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Buch

Auf ein letztes Weihnachten mit den Quinns!

Kaminfeuer, funkelnder Schnee und der Duft von frischen Plätzchen – es ist endlich wieder Winter auf Nantucket. Im »Winter Street Inn« durchlebt die Familie Quinn ein Wechselbad der Gefühle: Einerseits herrscht Freude über die wundersame Rückkehr des verschwunden geglaubten Sohnes Bart, andererseits machen sich alle große Sorgen um Familienoberhaupt Kelley, der im Sterben liegt. Doch die Quinns sind dankbar für die Zeit, die ihnen noch gemeinsam bleibt, und fest entschlossen, ein letztes besonderes Weihnachtsfest zu feiern …

Autorin

Elin Hilderbrand hat ihre besten Ideen am Strand oder in den belebten Straßen von Boston. Ihre drei Kinder beknien sie regelmäßig, im Beisein von anderen Leuten nicht lauthals zu singen oder zu tanzen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie auf Nantucket, Massachusetts, wo auch ihre Geschichten spielen. Ihre Bücher stehen regelmäßig in den Top Ten der New-York-Times-Bestsellerliste.



Elin Hilderbrand im Goldmann Verlag:

Die Winter-Street-Reihe:

Winterglanz. Roman

Inselwinter. Roman

Winterhochzeit. Roman

Sommerhochzeit. Roman

Das Sommerversprechen. Roman

Das Licht des Sommers. Roman

Ein Stern am Sommerhimmel. Roman

Inselschwestern. Roman

Elin Hilderbrand

Wintertraum

Roman

Aus dem Englischen
von Almuth Carstens

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Winter Solstice« bei Little, Brown and Company in der Hachette Book Group, New York.

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Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2018
Copyright © der Originalausgabe 2017 by Elin Hilderbrand
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: plainpicture/ Maria Dorner
Zweig: FinePic®, München
Redaktion: Ann-Catherine Geuder
em · Herstellung: eR
Satz und E-Book: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-23351-8
V001
www.goldmann-verlag.de

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Für Reagan Arthur –
es ist ihr Buch, in jeder Hinsicht.

TEIL
EINS

OKTOBER

BART

Die Party ist die Idee seiner Mutter. Bart hat am 31. Oktober Geburtstag, neben Weihnachten und dem 11. September einer der ungünstigsten Tage, auf die ein Geburtstag fallen kann. Besonders niederschmetternd fand Bart das als Kind. Keiner wollte Geburtstag feiern, wenn man schon umsonst Süßigkeiten bekam, indem man sich einfach nur verkleidete und an Türen klopfte.

Bart stimmt der Party widerwillig zu, legt dafür aber einige Regeln fest. Mitzi sitzt mit Stift und Notizblock planungsbereit auf dem Fußende von Barts Bett. Fällt ihr auf, dass es in Barts Zimmer stark nach Marihuana riecht? Muss es eigentlich, obwohl sie nichts dazu sagt. Bart vermutet, einer der Gründe dafür, dass sie eine Party geben will, ist der, dass sie Bart aus dem Bett holen möchte. Sie will, dass er wieder gesellig, wieder der vergnügungssüchtige Idiot ist, der er früher war. Er ist seit zehn Monaten aus Afghanistan zurück, und Mitzi versteht anscheinend nicht, dass der Mensch, der Bart einmal war … nicht mehr existiert.

»Keine Kostüme«, sagt Bart. »Da du ja so wild aufs Aufschreiben bist – fang damit an.«

Mitzis Mundwinkel wandern nach unten. Bart möchte seine Mutter nicht trauriger machen, als sie es eh schon ist, aber in diesem Punkt muss er hart bleiben. Keine Kostüme.

»Schreib es auf«, sagt er noch einmal.

»Aber …«

Bart schließt frustriert die Augen. Das hier ist Mitzi, ruft er sich ins Gedächtnis. Sobald ihr eine Idee kommt, ist es nahezu unmöglich, sie ihr wieder auszureden. Bart versucht sich vorzustellen, wie ein Kostümfest bei Familie Quinn aussehen könnte: Sein Bruder Patrick könnte in einem orangefarbenen Overall und mit Handschellen kommen, schließlich hat er in Barts Abwesenheit wegen Insiderhandels achtzehn Monate im Gefängnis verbracht. Barts Bruder Kevin könnte eine Baskenmütze und ein Halstuch tragen und sich ein Baguette unter den Arm klemmen. Seit seiner Hochzeit mit Isabelle – die bei Barts Abreise das Zimmermädchen der Pension war – ist er ein regelrechter Charles de Gaulle geworden. Einmal, als Bart Kevin und Isabelle in ihrem neuen Haus besucht hat – es war die Rede davon gewesen, dass Bart zu ihnen ziehen und für ihre Tochter Geneviève und Säugling KJ, ihren Sohn, das Kindermädchen spielen sollte, doch nein, beim besten Willen nicht, Bart kann nicht gut mit Kindern –, hat Bart gehört, wie Kevin seinem neugeborenen Sohn etwas auf Französisch vorsang.

Auf Französisch!

Ava könnte als Femme fatale in einem schwarzen Kleid mit tiefem Ausschnitt kommen und eine Zigarette rauchen, die in einer dieser altmodischen Spitzen steckt, da sie in den letzten drei Jahren anscheinend eine echte Herzensbrecherin geworden ist. Sie hat versucht, Bart den Verlauf ihres Liebeslebens zu erklären – erst Nathaniel, dann Scott, dann Nathaniel und Scott, dann war sie ganz kurz mit Nathaniel verlobt, dann nahm Nathaniel einen Job auf Block Island an, also kehrte sie zu Scott zurück. Dann schwängerte Scott eine der Lehrerinnen an der Highschool, und Ava war monatelang mit niemandem zusammen. Und irgendwann – Bart erinnert sich nicht an den Zeitpunkt; sein Gehirn hat inzwischen mehr Löcher als ein Schweizer Käse – lernte sie einen dritten Mann kennen, Potter Lyons oder vielleicht auch Lyons Potter, der irgendwo in New York City Professor ist. Ava zufolge ist er aber nicht der Grund dafür, dass sie jetzt in der Upper West Side von New York lebt und an einer schicken Privatschule, wo der Enkel von Quincy Jones und zwei von Harrison Fords Nichten zu ihren Schülern gehören, Musik unterrichtet. Ava ist erwachsen geworden. Das ist gut und ganz natürlich, weiß Bart – doch trotzdem empfindet er Groll. Wer soll denn die Familie zusammenhalten, jetzt, wo Ava weg ist? Bart bestimmt nicht.

