haut leuchtete im Licht der Sterne.
Trotz all der Monate in Kamdesh hatte Wallace immer noch nicht herausgefunden, was Tr’ok Si’ol, der Name, den sein Gastgeber Vosuruk ihm gegeben hatte, bedeutete. Wenn er die Leute danach fragte, lächelten sie bloß mitfühlend und wiederholten Vosuruks Erklärung, dass es sich um seinen Kom-Namen handle.
»Oasa mes I’a«, fuhr Kurik fort, als er auf ihn zutrat. »T’ot gij’a ku t’u z’otr.«
»Auf Englisch, bitte«, sagte Wallace, da er nur das Wort »Angehöriger« verstanden hatte. Er sprach ein recht passables Paschtu und ein wenig Arabisch, aber er hatte Mühe, sich auf Kamviri verständlich zu machen, einem Dialekt, der von weniger als zehntausend Menschen auf der Welt gesprochen wurde.
»Vater sagen, du kommen.« Leicht verlegen, brachte Kurik jedes seiner undeutlichen Worte stockend hervor.
»Ich will nicht stören.« Wallace hob die Hände und trat einen Schritt zurück. Aber er merkte, dass der Teenager seine Worte und Geste nicht verstand. Wallace war noch nicht bereit aufzubrechen; er hatte gerade erst mit seiner Erinnerungsarbeit begonnen.
»Komm«, sagte Kurik mit Nachdruck und wandte sich ab.
Wallace warf einen letzten Blick auf die Sterne und versuchte, sich vorzustellen, dass seine große Liebe jetzt dort oben war, frei und ungebunden. Doch er wusste, dass sie nur in den Herzen jener Menschen weiter existierte, die sie gekannt hatten. Mit einem leichten Widerwillen drehte er sich um und lief hinter dem Jungen her. In seinen nächtlichen Gesprächen erweckte Wallace Connie wieder zum Leben, aber heute Nacht musste sie bei den Toten bleiben.
Kurik warf einen Blick über die Schulter und lächelte, als er sah, dass Wallace ihm folgte.
Obwohl Wallace viel Zeit in Afghanistan verbracht hatte, verstand er die komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse im Land immer noch nicht ganz. Afghanistan, das die Briten gewaltsam zu einer einzigen Nation vereint hatten, war in Wirklichkeit eine Ansammlung verschiedener Provinzen, deren Bewohner häufig mehr mit ihren Verwandten in Pakistan oder Tadschikistan gemeinsam hatten als mit ihren Landsleuten. Wallace war nach Nuristan gereist, weil es laut den Berichten, die er gehört hatte, immer noch von gewaltsamen Auseinandersetzungen heimgesucht wurde. Die Stämme der Nuristani, die jahrhundertelang einander befehdet hatten, hatten sich im Kampf gegen die wiedererstarkten Taliban zusammengeschlossen. In den westlichen Medien wurde der Konflikt vereinfachend als Auseinandersetzung zwischen Regierungskräften und militanten Moslems dargestellt, aber die Wirklichkeit war sehr viel komplexer. Jahrzehntelang war Nuristan unter dem Namen Kafiristan bekannt gewesen, was grob übersetzt »Land der Ungläubigen« bedeutete. Es verdankte seinen Namen der Tatsache, dass die Einheimischen sich lange Zeit geweigert hatten, zum Islam überzutreten. In einigen Bereichen Nuristans wurde die ursprüngliche Religion der Kalasha immer noch praktiziert, und selbst die Menschen, die zum Islam konvertiert waren, befolgten die religiösen Rituale und Bräuche ihrer Vorfahren. Die Stämme der Nuristani hielten an ihren Traditionen fest und widersetzten sich den Zwangsmaßnahmen der ausländischen Machthaber, seien es nun Briten, Moslems, Sowjets, Taliban, Amerikaner oder Paschtunen. Momentan kämpften die Kom gegen die Taliban, um zu verhindern, dass diese die Kontrolle über ihr Heimatland übernahmen. Wallace hatte sich für diese Region entschieden, weil die Kom tolerante Menschen waren, bei denen der Wohlstand über den gesellschaftlichen Status bestimmte, sodass er gegen einen entsprechenden Betrag dort eine Unterkunft bekommen konnte.
Nach schwierigen Verhandlungen in der Hauptstadt, die aufgrund eines Missverständnisses beinahe gescheitert wären, hatte man Wallace von Kabul durch das Bashgal-Tal nach Kamdesh, der angestammten Heimat der Kom, geschmuggelt. Die Stadt bestand aus schlichten Häusern mit jeweils zwei Zimmern, die über die Terrassen der steilen Hänge verstreut waren. Im Erdgeschoss der meisten Häuser befand sich ein Stall für das Vieh, in dem in der Regel Ziegen gehalten wurden, weil die Tiere in der Lage waren, in den Bergen zu überleben und den bitterkalten Wintern zu trotzen.
