Das Buch
»Die Tatsache, dass Amerika von Leuten gegründet wurde, die an das Unwahrscheinliche glaubten, spielt eine enorme Rolle – gleich, ob das die Puritaner waren oder andere Kult-Anhänger oder einfach nur Leute, die über Nacht reich werden wollten. In Amerika konnte man schon immer ein Vermögen machen und durfte gleichzeitig alles glauben, was man wollte. Das ist vielleicht der zentralste Aspekt der amerikanischen Identität: Leute, die nach Amerika kamen, waren von Anfang an Träumer und Fantasten.«
Kurt Andersen in der ZEIT
KURT ANDERSEN
FANTASYLAND
500 JAHRE REALITÄTSVERLUST
Aus dem Amerikanischen von
Kristin Lohmann, Claudia Amor und Johanna Ott
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Fantasyland. How America Went Haywire – A 500-Year History«
bei Random House, an imprint and division
of Penguin Random House LLC, New York, USA.
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1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2018
Copyright © 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Copyright der Originalausgabe © 2017 by Random House, NY
Some passages in Fantasyland were originally published in different forms in The New Yorker, New York, Time and The New York Times.
Lektorat: Doreen Fröhlich
DF · Herstellung: kw
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-23183-5
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für die Menschen, die mir das Denken beibrachten –
Jean und Bob Andersen
und die Lehrer des Schulbezirks 66 in Omaha
»Nichts ist leichter als Selbstbetrug, denn was ein Mensch wahrhaben möchte, hält er auch für wahr.«
DEMOSTHENES
»Wir werden unaufhörlich mit Pseudorealitäten bombardiert. Die Wirklichkeit ist das, was bleibt, wenn man nicht mehr daran glaubt.«
PHILIP K. DICK
»Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht das Recht auf seine eigenen Fakten.«
DANIEL PATRICK MOYNIHAN
Inhalt
1 Auf nach Fantasyland!
TEIL I
Wie Amerika heraufbeschworen wurde:
1517–1789
2 Ich glaube, also bin ich im Recht: Die Protestanten
3 Alles, was glänzt: Die Goldsucher
4 Wir bauen uns den Himmel auf Erden: Die Puritaner
5 Das gottgegebene Recht, an Gott zu glauben
6 Imaginäre Freunde und Feinde: Die frühe satanische Angst
7 Das erste Ich-Jahrhundert: Religion auf Amerikanisch
8 Was unterdessen in der realitätsnahen Gesellschaft geschah
TEIL II
Die Vereinigten Staaten des Staunens:
Das 19. Jahrhundert
9 Das Erste Große Delirium
10 Die typisch amerikanische Fan-Fiction von Joseph Smith, dem Propheten
11 Moderne Magie: Die Nation der Quacksalber
12 Fantastische Geschäfte: Der Goldrausch als Wendepunkt
13 Auf der Suche nach gegnerischen Monstern: Der Einzug der Verschwörungstheorien
14 Zwei Weltanschauungen im Krieg
15 Zehn Millionen kleine Farmen
16 Die Industrialisierung der Fantasie
TEIL III
Der beschwerliche Weg zur Vernunft: 1900 –1960
17 Fortschritt und Rückschläge
18 Der größte Rückschlag: Alte Religion im neuen Glanz
19 Amerikas Geschäft mit dem Showbusiness
20 Amerikas Schlaraffenland: Die Utopie der Vorstadtidylle
21 Die Schein-Normalität der 1950er
TEIL IV
Der Urknall: Die 1960er und 70er
22 Der Urknall: Die Hippies
23 Der Urknall: Die Intellektuellen
24 Der Urknall: Die Christen
25 Der Urknall: Die Politik, die Regierung und all die Verschwörungen
26 Der Urknall: Ein Leben im Land des Entertainments
TEIL V
Fantasyland in seiner ganzen Vielfalt:
Von den 1980ern bis zur Jahrhundertwende
27 Wie man Scheinwelten realistischer gestaltet und die Realität unwirklich erscheinen lässt
28 Auf ewig jung: Das Kids-’R’-Us-Syndrom
29 Die Reagan-Regierung und der Beginn des digitalen Zeitalters
30 Die Religion im Amerika der Jahrtausendwende
31 Die ungestümen Formen unseres Christentums: Überzeugungen und Bräuche
32 Amerika gegen den gottlosen Rest der zivilisierten Welt: Warum sind wir nur so außergewöhnlich?
33 Übernatürlich, aber nicht notwendigerweise christlich; spirituell, aber nicht religiös
34 Hexendoktoren der Spitzenklasse: Die Wiederverzauberung der Medizin
35 Wie der Mainstream Fantasyland zum Aufstieg verhalf: Weicheier, Zyniker und echte Fans
36 Alles ist möglich – solange es mich nichts kostet und mir nicht wehtut
TEIL VI
Fantasyland macht Probleme:
Von den 1980ern bis in die Gegenwart und darüber hinaus
37 Die Irren haben die Zügel in der Hand – und sie sehen Monster überall
38 Real ist nur die Verschwörung: Amerikas Akte X
39 Wutbürger: Die neu erstarkte Stimme des Volkes
40 Als die Grand Old Party allmählich aus den Fugen geriet
41 Liberale Wissenschaftsverweigerer
42 Durchgeknallte Waffennarren
43 Der ultimative illusorisch-industrielle Komplex
44 Unsere inneren Kinder? Amüsieren sich in Disney World!
45 Traumhafte Zeiten für die Wirtschaft
46 Fantasyland gibt den Kurs der Nation vor
Danksagung
Personenregister
Sachregister
1
Auf nach Fantasyland!
DIE IDEE ZU diesem Buch ist über einen langen Zeitraum in mir gekeimt. Schon ein paar meiner Artikel aus den späten Neunzigern gingen in die Richtung – Artikel über die amerikanische Politik, die immer mehr zum Showbusiness geriet, über Babyboomer, die sich alle Mühe gaben, für immer jung zu bleiben, über haltlose Verschwörungstheorien, die sich immer stärker etablierten, und über die explosionsartige Verbreitung von Talkradio-Sendungen, in denen es mehr und mehr vor allem um die haarsträubenden Ansichten der Moderatoren ging. 1999 erschien ein Roman von mir über einen Fernsehproduzenten, der zwei zukunftsweisende Serien auf den Markt bringt: eine Krimiserie, bei der die fiktiven Charaktere mit der echten Polizei zusammenarbeiten und echte Verbrecher hinter Gitter bringen, und ein Nachrichtenformat, dessen Zuschauer auch Szenen aus dem Privatleben des Nachrichtensprechers zu sehen bekommen.
