Das Buch
Als Dr. Eben Alexander 2008 aufgrund einer seltenen Gehirnhautentzündung ins Koma fiel, hatten ihn die Ärzte schon aufgegeben. Und doch genas der Neurochirurg auf wundersame Weise und berichtete anschließend von einer Nahtoderfahrung, die alles infrage stellte, was er bisher über das Leben und den Tod zu wissen glaubte. Seither ist der frühere Skeptiker überzeugt: Es existiert tatsächlich ein außerkörperliches, unsterbliches Bewusstsein – und jeder Mensch ist Teil davon.
Mit diesem Buch führt Eben Alexander seine bahnbrechenden Forschungen fort. Seine spektakuläre Erkenntnis: Durch Praktiken wie Meditation, Medialität oder Herzensarbeit und mithilfe innovativer Neurotechnologien können wir uns tatsächlich mit dem außerkörperlichen Bewusstsein verbinden und dessen Energie nutzen. Um die Grenzen der scheinbaren Realität zu überwinden, den Sinn unseres Daseins zu erkennen und unser Leben bewusst und erfüllt zu gestalten.
Die Autoren
Dr. med. Eben Alexander ist Neurochirurg mit 25-jähriger Berufserfahrung, u.a. an der Harvard Medical School, Boston. Mit über 150 wissenschaftlichen Artikeln sowie über 200 Vorträgen auf medizinischen Fachkongressen erwarb er internationales Renommee. Im November 2008 erkrankte er an bakterieller Meningitis und fiel für sieben Tage ins Koma. Seine Nahtoderfahrung sowie deren wissenschaftliche Erforschung beschreibt er in Blick in die Ewigkeit, das weltweit zum Bestseller wurde.
www.ebenalexander.com
Karen Newell beschäftigt sich seit früher Jugend mit spirituellen Themen. Sie ist Mitbegründerin von »Sacred Acoustics«, einem Unternehmen, das mithilfe innovativer Soundtechnologien neue Zugänge zu verborgenen Bewusstseinsräumen erschließt.
www.sacredacoustics.com
Dr. med. Eben Alexander
Karen Newell
Tore
ins unendliche
Bewusstsein
Die Grenzen der Realität überwinden und die wahre Natur des Lebens entdecken
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Juliane Molitor
Für unsere Kinder Eben IV., Bond und Jamie.
Wir vertrauen darauf, dass ihre Generation
diese Welt zu einem erheblich besseren Ort machen wird.
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1 Der Wunsch, alles zu verstehen
2 Ein wirklich schwieriges Problem
3 Wissenschaft trifft Spiritualität
4 Über die materialistische Wissenschaft hinausgehen
5 Die Hypothese vom uranfänglichen Geist
6 Der eigenen Erfahrung vertrauen
7 Die Macht des Gebets
8 Nach innen gehen
9 Die Welle des Bewusstseins reiten
10 Sei die Liebe, die du bist
11 Eine Kernfrage klären
12 Die Antworten liegen in uns
13 Die Lektionen unserer Seele lernen
14 Die Freiheit der Wahl
15 Mind over Matter oder Die Macht des Geistes
16 Aufblühen im Zentrum des Bewusstseins
Schlusswort
Dank
Anhang A: Die vergebliche Suche nach einem Gedächtnisspeicher im Gehirn
Anhang B: Anmerkungen zum Messproblem der Quantenphysik
Literatur
Endnoten
Register
Vorwort
Dieses Buch ist ein ambitionierter Versuch, Wissenschaft und Spiritualität zu vereinen, zwei Bereiche, die in der Regel als gegensätzlich betrachtet und selten so ausführlich in einem Buch behandelt werden. Wir möchten eine breite Leserschaft erreichen: sowohl wissenschaftlich als auch spirituell Interessierte – und alle dazwischen. Dies ist eine Botschaft für die gesamte Menschheit.