Und was für ein Kostüm sollte Barts Vater Kelley tragen? Kelley hat einen Hirntumor und nach fünfzehn Runden Chemo und achtundzwanzig Runden Bestrahlung eine grundsätzliche Entscheidung getroffen: keine weitere Behandlung. Wenige Monate lang sah es so aus, als hätte er die Krankheit genügend zurückgedrängt, um ihr noch ein paar gute Jahre abzuringen. Diesen Sommer war er noch in der Lage gewesen, die Blaubeer-Maismehlpfannkuchen zu wenden und den Gästen lächelnd ihr Frühstück zu servieren. Er und Mitzi gingen noch jeden Tag zu Fuß vom Fat Ladies Beach zum Cisco und wieder zurück. Dann aber, Mitte September, während er und Bart sich das Spiel University of Tennessee gegen Ole Miss anschauten – Barts bester Freund in Afghanistan, Centaur, mittlerweile tot, war ein riesiger Vols-Fan gewesen, und Bart hatte sich geschworen, die Spiele der Mannschaft zu verfolgen, da Centaur das nicht mehr konnte –, erlitt Kelley einen Schlaganfall und verlor das Sehvermögen auf dem linken Auge. Jetzt, kaum vier Wochen später, ist er auf den Rollstuhl angewiesen, und Mitzi hat den Hospizdienst eingeschaltet.

Für Kelley kommt Verkleiden nicht mehr infrage, und das ist der wahre Grund dafür, dass Bart keine Kostüme will. Kelley wird sterben.

Auf dem Heimflug von Island hat Bart sich gelobt, sich nie wieder von etwas beunruhigen zu lassen. Aber die Nachricht vom Krebs seines Vaters hat ihn kalt erwischt. Nicht nur verspürt er tiefe Traurigkeit, sondern es nagt auch das Gefühl an ihm, betrogen worden zu sein. Schließlich hat er es trotz unsäglicher Schrecken geschafft, am Leben zu bleiben und nach Hause zurückzukehren; da ist es nicht fair, dass Kelley jetzt stirbt. Kelley wird nicht dabei sein, wenn Bart heiratet oder Kinder bekommt. Er wird nie erfahren, ob Bart etwas aus sich macht oder nicht. Das rührt an Barts ältesten Schmerz: Seine drei älteren Geschwister haben viel mehr von Kelley gehabt als er. Sie haben das Beste von ihm bekommen, und Bart, das einzige Kind aus Kelleys Ehe mit Mitzi, muss sich mit dem begnügen, was übrig bleibt.

Mitzi wickelt sich eine Locke um ihren Finger. »Und wenn wir einen Kompromiss schließen?«, fragt sie. »Wenn ich sage: ›Kostümierung freigestellt‹? Ich habe ein Outfit, das ich wirklich gern tragen würde.«

Bart schließt die Augen. Er stellt sich vor, dass manche Gäste Kostüme anhaben und manche normale Kleidung. Die Party wird aussehen wie ein halb aufgegessenes Sandwich. Er erwägt, Mitzi nachzugeben, nur um sie glücklich zu machen und sich als nett und vernünftig zu erweisen – aber letztendlich kann er seinen tiefen Hass auf Halloween nicht bezwingen.

»Keine Kostüme«, sagt er. »Bitte, Mom. Du kannst die Party geben. Ich werde kommen und versuchen, mich zu amüsieren. Aber keine Kostüme.«

Mitzi seufzt, dann steht sie auf, um das Zimmer zu verlassen. »Du könntest hier drinnen etwas Raumspray gebrauchen«, sagt sie.

Bart schenkt ihr ein halbes Lächeln, mehr schafft er nicht. Erst als Mitzi hinausgegangen ist und die Tür hinter sich geschlossen hat, wird ihm klar, dass sie ihm eigentlich gar nichts zugestanden hat.

EDDIE

Es ist die erste Einladung, die er seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis erhält, und Eddie muss zugeben: Er ist hin und weg. Eddie Pancik, früher bekannt als der Flinke Eddie, hat in der Justizvollzugsanstalt Plymouth gehorsam eine drei- bis fünfjährige Haftstrafe (in zwei Jahren und drei Monaten) für die Verabredung zu einem Verbrechen und organisierte Kriminalität abgesessen, nachdem er gestanden hatte, sein russisches Putzfrauenteam mit zahlungskräftigen Käufern von Luxusimmobilien verkuppelt zu haben. Eddies Verurteilung fiel zeitlich mit der Entdeckung zusammen, dass seine Frau Grace eine Affäre mit ihrem ansehnlichen und ansehnlich entlohnten Gartenarchitekten Benton Coe hatte – und so fühlte es sich für Eddie bei seinem Haftantritt an, als breche seine Welt über ihm zusammen.

Falls Eddie während seiner Inhaftierung eines gelernt hat, dann, dass Menschen anpassungsfähig sind. Er würde nicht sagen, dass er seine Zeit in der Vollzugsanstalt genoss, doch sie war nicht annähernd so schrecklich, wie er erwartet hatte. In mancher Hinsicht schätzte er die Disziplin und den Ausstieg aus dem Hamsterrad. Während Eddie sich vorher darauf konzentriert hatte, Geschäfte anzuleiern und den nächsten großen Deal an Land zu ziehen, lehrte ihn das Gefängnis, aufmerksam und präsent zu sein. Er ging jeden Morgen um sieben in den Kraftraum, dann zum Frühstück, und den Vormittag verbrachte er damit, in der Bibliothek eine Klasse von Pseudo-Maklern zu unterrichten. Die Insassen waren überwiegend Wirtschaftskriminelle – verurteilt wegen Unterschlagung, Kreditkartenbetrugs, einige auch wegen Drogenhandels, aber keiner wegen Gewalttaten – und hatten fast alle, wie Eddie feststellte, einen guten Geschäftssinn. Meistens wurde aus Eddies »Unterricht« eine angeregte Diskussion darüber, wie es kam, dass gute Geschäftsideen aus dem Ruder liefen. Manchmal verschwammen die Grenzen, da waren sich alle einig.

Es gelang Eddie sogar, während seiner Zeit in Haft ein Haus zu verkaufen – an einen Mann namens Forrest Landry, der Hunderte Millionen besaß, deren Treuhänderin seine Ehefrau Karen war. Karen Landry gehörte zu den Leidgeprüften – Forrest war ihr ebenso untreu gewesen wie dem Gesetz –, doch das Gefängnis hatte Forrest bußfertig gemacht, und er befand, dass ein Haus auf dem Platinabschnitt der Hulbert Avenue genau die richtige Wiedergutmachung wäre.