Wirklich greifbar wurden meine Ideen und Thesen zu Fantasyland aber erst in den Jahren 2004 und 2005. Damals prägte Karl Rove, politischer Mastermind der Regierung George W. Bush, den bemerkenswerten Ausdruck reality-based community. Die Menschen »in der auf Fakten basierenden Gesellschaft, in der reality-based community, wie wir sie nennen«, sagte er gegenüber einem Reporter, »denken, dass sie zu Lösungen kommen, indem sie die wahrnehmbare Realität penibel studieren. Aber so läuft das nicht mehr in der Welt.« Natürlich sagte er das nicht ganz ironiefrei – doch zugleich war es auch sein voller Ernst. Ein Jahr später ging The Colbert Report1 auf Sendung. In den ersten Minuten der ersten Folge führte Stephen Colbert in seiner Rolle als rechtsgerichteter, populistischer Kommentator ein wiederkehrendes Feature ein, das er »The Word« nannte und in dem er jeweils einen bestimmten Ausdruck auf die Schippe nahm. Der Begriff der ersten Sendung war truthiness (etwa: gefühlte Wahrheit), ein von Colbert neu geprägter Begriff in Anlehnung an das Wort truth:
»Jetzt melden sich bestimmt gleich wieder ein paar ›Wortpolizisten‹, ein paar Vertreter der Webster2-›Wort-Fetischisten‹ und rufen: ›Hey, das ist doch gar kein richtiges Wort!‹ Tja, wer mich kennt, weiß, dass ich kein besonders großer Fan von Wörterbüchern oder Nachschlagewerken bin. Ich finde das elitär, immer diese Vorgaben, was wahr sein soll und was nicht. Oder was wirklich geschehen sein soll und was nicht. Wer ist die Britannica3 schon, dass sie mir verklickern will, der Panamakanal sei 1914 fertiggestellt worden? Wenn ich behaupten will, dass er 1941 fertig wurde, dann ist das mein gutes Recht! Ich traue keinen Büchern … immer nur Fakten, null Gefühl … Sehen wir der Wahrheit doch ins Auge, Leute: Wir sind eine gespaltene Nation. Es gibt die, die mit dem Kopf denken, und es gibt die, die mit dem Herzen wissen … denn genau von da kommt sie doch, die Wahrheit, meine Damen und Herren – aus dem Bauch.«
Wow – genau das ist es, dachte ich. In dem Moment wurde mir klar, auf welch seltsame Art sich Amerika in dieser Hinsicht verändert hatte. Die Begriffe truthiness und reality-based community hätten vor den Zweitausendern nicht im Geringsten das Zeug zum Witz gehabt.
Wie es zu diesem Wandel gekommen war, wurde mir ein paar Jahre später noch einmal klarer, als ich anfing, an meinem neuen Roman zu arbeiten. Darin geht es um einen Freundeskreis von Kindern, die in den frühen 1960ern James-Bond-Geschichten nachspielen, und später dann, 1968, als Collegestudenten im echten Leben eine Bond-mäßige regierungsfeindliche Verschwörung vom Zaun brechen. In den Sechzigern verschwammen Realität und Fantasie auf problematische Weise miteinander – das ging den Figuren in meiner Geschichte so, aber auch vielen echten Amerikanern. Über meine Recherchen, und als ich gedanklich immer tiefer in die Geschichte eintauchte, entwickelte ich allmählich ein völlig neues Verständnis dieser Zeit und ihrer Auswirkungen. Mir wurde klar, dass dies, bei all der Unbeschwertheit und all den positiven Folgen der gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche, auch der Zeitpunkt des Urknalls für truthiness gewesen war, für die gefühlte Wahrheit. Wenn die Sechzigerjahre nun aber tatsächlich einem nationalen Nervenzusammenbruch gleichkamen, dann können wir nicht davon ausgehen, heute darüber hinweg zu sein – denn es stimmt, was man über Genesung sagt: Wirklich geheilt ist man nie.
Mir wurde damals auch klar, dass sich dieses komplexe amerikanische Phänomen, das ich da zu entschlüsseln versuchte, nicht nur im Laufe von Jahrzehnten, sondern von Jahrhunderten entwickelt hatte. Wenn ich unserer Schwäche für Fantasien jeglicher Spielart wirklich auf den Grund gehen wollte, dann musste ich die Ranken und Zweige und Wurzeln viel weiter zurückverfolgen – ganz zurück, um genau zu sein, bis hin zu den Anfängen Amerikas.
Sie werden sicher nicht immer meiner Meinung sein, wenn ich viele Denkmuster, Glaubensvorstellungen und Verhaltensweisen als imaginär oder fantastisch einstufe. Vielleicht finden Sie auch, dass ich mit tiefen, persönlichen Überzeugungen zu urteilend umgehe. Wenn mir ein Moorhuhn vor die Flinte kommt, dann drücke ich auch ab, jedenfalls ziemlich häufig. Das heißt aber keinesfalls, dass ich grundsätzlich jede Art von Religion oder alternativem Glaubenssystem oder auch generell jede Verschwörungstheorie oder utopische Träumerei als töricht abtue. Wir alle befinden uns schließlich an irgendeinem bestimmten Punkt im Spektrum zwischen dem Pol des Rationalen und dem des Irrationalen. Jeder hat einmal eine Vorahnung, die er nicht erklären kann, oder hegt irgendeinen irrationalen Aberglauben.
Problematisch wird es erst, wenn die Sache aus dem Ruder läuft, wenn das subjektive Empfinden die Objektivität aushebelt, wenn Leute denken und handeln, als wären Meinungen und Gefühle ebenso wahr wie Tatsachen. Das amerikanische Experiment, die Fleischwerdung der großen aufklärerischen Idee von der intellektuellen Freiheit, die besagt, dass jeder Einzelne frei ist zu glauben, was auch immer er oder sie will, hat sich zu etwas ausgewachsen, das wir nicht mehr im Griff haben. Dieser Ultra-Individualismus war von Anfang an tief mit epischen Träumen verknüpft, manchmal auch mit epischen Fantasien – jeder einzelne Amerikaner, jedes Individuum aus Gottes erwähltem Volk, schuf sich sein eigenes, maßgeschneidertes Utopia, jeder von uns war frei, sich selbst anhand seiner Vorstellungskraft und seines Willens immer wieder neu zu erfinden. In Amerika haben diese zugegeben aufregenderen Elemente der Aufklärungsidee den nüchternen, rationalen, empirischen Teil längst fortgespült.