Wir möchten moderne, informierte Leser erreichen, Leser, die wirklich daran interessiert sind, das Wesen unserer Welt und ihre eigene Beziehung dazu besser zu verstehen. In den ersten fünf Kapiteln werden die Probleme, die wir angesichts unseres vorherrschenden westlichen Weltbilds haben, allgemein deutlich gemacht und viele tief sitzende naturwissenschaftliche und philosophische Annahmen infrage gestellt. Dann entwerfen wir ein erweitertes Paradigma, das sich sowohl auf menschliche Erfahrungen als auch auf empirische Belege aus wissenschaftlichen Untersuchungen stützt.
Einige der in diesen ersten Kapiteln angesprochenen Inhalte sind für nicht wissenschaftlich orientierte Leser vielleicht weniger interessant. Es ist aber nicht nötig, sie gänzlich verstanden zu haben, bevor man sich mit dem Rest des Buches beschäftigt. Für mache mag es sogar sinnvoll sein, diese ersten Kapitel erst nach dem Rest des Buches zu lesen. Die Kapitel 6 bis 16 bieten Beispiele und Informationen mit konkret anwendbaren Instrumentarien und Techniken, die für jene wertvoll sind, die mehr über ihre Verbindung zum Universum und darüber erfahren möchten, wie sie ihre Fähigkeiten zur vollständigen Manifestierung ihres freien Willens einsetzen können.
Der Text ist in der ersten Person geschrieben, weil es sich um meine Geschichte handelt. Aber meine Co-Autorin Karen Newell versteht das, was ich sagen will, besser als irgendjemand sonst und hat das, was in Wirklichkeit unsere Botschaft ist, entscheidend ergänzt, verdeutlicht und präzisiert. Ich hätte dieses Buch nie allein schreiben können. Karen, die sich schon ihr Leben lang um ein tieferes Verständnis des Wesens aller Existenz bemüht, hat einen wahren Schatz an Einsichten und Erkenntnissen beigesteuert. Dieses Buch ist durch ihre Weisheit viel informativer und für Leser ohne wissenschaftlichen Hintergrund leichter lesbar geworden.
Einleitung
Entdecken bedeutet zu sehen, was schon jeder gesehen hat, und dabei zu denken, was noch niemand gedacht hat.
Albert Szent-Györgyi (1893-1986), Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin, 1937
In welcher Beziehung stehen Geist und Gehirn? Die meisten Menschen machen sich keine Gedanken über diese Frage. und überlassen solche Grübeleien lieber den Neurowissenschaftlern und Philosophen. Warum sollten sie Zeit damit verbringen, über akademische Themen wie diese nachzudenken? Gehirn und Geist sind eindeutig miteinander verbunden, und mehr brauchen die meisten von uns nicht zu wissen, nicht wahr? Es gibt wichtigere Dinge im Leben, auf die wir uns konzentrieren sollten.
Als praktizierender Neurochirurg hatte ich es täglich mit der Beziehung zwischen Geist und Gehirn zu tun, und zwar aufgrund der Tatsache, dass bei meinen Patienten oft Bewusstseinsveränderungen zu beobachten waren. Dieses Phänomen war zwar interessant, aber ich sah es pragmatisch. Ich hatte gelernt, solche Bewusstseinsveränderungen zu evaluieren, um diverse Tumoren, Infektionen oder Schlaganfälle, die das Gehirn beeinflussen, zu diagnostizieren und zu behandeln. Wir haben die Mittel und hoffentlich auch die Gabe, unseren Patienten zu nützen, indem wir sie auf »normalere« Ebenen des Wachbewusstseins zurückbringen. Ich hatte die Entwicklungen in der Physik aufmerksam verfolgt und wusste, dass es Theorien darüber gab, wie das alles vor sich geht, aber ich hatte Patienten, um die ich mich kümmern und Wichtigeres, worüber ich mir Gedanken machen musste.
