Cover

Das Buch

Als Izan von seinem todkranken Vater um einen Gefallen gebeten wird, ahnt er nicht, dass ihm das größte Abenteuer seines Lebens bevorsteht: die gemeinsame Suche nach einem verschwundenen Mädchen. Sie bringt Vater und Sohn einander näher – entpuppt sich aber gleichermaßen als gefährliche Reise an die Grenzen des Denk- und Sagbaren. Alsbald findet Izan sich in der Vergangenheit wieder, wo die unbearbeiteten Schatten lauern. Als er drauf und dran ist, aus Rache einen Mord zu begehen, muss Izan sich entscheiden.

Einfühlsam und temporeich erzählt Bestsellerautor Albert Espinosa in seinem neuen Roman, wie Versöhnung gelingen kann.

Der Autor

Albert Espinosa, geboren 1973, ist Autor, Schauspieler, Film- und Theaterregisseur und lebt in Barcelona. Sein Erstling »Club der roten Bänder« erschien 2008, wurde weltweit in über 20 Sprachen übersetzt und in mehreren Ländern höchst erfolgreich als TV-Serie verfilmt. Seither hat Albert Espinosa diverse weitere Romane und Ratgeber veröffentlicht.

Albert Espinosa

Was ich dir sagen werde, wenn ich dich wiedersehe

Roman

Aus dem Spanischen von Elisabeth Müller

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Lo que te dire cuando te vuelva a ver« bei Grijalbo, Barcelona, Spanien (Penguin Random House Grupo Editorial, S. A. U).


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Deutsche Erstveröffentlichung November 2018

Copyright © 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Coverfoto: @2020 telefonica audiovisual digital SLU

Copyright der Originalausgabe © 2017 by Penguin Random House Grupo Editorial, S. A. U

© 2017, Albert Espinosa Puig

Lektorat: Ralf Lay

DF · Herstellung: CB

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-23178-1
V002


www.goldmann-verlag.de

Für meine Mutter

Ohne dich gäbe es nichts.

Ich schreibe danke für deine brillante Art, die Welt zu sehen.

Für Carlos

Danke für deine Energie und deine Aufrichtigkeit.

Das Licht, das du verströmst, erhellt meine Schatten.

Für Pablo

Als ich dich kennenlernte, hast du gesagt, am Ende von »Ich komme, wenn du rufst« würde der Weg beginnen. Dieses Buch ist aus deiner Großzügigkeit geboren. Danke für unsere Begegnungen.

1

Angstfrei schlafen und sorgenfrei aufwachen

Es war beinahe acht Uhr abends in Lezzeno, ich lag in der Badewanne und schaute auf den Comer See. Ich wusste, dass mir die wichtigste Entscheidung meines Lebens bevorstand. Eine, die festlegte, wer ich war und was ich für den Rest meiner Tage sein würde.

Sollte ich mich von der Rache leiten lassen oder besonnen vorgehen? Aber mal ehrlich, wie soll man es in dieser Welt voller Verrückter denn schaffen, die Ruhe zu bewahren?

Der See war schöner denn je. Ich hatte noch nie so viele Farben auf dem Wasser schimmern sehen. Seit Tagen regnete es in Strömen, und an der Rezeption sprach man davon, dass er über die Ufer treten könnte.

Ich vermisste meinen Vater und wusste, dass ich euch diese Geschichte erzählen muss. Hoffentlich gelingt sie mir so, wie ich es mir vorstelle. Alles, wovon ich euch berichten werde, ist wahr. Es ist mein Leben, es sind meine Ängste und meine Sehnsüchte. Ich bin zwar nur ein Mensch, der eines Tages vergessen sein wird, aber meine Probleme wird es weiterhin geben, bei anderen Menschen, die vielleicht in Hunderten von Jahren leben werden.

Wieso schreibe ich dieses Buch eigentlich? Ich glaube, es hat etwas mit diesem Ort zu tun, damit, wie er die eigenen Ängste hervorlockt und zur Mitte des Sees bringt. Ich merke, wie der See alles aus mir hervorlockt, was ich loswerden will.

Ich habe gerade mit meinem Handy ein Selfie gemacht, weil ich das Bedürfnis habe, diesen Moment für immer festzuhalten. Das ist der Schwachsinn des Jahrhunderts, in dem ich gelandet bin: Alles muss für immer festgehalten werden, bis es eines Tages in einem riesigen Datenmeer untergeht und man es nie wiedersieht.