Im Laufe der Jahrhunderte haben wir Amerikaner uns immer intensiver allen möglichen Varianten des Magiedenkens und einem Alles-ist-möglich-Relativismus hingegeben. Immer stärker, und in den letzten fünfzig Jahren auch immer schneller, sind wir abstrusen Erklärungen nachgehangen und haben unseren Glauben an kleine und größere tröstliche, packende oder schauerliche Fantasien gepflegt. Und die meisten von uns haben dabei überhaupt nicht realisiert, wie einschneidend unsere seltsame neue Normalität inzwischen geworden ist. Das erinnert mich an den Frosch im Kochtopf, der in dem sich allmählich erhitzenden Wasserbad sein Schicksal erst erkennt, wenn es zu spät ist.4
Wir Amerikaner glauben – und ich meine wirklich glauben – in größerem Maße als alle anderen ein oder zwei Milliarden Menschen der reichen Welt an das Übernatürliche und Rätselhafte, an die Präsenz Satans auf Erden, an Berichte über erst kürzlich gemachte Ausflüge in den oder aus dem Himmel und an eine mehrere tausend Jahre alte Geschichte von der spontanen Entstehung des Lebens vor mehreren tausend Jahren.
Um die Jahrtausendwende fantasierte sich unsere Finanzindustrie zusammen, dass hochriskante Verschuldungen nun nicht mehr riskant seien, woraufhin Abermillionen Amerikaner sich zusammenfantasierten, dass sie fortan das Leben reicher Leute führen könnten; diese Vorstellung basierte auf der Fantasie, dass Immobilien immer nur in ihrem Wert steigen könnten, und das unaufhörlich.
Wir glauben, dass die Regierung und ihre Mitverschwörer alle möglichen entsetzlichen Wahrheiten vor uns geheim halten – etwa, was Mordanschläge betrifft oder Außerirdische, die Entstehung von Aids, die Anschläge des elften September, die Gefahren durch Impfstoffe und vieles mehr.
Wir häufen Waffen an, weil wir den Fantasien über unsere Vergangenheit als Pioniere nachhängen – oder in Erwartung eines imaginären Schusswechsels mit Verbrechern oder Terroristen. Wir legen uns Militärklamotten und die entsprechende Ausrüstung zu und tun so, als wären wir Soldaten – oder Elfen oder Zombies – , wir kämpfen in Schlachten, bei denen niemand stirbt, real oder in ungeheuer realistischen virtuellen Welten.
All das begann, noch bevor wir mit den Begriffen post-factual und post-truth (beide für postfaktisch) vertraut wurden. Und bevor wir einen Präsidenten wählten, der sich gegenüber Verschwörungstheorien, Wahrheit und Unwahrheit beziehungsweise dem, was die Wirklichkeit ausmacht, erstaunlich aufgeschlossen zeigt.
Wir sind mit Alice in den Kaninchenbau geschlüpft und befinden uns nun hinter den Spiegeln. Amerika ist zu Fantasyland geworden.
Wie weit verbreitet ist diese buntgewürfelte Hingebung an das Irreale eigentlich? Wie viele Amerikaner leben heute in parallelen Wirklichkeiten? Auch wenn Meinungsumfragen immer nur einen groben Abriss dessen liefern können, was die Leute wirklich denken, ergibt sich aus zahlreichen Forschungsergebnissen, aus detaillierten, gegengeprüften und zusammengefassten Angaben der letzten zwanzig Jahre, zumindest eine grobe, aber dennoch brauchbare Einschätzung des Phänomens, dass gewisse Vorstellungen, eine gewisse Leichtgläubigkeit, ein Sichtäuschenlassen in Amerika in diesem Zeitraum stetig zugenommen haben.
Meinen Berechnungen zufolge sind die wirklich solide realitätsbasierten Menschen in Amerika inzwischen in der Minderheit – vielleicht machen sie ein Drittel aus, ziemlich sicher aber sind es weniger als die Hälfte. Beispielsweise ist nur ein Drittel der Amerikaner mehr oder weniger davon überzeugt, dass vor allem die CO2-Emissionen der Autos und Fabriken für die globale Erderwärmung verantwortlich sind. Nur ein Drittel ist der Ansicht, dass die Schöpfungsgeschichte nicht wörtlich zu nehmen ist, dass wir es hier nicht mit einem auf Fakten basierenden Bericht zu tun haben. Und nur ein Drittel ist sich wirklich sicher, dass es keine Telepathie und keine Geister gibt.
Dagegen glauben zwei Drittel der Amerikaner, dass »Engel und Dämonen Einfluss auf unsere Welt« haben. Und mindestens die Hälfte hat nicht den geringsten Zweifel daran, dass der Himmel existiert und dass darin ein personifizierter Gott herrscht – keine unbestimmte Kraft, kein universeller Geist, sondern ein Typ. Mehr als ein Drittel aller Amerikaner ist nicht nur der Ansicht, der Klimawandel sei keine große Sache – diese Leute glauben außerdem, dass das Ganze ein von einer Verschwörung aus Wissenschaftlern, Regierungen und Journalisten in die Welt gesetztes Gerücht ist.
Ein Drittel glaubt, dass schon unsere allerersten Vorfahren Menschen waren – Menschen wie wir; dass der Staat zusammen mit der Pharmaindustrie Beweismaterial für »natürliche« Heilmethoden von Krebserkrankungen hat verschwinden lassen; dass Außerirdische erst kürzlich die Erde besucht haben (und immer noch unter uns weilen).
Ein Viertel glaubt, dass Impfungen autistische Entwicklungsstörungen verursachen können und dass Donald Trump bei den Wahlen 2016 die Mehrheit der direkten Stimmen bekam. Ein Viertel glaubt, dass unser vorhergehender Präsident der Antichrist war (oder ist?). Ein Viertel glaubt an Hexen. Und bemerkenswerterweise glaubt gerade mal jeder fünfte Amerikaner, dass die Bibel im Wesentlichen aus Legenden und Fabeln besteht. Dafür geht in etwa die gleiche Anzahl von Leuten davon aus, dass »die Fernsehzuschauer von den Medien oder dem Staat mittels einer geheimen Technologie über die Übertragungssignale einer Gehirnwäsche unterzogen werden« und dass amerikanische Funktionäre in die Anschläge vom elften September verwickelt waren.5
Wenn ich hier von einem Drittel spreche, das an X glaubt, oder von einem Viertel, das an Y glaubt, dann ist damit keineswegs jeweils dasselbe Drittel oder Viertel der amerikanischen Bevölkerung gemeint. Obgleich es natürlich Überschneidungen zwischen den verschiedenen Fantasy-Anhängerschaften gibt. Nicht selten nähren sie sich auch gegenseitig: So kann etwa der Glaube an den Besuch von Außerirdischen und deren Entführungen von Erdlingen zum Glauben an weitreichende staatliche Vertuschungsmanöver führen, was wiederum zu einem Glauben an noch umfassendere Verschwörungen und Intrigen führen kann, und das wiederum kann hervorragend mit dem Glauben an ein bevorstehendes Harmagedon einhergehen, in das auch Jesus involviert ist. Da funktioniert Fantasyland genau wie die Europäische Union: Auch hier haben wir es mit einer Ansammlung ganz andersartiger, verschieden großer Gebiete zu tun, alle miteinander verbunden durch den Schengenraum, dank dem sich die Bürger all dieser Länder im gesamten Gebiet frei bewegen dürfen: Ungarn und Malteser können jederzeit nach Belieben Frankreich oder Island einen Besuch abstatten.