Wallace bot Vosuruk, dem Verwaltungsbeamten der Stadt, für seine Unterkunft zweihundert Dollar pro Woche an. Vosuruk war ein Grundbesitzer von Anfang fünfzig, der jedoch jünger aussah. Obwohl er ein freundliches, aufgeschlossenes Gesicht hatte, konnten seine Augen nicht verbergen, dass er in der abgelegenen Gebirgsstadt mit strenger Hand für Ordnung sorgte. Drei Ehefrauen und neun Kinder zeugten von Vosuruks Wohlstand, doch selbst ein hochrangiger Verwaltungsbeamter konnte zweihundert Dollar pro Woche nicht ausschlagen – in einem Land, in dem das durchschnittliche Jahreseinkommen lediglich doppelt so hoch war.
Im Erdgeschoss seines Hauses trennte Vosuruk im Stall für Wallace einen eigenen Bereich ab, wo er neben den Ziegen und Pferden schlafen konnte. Vosuruks Familie war fasziniert von dem wohlhabenden Ausländer, der bei ihren Tieren hauste, aber Wallace hatte kein Interesse daran, sich einen Ruf als kauziger Eigenbrötler zu erwerben. Er bat Vosuruk, ihn mit den einheimischen Kriegern bekannt zu machen, die gegen die Taliban kämpften. Sein Gastgeber sprach zwar ein passables Englisch, doch jedes Mal, wenn Wallace auf den Krieg zu sprechen kam, tat er so, als würde er ihn nicht verstehen. Dann sagte er bloß »O’c n’a san’oa san’i«, was, wie Wallace herausfand, grob übersetzt »Ich kenne keine Soldaten« bedeutete.
Wallace kannte die Gepflogenheiten der Kom gut genug, um zu wissen, dass die Miliz ohne den Segen und vermutlich auch ohne die Unterstützung des Verwaltungsbeamten in der Region nicht operieren konnte. Man bekam für Geld zwar eine Unterkunft und Sicherheit, aber Wallace war klar, dass er Vosuruks Vertrauen nur nach und nach gewinnen würde. Also verbrachte er seine Tage damit, Vosuruks Familie kennenzulernen und sie und andere Stadtbewohner zu fotografieren. Vosuruk hatte insgesamt fünf Söhne und vier Töchter. Sein ältester Sohn, Guktec, war ein schroffer Mann von Ende dreißig, der zwei Frauen und fünf Kinder hatte. Mit seinen vierzehn Jahren war Kurik Vosuruks jüngster Sohn, und seine Mutter Zara, eine introvertierte Frau, die Vosuruk als Letzte geheiratet hatte, war höchstens dreißig Jahre alt. Kurik hatte von ihr die großen Augen und ihre sanfte Art geerbt.
An seinem dritten Tag in der Stadt war Wallace mit Kurik und einigen seiner jüngeren Freunde im Schlepptau auf Erkundungstour gegangen und hatte mitten in dem Zedernwald, der die Berge ringsum bedeckte, eine Felsnase entdeckt. Sein erster Besuch dort war noch vom Lachen und Kichern der Jungen getrübt gewesen, aber als die Kinder das Interesse an ihm verloren, kehrte er in der folgenden Woche dorthin zurück, um einen abgeschiedenen Ort zu finden, an dem er mit seiner Trauer alleine sein konnte. Vosuruk bezeichnete die Felsnase scherzhaft als V’ot Tr’ok Si’ol, und Wallace fand heraus, dass V’ot »Fels« bedeutete. Da es ihm jedoch nicht gelang, seinen Kom-Namen zu übersetzen, wusste er nur, dass er in den Augen der Bewohner diesen Ort in seinen Besitz genommen hatte. Offensichtlich amüsierte es sie, dass er solche Strapazen auf sich nahm, nur um alleine zu sein.
Der Felsen befand sich fünfzehn Minuten zu Fuß vom Stadtrand entfernt und war nur über einen unwegsamen Pfad zu erreichen, den man aus einem unerfindlichen Grund in den dichten Wald geschlagen hatte. Als Wallace sich jetzt mit Kurik seinen Weg durch das Gestrüpp bahnte, sah er am Berghang die funkelnden Lichter, bis sich die scharf umrissene Silhouette der Stadt langsam in sein Blickfeld schob. Schließlich traten die beiden aus dem Schutz der Bäume und stiegen das Ende des Pfads empor. Der Aprilwind blies Wallace eine kräftige Brise entgegen, und er zog seine Wanderjacke dicht um seinen Hals. Seit seiner Ankunft hatte es nicht mehr geschneit, und das raue Wetter wich langsam frühlingshafteren Temperaturen, aber die kühlen Nächte riefen ihm die eisige Kälte in Erinnerung, die bei seiner Anreise im Februar geherrscht hatte.
Die lebensfeindlichen Bedingungen erforderten nicht nur besonders widerstandsfähige Tiere, sie hatten auch die Menschen hier abgehärtet. Die Kom, die in dieser Höhe der unbarmherzigen Landschaft trotzten, waren kleingewachsen, kräftig und robust. Es hatte drei Tage gedauert, um von Vosuruk für weitere hundert Dollar die Erlaubnis zum Fotografieren zu bekommen, und seit Wallace das Leben der Bewohner dokumentierte, hatte er keinen einzigen Fall von Fettleibigkeit beobachtet. Das konnte man sich in den Bergen nicht erlauben, denn die Umgebung würde jeden hinwegfegen, der dem Leben auf den unerbittlichen Hängen nicht gewachsen war.