Er zahlte den Listenpreis: elf Komma fünf Millionen Dollar. Eddies Provision betrug dreihundertfünfundvierzigtausend Dollar. Seine Schwester Barbie war seine Bevollmächtigte, und der unverhoffte Geldsegen wanderte auf das Konto von Eddies Frau Grace, die damit die Collegegebühren für ihre Zwillingstöchter Hope und Allegra bezahlte. Hope war von jedem College angenommen worden, an dem sie sich beworben hatte, und hatte sich die Bucknell University mitten in der Pampa von Pennsylvania ausgesucht. Sie ist lachhaft teuer, obwohl – wie Hope hervorhob – nicht so teuer wie die Duke, die USC oder die Brown, ihre anderen drei Favoriten. Hope erzielt Bestnoten und spielt Flöte in einer Jazzband. Jetzt, in ihrem zweiten Studienjahr, wird sie sogar einer Verbindung beitreten, der Alpha Delta Pi, was Eddie und Grace beide gut finden, da Hope in der Highschool eher eine Einzelgängerin war.

Allegra wurde wegen schlechter Testergebnisse und noch schlechterer Zensuren nur an der UMass Dartmouth und der Plymouth State angenommen. Mit Blick auf einen Wechsel auf den Hauptcampus in Amherst im zweiten Jahr entschied sie sich für die UMass Dartmouth – fiel dort aber durch. Sie kehrte nach Nantucket zurück und begann, bei Bayberry Properties zu arbeiten, einer Firma, die Glenn Daley gehörte, dem Mann ihrer Tante Barbie.

Eddie ist es insgeheim ganz recht, dass Allegra nicht aufs College geht, und das nicht nur aus den offensichtlichen finanziellen Gründen. Er selbst hatte auch Schwierigkeiten mit der traditionellen Büchergelehrsamkeit. Allegra besitzt gesunden Menschenverstand, Ehrgeiz und beneidenswerte soziale Fähigkeiten. Sie hat als Rezeptionistin bei Bayberry Properties angefangen, aber Glenn überlegt bereits, sie im nächsten Jahr zur Büroleiterin zu befördern. Danach wird es nur eine Frage der Zeit sein, dass sie ihre Maklerlizenz erwirbt. Die Kleine wird Erfolg haben; da ist Eddie sich sicher. Er hat sie im Büro in Aktion gesehen – sie ist höflich, professionell und für ihr Alter ungewöhnlich selbstbewusst. Sie ist sogar nett, wenn die abscheuliche Rachel McMann anruft. Rachel hat früher auch bei Bayberry Properties gearbeitet, sich jedoch während Eddies Haft selbstständig gemacht und hat jetzt jede Menge Erfolg, obwohl sie die schlimmste Klatschtante der Insel ist.

Glenn Daley, einst Eddies größter Rivale, hat Eddie auf Barbies Drängen eine Stelle bei Bayberry Properties angeboten. Jetzt sitzt Eddie mit zwei weiteren Mitarbeitern im ersten Jahr in der hintersten Reihe an der Wand und teilt sich mit ihnen den Telefondienst, obwohl es irgendwie immer darauf hinausläuft, dass die Wochenendschichten an Eddie hängen bleiben. Es ist wie ein kompletter Neueinstieg in die Branche, aber Eddie bemüht sich, Dankbarkeit zu empfinden. Er sollte froh sein, dass Glenn Daley sich bereit erklärt hat, seinem Schwager, einem verurteilten Schwerverbrecher, einen neuen Anfang zu ermöglichen.

Eddie zeigt Grace die Einladung. »Guck mal«, sagt er. »Bart Quinns Geburtstagsparty bei den VFW zu Halloween!« Er versucht, seine Begeisterung zu dämpfen, auch wenn es ihm schwerfällt. Er freut sich sehr, dass die Quinns ihn nicht fallen gelassen haben. Es gibt andere auf der Insel, die ihn entweder schneiden oder ihm böse Blicke zuwerfen. Philip Meier von der Nantucket Bank zum Beispiel. Eddie traf ihn zufällig vor dem Postamt, und Philip ging vorbei, ohne auch nur zu grüßen. Und von seiner früheren Büroleiterin Eloise Coffin will Eddie gar nicht erst anfangen. Er würde ihr Auto nur zu gern mit dem Schlüssel zerkratzen, doch sie fährt einen zwölf Jahre alten Hyundai, also wäre es den Aufwand kaum wert. Als Eddie ins Gefängnis kam, war es Eloise, die mit der Presse redete.

»Halloween?«, sagt Grace. Sie nimmt die Einladung von Eddie entgegen und setzt ihre Lesebrille auf. Die Lesebrille hat sie seit Eddies Haftantritt, ebenso wie die vielen grauen Haare. Eins der unzähligen Dinge, für die Eddie sich die Schuld gibt, ist, dass Grace seinetwegen älter aussieht. »Ich kann nicht mitkommen.«

»Nein?«, sagt Eddie, und Panik steigt in ihm auf. Sie sind von den Quinns zu einer Party eingeladen worden, was zu einer Einladung zu ihrer alljährlichen Heiligabendparty führen könnte. Und die würde Eddies gesellschaftlichen Status so richtig verbessern. Sie müssen hingehen. »Warum nicht?«

»Ich arbeite auf dem Hügel«, sagt Grace. »Ich bin zuständig für die Verteilung der Bonbons an die Süßigkeitensammler. Das mache ich schon seit Jahren.«

Seit Jahren? Die Wendung »auf dem Hügel« ärgert Eddie. Sie bedeutet Academy Hill, die ehemalige Schule, in der sich jetzt Sozialwohnungen für Senioren befinden. Sie liegt hundert Meter entfernt von dem winzig kleinen Cottage, das Grace in der Lily Street oberhalb der Snake Alley gekauft hat. Grace betätigt sich seit Eddies Haftantritt ehrenamtlich in Academy Hill. Vielleicht hat sie letztes Halloween dort gearbeitet und womöglich das Halloween davor, aber das kann man wohl kaum als »seit Jahren« bezeichnen. Trotzdem hält Eddie den Mund. Im Gefängnis hat er sich gelobt, dass er, was Grace betrifft, ein neuer Mensch sein würde – ein freundlicher, geduldiger und aufmerksamer Ehemann. Er wird Grace’ Wohltätigkeitsarbeit nicht geringschätzig beurteilen. Er wird sie nicht bitten, sie zu schwänzen. Aber wie soll er sich bezüglich der Party verhalten?

»Was soll ich wegen der Einladung tun?«, fragt er Grace.