Und genau wie bei den innereuropäisch gehegten Antipathien bringen sich auch manche Fantasyland-Regionen eine gegenseitige Verachtung entgegen, die der gemeinsamen Verachtung gegenüber den realitätsbasierten Fraktionen in nichts nachsteht. So betrachten etwa viele Evangelikale die Angehörigen der Pfingstkirche als Ketzer, und Evangelikale und Angehörige der Pfingstkirche wiederum betrachten die Mormonen als Ketzer; Pat Robertson6 hat die Scientologen als teuflisch bezeichnet; der Vatikan betrachtet Oprah Winfreys Jünger als törichte Narren, und verschiedene Truther7 sind der Ansicht, dass sich der jeweils andere nur etwas vormacht. Eine große Anzahl der Menschen, die gentechnisch veränderte Lebensmittel trotz der überwältigend einhelligen gegenteiligen Meinung der Wissenschaftler für nicht sicher halten, macht sich über die Leugner des Klimawandels lustig. Tatsächlich könnte man die Geschichte Fantasylands auch wunderbar als Schema der unterschiedlichen »Mannschaften« in einem Turnierplan darstellen – wie beim College-Basketball, mit kontinuierlichen, über die Jahrhunderte hinweg ausgefochtenen Entscheidungsspielen, bei denen bestimmte Teams verlieren (die Puritaner) beziehungsweise gewinnen (die Mormonen) und die bis heute fortgeführt werden.
Warum sind wir so?
Genau dieser Frage will ich in diesem Buch auf den Grund gehen. Die verkürzte Antwort lautet: Weil wir Amerikaner sind, weil man als Amerikaner einfach an jeden Mist glauben kann, an den man eben glauben will, weil der Glaube eines Amerikaners dem eines beliebigen anderen Menschen mindestens gleichauf ist, wenn er nicht sowieso über ihm steht – zum Teufel mit den Fachleuten! Wenn man sich auf eine solche Haltung erst einmal eingelassen hat, dann steht die Welt kopf, dann hat keine Ursache-Wirkung-Beziehung mehr Bestand. Dann wird das Glaubhafte unglaubwürdig und das Unglaubwürdige glaubhaft.
Der Begriff mainstream wurde in letzter Zeit zum abwertenden Kürzel für die Vorurteile der Eliten, für ihre Lügen und die Unterdrückung, die sie ausüben. Dabei hat gerade dieses so verhasste Establishment, das uns einst mittels seiner Institutionen und Kräfte davon abhielt, es mit dem offenkundig Falschen oder Absurden zu übertreiben, in den vergangenen Jahrzehnten all die Fantasien überhaupt erst möglich gemacht beziehungsweise angespornt – die Medien, die akademische Welt, die Politik, die Regierung, die amerikanischen Unternehmen, Berufsverbände, allgemein die Gesamtheit der angesehenen Meinungen.
In seiner täglich ausgestrahlten Fernsehshow wirbt ein Oberarzt, der an einer der angesehensten Universitätskliniken Amerikas tätig ist, für Wunderheilmittel. Auf den großen Kabelkanälen laufen Dokumentationen über Meerjungfrauen, Monster, Geister und Engel, in denen so getan wird, als seien sie alle echt. Ein CNN-Nachrichtensprecher stellte in einer Livesendung die Vermutung an, dass hinter dem Verschwinden einer malaysischen Passagiermaschine vermutlich etwas Übernatürliches steckte. Eine unserer beiden großen politischen Parteien erlässt landesweite Beschlüsse, durch die man sich der eingebildeten Einführung einer Neuen Weltordnung und dem Islamischen Recht widersetzen will – dasselbe geschieht in der Gesetzgebung mancher Bundesstaaten. Wenn ein Politikwissenschaftler die Idee von der Existenz »einer gewissen ›Öffentlichkeit‹ [angreift], die eine bestimmte Vorstellung von der Realität teilt, ein Konzept von Vernunft und eine Reihe von Kriterien, anhand derer dann beurteilt wird, was Vernunft und Rationalität ausmacht«, dann nicken die Kollegen nur und bestätigen ihn im Amt. Es gab eine weiße Frau, die sich als Schwarze fühlte, die so tat, als wäre sie schwarz, und die unter diesen Vorzeichen einen offiziellen Posten bei der NAACP8 bekam – und die, als sie aufgeflogen war, nur meinte: »Das ist keine Verkleidung … es ist nichts, das ich einfach so an- und ablegen kann. Ich würde zwar nicht behaupten, dass ich afroamerikanisch bin, aber ich würde schon sagen, dass ich schwarz bin.« Die Bill-Gates-Stiftung hat ein eigenes Institut nur für die pseudowissenschaftliche Arbeit an der kreationistischen Schöpfungslehre gegründet. Donald Trump wurde trotz seiner unaufhörlich verbreiteten Lügen und seiner offensichtlichen Hirngespinste – oder vielmehr deswegen – zum Präsidenten gewählt. Was früher die Randgebiete waren, wurde eingeklappt und bildet heute die neue Mitte. Das Irrationale ist zu Ansehen gekommen und kann in vielen Fällen nicht mehr aufgehalten werden. Während bestimmte Fantasien immer mehr Fahrt aufnehmen, bis sie sich wie eine ansteckende Krankheit verbreiten, werden andere Fantasten von einer Welle der nicht hinterfragenden Toleranz noch weiter beflügelt. Es scheint unbewusst eine Art verdrehte goldene Regel zu existieren: Wenn die Leute dieses glauben, dann können wir ja wohl auch jenes glauben.