Wallace hatte einen Monat lang vorsichtige Überzeugungsarbeit leisten müssen, bis Vosuruk erkannte, dass der Ausländer aus dem Westen keine Gefahr für seine Leute darstellte. Wallace hatte ihm Fotos und die dazugehörigen Artikel von seinen früheren Aufträgen in Afghanistan gezeigt sowie Arbeiten aus dem Irak, Somalia und anderen Krisenregionen auf der ganzen Welt. Er erklärte ihm, dass er das Leben der Menschen dokumentieren wolle, die inmitten eines Krieges lebten, der kein Ende zu nehmen schien. Wie die anderen Stämme in Nuristan waren die Kom seit über vierzig Jahren, seit dem Aufstand gegen die kommunistische Regierung Afghanistans in den Siebzigerjahren, in endlose Kämpfe verwickelt. Kinder wurden geboren und starben, ohne je etwas anderes kennenzulernen als Krieg, und Wallace wollte der Welt zeigen, wie es war, in einem andauernden Konflikt zu leben, in dem die Abzeichen auf den Uniformen der Feinde das Einzige waren, was sich veränderte.
Wallace’ leidenschaftliche Begründung hatte Vosuruk schließlich überzeugt, und Anfang März hatte er Wallace zusammen mit seinem ältesten Sohn, Guktec, ins »c’er to« – das Hochland – geführt. Wallace war seit Jahren nicht mehr geritten, doch seine alte Selbstsicherheit kehrte rasch wieder zurück, und er schaffte es, den beiden erfahrenen Reitern in die Berge zu folgen, ohne sich lächerlich zu machen. Aufgrund der Erfahrung ihrer Stammesväter, die sich der Islamisierung widersetzt hatten, der jahrzehntelangen Stammeskämpfe und dauerhaften Auseinandersetzungen mit ausländischen Invasoren waren die Kom in der Lage, militärische Operationen durchzuführen, die sie in ihrem Alltag möglichst wenig beeinträchtigten. Darum überraschte es Wallace auch nicht, als Vosuruk ihm auf dem Ritt zu den schneebedeckten Gipfeln erklärte, dass er eine wichtige Rolle bei der Organisation der Miliz spiele und Guktec einer ihrer Anführer sei.
Die beiden hatten Wallace zu einer gurk’ata vo – einer großen Höhle – zwei Tagesritte von Kamdesh entfernt geführt, in der insgesamt fünfundzwanzig Kämpfer hausten, wenn sie nicht gerade gegen die Taliban kämpften. Vosuruk erklärte Wallace, dass diese Männer maßgeblich an den Aktionen der Nordallianz beteiligt gewesen seien und in vorderster Front gegen die Regierung der Taliban gekämpft hätten. Da sie kein Interesse daran hatten, dass diese unseligen Zeiten wiederauflebten, hatten sie eine lose organisierte Einheit aus Angehörigen der Nuristani gebildet, um die überwiegend ausländischen Rebellen zu bekämpfen, die von Stützpunkten im Norden Pakistans aus operierten. Einige der Männer sprachen ein paar Brocken Englisch, und für die anderen übernahm Vosuruk die Rolle des Übersetzers. Nachdem es Wallace gelungen war, ihr anfängliches Misstrauen und ihre Bedenken zu zerstreuen, lernte er die Männer im Laufe der drei Tage besser kennen. Sie stammten alle aus Kamdesh und waren zwischen sechzehn und fünfundvierzig Jahre alt. Im Winter waren viele der Pässe nach Pakistan nicht begehbar, sodass die Möglichkeiten für einen Einsatz begrenzt waren. Aber jetzt, zum Frühlingsanfang, rechneten die Männer damit, dass sie bald wieder ins Gefecht ziehen würden.
Die erfahreneren Krieger hatten gegen zahlreiche Feinde gekämpft. Der älteste von ihnen, Malik, konnte sich noch daran erinnern, wie er seinen Vater während der Auseinandersetzung mit den Sowjets mit Munition versorgt hatte. Die Männer berichteten von ihren gefallenen Freunden, von den Feinden, die sie getötet hatten, und von den ehrlosen dillik, die ihnen Waffen verkauften. Wallace vermutete, dass das Wort »Verräter« bedeutete. Aber vor allem hatten sie von ihren Familien erzählt, und davon, welchen Preis sie für ihre Abwesenheit zahlten. Wenn man vier Jahrzehnte lang in einem ständigen Kriegszustand lebte, musste man Opfer bringen, und jeder einsatzfähige Kom verbrachte sechs Monate des Jahres im Hochland, um zu kämpfen. Die Männer absolvierten ihren Dienst jeweils im Wechsel von zwei Monaten, damit sie Zeit mit ihren Familien verbringen und sich um ihr Land und die Tiere kümmern konnten. Wie die britischen und amerikanischen Soldaten, die Wallace kennengelernt hatte, vermissten diese Männer ihre Frauen und Kinder und sehnten sich ein Ende der Auseinandersetzung herbei. Als sie Wallace schließlich so weit vertrauten, dass er sie fotografieren durfte, erkannte er in ihren Augen das schmerzliche Verlangen nach etwas, an das sie sich schon gar nicht mehr erinnern konnten – Frieden.