Grace seufzt und tritt in die Miniaturküche, wo sie eine Flasche Wein aus dem kleinen Kühlschrank holt. Es ist ein Sauvignon Blanc von Oyster Bay, der bei Hutch’s zwölf Dollar kostet. Zu sehen, wie seine Frau sich in dieser jämmerlichen Küche einen billigen Wein einschenkt, deprimiert Eddie, obwohl er weiß, dass es das nicht sollte. Er müsste dankbar dafür sein, dass er ein freier Mann ist, dass sie ein Dach über dem Kopf und genug Geld haben, um Hope die Bucknell besuchen zu lassen. Die Zeiten, in denen Eddie und Grace Screaming-Eagle-Cabernet tranken oder an einem Mittwochnachmittag gelegentlich eine Flasche Veuve Cliquot öffneten, sind vorbei. Das Schlimmste ist, dass Grace sich nicht darüber beklagt; sie macht das Beste aus ihrer prekären Lage. Das Cottage ist kaum fünfundsechzig Quadratmeter groß, und ein Viertel davon nimmt ein Dachbodenschlafzimmer ein, das über eine Wendeltreppe zugänglich ist. Grace hat es den Zwillingen zugedacht und den hinteren Wintergarten mit einem Futon, einem Fernseher sowie Waschmaschine und Trockner ausgestattet. Doch nachdem Allegra von ihrem misslungenen Gastspiel an der UMass Dartmouth zurückgekehrt war, meinte sie, ihr wäre der einzige weitere Schlafraum lieber, ein schmales holzgetäfeltes Gelass mit Einzelbett. Es hat eine Tür, die sich schließen lässt, und einen größeren Kleiderschrank. Es riecht nach Fichtenharz und bleibt im Sommer kühl. Es sei ein bisschen wie eine Kajüte, sagt Allegra.

Das Haus liegt in der Stadt und hat hinten einen winzigen Garten, den Grace in eine grüne Oase verwandelt hat – mit einem postkartengroßen üppigen Rasen, umgeben von Blumenbeeten voller Hortensien, Lilien, Löwenmäulchen und Rosensträuchern. Leute, die die Snake Alley als Abkürzung benutzen, bleiben immer stehen, um den Garten und den altmodischen Charme des Cottages zu bewundern. Es sehe aus wie aus einem Märchenbuch, sagen sie, wie das Haus, in dem die drei Bären leben!

Eddie ist wild entschlossen, so viel Geld zu verdienen, dass er ein größeres Haus kaufen kann. Er wird sich nichts so Grandioses leisten können wie das Anwesen, das sie in der Wauwinet Road bewohnten – so ein Domizil mit Blick aufs Wasser werden sie nie wieder haben –, aber etwas mit einer geräumigeren Küche und mehr als einem Bad.

Grace trinkt einen Schluck von ihrem Wein. Sie habe die neuseeländischen Sauvignon Blancs zu schätzen gelernt, meint sie. Sie seien frisch und fruchtig.

»Nimm Allegra mit zu der Party «, sagt Grace. »Sie hat gestern mit Hunter Schluss gemacht und hockt seitdem in ihrem Zimmer.«

»Sie hat sich von Hunter getrennt?«, fragt Eddie nach. Hunter Bloch ist Makler bei Melville Real Estate, einer Firma, die Hunters Vater Hunter sen. gehört. Als Allegra und Hunter anfingen, miteinander auszugehen, bekamen Eddie, Barbie und Glenn alle denselben Glanz in den Augen, als sie sich ausmalten, wie die beiden Agenturen zum größten Immobilienkonzern von Nantucket verschmolzen. »Wieso das?«

»Er hat sich hinter Allegras Rücken mit Ina getroffen, der bulgarischen Empfangsdame im Two Doors Down«, sagt Grace. Sie zieht eine Augenbraue hoch und senkt die Stimme. »Ehrlich gesagt, finde ich es gut, dass sie mal so behandelt wurde, wie sie früher andere behandelt hat. Nach dem, was sie Brick angetan hat …«

Eddie hebt eine Hand. »Stopp«, sagt er. »Die Sache mit Brick ist doch uralter Tobak.«

»Zweieinhalb Jahre sind uralter Tobak?«, sagt Grace. »Na ja, schon klar, dass das deine Meinung ist.«

Eddie senkt den Kopf; er spürt, dass ein Streit im Anmarsch ist. Grace war lieb und stand fest an seiner Seite, solange Eddie inhaftiert war. Sie schickte ihm sorgfältig zusammengestellte Päckchen und schrieb ausführliche Briefe. Seit seiner Heimkehr treten jedoch ihre Verärgerung, Enttäuschung und Skepsis öfter zutage, als ihm recht ist.

»Brick hat’s überlebt, oder?«, sagt er. Er weiß, dass Brick Llewellyn, Allegras ehemaliger Beau und zudem der Sohn von Grace’ und Eddies ehemals besten Freunden Madeline und Trevor, in Dartmouth angenommen wurde und dann auch noch das Stipendium des Nantucket Golf Club gewann, das vier Jahre lang seine Studiengebühren sowie Kost und Logis finanzieren wird. Das hat Eddie von Grace gehört, die nach wie vor mit Madeline redet, obwohl ihre Freundschaft ganz und gar nicht mehr die alte ist. Früher standen sie sich näher als Schwestern. Eddie hat beide Llewellyns seit seiner Entlassung weder gesehen noch gesprochen. Falls er geglaubt hat, sie würden ihre allwöchentlichen Familienessen wieder aufnehmen, hat er sich offensichtlich geirrt. Die Llewellyns wollen anscheinend nichts mehr mit Eddie Pancik zu tun haben, was die Einladung der Quinns umso bedeutsamer macht.

»Mal sehen, ob Allegra mitkommen will zur Party«, sagt Eddie.

Grace lächelt ihn verkniffen an und schluckt zusammen mit dem frischen, fruchtigen Sauvignon Blanc alles herunter, was sie noch sagen wollte. »Du kannst sie jetzt fragen. Sie ist in ihrem Zimmer.«

Eddie klopft an die Tür des kleinen Schlafraums, der nicht größer ist als Allegras begehbarer Kleiderschrank in ihrem alten Haus. »Allegra?«, sagt er. »Ich bin’s, Dad.« Fast hätte er gesagt: Ich bin’s, Eddie, denn so nennt Allegra ihn im Büro, und das fühlte sich zuerst zwar an, als schütte sie ihm einen Eimer kaltes Salzwasser ins Gesicht, aber mittlerweile hat er sich daran gewöhnt.