Inzwischen begünstigt unser gesamtes soziales Umfeld mit all seinen sich überschneidenden Elementen – Kultur, Religion, Politik, Intellekt, Psychologie – die spektakulärsten Täuschungen und Vorspiegelungen. Auf unzähligen spiegelglatten Abhängen schlittern wir in unterschiedlichsten Richtungen geradewegs in den nächsten erstaunlichen Unsinn hinein. Diese natürlichen Eispisten wurden in den vergangenen Jahrzehnten zu einem gigantischen, beständigen Geflecht aus miteinander verbundenen, kreuz und quer verlaufenden Bobbahnen, aus denen es so leicht keinen Ausstieg mehr gibt. Voilà: Wir sind in Fantasyland angekommen.
Dieses Buch umfasst aber weit mehr als die epidemische Ausbreitung der klar umrissenen Unwahrheiten, deren fehlender Wahrheitsgehalt eindeutig überprüft werden kann. Wirklich Klick gemacht hat es bei mir erst, als ich einen Schritt zurückgetreten bin und mein Blickfeld erweitert habe; erst da erkannte ich, wie sehr sich unser Land verändert hat. Ich sah, wie eng die Verbreitung von Wahnvorstellungen und Illusionen innerhalb der großen Themen, die die Menschen immer schon beschäftigt haben – Politik, Religion, auch Wissenschaft – mit der Verbreitung und der Fülle an Fiktionen und Quasi-Fiktionen zusammenhängt, die den amerikanischen Alltag fluten.
Fantasyland ist für mich nicht nur der inbrünstige Glaube an Unwahrheiten – es sind auch die Menschen, die sich ihr ganzes Lebensmodell auf Scheinwelten aufgebaut haben. Beide Fantasiearten – Verschwörungstheorien und der Glaube an Magie auf der einen Seite und Fantasy Football9 und die virtuelle Realität auf der anderen – machen den Alltag einfach aufregender, dramatischer. An ihren jeweiligen Wendepunkt gelangten beide Varianten aufgrund derselben zwei folgenschweren Veränderungen.
Die erste, sich in den 1960er-Jahren Bahn brechende tiefgreifende Veränderung in der amerikanischen Denkweise, durch die die geistigen Betriebssysteme fortan nach anderen Regeln funktionierten, und zwar auch dann, wenn ein solches Betriebssystem sicher ist, selbst die echte Wahrheit zu kennen, war ein neues Motto, das da lautete: Mach dein eigenes Ding, finde deine eigene Realität, schließlich ist alles relativ. Ob dieses neue Denkmuster ganz offensichtlich zutage tritt oder stillschweigend zugrunde liegt, ob es bewusst oder unbewusst greift – Fakt ist: So funktionieren wir heute.
Die zweite tiefgreifende Veränderung war das neue Informations- und Kommunikationszeitalter. Digitale Technologien lassen die Fiktionen beider Fantasietypen erst wirklich realistisch erscheinen: Fiktive Lebensmodelle und Unterhaltungsformen genauso wie ideologische, religiöse und pseudowissenschaftliche Fiktionen, mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Bei einer Milliarde Websites ist es für Gläubige aller Art ein Leichtes, Tausende Gesinnungsgenossen zu finden, die ihren Glauben teilen und ganze Collagen von Fakten und »Fakten« zur Verfügung stellen. Bevor es das Internet gab, waren Spinner eher einsame Typen, und es fiel ihnen sicher nicht immer leicht, an ihrem Glauben an eine andere Wirklichkeit festzuhalten. Heute sind ihre so inbrünstig geglaubten Überzeugungen überall auf Sendung und im Internet – genau wie die echten Nachrichten. Heute wirken alle Fantasien real.
Dazu lassen die Computer all die Fantasien, die wir (meistens jedenfalls) als solche erkennen, noch viel authentischer wirken. Wir können uns als alles Mögliche und als jedes nur denkbare Wesen aus jeder beliebigen Zeit und Galaxie ausgeben. Nur hören die Online-Fantasien ja nicht auf, wenn wir die Sphären der Computeranimation von Dr. Ludvig Maxis und Lady Jaina Prachtmeer10 verlassen. Hinter den offensichtlichen Fiktionen solcher Computerspiele liegt eine riesige Grauzone. Und weil das Internet Anonymität bietet, können wir im echten Leben zur Fiktion gewordene Versionen unserer selbst sein – echte Menschen, die mit anderen echten Menschen auf eine Art und Weise interagieren, wie wir sie uns noch vor Kurzem niemals hätten ausmalen können oder uns auszumalen gewagt hätten.
Die einzelnen Minifantasien und Simulationen, die wir in unser Leben integrieren, sind für sich genommen ziemlich harmlos; ein kleines Stück des Authentisch-Banalen wird hier ersetzt, ein kleines dort. So wird die Welt ein bisschen mehr zur Filmkulisse, alles scheint ein wenig aufregender und glamouröser, Hitchcocks Definition von Drama entsprechend: ein Leben, aus dem man die langweiligen Momente herausgeschnitten hat. Jeder von uns kann sich wie ein sexy Held in einer cooleren Story fühlen, als das echte Leben sie zu bieten hat, man kann sich jünger fühlen, wenn man alt ist, und älter, wenn man jung ist. Mit der Zeit nehmen die irrealen Bereiche aber immer mehr Raum in unserem Leben ein. Bis schließlich die ganze Wiese nur noch aus Kunstrasen besteht. Und wir echt und vorgegaukelt, real und irreal nicht mehr voneinander unterscheiden können.
Wenn man früher die Chance bekommen wollte, auf einen Schlag reich zu werden, musste man nach Las Vegas fahren. Wenn man durch ein fiktives, wuseliges Königreich schlendern wollte, musste man, sofern man nicht psychotisch war, nach Disneyland. »Themen-« war damals noch kein Präfix, Pornografie nicht allgegenwärtig. Schönheitsoperationen gab es kaum; Brüste waren nicht ungewöhnlich groß und fest, Gesichter nicht künstlich glatt und straff. Niemand kam auf die Idee, tagelang Schlachten in der passenden militärischen superrealistischen Ausrüstung nachzuspielen. Und das Zwischending aus Melodram und Pseudo-Doku namens Reality-TV hatten wir auch noch nicht fabriziert.
