Das Buch
London, 1910: Daniel Pitt, Sohn des berühmten Sir Thomas Pitt, hat sein Studium der Rechtswissenschaft abgeschlossen und seine erste Stelle in einer Anwalts-Sozietät angetreten. Der juristische Alltag mit seinen Aktenbergen beginnt ihn schon zu langweilen – da erhält er plötzlich doppelte Gelegenheit, sich zu beweisen: Sein Vater verschafft ihm den Auftrag, einen alten Bekannten zu verteidigen, es geht um nicht weniger als Leben und Tod. Nahezu zeitgleich soll er außerdem einen erfahrenen Kollegen in einem spektakulären Mordfall unterstützen, der im berühmten Londoner Strafgerichtshof Old Bailey verhandelt wird: Russell Graves ist angeklagt, seine Ehefrau auf grausame Weise ermordet zu haben. Alles spricht gegen Graves, und seine dünkelhafte Art gestaltet die Verteidigung nicht eben leichter. Nur wenige Wochen Frist bleiben, ihn vor dem Galgen zu bewahren. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Die Autorin
Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane, in denen sie das England des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts wiederauferstehen lässt, begeistern ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland.
Todesurteil im Old Bailey ist der erste Roman um den jungen Anwalt Daniel Pitt. In der Reihe um seinen Vater Thomas Pitt, den Leiter des Staatsschutzes, sind zahlreiche Bücher im Heyne Verlag lieferbar, zuletzt erschienen: Letzte Stunde im Hyde Park.
ANNE PERRY
TODESURTEIL
IM
OLD BAILEY
Ein Daniel-Pitt-Roman
Aus dem Englischen
von K. Schatzhauser
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Für Aviva Layton in
freundschaftlicher Verbundenheit
Sie befanden sich allein in dem kleinen Besucherraum, in dem der Anwalt mit dem Angeklagten sprechen durfte.
»Man wird mich zum Tod durch den Strang verurteilen, nicht wahr?«, fragte Roman Blackwell leise mit um Festigkeit bemühter Stimme. Doch Daniel erkannte die Angst in seinen Augen. Was sollte er dem Mann sagen? Schon den ganzen Tag hatte er sich vor diesem Moment gefürchtet. Erst seit einem knappen Jahr war er als Strafverteidiger zugelassen, der vor höheren Gerichten bei Kapitalverbrechen plädieren durfte. Da war es kein großes Wunder, dass der Prozess, in dem es für seinen Mandanten um Leben und Tod ging, ungünstig stand.
Wie aber hätte er das Mandat ablehnen können? Sein Vater, Sir Thomas Pitt, hatte den Leiter der Anwalts-Sozietät gefragt, ob er bereit sei, Daniel den Fall anzuvertrauen. Blackwell war als privater Ermittler tätig gewesen, und aufgrund seiner Abenteurernatur war es durchaus vorgekommen, dass er hier und da Aufträge übernommen hatte, die nicht ganz einwandfrei waren, wie auch der eine oder andere seiner Auftraggeber nicht unbedingt ein Unschuldsengel war.
In den Jahren, in denen Pitt Leiter der Polizeiwache in der Bow Street im Herzen Londons gewesen war, lange bevor er zum Staatsschutz gegangen war, hatte Blackwell als Polizeibeamter zu seiner Dienststelle gehört. Pitt hatte ihn wegen seines bisweilen skurrilen Humors und trotz seiner mitunter etwas fragwürdigen Moralvorstellungen gut leiden können. Mehr als einmal hatte er ihn vor den Folgen seiner Handlungsweise, bei der er sich nur selten an die Vorschriften hielt, bewahrt. Blackwell seinerseits hatte gelegentlich auch Pitt aus der Patsche geholfen. Dennoch war schließlich der Augenblick gekommen, in dem Pitt ihm nahegelegt hatte, den Polizeidienst zu quittieren, bevor er sich etwas zuschulden kommen ließ, wobei man nicht wie bisher ein Auge hätte zudrücken und anschließend wieder zur Tagesordnung hätte übergehen können. Zögernd hatte Blackwell diesen Rat befolgt.
Pitt hatte sein nahezu freundschaftliches Verhältnis zu Blackwell nie vergessen, und jetzt, da der Mann wegen eines schweren Gesetzesverstoßes vor Gericht stand, hatte er nichts Besseres für ihn tun können, als seinen Sohn Daniel darum zu bitten, dass er, wie von Blackwell gewünscht, dessen Verteidigung übernahm.
Unmöglich hätte Daniel sich dieser Bitte versagen können. Auch er konnte seinen Mandanten gut leiden, vermutlich aus denselben Gründen wie sein Vater: der Mann besaß Humor, Vorstellungskraft und war von einem durch nichts zu erschütternden Optimismus.
Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, musste Daniel zugeben, dass ihn die Juristerei mittlerweile ziemlich anödete. Das Studium der Rechtswissenschaft hatte ihn begeistert, aber der juristische Alltag mit seinen Aktenbergen langweilte ihn. Seine anfänglichen Träume von glanzvollen Kämpfen, die es im Dienst der Gerechtigkeit auszutragen galt, waren zerplatzt wie Seifenblasen.