Vosuruk und die Männer studierten mehrere alte Karten, und Wallace begriff, dass sie einen Einsatz vorbereiteten. Aber sein Gastgeber wollte nicht mit ihm darüber reden und erklärte, dass es unhöflich sei, seinen Gast in Gefahr zu bringen. In Wirklichkeit gab er ihm auf freundliche Weise zu verstehen, dass er dem fremden Engländer und seiner Kamera immer noch nicht traute. Die Kom hatten mit westlichen Ausländern in der Regel keine guten Erfahrungen gemacht. Die Briten hatten die Macht über Nuristan an die Afghanen übergeben, die Sowjets hatten versucht, ihr Land zu erobern, und die Amerikaner waren, getrieben von Zorn, hier eingefallen, um den Tod tausender unschuldiger Menschen zu rächen.
Nachdem Wallace drei Tage lang über fünfzig brauchbare Fotos geschossen hatte, kehrten er und Vosuruk nach Kamdesh zurück. Guktec blieb bei den Kämpfern, um seinen zweimonatigen Dienst anzutreten. Auf ihrem Ritt zurück durch die Berge erzählte Vosuruk von seinen Hoffnungen für seine Kinder und für sein Volk. Er sehnte sich nach den Annehmlichkeiten des westlichen Lebensstils, einem Bildungssystem und nach Frieden. Wallace hörte ihm teilnahmsvoll zu. Er wusste, wie schmerzlich es war, wenn man sich nach etwas Unerreichbarem sehnte. Dennoch behielt er seine schrecklichen Erlebnisse für sich.
Am ersten Abend nach ihrer Rückkehr zeigte Wallace Vosuruk seinen Laptop und das Satelliten-Uplink, mit dem er seine Fotos an Getty schickte, die die Agentur dann an mögliche Interessenten verkaufte. Als Vosuruk sah, wie die Bilder hochgeladen wurden, und begriff, dass Wallace das aufrichtige Bedürfnis hatte, ihren Kampf unverfälscht zu dokumentieren, versicherte er ihm ruhig, dass er bald Gelegenheit bekommen werde, sie bei einem ihrer Einsätze zu fotografieren. Das war alles, was Vosuruk zu diesem Thema sagte, und nachdem Wallace sich fast vier Wochen lang gewissenhaft in Geduld geübt hatte, fragte er sich, ob sein Gastgeber es sich vielleicht doch anders überlegt hatte.
»Pam’o gu Soa«, sagte Kurik jetzt und deutete auf das hell erleuchtete Haus seines Vaters.
Wallace lächelte. Er vermutete, dass Kuriks Bemerkung etwas mit dem Fest zu tun hatte, vor dem er sich hatte drücken wollen. Vosuruks zweitgeborener Sohn, Druni, ein stiller, nachdenklicher Mann von Ende zwanzig, heiratete seine dritte Frau, Arani.
Der Waldbewuchs wurde spärlicher, und Wallace und Kurik erreichten den Stadtrand, wo der liebliche Zedernduft vom penetranten Gestank der Tiere und von Essensgeruch vertrieben wurde. Kurik lief vor Wallace den schmalen Weg entlang, der zum Haus seines Vaters hinaufführte, und als Wallace an der Stalltür stehen blieb, sagte er: »Nein. Komm.«
Widerwillig folgte Wallace Kurik die Leiter hinauf, die an der Stallwand lehnte, und kletterte zum Balkon auf dem Dach des Nachbargebäudes. Kurik führte ihn durch die offene Tür in das Hauptzimmer, das voller freudestrahlender Familienangehöriger und Freunde war. Sie trugen ihre farbenprächtigsten Gewänder und redeten aufgeregt über Drunis und Aranis gemeinsame Zukunft. Unwillkürlich fiel Wallace’ Blick auf Somol und Bozor, Drunis erste und zweite Frau. Die beiden saßen etwas abseits, und er fragte sich, was angesichts der Vermählung wohl in ihnen vorging.
Die Hochzeitsgesellschaft stand auf einem kunstvoll gewebten bunten Teppich, der fast den ganzen Fußboden bedeckte, und auf einer reich gedeckten Festtafel in der Mitte des Raums thronte eine gebratene Ziege.
»Willkommen, Tr’ok Si’ol«, rief Vosuruk quer durch das Zimmer.
Die meisten Gäste hatten Wallace’ Ankunft nicht bemerkt. Aber jetzt drehten sie sich um und richteten ihre Blicke auf den zögerlichen Ausländer. Als Reaktion auf die Begrüßung ihres Gastgebers brachen sie in herzlichen Jubel aus, und Wallace wich ein wenig zurück.
»Ich wollte nicht stören«, sagte er.
»T’chah!« Vosuruk machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte er signalisieren, was für ein Dummkopf Wallace war. »Jetzt können wir essen.« Er gab seinen Gästen ein Zeichen, die keine weitere Aufforderung benötigten und sich begeistert über das Festmahl hermachten. »Kamera«, rief Vosuruk durch das Stimmengewirr, und Wallace begriff, dass er nicht nur als Gast eingeladen war.
»Natürlich.« Wallace nickte und eilte aus dem Raum. Er kletterte die Leiter hinunter und öffnete vorsichtig die Stalltür, damit keine von Vosuruks Ziegen entwischen konnte.