Aber trotzdem muss ich diesen Augenblick unbedingt einfangen. Weil ich nicht will, dass sich die Temperatur verändert oder dass sich der Himmel verdunkelt – und schon gar nicht, dass das Lied verstummt, das ich immer wieder von vorn höre. Es ist der Soundtrack dieses Augenblicks. Ich kann es zwar nicht hören, aber es vibriert in mir – in meiner Seele und in meinem Geist.

Das Stück, das unaufhörlich erklingt, heißt »Meraviglioso« und ist von Domenico Modugno. Es ist eins von den Liedern, die schon beim Zuhören wehtun, und handelt von den Teufeln in unserem Inneren.

Von meiner Badewanne aus sehe ich ein kleines Boot genau in der Mitte des Sees. Am liebsten würde ich vom Balkon meines Hotels springen und bis dahin schwimmen. Ich spüre, wie mich der See mit aller Macht ruft, und würde am liebsten in seine Wasser abtauchen und mir dabei vorstellen, dass sie endlos sind.

Was hat der Comer See, dass er fähig ist, mich bei meinen Teufeln zu packen und zu schütteln?

Ich war ein junger Mann mit klaren Zielen, aber was mir in den letzten Monaten passiert ist, hat mich ziemlich mitgenommen. Alles verändert sich so rasend schnell, man wird emotional überrumpelt, und während der Erziehung bereitet einen niemand darauf vor. Mit unnötigen Lektionen wird man dann ins Leben entlassen und ist überhaupt nicht richtig gewappnet. Das ist der Grund, weshalb es so viele emotionale Spinner gibt, die den vernunftgesteuerten Normalos den Kampf ansagen.

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob das jetzt schon der Anfang vom Roman ist. Ich schreibe in der Badewanne und werde Stunden darin zubringen, ehe ich euch alles geschildert habe. Wenn ihr das hier lest, dann war das der Einstieg, so wie ich es versprochen habe.

Keine Ahnung, ob ich diesen Anfang noch mal ändere, jedenfalls hilft er mir, mich zu zentrieren. Als Erstes möchte ich euch wärmstens empfehlen, an den Comer See zu fahren, wenn ihr euch einen Teufel austreiben müsst. Wenn ihr spürt, dass er in euch sitzt, und ihr euch von ihm befreien wollt, dann kommt hierher und lasst ihn mitten auf dem See raus.

Es kommt mir so vor, als hätte das Wasser des Sees diese unglaubliche Energie, weil die Tränen all der Menschen darin sind, die jahrhundertelang hierhergekommen sind, um ihren Schmerz loszuwerden. Denn dies war ein spiritueller Rückzugsort für Hunderttausende bedrängter Seelen, seit jeher.

Aber erst mal muss ich euch vom Tod meines Vaters erzählen, davon, wie das war. Das ist der Ausgangspunkt. Deshalb bin ich hier, und deshalb muss ich die lebenswichtige Entscheidung treffen, von der ich schon gesprochen habe.

Man bräuchte eine Anleitung, um mit dem Verlust des eigenen Vaters umgehen zu lernen, weil damit die gewohnten Spielregeln außer Kraft gesetzt werden. Es ist wie beim Schach: Wenn die wichtigste Figur vom Brett geht, bekommen alle anderen einen neuen Wert.

In meiner Familie war ich ein Bauer oder ein Turm, und meine Züge hatten keine Bedeutung; aber jetzt muss ich mich in einen geschickten Springer verwandeln oder in einen weitblickenden Läufer.

Ich habe einen Doktor in Epigenetik, bin also DNA-Spezialist. Bei meiner Forschung gehe ich vor allem der Frage nach, wie DNA-Veränderungen dazu beitragen, dass man für bestimmte Erkrankungen anfällig wird. Vorher war ich Kindergärtner, wahrscheinlich, weil mich der Beruf meines Vaters geprägt hat, also sein Wunsch, die Kindheit zu schützen.

Ich habe immer behauptet, dass Kinder in ihrer DNA etwas haben, was sie so einzigartig macht. Es muss damit zu tun haben, dass sie keine Ahnung vom Tod haben und davon, eines Tages sterben zu müssen. Das macht sie sorglos.

Denn unsere ganze Unruhe entsteht nur aus der Angst, zu sterben – oder zu leben. Egal, was das Thema ist: Arbeit, Sinnkrise, Liebe, Sexualität … unsere Ängste tauchen erst auf, wenn wir uns unserer eigenen Sterblichkeit bewusst werden.