Seine Situation als unerfahrener Neuling bedrückte ihn.
Sein Gegenspieler war Douglas Sefton, ein ebenso fähiger wie wortgewandter Anklagevertreter, der fest entschlossen war, im fünften Anlauf endlich einen Schuldspruch gegen Roman Blackwell zu erwirken. Immerhin lautete die Anklage diesmal auf Mord.
Aufmerksam sah Blackwell Daniel an. Er wartete auf eine Antwort. Der Mann würde es sofort merken, wenn er ihn belog. Und welchen Sinn hätte es im Übrigen, ihm die Unwahrheit zu sagen? Er würde ihn damit nur gegen sich aufbringen.
»Ja«, gab Daniel ähnlich leise zurück. »Und genau deshalb müssen wir beweisen, dass nicht Sie John Hintons Mörder sind.«
»Sie wollen auf ›begründeten Zweifel‹ plädieren?«, fragte Blackwell mit einem Anflug von Hoffnung.
»Damit würden wir nicht durchkommen«, antwortete Daniel, bemüht, es ihm so schonend wie möglich beizubringen. »Das Gericht wird darauf bestehen, dass wir stichhaltige Gründe vorbringen. Außerdem müssen wir den Geschworenen einen glaubhaften Verdächtigen präsentieren, damit die nicht Sie schuldig sprechen.«
»Aber ich habe nichts damit zu tun!«, stieß Blackwell mit brüchiger Stimme hervor. Einen kurzen Augenblick lang lag unverhüllte Verzweiflung darin. »Ich habe die Waffe ja nicht mal angefasst!«
»Den Fingerabdrücken nach aber auch sonst niemand …«
»Was für Fingerabdrücke?«, fiel Blackwell ihm ins Wort. »Da waren ja gar keine!«
»Stimmt, aber jemand hat einen Schuss daraus abgegeben«, hielt Daniel dagegen.
»Vielleicht mit Handschuhen?«, fragte Blackwell mit einem plötzlichen Aufleuchten seines Gesichts. »Dann muss das jemand gewesen sein, der sich mit Fingerabdrücken auskennt und weiß, dass sie bei jedem Menschen anders sind.«
»Das ist den Chinesen seit Jahrhunderten bekannt.« Daniel schien das Phänomen als solches ausgesprochen interessant. Es war gerade einmal fünf Jahre her, dass ein britisches Gericht im Jahre 1905 erstmals zwei Mörder anhand ihrer Fingerabdrücke überführt und verurteilt hatte.
»Klar ist: Wenn nicht Sie die Tat begangen haben, muss es ein anderer gewesen sein. Denn es steht unverrückbar fest, dass Hinton erschossen wurde. Bedauerlicherweise gibt es aber keinerlei Zweifel daran, dass Sie den Mann gut kannten und mit ihm in Streit geraten sind, weil er Ihnen Geld schuldete …«
»Das waren doch nur ein paar Pfund«, sagte Blackwell aufgebracht. »Für einen so läppischen Betrag bringe ich doch niemanden um!«
»Parks Aussage nach ging es um vierhundert Pfund«, erinnerte ihn Daniel. »Das ist ein Haufen Geld.«
»Das können Sie laut sagen«, gab ihm Blackwell recht. »Und so viel soll ich einem windigen Burschen wie Hinton geliehen haben? Da hätte ich schön blöd sein müssen!«
Mit einem trübseligen Lächeln erwiderte Daniel: »Von Ihnen ist bekannt, dass Sie mitunter großzügig sind. Außerdem …«
»So großzügig nun auch wieder nicht«, hielt Blackwell dagegen und strich sich die pechschwarzen Haare aus der Stirn.
»… weiß man, dass Sie gelegentlich zu tief ins Glas schauen und dann nicht mehr wissen, was Sie getan haben«, schloss Daniel.
»In Geldangelegenheiten bin ich nicht vergesslich«, begehrte Blackwell auf. »Schon gar nicht, wenn es um so hohe Beträge geht!«
»Nicht mal dann, wenn Sie …«, sagte Daniel und zögerte kurz, »… sturzbetrunken sind?«
»Das könnte ich nicht mal vergessen, wenn ich es wollte.« Blackwell schüttelte den Kopf. »So viel hatte ich damals übrigens gar nicht intus, und ich hatte auch nicht so viel Geld.«
»Können Sie das beweisen?« Daniel wusste, dass der Mann dazu nie und nimmer imstande wäre.