Von der anderen Seite der Tür ertönt ein Murmeln, das einladend klingt, aber vielleicht ist das auch eine zu optimistische Annahme. Zu Hause blitzt zwischendurch immer noch ihr früheres – schmollendes, verbittertes, egozentrisches – Selbst auf. Eddie öffnet vorsichtig die Tür. Allegra liegt in Shorts und einem Nantucket-Whalers-T-Shirt auf dem Bett, ihren Laptop auf dem Bauch. Sie schaut kaum auf, als Eddie eintritt, und er fragt sich, worin sie so vertieft ist. Vermutlich in Facebook, oder sie stopft sich mit einer dieser extrem freizügigen Internetserien voll. Troy Steele, ein Mitinsasse im Gefängnis, hat Eddie eine Episode von etwas namens The Girlfriend Experience sehen lassen, und die war nicht besser als Pornografie. Eddie wünscht sich, Allegra wäre auf Zillow und würde die Quadratmeterzahlen und Grundrisse aller zum Verkauf angebotenen Immobilien auf Nantucket auswendig lernen. So kommt man voran!

»Hallo«, sagt Eddie. Allegras Haare sind zerzaust, und sie ist ungeschminkt. Ihre Augen sind verquollen, als hätte sie womöglich geweint. Aber sie ist trotzdem wunderschön. »Wenn du mich fragst, ich finde, Hunter Bloch ist ein Idiot.«

Allegra gewährt ihm ein nachsichtiges Lächeln. »Das ist er«, erwidert sie.

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagt Eddie und wirft die Einladung auf Allegras Bett. »Gehst du mit mir dahin?«

Allegra liest die Einladung. »Bart Quinn?«, sagt sie. »Der ist scharf. Ich fand ihn schon immer scharf, aber jetzt, als Kriegsheld, ist er echt scharf.«

»Scharf?« Eddies Stimmung verdüstert sich. Warum muss Allegra bloß so wild auf Jungen sein? Warum kann sie nicht mehr wie Hope sein, besessen von Emily Dickinson? Warum kann sie nicht mehr wie Hope sein und sich verhalten wie Emily Dickinson – eingeschlossen in ihrem Dachstübchen im Licht einer flackernden Kerze Gedichte schreiben?

»Das ist an Halloween«, sagt Allegra und gibt Eddie die Einladung zurück. »Okay, ich komme mit.«

»Wirklich?« Aus irgendeinem Grund trifft Eddie diese Antwort unvorbereitet. Er hat mit Widerstand gerechnet.

Allegra zuckt die Achseln. »Klar. Ich wollte mit Hunter in die Chicken Box. Er wollte mich durch die Hintertür reinschmuggeln.«

»Oh«, sagt Eddie und ist plötzlich erleichtert über Allegras Trennung von Hunter. Er will auf keinen Fall, dass jemand seine minderjährige Tochter in der Chicken Box in der ersten Reihe bierschwenkend tanzen und mit Hunter Bloch rummachen oder sonstiges unelegantes Benehmen zur Schau stellen sieht. »Das hier wird bestimmt viel amüsanter.«

»Das bezweifle ich«, sagt Allegra. »Aber so hab ich wenigstens was vor. Ist es ein Kostümfest?«

»Vermutlich«, sagt Eddie. Er sucht auf der Einladung nach einem Dresscode. Doch da steht nur, dass es eine Geburtstagsparty für Bart Quinn bei den VFW um 19:00 Uhr an Halloween ist. Halloween fällt auf einen Dienstag, kein üblicher Tag für eine Party, also muss es eine Halloween-Party sein, was Kostüme bedeutet. Eddie überlegt.

»Ich weiß ja nicht, was du vorhast«, sagt er, »aber ich verkleide mich.«

»Ich hab ein japanisches Geisha-Kostüm«, sagt Allegra. »Das ziehe ich an.«

Japanische Geisha?, denkt Eddie. Es hätte schlimmer kommen können; zumindest wird sie voll bekleidet sein. »Braves Mädchen«, sagt er.

AVA

Alles ist immer noch neu für sie. Zum Beispiel, sich in der U-Bahn durch die Drehkreuze zu schieben und die Treppe hochzustapfen als nur einer von zehn Millionen Menschen. Sie geht in die Reinigung Ecke Lexington und 82nd Street und holt bei Nina Hwang ihre Wäsche ab. Sie ist für den Preis von fünfzehn Dollar sauber und ordentlich zusammengelegt und eingetütet, ein urbanes Wunder, findet Ava. Sie betritt den Laden nebenan und holt sich einen Strauß roter Gerbera, denn es ist Freitag, und Ava hat es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Freitag frische Blumen zu kaufen. Schließlich ist das der Tag, an dem Potter den ganzen Weg von der West Side zum Abendessen zu Ava kommt.

Während Ava sich dem Gebäude nähert, in dem sie wohnt, tastet sie nach ihren Schlüsseln. Schlüssel – sie hat sich immer noch nicht an sie gewöhnt. In ihrem Leben auf Nantucket hatte sie nur einen Schlüssel: den für ihren Jeep, der immer auf dem Beifahrersitz lag. Einen Schlüssel zur Pension hatte sie nie, denn die war eben eine Pension und stand deshalb stets offen. Auch wenn sie geschlossen war – im Januar, Februar –, war sie nicht abgesperrt. Existiert überhaupt ein Schlüssel? Falls ja, hat Ava ihn nie gesehen.

Jetzt klimpern an ihrem Ring ein Schlüssel zur Eingangstür des Wohnhauses in der 82nd Street, zwei Schlüssel für ihr Apartment – für den Türknauf und das Bolzenschloss –, ein Schlüssel für ihren Briefkasten und drei Schlüssel für Potters Wohnung; er bestand darauf, sie ihr zu geben, als sie Ende August dauerhaft nach Manhattan kam. Potter hatte gewollt, dass Ava gleich zu ihm auf die Upper West Side zog; Avas Mutter Margaret hingegen war dafür, dass Ava entweder zu ihr und Drake am Central Park West zog oder Drakes Apartment im West Village übernahm. All diese Angebote waren verlockend, doch Ava hatte mit zweiunddreißig Jahren noch nie allein gelebt. Sie hatte ihr ganzes Leben als Erwachsene mit ihrem Vater, mit Mitzi, ihren Brüdern und sechzehn Zimmern voller Pensionsgäste verbracht. Wie hatte sie überhaupt erwägen können, Nathaniel oder Scott zu heiraten? Sie hätte eine grundlegende Erfahrung verpasst: einen Ort nur für sich allein zu haben.