Mit den Jahren, wenn man älter wird, lässt sich diese Unruhe in den Träumen nieder, und man beginnt nachts schlecht zu schlafen. Dann macht man sich nicht nur Sorgen, wenn man wach ist, sondern auch, wenn man schläft.

Wie Françoise Sagan sagte: »Wahres Glück besteht darin, angstfrei zu schlafen und sorglos aufzuwachen.«

Damals, in meiner Zeit als Kindergärtner, war ich mir meiner eigenen Sterblichkeit zwar bewusst, aber die Tatsache, dass ich mit Kindern zwischen drei und fünf Jahren arbeitete, machte mich frei. Sie konnten mich manchmal sogar mit ihrer Gelassenheit anstecken, sodass ich in der Lage war, dieses oder jenes Problem zu vergessen.

In meinem Kindergarten waren alle gehörlos, so wie ich. Deshalb fühlte ich mich, was das Hören anging, ganz und gar zu Hause.

Ich kann nämlich nicht behaupten, dass es mir damals mit meiner Gehörlosigkeit gutging. Ich konnte nicht richtig damit umgehen. Ich fühlte mich minderwertig, oder vielleicht vermittelte mir auch die restliche Welt dieses Gefühl.

Damals habe ich bei den Kindern Zuflucht gesucht, ehe ich wagte, wieder hinaus in die Welt zu gehen. Aus meiner heutigen Sicht glaube ich, dass ich mein Leben für eine Weile angehalten habe, wie mein Vater es nennen würde. Bei den Kindern fühlte ich mich sicher. Ich sagte fast kein Wort, obwohl ich es konnte, weil ich nicht von Geburt an gehörlos bin.

Es ist einfach, sich aus der Welt zurückzuziehen, weil man nicht von ihr verletzt werden will, aber dorthin zurückzukehren, wenn man sich einmal entzogen hat, ist ziemlich schwierig.

Jetzt sah ich das alles anders. Irgendwie hatte ich die Punkte verbunden, von denen Steve Jobs sprach, wenn er sagte: »Manche Dinge ergeben erst einen Sinn, wenn man rückwärts schaut. Deshalb: Vertraue darauf, dass einzelne Punkte in deinem Leben sich irgendwann verbinden und einen Sinn ergeben.«

Hier in der Badewanne und in diesem Augenblick waren die Punkte dabei, sich zusammenzufügen. Ich hoffe, ich kann euch das alles gut und in der richtigen Reihenfolge erklären, sodass ihr es auch versteht.

Damals im Kindergarten, da war ich glücklich, denn die Kinder sorgten dafür, dass ich mich wie einer von ihnen fühlte. Intelligenz ist eine Gabe, die wir mitbringen, aber Gutherzigkeit ist eine Entscheidung, die wir treffen müssen – davon bin ich fest überzeugt. Kinder haben beides serienmäßig.

Vielleicht ist damit schon alles gesagt. Bei der Entscheidung, die mir bevorstand, ging es um beide Konzepte: Intelligenz und Gutherzigkeit.

Doch ich glaube, ich schweife gerade ziemlich ab. Ich muss euch eins nach dem anderen erzählen. Gerade geht zu viel durcheinander, einiges davon ist für meine Geschichte unwichtig, anderes dagegen sehr bedeutsam. Also der Reihe nach.

Alles fing mit einer Reise an, die ich vor sechs Monaten mit meinem Vater unternommen habe. Sie ist der Ausgangspunkt, deshalb will ich euch als Erstes davon erzählen.

Und ich muss euch von meinem Vater erzählen, wie ich ihn verloren habe und wie ich ihm Vorwürfe machte.

Meine Mutter hatte ich schon vor längerer Zeit verloren. Zwar möchte ich nicht so viel von ihr reden, aber ich will euch erzählen, dass sie mir vor ihrem Tod einen Brief geschrieben hat. Darin ging es um unser gemeinsames Leben und um die falschen Brunnen:

Izan,

wenn du dein Leben damit verbringst, in falschen Brunnen zu schöpfen, wird es unglücklich werden.

Die Brunnen sind deshalb falsch, weil dir von klein auf gesagt wurde, dass dort dein Weg und der Sinn deines Lebens zu finden seien.