»Ich hab es nicht getan«, wiederholte Blackwell mit einer Stimme, in der Verzweiflung über diese absurde Anschuldigung lag. »Warum hätte ich einem Nichtsnutz wie Hinton überhaupt so viel Geld leihen sollen? Das ergibt doch gar keinen Sinn.«
»Man wird sagen, dass Sie zur Tatzeit betrunken waren«, gab Daniel kühl zurück. »Sie müssen einsehen, dass es unsinnig wäre, etwas zu behaupten, wofür wir keinen Beweis liefern können.« Er beugte sich leicht über den Tisch vor, der zwischen ihnen stand. »Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, die Geschworenen zu einem Sinneswandel zu bewegen: Wir müssen erreichen, dass sie einen ernsthaften Verdacht gegen einen anderen hegen. Sofern Hinton nicht so harmlos war, wie ihn die Anklage hinstellt, hatte er vermutlich andere Feinde. Überlegen Sie gründlich. Wer könnte das sein, und was für Motive könnten sie haben? Nennen Sie mir Namen – Leute, die er betrogen, belogen, verleumdet oder in Schwierigkeiten gebracht hat. Leute, gegen die er vor Gericht als Zeuge aufgetreten sein könnte.«
Blackwell dachte angestrengt nach. Er war nicht besonders groß, aber breitschultrig und kräftig gebaut. In den letzten Minuten schien er auf seinem harten Holzstuhl geschrumpft zu sein.
Daniel überlegte, womit er ihn ermutigen könnte. Sein Motiv dafür war keineswegs reine Menschenfreundlichkeit, sondern Blackwell war für ihn der Einzige, durch den er an Informationen gelangen konnte, die es ihm vielleicht ermöglichen würden, andere mit dem Mord in Verbindung zu bringen oder zumindest eine andere Taktik anzuwenden.
Mit einem Ausdruck der Hoffnungslosigkeit hob Blackwell den Blick.
Oscar Park war der Hauptzeuge gegen ihn, und es war Daniel bisher nicht gelungen, einen Schwachpunkt in dessen Aussagen zu entdecken. Nun kam es ihm so vor, als klammerte er sich an Strohhalme. »Um zu erreichen, dass die Geschworenen Parks Aussage anzweifeln, müssen wir etwas über ihn herausbekommen – aber was? Ein toter Hinton hätte Ihnen jedenfalls nichts genutzt, denn er hat Ihnen Geld geschuldet.«
»Als er noch lebte, hat er auch keinem genützt«, gab Blackwell mit einem sarkastischen Lächeln zurück. »Glauben Sie, dass das für das Gericht eine Rolle spielt?«
Daniel fühlte sich angesichts der Aussichtslosigkeit der Sache so verzweifelt, dass er das Lächeln nicht erwidern konnte.
»Was könnte das Motiv dafür sein, dass Park im Zeugenstand lügt? Immerhin geht er damit ein hohes Risiko ein, denn er steht unter Eid. Offenkundig hat er einen Grund dafür. Den müssen wir herausbekommen.«
»Den Grund kenne ich nicht«, sagte Blackwell matt. »Ich hab dem Mann nie was getan.«
Daniel beugte sich noch ein wenig weiter vor. »Es muss gar keine so direkte Beziehung zwischen Ihnen beiden dahinterstecken. Sie haben doch bestimmt genug Fantasie, um sich vorzustellen, was stattdessen der Anlass sein könnte. Was wissen wir mit Sicherheit? Ganz gleich, was Hinton Ihnen schuldig geblieben ist oder nicht, Sie haben ihm nie und nimmer vierhundert Pfund geliehen – dafür bekommt man schließlich schon ein kleines Haus. Woher könnte Park von der Sache erfahren haben? Hat Hinton ihm das Geld geschuldet?«
»Vielleicht. Park war jedenfalls knapp bei Kasse«, gab Blackwell zurück. »Ich hab ihm früher mal fünfzig Pfund geliehen. Davon hab ich nie wieder was gesehen.«
»Ja, vielleicht geht es in die Richtung. Hatte er möglicherweise auch bei anderen Schulden? Wenn ich nur wüsste, wer das sein könnte. Ich brauche unbedingt etwas Handfestes.« Daniel hörte die Schärfe in seiner eigenen Stimme und mahnte sich zur Selbstbeherrschung.
Blackwell schwieg.
Angestrengt suchte Daniel nach einem plausiblen Zusammenhang. »Und was ist mit Rache als Motiv? Hasst Park Sie? Haben Sie ihm etwas getan?«
»Nein, aber ich hätte große Lust dazu«, gab Blackwell in feindseligem Ton zurück. »So ein Schweinehund. Wenn ich bedenke, wie viel Geld ich dem geliehen habe.« Sein Gesicht verzog sich vor Abscheu.
Daniel ergriff über den Tisch hinweg Blackwells Handgelenk. »Er schuldet Ihnen Geld und lohnt Ihnen das auf diese Weise? Das ist schlimmer als Undank.«
»Es geht nicht nur um das Geld«, sagte Blackwell rasch und schüttelte den Kopf.
»Worum denn noch?«, erkundigte sich Daniel.
»Um nichts, was Sie vor Gericht verwenden können«, erklärte Blackwell in einem Ton bitterer Selbstironie. »Die Sache war ein bisschen ungesetzlich. Ein Grenzfall, nur auf der falschen Seite der Grenze. Wenn das rauskommt, locht man mich auf jeden Fall dafür ein, weil die Gelegenheit so günstig ist.«
Daniel überlegte kurz, ob er der Sache nachgehen sollte.