Avas Zweizimmerwohnung liegt im vierten Stock eines Hauses ohne Aufzug, was vier Treppen bedeutet, aber nichts an der Kletterei – auch nicht ihre schwere Schultasche und ein Wäschepaket – mindert die Freude, die Ava jedes Mal verspürt, wenn sie ihr Apartment betritt. Es ist absolut nichts Besonderes. Ihre Küche ist ein winziges Dreieck, das auf der einen Seite einen Kühlschrank mit Mikrowelle darüber, auf der anderen einen kleinen Herd und in der Mitte eine Spüle zu bieten hat sowie eine Arbeitsfläche, auf der man entweder Geschirr trocknen oder ein Schneidebrett unterbringen kann, aber nicht beides gleichzeitig. Der Badezimmerfußboden besteht aus sechseckigen Mosaikfliesen in Schwarz und Weiß, die entlang den Wänden allerdings reihenweise fehlen. Im Wohnzimmer gibt es eine Wand aus freiliegenden Ziegeln, Avas ganzer Stolz, denn sie weiß, dass freiliegende Ziegel in Manhattan den Wert einer Immobilie steigern, obwohl ihr nicht ganz klar ist, warum, denn sie kann dort nichts aufhängen. Im Schlafzimmer sind zwei Fenster, beide vergittert, und ein Einbauschrank in annehmbarer Größe. Zugegeben, Potters Apartment hat Kathedraldecken und eine Speisekammer und anderthalb Bäder und Original-Kranzprofile. Margarets und Drakes Wohnungen fallen in die Luxuskategorie. Die von Margaret hat vier Zimmer mit Blick auf den Central Park – wenn man eine Wasserbombe aus dem Fenster würfe, würde sie dort landen –, und Drakes Apartment ist zwar kleiner, aber elegant und modern und angefüllt mit richtiger Kunst, die er bei einem Händler in Chelsea kauft. Odell Beckham Jr. und Jimmy Fallon wohnen beide im selben Gebäude, und auf dem Dach gibt es einen Pool und im Erdgeschoss ein Fondue-Restaurant, das zurzeit die heißeste Adresse in der City ist.

Was Ava an ihrem Apartment aber so schätzt, ist, dass alles darin ihr gehört. Ihre Bücher sind in den Regalen aufgereiht; ihre Musik ertönt aus den kabellosen Lautsprechern; im Kühlschrank sind ihre Lieblingslebensmittel; ihre zwölf Kissen dominieren das Kopfende ihres Bettes. Sie hat sich auf dem Flohmarkt in der Columbus Avenue einen Perserteppich fürs Wohnzimmer gekauft und auf jedem freien Fleck an den Wänden Fotos von Nantucket aufgehängt. In der Ecke steht eine Trittleiter, die sie mit weißen Lichterketten und Topfpflanzen dekoriert hat. Alles nichts Raffiniertes, doch das schert Ava nicht. Sie liebt es, weil es ihres ist.

Ava stellt die Gerbera in ihre weiße muschelförmige Vase und platziert sie in die Mitte ihres runden weißen Esstisches von IKEA (der eine Zumutung fürs Auge ist; Ava wird sich einen neuen kaufen, wenn sie das Geld dafür zusammen hat) und schenkt sich ein Glas Weißwein ein. Potter kommt um sieben. Ava will Tomatensuppe machen, gegrillte Schinken-Käse-Sandwiches und einen grünen Salat mit cremigem Limonendressing. Ihre letzten Freitagabend-Wagnisse waren Brathähnchen, in Milch geschmorte Schweinekoteletts und eine klebrige Champignonpasta, die sie nach dem ersten Bissen zugunsten einer Pizza von Ray’s wegzuwerfen beschlossen. Ava nimmt sowohl ihre Erfolge als auch ihre Fehlschläge gleichmütig hin. Sie kocht nicht so sehr, um Potter, sondern um sich selbst zu gefallen.

Ihr ist klar, dass sie damit egozentrisch erscheinen könnte, doch das ist ihr egal. Sie schwelgt darin, ein eigenständiger Mensch zu sein.

Sie muss zu Gristedes und dann mit der Suppe und dem Dressing anfangen, aber ein Umschlag in dem Stapel Post – lila? – zieht ihren Blick auf sich. Sie erkennt Mitzis Handschrift, und plötzlich ergibt das Lila einen Sinn. Warum sich mit einem weißen Umschlag begnügen, wenn man Lila verschicken kann? Das wäre Mitzis Logik.

Ava öffnet den Brief. Es ist eine Einladung zu Barts zweiundzwanzigstem Geburtstag an Halloween bei den VFW auf Nantucket. Na ja, denkt Ava, wenn jemand eine Party verdient, dann Bart. Seinen einundzwanzigsten Geburtstag konnte er nicht feiern. Im Gefangenenlager auf den kahlen Ebenen des südlichen Zentralafghanistan gab es kein Bier, keine Papierschlangen, keine Torte.

Halloween fällt dieses Jahr auf einen Dienstag. Ava kann auf keinen Fall zu der Party gehen, das ist die heilige Wahrheit, und sie wird sich nicht schuldig dafür fühlen, dass die Gegebenheiten mit ihren persönlichen Vorlieben übereinstimmen. Sie möchte nicht hingehen. Nicht nur, dass sie Halloween verabscheut – jeder Lehrer in Amerika hasst diesen Tag, an dem alle Kinder total aufgekratzt sind, und auch den nächsten, an dem sie im Zuckerkoma sind –, sie hat auch keine Lust, nach Hause zu fahren. Sie befürchtet zu sehen, dass ihr Vater kränker ist, als irgendjemand zugeben will, und dass Bart klinisch depressiv ist, und dass Kevin und Isabelle überfordert sind von der Geburt ihres zweiten Babys in zwei Jahren, und dass Mitzi es nicht schafft, alle zusammenzuhalten – statt sich mit den wahren Problemen zu befassen, gibt sie eine Party bei den VFW –, und dass sie, Ava, dann das Gefühl haben wird, nach Nantucket zurückziehen zu müssen.

Zurückziehen – unmöglich! Sie hat ihr Apartment; sie hat einen Job, den sie liebt. Es gibt im ganzen Land keinen besseren Ort als Copper Hill, um Musik zu unterrichten. Zunächst einmal ist Musik dort Wahlfach, was bedeutet, dass jeder einzelne von Avas fünfundsiebzig Schülern – fünf Klassen mit je fünfzehn – am Unterricht teilnehmen will. Und nicht nur teilnehmen, sondern auch etwas erreichen will. Ava lehrt sie Gesang, Klavierspiel, Komposition und Musikgeschichte. Außerdem leitet sie einen Madrigalchor und ein Projekt für die Aufnahme von Musikvideos.

Und Ava hat einen Freund, in den sie auf gesunde Weise verliebt ist. Mit Potter gibt es kein Drama, keine Theatralik, keine Eifersucht (nicht viel Eifersucht), keine Tränen, keine sinnlose Sehnsucht, keine Unsicherheit (keine große Unsicherheit jedenfalls).

Ava fährt nicht nach Hause, nicht einmal der Party, nicht einmal Bart zuliebe. Sie hat keine Lust auf ein schlechtes Gewissen.