Sicher: Nur weil jemand falsche Titten hat oder League of Legends spielt, muss er noch lange nicht der Überzeugung sein, dass er ein Dutzend halb automatische Waffen zur Selbstverteidigung horten sollte oder dass Impfungen Autismus verursachen oder dass die Erde sechstausend Jahre alt ist. Aber wir sind freier denn je zuvor, uns unsere eigene Welt zurechtzuschustern, zu glauben, was immer wir wollen, und uns als wer auch immer auszugeben. Und das lässt alle Grenzen zwischen dem Tatsächlichen und dem Fiktionalen leichter verschwimmen, teils bis zur kompletten Auflösung. So wird die Wahrheit insgesamt zu etwas Flexiblem, zu einer Frage der persönlichen Vorlieben. Zwischen unseren sich vervielfachenden Fantasien besteht eine gut funktionierende Synergie: den kleinen und den großen, den toxischen und denen, die nur der persönlichen Unterhaltung dienen, jenen, die wir ganz klar als Fantasien einstufen, solchen, an die wir doch irgendwie glauben, und schließlich den religiösen und politischen und wissenschaftlichen Fantasien, die wir in voller Überzeugung als wahr betrachten. Wenn es um Chemikalien in der Umwelt und Drogen im Gehirn geht, warnen Wissenschaftler vor dem sogenannten Cocktail-Effekt: Treffen mehrere Substanzen aufeinander, können sie sich potenzieren. Genauso ist es hier wohl auch. Unersättlich haben wir amerikanische Cocktails in uns hineingeschüttet, Cocktails aus all den unterschiedlichen Fantasy-Zutaten. Und diese vielen bewussten, halb bewussten und unbewussten Fantasien verstärken nun jeweils die Wirkung der anderen.
Dass wir uns einem solchen Saufgelage völlig frei hingeben dürfen, finden wir großartig, wir bestehen auf dieser Freiheit – auch wenn es uns Angst macht und wir es verabscheuen, in welcher Weise so viele unserer verbohrten Landsleute diese Freiheit missbrauchen. Als John Adams Anfang des 18. Jahrhunderts meinte, Fakten seien »störrisch«, war das vorrangige amerikanische Prinzip der persönlichen Freiheit noch nicht in der Unabhängigkeitserklärung oder der Verfassung verankert, ja die Vereinigten Staaten von Amerika waren selbst noch ein Traum. Zweieinhalb Jahrhunderte später hat die von Adams mitbegründete Nation seine Plattitüde »unsere Wünsche, unsere Neigungen« de facto mehrheitsprinziplich widerlegt; schließlich verändert heute das »Diktat unserer Leidenschaften« ganz offensichtlich »den Status des Faktischen und Beweisbaren«, denn es regieren extreme Gedankenfreiheit und das Streben nach Glück.
Dass Menschen das echte Leben als Fantasie betrachten und umgekehrt und dass sie absurde Ideen ernst nehmen, ist zwar keine rein amerikanische Angelegenheit. Einzigartig ist aber, wie tief wir in diesem Sumpf stecken. Im Vergleich zu anderen Industrieländern jedenfalls ist unsere Schwäche fürs Fantastische extrem. Wie bereitwillig wir auf alle möglichen Fantasien einsteigen, unterscheidet sich in Ausmaß und Intensität deutlich von anderen Ländern. Sicher: Der Arzt, dessen betrügerische Forschung die Anti-Impf-Bewegung losgetreten hat, war Brite, und Cosplay, das Sichverkleiden als Fantasyfigur, wurde von jungen japanischen Otaku erfunden. Und natürlich gibt es auch in anderen Industriestaaten Menschen, die an die Macht des Übernatürlichen, an Prophezeiungen und religiöse Pseudowissenschaften glauben – aber nirgends sonst in der reichen Welt spielen diese Überzeugungen eine derart essenzielle Rolle für das Selbstbild so vieler Menschen. Wir sind weltweit der Schmelztiegel von Fantasyland, wir sind das Epizentrum.
Im 21. Jahrhundert macht genau das Amerikas Außergewöhnlichkeit aus. Amerika war immer schon ein einzigartiger Ort – doch diese Eigentümlichkeit ist heute anderer Art. Reich und frei sind wir immer noch, auch einflussreicher und mächtiger als jedes andere Land; Amerika ist sozusagen der Inbegriff des Industriestaats. Gleichzeitig aber wiegt unser Hang zur Leichtgläubigkeit und dazu, unser eigenes Ding machen zu wollen und die Realität alles in allem eher nicht so richtig im Griff zu haben, inzwischen stärker als unsere anderen außergewöhnlichen Merkmale, sodass Amerika parallel auch zu einem Entwicklungsland geworden ist.
Der Trump-Moment – die Hochblüte des Postfaktischen, der alternativen Fakten – wird gerne als etwas völlig Unerklärliches angesehen, als ein verrücktes neues amerikanisches Phänomen. Dabei ist die aktuelle Entwicklung nur die logische Folge, der ultimative Ausdruck der Haltung und des Instinkts, die Amerika immer schon außergewöhnlich gemacht haben, seine ganze Geschichte über – tatsächlich sogar von seiner Vorgeschichte an. Mit dem vorliegenden Buch möchte ich versuchen, unseren aktuellen Zustand zu definieren, ihn möglichst genau zu bestimmen, ich möchte Maßstab und Umfang darstellen und ein paar frische Erklärungsansätze dafür liefern, wie es dazu kam, dass wir auf unserer nationalen Reise schließlich an diesem Punkt abgesetzt wurden.
Amerika wurde von wahren Gläubigen und leidenschaftlichen Träumern gegründet, von Scharlatanen und den Dummköpfen, die auf sie hereinfielen. Das hat uns im Laufe von vierhundert Jahren empfänglich gemacht für alle möglichen Fantasien: angefangen von der Hexenjagd in Salem über den Mormonengründer Joseph Smith, von P. T. Barnum über Henry David Thoreau zum Sprechen in Zungen, von Hollywood über Scientology zu Verschwörungstheorien, von Walt Disney über Billy Graham und Ronald Reagan und Oprah Winfrey bis hin zu Donald Trump. Mit anderen Worten: Man vermenge abenteuerlichen Individualismus mit extremer Religiosität, vermische Showbusiness mit allem anderen, lasse das Ganze ein paar Jahrhunderte lang gut durchziehen und vor sich hin köcheln, ziehe die Mischung dann durch die Nichts-ist-unmöglich-Sechziger und das Zeitalter des Internets und voilà: Heraus kommt das Amerika, in dem wir heute leben, in dem Realität und Fantasie auf völlig irre und gefährliche Art ineinander übergehen und miteinander verschmolzen sind.
Hoffentlich machen wir gerade nur einen langen, vorübergehenden Umweg, hoffentlich schaffen wir es irgendwie, wieder auf die richtige Spur zu kommen. Angenommen, wir befinden uns auf einer Sauftour und bekommen gerade die Auswirkungen von zu vielen Fantasy-Cocktails zu spüren, die wir über einen zu langen Zeitraum in uns hineingekippt haben, angenommen, das ist der Grund, der uns so manisch und hysterisch macht und uns straucheln lässt – müssten wir dann nicht irgendwann wieder nüchtern werden und uns regenerieren? Sollte man meinen. Dafür muss man aber zunächst verstehen, wie tiefgreifend sich der Hang zur Fantasie in unsere nationale DNA eingebrannt hat.