»Lassen Sie es lieber«, riet ihm Blackwell, als könnte er Daniels Gedanken lesen. »Es ist besser, Sie wissen nichts davon. Es geht um ein Schriftstück mit einer … nicht ganz einwandfreien Unterschrift.«
»Und davon weiß Park?«, fasste Daniel rasch nach. Der bekümmerte Blick seines Gegenübers zeigte ihm, dass Blackwell das bewusste Schriftstück für Park gefälscht hatte. »Das wäre ein möglicher Grund, Ihnen schaden zu wollen«, sagte Daniel. Vielleicht lieferte ihm das eine Handhabe.
Blackwell hob die Brauen. »Ich hab ihm einen Gefallen getan.«
»Er hat Schulden gemacht. Warum zahlt er sie nicht zurück? Entweder kann er nicht, oder er will nicht.«
»Wie alt sind Sie?«, fragte Blackwell.
»Fünfundzwanzig.«
»Und schon so ein Zyniker«, sagte Blackwell und seufzte theatralisch.
»Das liegt daran, dass ich Anwalt bin. Raus mit der Sprache: Welchen Gefallen haben Sie ihm getan?«
Blackwell schwieg eine ganze Weile.
Daniel packte sein Handgelenk fester. »Wir dürfen keine Zeit vergeuden. Man kann uns jeden Augenblick in den Gerichtssaal rufen. Was haben Sie für Park getan, dass er Sie in der Hand zu haben glaubt und es nicht für nötig hielt, Ihnen das Geld je zurückzuzahlen?«
»Ich habe es Ihnen schon gesagt – ich habe keine Beweise!«, wiederholte Blackwell.
»Ach was, das kann er doch gar nicht wissen«, entgegnete Daniel in scharfem Ton. »Erzählen Sie mir Genaueres …«
Blackwell schwieg weiter.
»Sie haben mich gefragt, ob man Sie hängen wird«, stieß Daniel zwischen den Zähnen hervor, und ihm war der Klang seiner eigenen Stimme zuwider. »Ja! Und in solchen Fällen ist es so gut wie unmöglich, zu erreichen, dass ein einmal gefälltes Urteil noch revidiert wird.«
»Na schön. Ich hab für ihn ein paar Schriftstücke abgefasst … aber nur ein einziges Mal. Außerdem ein Empfehlungsschreiben. Lauter zusammenfantasierte Sachen.« Blackwell verzog das Gesicht. »Muss ich Ihnen das in Einzelheiten erzählen?«
»Was war denn daran schlimm? Inwiefern haben Sie damit die Wahrheit verdreht?«, wollte Daniel wissen.
»Indem ich geschrieben habe, dass er eine ehrliche Haut ist und eine Vertrauensstellung in einer Firma hatte, die im Ausland Geschäfte macht.«
»Das entsprach aber nicht der Wahrheit?«
»Die Firma gab es gar nicht. Ich hab mit dem Namen eines Toten unterschrieben«, erklärte Blackwell mit kläglicher Miene.
»Und hat Park die Stellung noch?«
»Ja, und zwar aufgrund meines Empfehlungsschreibens.«
»Hat er seine Position für unredliche Zwecke genutzt?« Daniel konnte sich die Antwort denken. Sie ließ sich an Blackwells Gesicht ablesen, auf dem sich Stolz und Beschämung mischten.
»Aber die Firmeninhaber wissen noch nichts davon, und falls ich jetzt rede, muss ein anderer dafür geradestehen«, erwiderte er.
»Und falls mir nicht der Nachweis gelingt, dass der Mann unzuverlässig ist, wird ein anderer für den Mord geradestehen müssen – nämlich Sie!«
Bevor Blackwell darauf antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen. Eine nicht sonderlich große, aber bemerkenswert gutaussehende Frau mit üppigem Busen und breiten Hüften stand auf der Schwelle. Eine weiße Strähne über der Stirn betonte die Schwärze ihrer zu einem Knoten hochgesteckten Haare. Ihre olivfarbene Gesichtshaut war vor Anstrengung und vielleicht auch aufgrund einer gewissen Gereiztheit gerötet.
Mit schwarzen Augen, die Blitze sprühten, sah sie Daniel an, ohne Blackwell eines Blickes zu würdigen. »Es wird Zeit, dass Sie etwas unternehmen, junger Mann! Ich bezahle Sie nicht dafür, dass Sie nett sind – wenn das was nützen würde, könnte ich das selber tun!«
Daniel erhob sich, um sie zu begrüßen. Sie war Blackwells Mutter, und von ihr war offiziell die Anregung ausgegangen, Daniel mit der Verteidigung ihres Sohnes zu betrauen, was Marcus fford Croft, der Leiter der Anwalts-Sozietät fford Croft & Gibson mit gemischten Gefühlen aufgenommen hatte.
Sie schloss die Tür und trat an den Tisch. Blackwell erhob sich und bot ihr seinen Stuhl an, doch sie setzte sich nicht. Sie war nicht gekommen, um sich mit Höflichkeit und Ausflüchten abspeisen zu lassen.