Auf Halloween folgt bald Thanksgiving und darauf bald Weihnachten. Sie wird zu Thanksgiving und Weihnachten heimfahren … na ja, eigentlich hat Potter davon gesprochen, über Weihnachten eine Reise nach Österreich zu machen – Salzburg und Wien. Ava hätte vor Freude fast aufgeschrien. Den Geburtsort und die Wirkungsstätte so vieler großer Komponisten zu besuchen – Mozart, Schubert, Haydn, Mahler, Strauss! Sie ist zweiunddreißig Jahre alt und war noch nie in Europa.

Aber … sie muss abwarten und sehen, wie es ihrem Vater geht.

Ihr Handy klingelt. Es ist Potter.

»Hey, Baby«, sagt Ava.

»Ava«, sagt Potter. Sein Tonfall lässt Ava befürchten, dass etwas Schreckliches passiert ist. Vielleicht ist Gibby, Potters Großvater, gestorben. Oh, Gibby!

»Was ist los?«, fragt Ava.

»Ich muss das Essen heute Abend absagen«, erklärt Potter. »Trish hat gerade angerufen. Sie und Harrison haben in letzter Minute beschlossen, nach New York zu kommen, um am Shakespeare-Symposium am Bard College teilzunehmen, also hat sie mich gefragt, ob ich übers Wochenende auf PJ aufpassen könnte. Natürlich hab ich Ja gesagt.«

»Natürlich hast du Ja gesagt!«, sagt Ava. »Das ist doch eine gute Nachricht, oder? Ich meine, ein bisschen unerwartet und auf den letzten Drücker, aber trotzdem gut. Dann lerne ich ihn endlich kennen! Bitte bring PJ zum Essen mit. Ich wollte sowieso gegrillten Käse machen. Oder wir gehen aus. Wir könnten ins Serendipity gehen und uns superlange Hotdogs und gefrorene heiße Schokolade genehmigen. Und morgen können wir ins Naturkundemuseum gehen! Er ist genau im richtigen Alter für das Planetarium, und ich glaube, sie haben eine Ausstellung über Spinnentiere.«

Potter lacht. »Du bist ja viel begeisterter, als ich dachte. Du bist viel begeisterter darüber als ich.«

»Du sagst doch immer, dass du dir wünschst, er würde näher bei dir wohnen.«

»Du hast Recht, du hast Recht«, sagt Potter.

»Also, willst du ihn mit zu mir bringen, oder sollen wir auswärts essen gehen?«, fragt Ava.

»Ich bringe ihn mit zu dir, denke ich«, sagt Potter.

»Oder willst du den Abend mit ihm allein verbringen?«, fragt Ava. »Entschuldige bitte … ich wollte nicht übergriffig sein …«

»Nein, nein«, sagt Potter. »Wenn ich mit ihm allein sein wollte, dann, damit wir dir nicht zur Last fallen. Ich hab dir ja erzählt, dass PJ manchmal schwierig sein kann. Er leidet am Syndrom des von an zwei unterschiedlichen Küsten lebenden Akademikern aufgezogenen Einzelkindes.«

»Ich unterrichte seit neun Jahren«, sagt Ava, »und kenne genügend schwierige Kinder. Vielleicht nicht mit genau demselben Syndrom, aber glaub mir, ich kann damit umgehen. Wie oft habe ich dir von Micah erzählt?«

»Wir sind um sieben bei dir«, sagt Potter. »Ich finde, wir sollten zu Hause bleiben. Im Serendipity ist es laut, und man muss lange warten, und er ist bestimmt müde von der Reise.«

»Okay«, sagt Ava. »Ich decke den Tisch für drei.«

Ava zieht Jeans an und eine frische weiße Bluse und greift sich ihren Beutel, um in den Supermarkt zu gehen. Ihr Telefon zirpt: eine SMS von Margaret. Drake hat für morgen Abend um neun eine Reservierung fürs Le Coucou ergattert. Könnt ihr mitkommen, du und Potter?

Ava wird ein wenig schwer ums Herz. Einer der größten Vorteile an ihrem Umzug nach New York ist es, mehr Zeit mit ihrer Mutter verbringen zu können. In den über zwanzig Jahren, die Ava mit Kelley und Mitzi und ihren Brüdern auf Nantucket lebte, erschien Margaret ihr oft weit entfernt, fast unerreichbar und manchmal kaum real. Meistens sah Ava sie im Fernsehen, wo sie aus Bagdad oder Paris berichtete oder aus dem CBS-Studio in New York. Jetzt, da sie in derselben Stadt wohnen, lieben sie es, gemeinsam etwas zu unternehmen – einkaufen und ins Kino oder Museum zu gehen, sich zu viert zu verabreden. Margaret ist Avas beste Freundin in Manhattan; Drake und Margaret sind als Paar Avas und Potters beste Freunde. Letzte Woche haben sie zusammen im Le Bilboquet gebruncht und dann einen langen Spaziergang durch den Central Park gemacht. Alle vier sind ganz wild darauf, im Le Coucou zu essen, doch mit einer Reservierung hat es bisher nie geklappt.

Wir können nicht, schreibt Ava zurück. Potters Sohn PJ ist übers Wochenende hier.

Kein Problem!, erwidert Margaret. Dann ein andermal.

Das Telefon klingelt, und es ist Margaret.

»Hi?«, sagt Ava.

»Hi, Schätzchen«, sagt Margaret. »Ich wollte nur kurz anrufen und fragen, wie es dir damit geht, dass du jetzt PJ kennenlernst.«

»Ich freue mich darauf«, sagt Ava.

»Wirklich?«, hakt Margaret nach.

»Ja, wirklich«, bestätigt Ava, und ein Hauch von Ungeduld schwingt in ihrer Stimme mit. Sie weiß, dass Margarets einzige »Sorge« bezüglich Potter die ist, dass er ein Kind mit einer anderen hat, ein emotionales Terrain, das Ava nicht vertraut ist. Ava weist sie immer darauf hin, dass viele ihrer Freunde Kinder haben – Shelby und Zack zum Beispiel haben Xavier –, und Ava hat inzwischen eine Nichte und vier Neffen. Dann behauptet Margaret, das sei etwas anderes, nicht so Schwieriges. Ava solle sich darauf einstellen, geduldig sein und Zugeständnisse machen zu müssen, was PJ betrifft. Und wenn sie PJ dann kennenlernte, solle sie »behutsam vorgehen«. Das waren genau Margarets Worte. »Ich freue mich auf ihn. Potter und ich sind seit einem Jahr zusammen.«

»Ich weiß«, sagt Margaret. »Vielleicht glaubst du, Potter in- und auswendig zu kennen, aber denk dran, dass du ihn noch nie als Vater erlebt hast. Womöglich erlebst du eine Überraschung.«

Eine Überraschung?, denkt Ava. Sie ärgert sich selten über ihre Mutter, doch jetzt ist sie gefährlich nahe dran. Aber bevor Ava Margaret taktvoll mitteilen kann, dass sie sehr gut imstande ist, mit Potter und PJ als Vater und Sohn umzugehen, sagt Margaret: »Oh, Süße, ich muss in die Umkleide. Roger schneidet schon Grimassen. Hab dich lieb, Schatz. Wir werden euch morgen Abend vermissen. Tschüss.«

»Äh … tschüss«, sagt Ava. Sie legt auf und steigt die Treppe hinunter. Der Anruf sollte eine Unterstützung sein, das weiß sie, doch es geht ihr jetzt schlechter als vorher. Hauptsächlich deshalb, weil Margaret fast immer recht hat.