1 The Colbert Report war eine US-amerikanische Satiresendung, die von 2005 bis 2014 viermal wöchentlich spätabends auf Comedy Central lief. Stephen Colbert mimte darin einen egomanischen, rechtsgerichteten Kommentator nach dem Vorbild eines Fox News-Moderatoren (Anm. d. Üb.).
2 Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary, auch Webster oder Merriam-Webster, ist ein im englischsprachigen Raum weit verbreitetes, bekanntes Wörterbuch (Anm. d. Üb.).
3 Die Encyclopædia Britannica ist eine englischsprachige Enzyklopädie, vergleichbar mit dem Brockhaus (Anm. d. Üb.).
4 In Wirklichkeit hüpfen Frösche aus dem Wasser, wenn es zu heiß wird. In dem Versuch aus dem 19. Jahrhundert, der diese Vorstellung scheinbar ins Leben gerufen hat, wurde der Frosch zwar tatsächlich zu Tode gekocht – nur war ihm zuvor das Gehirn entfernt worden. Was ja eine menschliche Geste war und die Metapher in unserem Kontext noch passender macht.
5 Ich beziehe mich in diesem Kapitel auf Umfragewerte, die zwischen 2000 und 2017 von folgenden Institutionen erhoben wurden: dem Pew Research Center, dem unabhängigen Umfrageinstitut NORC der University of Chicago (General Social Survey), dem International Social Survey Programme, Gallup, Ipsos, YouGov, der Cooperative Congressional Election Study, Qualtrics, Public Policy Polling, Opinion Research Corporation, Scripps, Harris und dem Climate Change Communication-Projekt.
6 Marion Gordon »Pat« Robertson ist ein amerikanischer Politiker, der als eine der einflussreichsten Figuren der konservativen Rechten in den USA gilt (Anm. d. Üb.).
7 Als Truther (von engl. truth, Wahrheit) werden Gruppen oder Einzelpersonen bezeichnet, die glauben, von Regierungen oder den Medien systematisch fehlinformiert oder belogen zu werden (Anm. d. Üb.).
8 NAACP steht für National Association for the Advancement of Colored People (Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen) und ist eine der ältesten und einflussreichsten schwarzen Bürgerrechtsorganisationen der USA (Anm. d. Üb.).
9 Fantasy Football (FF) ist ein meist internetbasiertes Spiel, das in Amerika äußerst beliebt ist. Jeder der acht bis zwölf Teilnehmer hat eine eigene Mannschaft (Fantasy Team), die sich aus echten Sportlern einer bestimmten Liga zusammensetzt. Basierend auf der Leistung der echten Sportler am jeweiligen Spieltag erhält man dann Punkte (Anm. d. Üb.).
10 Dr. Ludvig Maxis und Jaina Prachtmeer sind Protagonisten aus den Computerspielen Call of Duty bzw. World of Warcraft (Anm. d. Üb.).
TEIL I
Wie Amerika heraufbeschworen wurde:
1517–1789
»Der ganze Mensch liegt sozusagen schon in den Windeln seiner Wiege. Ähnliches spielt sich bei den Nationen ab. In den Völkern tritt immer schon das Gepräge ihres Ursprungs zutage … wären wir imstande, bis zu den Anfängen der Gesellschaft vorzudringen … ich zweifle nicht daran, dass wir die Hauptursachen der Vorurteile, der vorherrschenden Leidenschaften, kurz alles dessen erkennen könnten, was man als nationale Wesensart bezeichnet.«
ALEXIS DE TOCQUEVILLE,
Über die Demokratie in Amerika (1835)
2
Ich glaube, also bin ich im Recht:
Die Protestanten
AM ANFANG BESASS das Land noch nicht einmal einen richtigen Namen: Die Neue Welt war ein Platzhalter, eine vorläufige, verallgemeinernde Bezeichnung, wie das Kürzel NewCo, das Gesellschaftsrechtler heutzutage gerne für die frisch gegründeten Firmen ihrer Mandanten nutzen. Für die zukünftigen weißen Bewohner der Neuen Welt war dieses Land ein imaginärer Ort. Amerika begann als Fieberwahn, als Mythos, als schöne Traumvorstellung, kurz: als Fantasie. Im Grunde handelte es sich um allerlei verschiedene Fantasien, die um das Jahr 1600 die Menschen dermaßen zu fesseln vermochten, dass die meisten von ihnen alles zurückließen – Freunde, Familie, Jobs, gesunden Menschenverstand, England, die altbekannte Welt – , um ihre Träume zu verwirklichen oder bei dem Versuch zu sterben. Und es waren viele, die ihr Leben ließen.
Unser Land war das allererste, das je aus dem Nichts erdacht und geschaffen wurde, das erste Land, das erschrieben wurde wie ein episches Gedicht, und wie es der Zufall will, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Shakespeare und Cervantes die moderne Prosa begründeten. Die ersten englischen Bewohner der Neuen Welt betrachteten sich als waghalsige Helden mit Anpackerqualitäten und einem Leben voll aufregender Abenteuer. Sie waren Extremisten, die sich am liebsten selbst inszenierten und für ihre flammenden Überzeugungen, weit hergeholten Hoffnungen, Träume und Fantasien, die sich doch bitte bewahrheiten sollten, alles ihnen bisher Bekannte zurückließen.
Aber spinnen wir Tocquevilles Metapher vom Kapitelanfang ein wenig fort: Wenn die ersten Unternehmungen der Engländer in der Neuen Welt das neugeborene Amerika darstellen, die Wiege der Nation, dann lassen Sie uns doch noch ein wenig weiter zurückgehen und zu ergründen versuchen, wie es dazu kam, dass dieses erstaunliche Kind überhaupt gezeugt wurde.