Drei aufgezäumte Pferde zerrten an ihren Leinen, um Wallace zu beschnuppern, als er durch den Raum zu dem kleinen, abgetrennten Bereich lief, der nun schon seit über zwei Monaten sein Zuhause war. Er zog den Vorhang zur Seite und stellte seine Kameratasche auf das niedrige, erstaunlich bequeme Strohbett. Dann nahm er die Nikon 750, die für schwache Lichtverhältnisse besser geeignet war als die D4, und entschied sich für die 50-mm-Optik. Als er den Objektivkoffer wieder in der Kameratasche verstaute, hörte er draußen ein ungewohntes Geräusch. Er rannte aus dem Stall und kletterte wieder die Leiter hoch. Auf dem Balkon standen Vosuruk und Druni und starrten mit ernsten Gesichtern in den Himmel.
»Was ist das?«, fragte Wallace, während er das tiefe Dröhnen, das mit jeder Sekunde lauter wurde, zu identifizieren versuchte.
Vosuruk warf Wallace einen ungewohnt besorgten Blick zu. »Hubschrauber«, sagte er beunruhigt.
3
SOBALD ER AUS dem Koma erwacht war, hatten sie begonnen, sich in sein Inneres zu graben, und die Depressionen, die sie dabei aufwühlten, wurden mit jedem Tag schlimmer. Man hatte die Kugeln zwar längst entfernt, und die Stellen, an denen sie sich in seinen Körper gebohrt hatten, waren inzwischen vernarbt, aber die psychischen Folgen seiner Schussverletzungen setzten ihm schwer zu. Nach außen wahrte Patrick Bailey den überzeugenden Anschein von Professionalität, und er bezweifelte, dass Superintendent Cross irgendeine Veränderung an ihm beobachtet hatte. Seine Kollegen ertappten ihn vielleicht dabei, wie er während einer Unterhaltung plötzlich mit den Gedanken abschweifte, doch nur seine Familie und alte Freunde wie Salamander bemerkten die Langzeitfolgen der Schießerei. Sein Leben war jetzt eintöniger und trostloser, und er hatte Angst und fühlte sich verwundbar, ja sterblich. Er hatte es bereits im Krankenhaus festgestellt, als er bei jedem plötzlichen Geräusch zusammengezuckt und jedem Fremden, der vorbeikam, mit Misstrauen begegnet war. Selbst nachdem sein Arzt Entwarnung gegeben und er mit der Physiotherapie begonnen hatte, fürchtete er, dass man einen oder mehrere Kugelsplitter übersehen hatte – dass das tödliche Metall irgendwo in seinen Venen steckte und eines Tages zu seinem Herzen oder Gehirn wandern und ihn dann auf der Stelle töten würde.
Als diese Angst erst einmal von Bailey Besitz ergriffen hatte, wurde er sie nicht mehr los. Die imaginären Kugeln bohrten sich wie Insekten weiter in seine labile Psyche und wühlten noch mehr Dreck auf. Was, wenn sich neben seiner Lunge ein Blutgerinnsel gebildet hatte, wenn der Stress sein Herz geschwächt oder das Koma seinen Sinusrhythmus verändert hatte, sodass ihm ein Schlaganfall drohte? Je weiter sich die Parasiten in sein Inneres gruben, desto größer wurden sie, und Bailey wurde von neuen Ängsten heimgesucht, die seinen Stress noch verstärkten. Die Psychotherapeutin der Londoner Polizei, Jean Davis, eine nachdenkliche Frau mit einem kleinen, dunklen Büro in einer Seitenstraße der Edgware Road, sprach mit Bailey über die Folgen des Traumas und erklärte ihm, dass die körperlichen Symptome Ausdruck seiner Ängste seien. Sie zeigte ihm verschiedene Techniken, die ihm dabei helfen sollten, mit diesen Gefühlen umzugehen, und er lächelte und tat so, als würde er ihr zuhören. Nach dem Ende der vorgeschriebenen sechs wöchentlichen Sitzungen erklärte Jean ihn für diensttauglich, und in der Abteilung ahnte niemand etwas von den Beeinträchtigungen durch die Ängste, die sein paranoider Verstand heraufbeschwor.
In seinen ruhigeren Momenten sagte Bailey sich, dass er sich irrational verhielt und Jean recht hatte: Er war wieder genauso diensttauglich, gesund und leistungsfähig wie vor den Schüssen, die der Henker auf ihn abgefeuert hatte, und seine Ängste waren völlig unbegründet. Aber jedes Mal, wenn die Vernunft langsam die Oberhand gewann, wühlten sich die bösartigen Parasiten tiefer in sein Inneres und förderten neue Schrecken zutage, die ihn wieder aus dem Gleichgewicht warfen und in einen Zustand der Panik versetzten. Bailey hatte eine Menge geopfert, um John Wallace vor dem Henker zu retten, und er hatte sich einer monatelangen Physiotherapie unterziehen müssen, um sich von den Folgen der Schießerei zu erholen. Er war für seine Tapferkeit belobigt worden, aber er fand nicht, dass er besonders tapfer gewesen war. Er hatte lediglich getan, was nötig gewesen war, und einen hohen Preis dafür bezahlt. Körperlich war er inzwischen wieder genesen, doch er fürchtete, dass sich seine Psyche womöglich nie wieder erholen würde.