Meine Selbstzufriedenheit mit diesem Arrangement des beiläufigen »Verstehens« wurde am 10. November 2008 krachend beendet. Ich kollabierte in meinem Bett, fiel in ein tiefes Koma und wurde ins Lynchburg General Hospital eingeliefert – in das Krankenhaus, in dem ich als Neurochirurg tätig war. Im Koma erlebte ich Dinge, die mich in den Wochen nach meinem Erwachen verwirrten und nach einer wissenschaftlichen Erklärung verlangten.
Der neurologischen Lehre zufolge hätte ich wegen der schweren Schädigung meines Gehirns durch eine massive bakterielle Meningoenzephalitis nichts wahrnehmen dürfen – gar nichts! Doch während mein Gehirn von der Infektion befallen und angeschwollen war, begab ich mich auf eine fantastische Odyssee, während der ich mich an nichts von meinem Leben auf der Erde erinnerte. Diese Odyssee schien Monate oder Jahre zu dauern; eine aufwendige Reise in viele Schichten höherer Dimensionen, bisweilen wahrgenommen aus einer Perspektive der Unendlichkeit und Ewigkeit außerhalb von Zeit und Raum. Eine so umfassende Inaktivierung meines Neokortex, der Großhirnrinde, hätte eigentlich alle Wahrnehmungen und Erinnerungen außer einigen elementaren auslöschen müssen. Und doch wurde ich hartnäckig von sehr vielen höchst realen, lebendigen und komplexen Erinnerungen heimgesucht. Zunächst vertraute ich meinen Ärzten und ihrem Hinweis, dass »das sterbende Gehirn uns alle möglichen Streiche spielen kann«. Immerhin hatte ich meinen eigenen Patienten manchmal genau diesen »Hinweis« gegeben.
Die letzte Nachuntersuchung bei meinem behandelnden Neurologen fand Anfang Januar 2010 statt, vierzehn Monate, nachdem ich aus meinem heimtückischen einwöchigen Koma erwacht war. Dr. Charlie Joseph war schon vor meinem Koma ein Freund und enger Vertrauter von mir gewesen. Er hatte mir mit meinen anderen Medizinerkollegen beigestanden, während mich die volle Wucht meiner schrecklichen Meningoenzephalitis traf, und in dieser Zeit alle Details der durch sie erzeugten neurologischen Verwüstung aufgezeichnet. Wir rekapitulierten die Besonderheiten meiner Genesung (die angesichts der Schwere meiner Krankheit in dieser verhängnisvollen Woche allesamt überraschend und unerwartet waren), begutachteten einige der neurologischen Untersuchungen sowie die Ergebnisse der MRT- und CT-Scans während meines Komas, und Charlie führte eine komplette neurologische Untersuchung durch.
So verlockend es auch war, meine außerordentliche Heilung und mein aktuelles Wohlbefinden einfach als unerklärliches Wunder zu akzeptieren – ich konnte es nicht. Vielmehr wollte ich unbedingt eine Erklärung für die Reise finden, die ich im Koma unternommen hatte. Es war eine sensorische Erfahrung, die unseren neurowissenschaftlichen Vorstellungen von der Rolle, die der Neokortex für eine detailreiche bewusste Wahrnehmung spielt, vollkommen widerspricht. Die beunruhigende Möglichkeit, dass fundamentale Grundsätze der Neurowissenschaft falsch sein konnten, führte mich an diesem stürmischen Winternachmittag in meinem abschließenden Gespräch mit Dr. Joseph auf unbekanntes Terrain.
»Ich kann mir nicht erklären, wie meine mentalen Erlebnisse im tiefen Koma so intensiv, so komplex und so lebendig sein konnten«, sagte ich zu ihm. »Sie schienen viel realer als alles zu sein, was ich je erlebt habe.« Ich erzählte ihm, dass zahlreiche Details darauf hinwiesen, dass die überwiegende Mehrheit meiner Wahrnehmungen zwischen dem ersten und dem fünften Tag meines siebentägigen Komas stattgefunden hatten. Und dennoch bezeugten alle neurologischen Untersuchungen, Laborwerte und Aufnahmen, dass mein Neokortex in der Zeit viel zu sehr von der schweren Meningoenzephalitis geschädigt war, um solch eine bewusste Wahrnehmung zu ermöglichen. »Wie soll ich daraus klug werden?« fragte ich meinen Freund.