Ein frommer, junger Theologieprofessor an einer frisch gegründeten Provinzuniversität südlich von Berlin, ein Mann, der gern alles weiß, ist in manch wesentlicher Hinsicht mit der christlichen Doktrin und deren Umsetzung nicht einverstanden. Besonders ungehalten ist er über die Tatsache, dass der Erzbischof der Region, um die Kosten für die Feierlichkeiten zu seiner Beförderung zum Kardinal zu decken, die ortsansässigen Gläubigen dazu auffordert, für die Vergebung ihrer Sünden (und jener nahestehender Verstorbener) Geld zu zahlen und somit die postmortale Wartezeit im Fegefeuer zu verkürzen beziehungsweise gleich gänzlich zu umgehen. Zusätzlich zu diesem Obolus werden die Vergebung Suchenden dazu verpflichtet, am Allerheiligentag im Tross durch die Gemeindekirche zu ziehen und die Tausenden dort angesammelten heiligen Reliquien anzubeten, wovon die meisten, wenn nicht sogar alle, Fälschungen waren. Zu erwähnen wären hier etwa ein Strohhalm von der Krippe des Jesuskindleins, Fäden aus dem Stoff, in den das Kind gewickelt war, ein Rest von Marias Muttermilch, ein Barthaar des erwachsenen Jesus, ein Stück Brot vom Letzten Abendmahl und ein Stachel aus der Dornenkrone, die Er bei der Kreuzigung trug. Entsetzt über die Verkaufspraktiken der Kirche, schreibt der junge Theologe eine mehrere Seiten lange leidenschaftliche Kritik, eine Art Prototyp der PowerPoint-Präsentation, und nagelt sie am Vorabend des Allerheiligentages, an Halloween also, an die Kirchentür. Zur Sicherheit schickt er auch noch eine Abschrift seines Papiers an den Erzbischof höchstpersönlich.
Hätte das alles 1447 stattgefunden, wäre die Episode heute allenfalls eine kleine Fußnote der Geschichte. Doch weil der junge Prediger, der ehrwürdige Doktor Martin Luther, mit seinen Thesen im Jahr 1517 an die Öffentlichkeit ging, als die Ära des mechanischen Buchdrucks schon etwa seit einem halben Jahrhundert eingeläutet war, änderte sein Manifest alles. Die 95 Thesen wurden augenblicklich gedruckt, aus dem Lateinischen in die regionalen Sprachen übersetzt, in ganz Europa verbreitet und ohne Unterlass nachgedruckt. Der Protestantismus war geboren, als organisierte Alternative zum christlichen Religionsmonopol der römisch-katholischen Kirche.
Nachdem der neue christliche Glaube sich formiert hatte, ermöglichte ihm die Druckerpresse eine schnelle Verbreitung. Luthers Hauptvorwurf war, dass die Kirche faule VIP-Pässe für die Fahrt ins Himmelreich verhökert habe. »Lug und Trug predigen diejenigen«, so schreibt er in einer seiner Thesen, »die sagen, die Seele erhebe sich aus dem Fegfeuer, sobald die Münze klingelnd in den Kasten fällt.« Wenige Jahrzehnte später hatte sich die Sache ohnehin erledigt, denn der Vatikan verabschiedete sich vom Ablasshandel. Doch Luther hatte noch zwei wichtigere, wesentlich revolutionärere Ideen, die sowohl für seine Religion als auch für die Geburt Amerikas zur Grundlage werden sollten.
Luther war nämlich davon überzeugt, dass es für die Männer des Klerus keinen privilegierten Zugang zu Gott oder zu Jesus oder zur Wahrheit gab. Seiner Meinung nach stand alles, was ein Christ wissen musste, in der Bibel. So konnte und sollte jeder einzelne Gläubige die Heilige Schrift für sich selbst lesen und deuten. Jeder Gläubige, behaupteten die Protestanten, war nun ein Priester.
Zu jedem früheren Zeitpunkt wäre diese Haltung eine Donquichotterie gewesen, ein zum Scheitern verurteilter Traum. Gemäß einer vom Vatikan über lange Zeit praktizierten Regel war der Besitz von Bibeln nur Priestern erlaubt, was vor allem für Übersetzungen aus dem Lateinischen in lebende Sprachen galt. Es war ein Leichtes, diese Regel durchzusetzen, denn Bibeln waren äußerst rar und kostspielig. Um 1450, als Johannes Gutenberg das erste Buch – eine lateinische Bibel – druckte, existierten in ganz Europa nur insgesamt 30 000 Bücher, somit wäre etwa auf alle 2500 Menschen ein Buch gekommen. Als Luther 1517, also nur 60 Jahre später, die Reformation ins Rollen brachte, waren bereits 20 Millionen Bücher gedruckt worden, und die meisten davon waren Bibeln.
In den ersten hundert Jahren nach dem Druck der ersten englischsprachigen Bibeln verdreifachte sich in England die Alphabetisierungsrate. Millionen Christen konnten nun Luthers selbst gezimmertes Christentum in die Tat umsetzen. Die Kirche und ihre Priesterelite wurden dabei links liegen gelassen. Sollte diese Innovation wirklich alles bisher Dagewesene von Grund auf verändern? Allerdings, denn keine andere Technologie im Jahrtausend zwischen der Erfindung des Schießpulvers und der Dampfmaschine stellte einen solchen Bruch dar wie die Entwicklung der Druckerpresse. Und der Protestantismus war das erste daraus entstehende flächendeckende Kulturphänomen.
Neben der Übertragung religiöser Macht auf gewöhnliche Menschen – wodurch sich die Freiheit des Einzelnen maßgeblich erweiterte – bestand Luthers zweite große Idee darin, dass der Glaube an die in der Bibel erzählten übernatürlichen Begebenheiten, insbesondere die Geschichten über Jesus, die einzige Voraussetzung dafür sei, ein guter Christ zu sein. Den Aufstieg in den Himmel konnte man sich also nicht durch gute Taten verdienen. Es zählte allein das, woran man glaubte. (Und legt man den frühen Protestantismus streng aus, war selbst das keine garantierte Eintrittskarte.)
Diese ursprüngliche Forderung der Protestanten scheint ein Sieg der Vernunft, schließlich vermochten Geld oder das Bestaunen von (gefälschten) Reliquien keine einzige Seele in den Himmel zu befördern. Doch tatsächlich ist sie lediglich gerechter und logischer, nicht unbedingt vernünftiger. Es ist, als stritte man sich darüber, ob die Müllerstochter aus Rumpelstilzchen bei einer falschen Aussprache des Zwergennamens freizulassen gewesen wäre oder nicht. Die Uneinigkeiten, die Protestanten und Katholiken entzweiten, drehten sich im Kern um die Regeln des Übernatürlichen innerhalb ihres gemeinsamen Fantasiekonstruktes.
Wie dem auch sei, aus der neuen protestantischen Religion bildete sich im Laufe des 16. Jahrhunderts eine uramerikanische Gesinnung heraus: Millionen von gewöhnlichen Leuten beschlossen, dass jeder das Recht habe, für sich zu entscheiden, was wahr oder falsch war, egal was irgendwelche hochtrabenden Experten dazu sagten. Und obendrein waren sie davon überzeugt, dass ein leidenschaftlicher, für Wunder offener Glaube der Schlüssel zu allem sei. Der Grundstein für Fantasyland war gelegt.