Aber im Dienst tat Bailey so, als wäre er wieder ganz der Alte. Er trug sein Lächeln wie eine schlecht sitzende Maske und erweckte wie der Darsteller einer Polizeiserie den Eindruck, als wüsste er genau, was er tat. Die Abende verbrachte er allein und hielt sich von den Menschen fern, die ihn am besten kannten, denn er wollte nicht, dass sie ihn auf die Veränderungen ansprachen, die sie an ihm beobachtet hatten, und durch ihre besorgten Äußerungen sein Unbehagen noch verstärkten. Er widersetzte sich mit dem Verstand seinen Ängsten und versuchte, das Problem in den Griff zu bekommen, indem er an den einsamen Abenden in seiner Wohnung nach Möglichkeiten recherchierte, seine innere Unruhe zu bekämpfen. Aber mit jeder neuen Information schienen die Parasiten mehr Macht über ihn zu erlangen, und jede neue Erkenntnis schien weitere Ängste heraufzubeschwören. Schließlich begriff er, dass man diesen urzeitlichen, irrationalen Gefühlen mit Logik nicht beikommen konnte. Er war kurz davor, seinen Arzt aufzusuchen, doch er wollte nicht, dass seine Angststörungen oder psychischen Probleme in seiner Personalakte vermerkt wurden. Darum setzte er seine Hoffnung darauf, dass die Zeit seine Wunden schließlich heilen würde, und riss sich jeden Tag aufs Neue zusammen, indem er das wachsende Gefühl ignorierte, dass hinter jeder Ecke der Tod lauerte.
In diesem Moment lief ein uniformierter Beamter vor Baileys Wagen entlang, und er trat auf die Bremse. Er wurde nach vorne geschleudert, und der Sicherheitsgurt spannte sich. Baileys Herz begann zu rasen, als ihm klar wurde, dass er den Mann beinahe überfahren hätte. Der junge Officer lief zum Fahrerfenster und klopfte gegen die Scheibe.
»Tut mir leid, Sir, die Straße ist gesperrt«, sagte der Officer.
»Detective Inspector Bailey«, erwiderte Bailey und tastete nach seinem Dienstausweis.
»Parken Sie irgendwo links«, wies der Beamte ihn an und entfernte sich wieder vom Wagen, um die Straßensperre zur Seite zu schieben.
Bailey winkte ihm zum Dank zu und fuhr, bestürzt über seinen Beinaheunfall, weiter. Manchmal war er so sehr damit beschäftigt, gegen seine Ängste anzukämpfen, dass er mit den Gedanken ganz woanders war und die Welt um sich herum vergaß. Er war auf seinen Autopiloten angewiesen, um weiter zu funktionieren, aber hin und wieder ließ dieser ihn im Stich. Dann verpasste Bailey ganze Passagen der täglichen Einsatzbesprechungen, oder er machte sich auf den Weg zu einem bestimmten Ort, um schließlich ganz woanders anzukommen. Diesmal hatte sein Autopilot ihn zwar an den richtigen Ort geführt – die Ufton Grove, eine kurze Wohnstraße, die entweder zu South Dalston oder zu North Islington gehörte, je nachdem, ob man eines der vierstöckigen Georgianischen Reihenhäuser kaufte oder verkaufte. Dennoch war Bailey beunruhigt, weil er beinahe den uniformierten Beamten angefahren hatte und sich an den Großteil der Fahrt durch Londons belebte Straßen nicht mehr erinnern konnte.
Er hielt auf einer Fläche, die mit Verkehrskegeln markiert war, hinter zwei Streifenwagen. Der Wagen der Forensiker stand direkt vor der Nummer 112, dem letzten Gebäude einer Häuserzeile an der südöstlichen Ecke der Straße.
Bailey wandte sich von der tiefstehenden Nachmittagssonne ab, deren Licht schräg durch die Äste der sprießenden Kirschblütenbäume fiel und eilte über die Straße in einen winzigen Garten. Er lief einen Steinweg durch ein Kiesbett entlang, das wie ein gefrorener See mehrere Topfpflanzen umgab, und versuchte, sich mit aller Macht zu konzentrieren. Er forderte sich selbst auf, seine Beklemmung zu vertreiben, damit sein wachsames Auge und sein scharfer Verstand eine echte Verbindung zur Welt herstellen konnten. Niemand hatte Verwendung für einen Detective, der aufgrund seiner Ängste seine Umgebung nicht mehr wahrnahm.
An der Türschwelle wartete ein schäbig aussehender Mann bereits auf Bailey. Seine schwarzen Haare fielen in fettigen Locken an seinem bleichen, aufgedunsenen Gesicht herunter.
»Detective Inspector Bailey?«, fragte der Mann und streckte seine Hand aus. »Detective Sergeant Murrall. Nennen Sie mich Jack. Danke, dass Sie gekommen sind.«
Bailey schüttelte Murralls feuchte Hand und fragte sich, ob der Grund für den Schweiß in dessen Gesicht seine Nervosität oder sein angeschlagener Gesundheitszustand war. Murralls schlechtsitzender, billiger Anzug war mit Flecken übersät, und er wirkte wie ein verkrachter Handlungsreisender und weniger wie ein Cop.