Ich werde nie vergessen, wie mich Charlie mit einem wissenden Lächeln anschaute und sagte: »Angesichts dessen, was wir über Gehirn, Geist und Bewusstsein wissen, bleibt noch viel Raum, um das Mysterium deiner bemerkenswerten Genesung als etwas zu begreifen, das auf etwas von großer Bedeutung hinweisen könnte. Wie du selbst sehr gut weißt, finden wir in der klinischen Neurologie immer wieder zahlreiche Beweise dafür, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben, bevor wir von einem ›umfassenden‹ Verständnis sprechen können. Ich tendiere dazu, dein persönliches Mysterium als ein weiteres schönes Puzzleteil zu akzeptieren, als wichtigen Beschleuniger bei der Annäherung an irgendeine Erkenntnis über das Wesen unserer Existenz. Freu dich einfach darüber!«
Ich fand es sehr beruhigend, dass ein gut ausgebildeter und sehr fähiger Neurologe, der meine Erkrankung bis ins Detail verfolgt hatte, offen für die großartigen Möglichkeiten war, die meine Erinnerungen an die Zeit im Koma eröffneten. Charlie half mir, die Tür zu meiner Verwandlung aufzustoßen, der Verwandlung von einem materialistisch geprägten Wissenschaftler, der stolz auf seine akademische Skepsis war, in jemanden, der jetzt sein wahres Wesen kennt und einen höchst erquicklichen Einblick in andere Ebenen der Wirklichkeit bekommen hat.
Natürlich waren die ersten Monate des Erkundens und der Verwirrung keine leichte Phase. Mir war bewusst, dass ich mit Gedanken spielte, die von vielen meiner Kollegen als inakzeptabel, wenn nicht sogar als ketzerisch betrachtet wurden. Einige waren vielleicht sogar der Ansicht, ich solle lieber aufhören zu fragen und forschen als beruflichen Selbstmord zu begehen, indem ich anderen eine so haarsträubende Geschichte erzählte.
Dr. Joseph und ich waren uns einig, dass mein Gehirn durch eine beinahe tödliche bakterielle Meningoenzephalitis schwer geschädigt gewesen war. Der Neokortex – die Gehirnregion, von der die moderne Neurowissenschaft sagt, dass sie zumindest teilweise aktiv sein muss, damit wir etwas bewusst wahrnehmen können – war nicht mehr in der Lage, irgendetwas hervorzubringen oder zu verarbeiten, das auch nur annähernd an das heranreicht, was ich erlebt habe. Und doch habe ich es erlebt. Um Sherlock Holmes zu zitieren: »Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, dann muss alles, was übrig bleibt, wie unwahrscheinlich es auch sein mag, die Wahrheit sein.« Ich musste also das Unwahrscheinliche akzeptieren: Ich habe diese sehr reale Erfahrung gemacht und war mir dessen bewusst – und mein Bewusstsein war offenbar nicht von einem intakten Gehirn abhängig. Nur indem ich meinem Geist (und meinem Herzen) erlaubte, sich so weit wie möglich zu öffnen, war ich in der Lage, die Risse in der herrschenden Lehre über Gehirn und Bewusstsein zu erkennen. Erst in dem Licht, das durch diese Risse fiel, erkannte ich allmählich die wahren Hintergründe dieser Geist-Körper-Debatte.