»Nun? Was werden Sie unternehmen? Auf welche Weise gedenken Sie gegen diese elenden Kreaturen vorzugehen?« Sie brauchte keine näheren Erklärungen abzugeben. Die kurze Mittagspause, in der sich Pitt mit seinem Mandanten unterhalten konnte, hatte man ihnen eingeräumt, während Park seine Aussage machte.
Bevor Blackwell den Mund auftun konnte, um die Aussichtslosigkeit seiner Lage zu erläutern, sagte Daniel rasch: »Wir werden unsererseits zum Angriff übergehen, Mrs. Blackwell.«
»Gut. Gegen wen?«
»Gegen den Mann, dessen Aussage Ihren Sohn am meisten belastet und der allen Grund hat, die Unwahrheit zu sagen«, gab Daniel zur Antwort, bemüht, seine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen.
Sie nickte zustimmend, doch ihr Blick gab zu erkennen, dass sie skeptisch war. Sie wollte Beweise, bevor sie zu hoffen wagte.
Daniel wusste, was sie hören wollte. Er holte tief Luft. »Park. Der Mann ist angreifbar, und inzwischen kenne ich auch seinen Schwachpunkt.«
Sie nickte bedächtig. Er war überzeugt, dass sie Einzelheiten von ihm verlangt hätte, wenn sie allein gewesen wären, aber ein rascher Blick zu ihrem Sohn hatte ihr dessen Verzweiflung gezeigt. Es war Daniel bewusst, dass sie nicht daran dachte, ihm etwas zu ersparen. Inzwischen war ihm das Geplänkel zwischen den beiden vertraut, und er erkannte hinter den Scheingefechten und heftigen Auseinandersetzungen die unverbrüchliche und unerschütterliche Loyalität der Mutter gegenüber dem Sohn. Sie kritisierte ihn nach Strich und Faden und würde nicht davor zurückschrecken, ihn zu schlagen, wenn er sie bis aufs Blut reizte, aber wehe dem Außenstehenden, der etwas gegen ihn sagte! Er würde den Tag verfluchen, an dem er sich dazu hatte hinreißen lassen.
Daniel erwog noch, welche nähere Erklärung er abgeben könnte, da kehrte der Gerichtsdiener mit der Mitteilung zurück, dass die Pause zu Ende sei, und führte Blackwell wieder auf die Anklagebank.
Bevor auch Daniel erneut seinen Platz im Gerichtssaal, den er insgeheim als Kampfarena bezeichnete, aufsuchen konnte, wandte sich Mercedes Blackwell ihm zu, ehe sie ihrerseits auf die Zuschauergalerie zurückkehrte. »Haben Sie wirklich einen Plan, junger Mann?«, fragte sie. Ihre schwarzen Augen schienen ihm Löcher in den Kopf brennen zu wollen, um seine Gedanken lesen zu können.
Er nahm an, dass das ihre Art war, nicht zu zeigen, wie besorgt sie war. Auch seine Mutter verstand es, ihren Standpunkt durchzusetzen, wenn sie das für erforderlich hielt. Mindestens zwanzig seiner fünfundzwanzig Lebensjahre hindurch hatte er reichlich Gelegenheit gehabt, ihr wieder und wieder standzuhalten. Auch seine ältere Schwester Jemima hatte bei den Auseinandersetzungen der Geschwister während der Kindheit und frühen Jugend bewiesen, dass sie keinesfalls auf den Mund gefallen war. Mithin war Daniel der Umgang mit wortgewaltigen Frauen alles andere als fremd.
»Ja. Ich kann mir gut vorstellen, dass Park der Mörder ist. Ich werde den Geschworenen vor Augen führen, warum er die Tat begangen und anschließend versucht hat, sie Ihrem Sohn in die Schuhe zu schieben. Je länger ich darüber nachdenke, desto plausibler erscheint mir dieser Hergang. Wir müssen lediglich die Geschworenen davon überzeugen, dass nicht Ihr Sohn der Täter war, sondern ein anderer.« Die Zuversicht, mit der er das sagte, empfand er keineswegs, doch war er entschlossen, das bei seinem Plädoyer vor den Geschworenen keinesfalls zu zeigen.
Er lächelte und bot ihr den Arm.
Nach einigem Zögern nahm sie ihn. Ihm war bewusst, dass ihr Vertrauen vorläufig war und erst ein positiver Ausgang des Prozesses es rechtfertigen würde.
Er konnte es sich nicht leisten, an ein Scheitern auch nur zu denken. Er verdrängte den Gedanken an diese Möglichkeit und schritt so sicher durch den hallenden Gang in den Gerichtssaal, als bestünde an seinem Erfolg nicht der geringste Zweifel. Er musste mit größter Selbstsicherheit auftreten, damit auch Park diesen Eindruck gewann.
Oscar Park, ein hochgewachsener, elegant gekleideter Mann, hatte den Zeugenstand betreten. Dadurch, dass sich dieser mehrere Stufen über dem Boden des Gerichtssaals befand, wirkte Park noch eindrucksvoller. Daniel sagte sich, dass der Mann damit eher exponiert war. Wäre es übertrieben, ihn als angreifbarer anzusehen?