»Ich helfe gerne«, erwiderte Bailey mit einem Lächeln. »Womit haben wir es zu tun?«
»Gehen wir nach oben«, sagte Murrall und trat ins Haus.
Bailey spürte ein unregelmäßiges Pochen in seiner Brust, und in seiner Panik verschwand alles um ihn herum. Er blieb neben der Eingangstür stehen, denn er konnte seinem Job erst nachkommen, wenn die Woge der Panik wieder abgeklungen war. Er konzentrierte sich auf seinen Körper und suchte nach weiteren Anzeichen dafür, dass er jeden Augenblick sterben würde. Am liebsten hätte er seinen Puls gefühlt, doch er wurde beobachtet.
»Alles okay?«, fragte Murrall.
»Ja. Ich muss mich nur orientieren«, log Bailey.
So plötzlich wie die Panik von ihm Besitz ergriffen hatte, war sie auch wieder verflogen, und von allen Seiten stürmten Sinneseindrücke auf ihn ein. Bailey bemerkte seine Reflexion in einem großen, goldgerahmten Spiegel, der im weiß gestrichenen Eingangsbereich hing. Du bist alt geworden, dachte er, als er seinen gehetzten Blick bemerkte. Sonst hatte er sich seit der Schießerei kaum verändert. Allerdings hatte sein ehemals sportlicher Körper ein paar Pfund zugelegt, und wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass seine dunkle Haut an einigen Stellen mit winzigen Stresspickeln überzogen war.
Er folgte Murrall ein schmales Treppenhaus hinauf. Der dicke grüne Teppichboden erinnerte Bailey an ein Herrenhaus, und der rote Läufer mit Messingnieten sorgte für ein altmodisches, luxuriöses Ambiente. Neben der Treppe hingen mehrere Familienfotos, die ein schlankes, attraktives und selbstbewusstes Paar sowie zwei hübsche, kleine Jungen zeigten.
»Sylvia Greene«, sagte Murrall, als er die erste Treppe emporstieg. »Die Herausgeberin des London Record.«
»Ich habe den Namen schon mal gehört«, stellte Bailey fest.
»Ihr Ehemann ist Connor Greene. Er ist Grafikdesigner«, fuhr Murrall fort. »Ihre beiden Jungen heißen Hector und Joseph. Sie sind bei ihren Cousins.«
»Die Mutter?«, fragte Bailey und betrachtete ein Porträt von Sylvia. Er bemerkte in ihren Augen einen vertrauten gequälten Ausdruck, der jedoch von einer selbstbewussten Unbekümmertheit kaschiert wurde.
Murrall nickte. »Sie ist oben«, sagte er und deutete auf die nächste Treppe.
Bailey folgte dem rundlichen Detective, der bereits leicht außer Atem war. Er warf einen Blick in die Schlafzimmer, als sie den Treppenabsatz überquerten, und stellte fest, dass selbst die Zimmer der Jungen tadellos aufgeräumt waren. Die Möbel waren eine zusammengewürfelte Mischung aus Antiquitäten, die man offensichtlich von verschiedenen Haushaltsauflösungen zusammengetragen hatte. Man hatte viel Sorgfalt darauf verwendet, dieses ungezwungene, wunderschöne Zuhause zu erschaffen. Auf einem Beistelltisch am Fuß der nächsten Treppe entdeckte Bailey in mehreren Silberrahmen weitere Familienfotos. Er stieg hinter Murrall zu einem winzigen Absatz unter dem Dach hinauf, von dem zwei Türen abgingen. Im Raum zur Rechten konnte Bailey hektische Betriebsamkeit hören, und er folgte Bailey ins Innere.
Von einem freiliegenden Dachbalken hing Sylvia Greenes Leiche, und zwei Forensiker in weißen Overalls begrüßten Murrall, als er mit Bailey den Raum betrat.
»Sie sind hier zwar noch nicht fertig«, sagte Murrall, »aber ich wollte, dass Sie sie sehen. Damit Sie verstehen, warum wir Sie angerufen haben.«
Bailey fielen die Gemeinsamkeiten der beiden Fälle sofort ins Auge. Das Seil um Sylvia Greenes Hals war genauso dick wie das Exemplar, das sie in Wallace’ Wohnung gefunden hatten, und wie Wallace war sie nur mit Unterwäsche bekleidet.
»Ist das Blut?«, fragte Bailey, als er auf dem grünen Teppichboden mehrere dunkelrote Flecken bemerkte.
»Wir gehen davon aus«, sagte Murrall. »Sie hat keinerlei Verletzungen, darum nehmen wir an, dass sie einen möglichen Angreifer verletzt hat.«
»Darf ich?«, fragte Bailey und trat vor.
»Sicher.« Murrall nickte, und Bailey ging weiter auf die Leiche zu.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte Bailey und inspizierte den Tatort.