Diese Debatte ist für uns alle von größter Bedeutung, weil viele unserer grundlegenden Annahmen über das Wesen der Wirklichkeit davon abhängen, in welche Richtung sie sich entwickelt. Jede Vorstellung, die wir vom Sinn und Zweck unserer Existenz, von unserer Verbindung mit anderen und dem Universum, von unserem freien Willen und sogar von solchen Vorstellungen wie einem Leben nach dem Tod oder der Reinkarnation haben – all diese tiefschürfenden Themen sind direkt vom Ausgang der Geist-Körper-Debatte abhängig. Die Beziehung zwischen Geist und Gehirn ist also eines der größten und wichtigsten Mysterien des menschlichen Denkens. Und das Bild, das sich aus den am weitesten fortgeschrittenen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung herauskristallisiert, entspricht so gar nicht unserer konventionellen wissenschaftlichen Sichtweise. Offenbar stehen uns revolutionäre Erkenntnisse bevor.
Dieser Weg des Entdeckens tut sich immer mehr vor mir auf und wird mich zweifellos für den Rest meines Lebens beschäftigen. Ich habe inzwischen einige sehr weitreichende Erfahrungen gemacht und die faszinierendsten Menschen kennengelernt, die ich mir vorstellen kann. Ich habe gelernt, mich nicht von allzu einfachen Unwahrheiten über eine angenommene Welt verführen zu lassen, sondern mich zu bemühen, die Welt so einzuschätzen und zu behandeln, wie sie wirklich ist. Als Menschen auf der Suche nach einem tieferen Verständnis unserer Existenz sind wir alle gut beraten, das zu tun.
In den neun Jahren seit meinem Erwachen aus dem Koma lautete mein Mantra in den schwierigsten und verwirrendsten Phasen oft: »Glaub es einfach, zumindest vorläufig.« Ihnen, liebe Leser, rate ich, dasselbe zu tun – lassen Sie vorerst alle Zweifel beiseite und öffnen Sie Ihren Geist so weit wie möglich. Eine tiefere Erkenntnis verlangt diese Befreiung, genau wie eine Trapezkünstlerin in der Hoffnung, dass ihr Partner sie auffangen wird, das Trapez loslassen muss, um frei durch die Luft fliegen zu können.
Betrachten Sie dieses Buch als meine ausgestreckten Hände, die bereit sind, Sie zu stützen, wenn Sie den größten Sprung von allen wagen – den Sprung in die herrliche Realität dessen, was wir wirklich sind!
Kapitel 1
Der Wunsch, alles zu verstehen
Das Universum ist nicht nur sonderbarer, als wir vermuten, sondern sogar sonderbarer, als wir überhaupt vermuten können.
J. B. S. Haldane (1892–1964), britischer Evolutionsbiologe
Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen (M&M-Konferenzen) geben der medizinischen Gemeinde eine Möglichkeit, die Geschichten glückloser Patienten zu erzählen, die an verschiedenen Krankheiten gestorben sind oder durch Verletzungen verstümmelt wurden. Das sind vielleicht nicht die fröhlichsten Themen, aber sie werden behandelt, weil es darum geht, daraus zu lernen und darüber zu lehren, um künftige Patienten vor dem gleichen Schicksal zu bewahren. Bei einer M&M-Konferenz, in der sein Fall behandelt wird, ist sehr selten auch der betroffene Patient anwesend, aber in genau diese Situation kam ich ein paar Monate nach meinem Koma. Die Ärzte, die mich behandelt hatten, waren über das hohe Niveau meiner fortschreitenden Genesung erstaunt und nahmen dieses augenscheinliche Wunder zum Anlass, mich einzuladen, an einer Diskussion über meine unerwartete Rettung vor dem Tod teilzunehmen.
Meine Genesung entzog sich jeder wissenschaftlichen Erklärung. An dem Morgen, an dem ich auf der Konferenz erschien, erzählten mir einige Kollegen, was für ein Schock es für sie gewesen sei, dass ich nicht nur überlebt (die Wahrscheinlichkeit dafür hatten sie am Ende meiner Woche im Koma auf zwei Prozent geschätzt), sondern offenbar innerhalb weniger Monate auch all meine geistigen Funktionen zurückerlangt hatte. Und das war in der Tat verblüffend. Angesichts der Schwere meiner Krankheit hätte niemand mit einer derartigen Genesung gerechnet. Die neurologischen Untersuchungen, die CT- und MRT-Scans sowie die Laborwerte hatten alle ergeben, dass es sich bei meiner schweren Erkrankung um eine lebensbedrohliche Meningoenzephalitis handelte. Anfänglich wurde meine Behandlung durch relativ gleichbleibende epileptische Anfälle vereitelt, die nur schwer zu stoppen waren.