»Mr. Park«, begann er, »Sie sagen, der Angeklagte, Mr. Blackwell, habe dem Opfer, Mr. Hinton, einen hohen Geldbetrag geliehen.«
Park, der sich sehr gefasst gab, nickte. »Ja. Es wirkte großzügig – geradezu verschwenderisch.« Aus seiner erhöhten Position lächelte er geringschätzig auf Daniel herab. War ihm bewusst, wie jung und unerfahren er war?
»Hat Sie das überrascht?« Daniel musste versuchen zu erreichen, dass ihm Park vertraute. Vor allem aber musste er um das Vertrauen der Geschworenen werben; auf sie, und auf sie allein, kam es an.
»Offen gesagt, ja«, gab Park zurück. »Ich hätte ihn nicht für so töricht gehalten.«
»Haben Sie Hinton denn so gut gekannt, dass Sie einen Grund gesehen haben, ihm nicht zu trauen?«, erkundigte sich Daniel in harmlosem Ton.
Park bemühte sich, den Eindruck von Bescheidenheit zu erwecken, was ihm misslang. »Ich denke, ich kann mich rühmen, ein guter Menschenkenner zu sein, wenn ich das von mir selbst sagen darf«, erklärte er mit dem Anflug eines affektierten Lächelns.
»Und bei Hinton hatten Sie also mit Ihrer Einschätzung recht, dass es sich bei ihm um einen unbedeutenden Geldverleiher handelte, der zu hohe Risiken einging?«
»Ja. Die Ereignisse haben mir das bestätigt«, stimmte ihm Park zu.
»Im Hinblick auf Blackwell hingegen hatten Sie sich geirrt?«
Park sah verärgert drein; rote Flecken auf den Wangen zeigten seine Verlegenheit.
Daniel erkannte auf dem Gesicht einzelner Geschworener einen Anflug von Belustigung.
»Er scheint den Bezug zur Wirklichkeit verloren zu haben«, gab Park in beißendem Ton zurück, wobei er sich mit einer Hand auf das Geländer des Zeugenstandes stützte.
»Da gebe ich Ihnen recht«, sagte Daniel lächelnd und bekräftigte das mit einem Nicken. »Wer die Beherrschung verliert und einen Menschen erschießt, der ihm Geld schuldet, darf nicht damit rechnen, es zurückzubekommen. Das geht jetzt wohl an Hintons Erben, nicht wahr? Natürlich erst, wenn der Erbschein ausgestellt ist – und das kann dauern.« Daniel bemühte sich um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck. »Ich nehme an, dass Blackwell das nicht bedacht hat.«
Park war erkennbar unsicher geworden. »Er hat Hinton eben falsch eingeschätzt.«
»Und ihn deshalb erschossen?«, fragte Daniel sarkastisch.
Der Anklagevertreter, Mr. Sefton, erhob sich mit gelangweiltem Gesichtsausdruck. »Euer Ehren, der Zeuge hat bereits gesagt, dass er den Angeklagten nicht als so gefährlich eingeschätzt hatte. Ich habe den Eindruck, dass mein verehrter«, er sagte das Wort in leicht spöttischem Ton, »Kollege … das Wesentliche nicht erfasst hat.«
»Gewiss, gewiss.« Der Richter hob die Hand zu einer eleganten Geste leichter Zurückweisung. »Mr. Pitt, es kommt mir so vor, als ob Sie Ihre eigenen Schlussfolgerungen infrage stellten. Würden Sie bitte Ihren Gedankengang erneut aufgreifen, diesmal aber so, dass man erkennen kann, worauf Sie hinauswollen?«
Daniel konnte den Richter gut leiden, doch mahnte ihn die Schärfe in dessen Worten zur Vorsicht. Mit der Erwiderung »Danke, Euer Ehren!« bestätigte er, die Ermahnung verstanden zu haben. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte die Absicht, zu zeigen, dass Park selbst bei Blackwell in der Kreide stand, konnte das aber nur auf Umwegen tun. »Danke«, wiederholte er.
Erneut wandte er sich Park zu. »Entspricht es der Wahrheit, dass Sie John Hinton deshalb nicht vor einer ihm von Mr. Blackwell drohenden Gefahr gewarnt haben, weil Sie keinen Grund dazu gesehen haben?«
»Ich glaube, das habe ich bereits gesagt«, antwortete Park und hob die Brauen.
»Das stimmt«, sagte Daniel mit einem Lächeln. »Obwohl Mr. Hinton bis zum Hals verschuldet war und nicht die geringste Aussicht bestand, dass er die gewaltigen Beträge würde zurückzahlen können.«
»Auch das habe ich gesagt«, erwiderte Park mit einem Kopfschütteln.