»Ihr Ehemann, Connor Greene.«
Bailey konzentrierte sich auf die Umgebung und versuchte nicht, an das bodenlose Entsetzen zu denken, das der Mann beim Anblick seiner toten Frau empfunden hatte. Unter einem Fenster in der Dachschräge stand ein Schreibtisch mit Lederoberfläche. Darauf waren fein säuberlich ein Laptop, mehrere akkurate Papierstapel, weitere Familienfotos und ein Behälter mit Kugelschreibern und Bleistiften angeordnet – alles schien an seinem Platz zu sein, abgesehen von dem Schreibtischstuhl, der direkt unter der Leiche auf der Seite lag. Bailey trat zu Sylvia und begutachtete ihre Finger, die auf seiner Kopfhöhe herabbaumelten. Ihre Nägel waren rissig und abgebrochen, und darunter befanden sich jede Menge Dreck und Stofffasern. Bailey schaute nach oben, und beim Anblick der Toten wurde ihm schwindelig. Früher hatte er nie ein Problem mit Leichen gehabt, aber jetzt musste er gegen das Verlangen ankämpfen, das Weite zu suchen und möglichst weit wegzulaufen. Er unterdrückte seine Angst und konzentrierte sich auf Sylvias Hals, der dort, wo sie versucht hatte, sich die Schlinge abzureißen, mit Kratzspuren übersät war. Die Schürfungen waren hellrot, und ihre Haut hatte noch nicht jene bläuliche Färbung angenommen, die erst lange nach dem Tod eintrat – die Leiche hing erst seit ein paar Stunden hier. Bailey blickte an ihrem strähnigen blonden Haar vorbei zu dem Dachbalken empor, an dem das schwere Seil fest gegen das Hartholz drückte.
»Was denken Sie?«, fragte Murrall.
Bailey zögerte und zwang sich, Sylvia Green direkt ins Gesicht zu schauen. Jetzt quält dich nichts mehr, dachte er düster, während er ihre glasigen, hervorgetretenen Augen betrachtete. »Haben Sie einen Abschiedsbrief gefunden?«
Murrall schüttelte den Kopf. »An dem Fall können wir uns die Finger verbrennen, Sir. Ich weiß ja nicht, ob Sie den Record lesen, aber die Frau hat daraus eine sehr erfolgreiche Zeitung gemacht. Sie hat eine Menge aufsehenerregender Artikel veröffentlicht und eine Menge einflussreicher Leute gegen sich aufgebracht.«
»Wo ist ihr Mann?«, fragte Bailey.
»Unten bei der Opferbetreuerin«, erwiderte Murrall.
»Hat er irgendwas gesagt?«
»Nein. Er hat sich zusammengerissen, bis seine Schwester die beiden Jungs abgeholt hat, aber dann konnte er sich nicht länger beherrschen.«
»Wir sollten versuchen, mit ihm zu reden«, schlug Bailey vor und ging Richtung Tür, erleichtert darüber, etwas Abstand zwischen sich und den Tod zu bringen.
Ohne Murralls Fragen zu beantworten, folgte Bailey seinem keuchenden Kollegen nach unten und dachte über das nach, was er gerade gesehen hatte. Abgesehen von den Blutflecken auf dem Teppichboden gab es kein Anzeichen für einen Mord. An dem Balken, von dem Sylvia Greenes Leiche hing, fanden sich keinerlei Abnutzungsspuren, was darauf hindeutete, dass sie nicht von einer anderen Person daran hochgezogen worden war. Aufgrund der Ergebnisse des kriminaltechnischen Berichts zu den Blutspuren war Bailey geneigt, Sylvia Greenes Tod als Selbstmord einzustufen. Das änderte sich allerdings schlagartig, als er ihrem Ehemann, Connor, gegenübertrat. Der verzweifelte Witwer saß in seiner Kellerküche neben mehreren hochgelegenen Fenstern an einem Tisch mit Kiefernholzplatte. Seine Trauer war zweifelsohne echt, aber als Connor zu ihm herübersah, bemerkte Bailey einen vertrauten Ausdruck in seinem Gesicht, den er bereits bei unzähligen Verbrechern beobachtet hatte: das Unbehagen des Lügners.
»Mr. Greene?« Bailey lief durch die teure weiße Küche, und seine Schuhabsätze klapperten über die harten Steinfliesen. »Wie geht es Ihnen?«
Connor blickte zu der uniformierten Opferbetreuerin, einer jungen Beamtin mit ernstem Gesicht, und hoffte vergeblich, dass sie für ihn die Frage beantwortete. Die junge Beamtin schaute Bailey in die Augen und schüttelte langsam den Kopf. Connor ließ sein Kinn auf die Brust sinken, den Blick weiter auf das filigrane Naturmuster in den Steinfliesen zu seinen Füßen gerichtet.
»Glauben Sie, dass Sie in der Lage sind, mit uns zu reden?«, fuhr Bailey fort und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte in der Mitte der Küche. Ohne Murralls besorgtem Blick Beachtung zu schenken, zog er sein Jackett aus und krempelte die Ärmel hoch, während er darauf wartete, dass Connor seine Frage beantwortete. »Hier unten ist es ziemlich feucht.«
Als der trauernde Mann den Kopf hob, versuchte Bailey, an dessen Augen seine Gefühle abzulesen. Wie erwartet zeigten sich darin Schmerz, Wut und Feindseligkeit, aber sie verrieten auch sein Unbehagen, denn er war nicht in der Lage, dem Detective in die Augen zu schauen. Bailey ging in die Hocke und schob sich in Connors Sichtfeld. »Was denken Sie, Mr. Greene?«