Das ist der Grund, weshalb du immer und immer wieder dorthin zurückgehst … Dein ganzes Leben lang gehst du zu diesen Brunnen, aber was du dort findest, vergiftet dich und führt dich zu anderen Brunnen, die noch viel falscher sind.

Nicht meine Mutter hatte mich zu diesen falschen Brunnen geführt, es war mein Vater. Aber er tat es ohne böse Absichten, einfach nur durch seine ständigen Ratschläge in meiner Kindheit und Jugend.

Das, was du deinen Kindern immer und immer wieder sagst, prägt sich ihnen für die Zukunft ein. Anschließend brauchen sie ein ganzes Leben, um all die gut gemeinten, aber verkehrten Ratschläge wieder loszuwerden.

Ich möchte meinem Vater keinen Vorwurf machen und glaube auch nicht, dass meine Mutter das mit ihrem Brief beabsichtigt hat. Schließlich brauchen falsche Brunnen ja auch einen Brunnensucher, und der war ich.

Denn erst wenn man den alten Brunnenbauer verliert, merkt man, dass man gar nicht weiß, warum man immer wieder hinter etwas her war, was man eigentlich gar nicht mochte.

Darum soll es also in dieser Geschichte gehen, um falsche Brunnen. Ich glaube, so lässt sie sich am besten zusammenfassen.

Aber ich will der Reihe nach erzählen, und verzeiht mir die Umwege und Gedankensprünge.

Alles fängt an mit einem Sohn, der seinem Vater Vorwürfe macht.

2

Jeder Sohn macht seinem Vater Vorwürfe

Dies ist der Anfang.

Jeder Sohn macht seinem Vater Vorwürfe.

Aber wir können uns nicht vorstellen, dass der Vater eines Tages stirbt und dann die Vorwürfe ihr Ziel verfehlen.

Mein Vater ist vor sechs Monaten gestorben, wie ich schon erzählt habe. Alles, was ich jetzt schreiben werde, hat mit ihm zu tun und damit, was aus mir geworden ist, seit ich ihn verloren habe. Inzwischen glaube ich, dass man nicht nur seinen Vater begräbt, sondern auch den Teil seiner selbst, der dem Vater gefallen wollte.

Wer bin ich ohne ihn? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe, dass dieses Buch mir dabei hilft, aus der Sackgasse herauszukommen, in der ich stecke. Vielleicht klappt das auch nicht, aber ich glaube, nur durch das Schreiben kann ich eine neue Orientierung finden. Ich hoffe, dass mich die Worte aus meiner derzeitigen Stimmungslage herausschieben.

Ab jetzt gehöre ich zu einem neuen Club, nämlich dem der Leute, die keinen Vater und keine Mutter mehr haben. Wir sind in diesem Universum Hunderte, Tausende, Millionen.

Lauter Mädchen und Jungen, die ihren Eltern Vorwürfe gemacht haben und sich nach all den Kämpfen nun selbst finden müssen.

Mein Vater hatte sich von meiner Mutter getrennt, als ich fünf wurde. Weshalb, das weiß ich nicht genau, er hat sich nie sehr deutlich ausgedrückt, wenn wir etwas nicht verstehen sollten.

Er kümmerte sich darum, verlorene Kinder wiederzufinden, das war sein Beruf. Darin war er sehr gut. Er hat sie fast immer wiedergefunden.

Früher haben bei uns ständig Mütter und Väter angerufen, die kurz vorm Durchdrehen waren. Er hat uns angewiesen, gar nicht auf sie einzugehen, sondern sie ihm einfach weiterzureichen, ohne unser Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen.

Und das tat ich auch.

Eigentlich war es seltsam, dass zu Hause fremde Leute weinend bei uns anriefen, weil sie einen Angehörigen verloren hatten. Aber mit diesen Unbekannten hatte mein Vater sein Auskommen. Deshalb waren sie für mich einfach Kunden, genauso wie der Sohn vom Metzger nicht darüber nachdenkt, dass die Leute bei seinem Vater das Fleisch von toten Tieren kaufen.

Als ich klein war, kam mein Vater mir wie das wunderbarste Wesen im Universum vor. Wie ein Superheld. Mit den Jahren bekamen wir mehr Distanz. Irgendwann ödete er mich mit seinen verlorenen Kindern nur noch an und wurde mir schnurzegal.

Was interessierten mich Leute, die noch nicht mal auf ihre eigene Familie aufpassen konnten?

Uns hatte er schließlich auch verloren, aber niemand gab ihm den Auftrag, uns wiederzufinden.