»Aber es bestand keine Gefahr, denn Mr. Blackwell verfügte, jedenfalls nahmen Sie das an, über beträchtliche Geldmittel und war äußerst großzügig.«
Wieder erhob sich Sefton. »Euer Ehren, die Anklage ist durchaus bereit, einzuräumen, dass der Zeuge Mr. Blackwells Wesen nicht zutreffend eingeschätzt hat, doch beharrt Mr. Pitt grundlos auf dieser belanglosen Einzelheit. Es ist meine feste Überzeugung, dass Mr. Park bedauert, Mr. Hinton nicht gewarnt zu haben, doch liegt darin kein schuldhaftes Verhalten. Der Angeklagte hatte ihm keinen Anlass zu der Vermutung gegeben, dass er mit einer selbstzerstörerischen Gewalttat reagieren würde.« Er erweckte den Eindruck eines Mannes, dem es gegen den Strich ging, dass man seine Zeit auf diese Art und Weise vergeudete.
Mit milder Miene fragte der Richter Daniel: »Mr. Pitt, wollen Sie auf etwas Bestimmtes hinaus?«
»Ja, Euer Ehren«, gab Daniel sogleich zur Antwort. Er hatte den ersten Schritt getan und durfte jetzt nicht den geringsten Fehler machen. »Ich bin sicher, dass Mr. Park ein solch ungewöhnliches Abweichen von Mr. Blackwells üblichem Verhalten nicht vorausgesehen hat …«
»Warum hacken Sie dann so auf diesem Punkt herum?«, fragte Sefton.
In verweisendem Ton wandte sich der Richter an den Anklagevertreter: »Mr. Sefton, es ist meine Aufgabe, den Herrn Verteidiger zu maßregeln, wenn das erforderlich ist. Sie sind dazu nicht befugt.«
Sefton sah verärgert drein, doch blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu entschuldigen.
»Danke, Euer Ehren«, murmelte Daniel und richtete, bevor der Richter auch noch die Geduld verlor, nun die entscheidende Frage an Park: »Sie hatten einen Grund für Ihre Einschätzung, nicht wahr?«
Park zwinkerte unbehaglich. Offensichtlich war ihm aufgegangen, dass er sich in eine Zwickmühle manövriert hatte.
»Sir …?« Daniel ließ ihm keine Zeit, nach einem Ausweg zu suchen. »Es gibt einen ganz einfachen Grund dafür, dass Sie John Hinton nicht davor gewarnt haben, dass Mr. Blackwell vor allem dann leicht die Geduld verliert, wenn ihm jemand Schulden nicht zurückzahlt: Sie selbst schuldeten ihm einen erheblichen Betrag. Genauer gesagt, Sie schulden ihm das Geld nach wie vor! Und trotzdem hat Sie niemand erschossen …«
»Das geht nur ihn und mich was an!«, stieß Park hervor. Dabei sah er erst zu dem Richter und dann zu Sefton. »Außerdem war es nicht besonders viel. Falls ich damit Blackwells Zorn gesteigert haben sollte … tut mir das leid. Aber woher hätte ich das wissen können?«
»Wie praktisch für Sie«, bemerkte Daniel. »Wenn man ihn wegen Mordes an Hinton hängen würde, könnte er sein Geld nicht von Ihnen zurückfordern, nicht wahr?«
Im Gerichtssaal entstand Unruhe. Park hatte sich mit zornrotem Gesicht über das Geländer des Zeugenstandes gebeugt.
Die Geschworenen sahen einander an. Einer schien nur mit Mühe einen Hurraruf zu unterdrücken.
Sefton war aufgesprungen, um zu protestieren.
Die Zuschauer auf der Galerie reagierten teils aufgebracht, teils erheitert.
Der Richter gebot Ruhe.
Daniel befürchtete, zu weit gegangen zu sein.
Genau in diesem Augenblick spürte er ein Zupfen am Ärmel. Als er sich umwandte, sah er Apperly dicht neben sich, den Anwaltsgehilfen der Sozietät fford Croft & Gibson. Dieser Mann von unbestimmtem Alter war klüger, als die meisten ihm zutrauten. Er wirkte zerzaust und atemlos, das Haar stand ihm wirr um den Kopf, und er machte einen zutiefst unglücklichen Eindruck. »Entschuldigung …«, begann er.
Daniel schnitt ihm das Wort ab. »Was wollen Sie? Mir ist klar, dass ich in der Klemme bin, aber ich stehe das durch. Ich musste …«
»Das geht nicht«, sagte Apperly und schüttelte den Kopf. »Dunham ist bei einem Verkehrsunfall ziemlich schwer verletzt worden.«
Mitgefühl erfasste Daniel. »Der arme Kerl. Wie geht es ihm? Wird er durchkommen?«
»Ja, aber das wird seine Zeit dauern. Sicher ein paar Wochen. Auf jeden Fall kann er jetzt Kitteridge nicht unterstützen, der in einem äußerst schwierigen Fall vor dem Zentralen Strafgerichtshof Old Bailey die Verteidigung übernommen hat …«
»Ich weiß«, sagte Daniel knapp. »Graves oder so ähnlich. Soll seine Frau ermordet haben.«
»Ja«, bestätigte Apperly mit kläglicher Stimme. »Es sieht für ihn überhaupt nicht gut aus.« Er wirkte aufgeregt.