Als Potter auf den Summer drückt, hat Ava alles vorbereitet: Die Suppe köchelt auf dem Herd, die Käsesandwiches sind arrangiert, die Salatblätter gewaschen und von Avocadoscheiben gekrönt, die den perfekten Reifegrad haben. (Ava weiß aus Erfahrung, dass die Chancen, eine Avocado mit perfektem Reifegrad zu erwischen, bei eins zu hundert liegen.) Sie und Potter essen normalerweise kein Dessert, aber da PJ kommt, hat Ava im Supermarkt Whoopie Pies sowie furchtbar teures Bio-Wassereis besorgt. Sie hat Wilco aufgelegt – Potters Lieblingsband –, und der Tisch ist für drei gedeckt mit zwei Gläsern Eiswasser und einem Glas Milch.

Sie hört Schritte auf der Treppe, dann Potters Stimme und die Stimme eines Kindes. Die Stimme eines Kindes. Jetzt ist es Realität, denkt Ava. Gleich wird sie Potters Sohn kennenlernen.

Sie öffnet die Tür und stellt sich mit einem, wie sie hofft, unbeschwerten, einladenden Lächeln auf den Treppenabsatz. Sie bemerkt winzige rote Punkte auf ihrer weißen Bluse – Spritzer von der Tomatensuppe.

Na gut, denkt Ava. Die Bluse ist ein kleines Opfer, das sie für dieses plötzlich so bedeutsame Essen bringt.

»Hi, Jungs!«, sagt sie, sobald Potters Kopf sichtbar wird.

Potter dreht sich mit einem warnenden Blick zu ihr um. Ava fällt auf, dass Potter den siebenjährigen PJ die Treppe hochzieht, dann hört sie das Schluchzen. Potter schafft es mit PJ im Schlepptau bis zum Absatz unter Avas Apartment. Als PJ aufschaut und Ava sieht, stößt er einen ohrenbetäubenden Schrei aus.

Ava legt einen Finger auf ihre Lippen. »Die Nachbarn«, sagt sie. »Mrs Simonetta.« Mrs Simonetta ist lärmempfindlich und hat sich mehr als einmal darüber beschwert, dass Ava zu laut Musik höre. PJs Schrei wird sie vermutlich dazu anspornen, eine SWAT-Einheit zu rufen.

Potter nimmt PJ auf den Arm, obwohl er viel zu groß dafür ist. »Du musst leise sein, PJ. Ava ist nett. Ava ist meine Freundin, und sie möchte auch deine Freundin sein.«

PJ schreit erneut.

Die Szene auf dem Treppenabsatz dauert weitere sechzig Sekunden oder so, in denen PJ jedes Mal schreit, wenn Potter ihm sagt, Ava sei nett und PJ möge doch bitte die letzten Stufen hochsteigen, damit sie zu Abend essen können. Mrs Simonetta ist eindeutig nicht zu Hause, denn einen solchen Tumult vor ihrer Tür würde sie keinesfalls dulden.

Ava sucht ihr Heil in Bestechung. »Wenn du mit raufkommst, PJ, kriegst du ein Wassereis. Ich habe drei Geschmacksrichtungen: Kirsche, Weintraube und Orange.« In Wahrheit sind die Bio-Sorten Granatapfel, Feige und Mango, aber mit Avas Lüge können sie sich befassen, sobald sie das Kind nach oben geschafft haben.

»Ich will kein Wassereis!«, kreischt PJ.

»Ich habe auch Whoopie Pies«, sagt Ava. Sie gratuliert sich zu ihrem »behutsamen Vorgehen«. Oder könnte Margaret Quinn die Situation etwa besser bewältigen?

»Wie wär’s mit einem Whoopie Pie, Kumpel? Das ist Schokoladengebäck mit Marshmallow-Füllung.«

»Nein!«, schreit PJ. »Nein! Nein! Nein!« Er blickt zu Ava auf und sagt: »Ich hasse dich! Ich will meine Mom!«

Ava holt tief Luft. Sie schaut Potter an und sieht den Ausdruck hilfloser Qual auf seinem Gesicht. »Ich glaube, er ist m-ü-d-e von der Reise«, sagt er.

»Okay«, sagt Ava. »Warum probieren wir es nicht morgen noch mal?«

»Aber …«, sagt Potter.

»Ich bin nicht müde!«, schreit PJ. »Ich schreie, weil ich dich hasse! Ich hasse dich, Lady!«

Ava beschwört ihre innere Heilige herauf. Sie wusste gar nicht, dass sie eine innere Heilige hat, doch offensichtlich hat sie eine, denn sie lächelt Potter an und sagt: »Ist schon in Ordnung. Ruf mich nachher an.«

»Du hast gewonnen, Kumpel«, sagt Potter zu PJ. »Wir fahren nach Hause. Aber im Taxi müssen wir uns mal ernsthaft unterhalten.«

PJ stürmt die Treppe hinunter. Potter formt mit dem Mund ein Ich liebe dich für Ava und jagt dann seinem Sohn nach.

Ava macht ihre Wohnungstür zu, schließt sie ab und starrt auf den für drei gedeckten Tisch mit den flackernden Kerzen und den roten Gerbera, die so keck und optimistisch dreinschauen. Sie atmet den Duft von Zwiebeln, Tomaten und Basilikum ein, dann fängt sie an zu weinen.

KELLEY

Er hat Mitzi gebeten, den Hospizdienst erst einzuschalten, wenn es richtig schlimm um ihn steht.

Es steht richtig schlimm um ihn.

Kelley hatte einen Schlaganfall, während er sich mit Bart ein Footballspiel ansah, und verlor das Sehvermögen auf dem linken Auge, und zwar unwiderruflich, wie Dr. Cherith sagte. Vielleicht wird er bald auch auf dem rechten Auge blind. Dann wird er sein Gehör verlieren, seinen Geruchssinn, seine Fähigkeit zu kauen und zu schlucken.