Wahrscheinlich dachte ich so, weil ich nach der Scheidung zu meiner Mutter hielt. Ihn sah ich ohnehin nicht oft. Er war immer unterwegs auf der Suche nach seinen Kindern.

Jetzt ist er tot, und es macht mir etwas aus, schlecht von ihm zu reden. Aber es hilft auch nichts, die Wahrheit zu unterdrücken. Ich muss mir eingestehen, was ich fühle, sonst würde dieser Text keinen Sinn machen. Ich würde mich keinen Millimeter bewegen und in diesem unangenehmen Zwischenzustand hängenbleiben.

Deshalb will ich weitererzählen.

Meine Mutter hat vor mir nie schlecht über ihn geredet. Ich nehme an, dass das gar nicht nötig war; denn wir wussten sowieso, wie er war und wo er seine Prioritäten setzte. Seine Arbeit nahm ihn vollkommen in Anspruch.

Wenn er ein Kind aus irgendeinem Grund nicht finden konnte, litt er enorm. Dass er es nicht fand, lag oft am Entführer oder daran, dass ihn die Familie zu spät angerufen hatte. Soweit ich mich erinnern kann, lag es jedenfalls nie an seinen eigenen Fähigkeiten.

Wenn er die Kinder fand, freute er sich nicht sonderlich, schließlich wurde das ja von ihm erwartet. Es war sein Job.

Meine Mutter hatte irgendwann die Nase voll von diesem Leben und machte Schluss mit ihm. Und zwar nicht zum ersten Mal. Sie erzählte mir mal, sie habe ihm schon vor meiner Geburt ein Ultimatum gesetzt, er sei damals aber auf ihre Wünsche eingegangen.

Menschen ändern sich aber nicht, das habe ich mit den Jahren herausgefunden. Wir verändern uns nicht, niemand, wir sind alle so, wie wir auf die Welt gekommen sind. Und jemand anderen verändern zu wollen ist der schnellste Weg, ihn loszuwerden.

Meine Ankunft hat den beiden wahrscheinlich fünf glückliche Jahre geschenkt. Das ist für eine Beziehung gar nicht übel. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Meine Beziehungen haben nie länger als ein Jahr gehalten, weil mir Treue und ein liebevoller Umgang schwerfallen.

Aber ich glaube, ich sollte zum heutigen Tag zurückkehren und euch erzählen, wie mein Vater gestorben ist und wo. Außerdem auch alles, was vorher und danach passiert ist, sonst versteht ihr nicht, worauf ich hinauswill, und legt das Buch wieder weg.

Er ist am Comer See gestorben. Wir sind zusammen hierhergekommen, weil er einen Fall ermitteln wollte und ich beschlossen hatte, ihn zu begleiten. Es ging ihm nicht mehr so gut, und ich hatte das Gefühl, dass es verrückt wäre, ihn allein reisen zu lassen. Ich werde euch von dem Fall erzählen.

Ich bin vierzig Jahre alt; seit meiner Kindheit ist viel Zeit vergangen. Ich bin schon lange nicht mehr der Junge, der ihn hasste. Wir haben einfach zusammengelebt und uns akzeptiert.

Mein Vater und meine Mutter haben sich im Laufe ihres Lebens – soweit ich mich erinnere – mehr als sechsmal getrennt und sind wieder zusammengekommen. Vielleicht sogar öfter, ich habe irgendwann aufgehört zu zählen; ab der dritten Versöhnung hatte die Sache für mich ihren Reiz verloren und interessierte mich nicht mehr.

Meine Mutter ist ungefähr vor fünfzehn Jahren an Krebs gestorben. Mein Vater weinte bitterlich, als er sie verlor. Ich glaube, er ist zerbrochen an diesem Verlust, den er nicht verhindern konnte.

Auf ihren Grabstein ließ er Folgendes einmeißeln:

»Ich kann nicht ohne dich leben.«

»Doch, das kannst du.«

»Ich kann es, aber ich will es nicht.«

Diese Sätze waren ihr Mantra, sie hatten sie aus einem Film von Godard und wiederholten sie ständig. Das war ihr gemeinsamer Geheimcode. Mir sträubten sich jedes Mal die Haare, wenn ich sie das sagen hörte. In ihren letzten Jahren zitierten sie die Zeilen so gut wie nicht mehr, dabei war es so ungefähr das Einzige, was ich in diesem Leben noch einmal von ihm hören wollte.