»Das tut mir sehr leid, aber ich kann da nichts tun. Wenn überhaupt jemand dazu fähig ist, den Mann rauszuhauen, dann Kitteridge.« Das entsprach den Tatsachen. Toby Kitteridge war nicht nur der gewiefteste Anwalt der ganzen Sozietät, sondern wusste das auch und hatte es Daniel mehr als einmal unter die Nase gerieben. »Sie sehen selbst, dass mein Fall hier … auf eine Katastrophe zuschlittert.«
»Trotzdem.« Apperly ließ nicht locker. »Sie müssen den Fall hier unbedingt heute noch abschließen und dann morgen am Old Bailey für Dunham einspringen. Mr. fford Croft besteht darauf. Ich weiß nicht, warum, aber ihm liegt sehr an diesem Fall.«
»Jeder Beliebige in der Kanzlei kann Kitteridge zuarbeiten«, flüsterte Daniel. »Genau genommen, braucht er gar keine Hilfe, denn er schafft das sowieso allein. Der arme Dunham hat doch ohnehin nur dabeigesessen und ein unterwürfiges Gesicht gemacht.«
Apperly schüttelte den Kopf. »Mr. fford Croft hat das persönlich angeordnet. Sie müssen morgen früh dort sein.«
»Nein.« Daniel konnte selbst kaum glauben, wie abweisend seine Stimme klang. Niemand widersetzte sich Marcus fford Croft ungestraft. »Ich muss den Fall hier zu einem zufriedenstellenden Ende bringen …«
»Dieser Blackwell ist doch ein ganz windiger Bursche«, erklärte Apperly mit Nachdruck. »Er wird mit seiner Art auf die Dauer nicht durchkommen. Es lohnt sich nicht, Ihre Karriere für ihn aufs Spiel zu setzen.«
»Ich bin fest von seiner Schuldlosigkeit überzeugt«, gab Daniel leise zurück. Ihm war bewusst, dass sowohl Sefton als auch der Richter aufmerksam zu ihm herübersahen. »Und selbst wenn er schuldig wäre, hätte er es verdient, dass man ihn anständig verteidigt. Außerdem habe ich ihm mein Wort gegeben … Ich komme ins Old Bailey, um Kitteridge die gewünschten Hand- und Spanndienste zu leisten, sobald dieser Fall erledigt ist.« Er konnte vor Anspannung kaum atmen und merkte, dass ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Stand er im Begriff, leichtfertig seine Zukunft aufs Spiel zu setzen?
Das würde ihm sein Vater nie verzeihen. Nein – das stimmte nicht. Sicher wäre er von ihm enttäuscht, aber noch enttäuschter wäre er, wenn sein Sohn Blackwell einfach seinem Schicksal überließe. Pitt hatte im Laufe der Jahre selbst zahlreiche Risiken auf sich genommen und wusste, wie wichtig es war, dass man Wort hielt.
Allmählich trat im Gerichtssaal wieder Ruhe ein.
Der Richter warf einen besorgten Blick auf Daniel. »Sind Sie bereit fortzufahren, Mr. Pitt?«
»Ja, Euer Ehren. Der Anwaltsgehilfe meiner Sozietät hat mir soeben …«
Apperly trat vor. »Ich bitte um Vergebung, Euer Ehren.«
Er verneigte sich fast so tief, als stünde er vor dem König. »Mr. Dunham, einer unserer Strafverteidiger, hatte einen schweren Verkehrsunfall, und Mr. Pitt soll an seine Stelle treten.«
»Etwa sofort?«, fragte der Richter mit unverhüllter Missbilligung.
»Nein, Euer Ehren, morgen Vormittag. Ich werde ihn mit dem Fall vertraut machen, sodass er die Abendstunden dazu nutzen kann, sich in die Akten einzuarbeiten. Ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren, wenn ich die Verhandlung gestört habe.«
»Das haben Sie nicht, Mr. Apperly«, beschied ihn der Richter knapp. »Zu der Unterbrechung war es bereits vor Ihrem Eintreffen gekommen. Und jetzt, da die Ordnung wiederhergestellt ist, werden wir, wenn es Ihnen recht ist, den Fall ›Krone gegen Roman Blackwell wegen Mordes an John Hinton‹ fortsetzen. Mr. Pitt, Ihnen bleibt ungefähr eine halbe Stunde, bis die Verhandlung vertagt wird. Nutzen Sie die Zeit nach Kräften.«
Daniel schluckte. »Danke, Euer Ehren. Ich erlaube mir, dem Gericht ins Gedächtnis zu rufen, dass der Zeuge eingeräumt hat, Mr. Blackwell eine beträchtliche Summe zu schulden, die er bisher nicht zurückgezahlt hat. Auch sieht er sich zur Zeit, soweit mir bekannt ist, dazu nicht in der Lage. Daher gebe ich dem Gericht zu bedenken, dass er in der Angelegenheit bei Weitem nicht so unvoreingenommen ist, wie er behauptet hat. Ich denke, dass damit ein hinreichender Anlass für einen begründeten Zweifel gegeben ist, Euer Ehren.«
Alle Geschworenen sahen wie gebannt zu ihm hinüber. Sie spürten, dass ein Kampf auf Biegen und Brechen in der Luft lag.