Die neurologische Untersuchung ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Bestimmung der Schwere eines Komas und zum Abgeben einer Prognose. Aufgrund der Beurteilung meiner Augenbewegungen, der Reaktion meiner Pupillen auf Licht sowie der Art meiner Arm- und Beinbewegungen als Antwort auf Schmerzreize konnten meine Ärzte – wie auch ich es gekonnt hätte – sagen, dass mein Neokortex, der typisch menschliche Teil des Gehirns, bereits bei meiner Einlieferung in die Notaufnahme schwer geschädigt war.
Einen weiteren entscheidenden Hinweis liefert die Qualität der Verbalisierung, doch die war bei mir nicht mehr vorhanden. Die einzigen Laute, die ich von mir gab, waren ein gelegentliches Grunzen und Stöhnen – bis auf eine einzige Ausnahme: Während ich noch in der Notaufnahme lag, rief ich unerwartet: »Gott, hilf mir!« (Daran kann ich mich nicht erinnern, aber es wurde mir später berichtet.) Nachdem sie stundenlang nichts Verständliches von mir gehört hatten, hielten Familienmitglieder und enge Freunde diese Worte für einen Hoffnungsschimmer und dachten, ich würde vielleicht in diese Welt zurückkehren. Aber es waren die letzten Worte, die ich sagte, bevor ich ins tiefe Koma fiel.
Die Glasgow-Koma-Skala (GKS) zur Bewertung von Vokalisierung, Arm- und Beinbewegungen (besonders als Reaktion auf Schmerzreize bei abgestumpften oder komatösen Patienten) und Augenbewegungen wird eingesetzt, um den Zustand von Patienten in einem veränderten Bewusstseinszustand, und dazu gehört auch ein Koma, einzuschätzen und die Patienten dann entsprechend zu behandeln. Die GKS ist so etwas wie eine Messlatte zur Bewertung des Wachbewusstseinsgrads. Sie reicht von 15 bei einem normalen, gesunden Patienten bis 3, dem Wert für eine Leiche oder einen Patienten im sehr tiefen Koma. Mein höchster GKS-Wert in der Notaufnahme war 8, und zu manchen Zeiten in jener Woche lag er sogar bei 5. Ich litt eindeutig an einer tödlichen Meningoenzephalitis.
In Gesprächen um den Grad der Zerstörung meines Neokortex werde ich oft nach dem Elektroenzephalogramm oder EEG gefragt. Ein EEG ist eine ziemlich knifflige Angelegenheit, doch manche Studien zeigen bei einer bakteriellen Meningitis eine Korrelation zwischen dem Grad von EEG-Anomalien und dem neurologischen Befund. Außerdem war ich im Status epilepticus (mit epileptischen Anfällen, die kaum therapeutisch behandelt werden konnten) in die Notaufnahme eingeliefert worden. Es gab also gute Gründe, ein EEG zu machen.
Die traurige Wahrheit ist, dass ich so krank war und eine so düstere Prognose hatte, die hauptsächlich auf den Ergebnissen der neurologischen Untersuchungen und der Laborwerte basierte, dass meine Ärzte der Ansicht waren, ein EEG sei nicht sinnvoll. Wie in anderen Fällen von schwerer Meningoenzephalitis hätte mein EEG höchstwahrscheinlich eine diffuse Tiefschlafaktivität, Burst-suppression-Muster oder eine Nulllinie gezeigt, was alles auf eine handlungsunfähig machende Schädigung des Neokortex hinweist. Darauf lassen auch die Ergebnisse meiner neurologischen Untersuchungen schließen, aus denen die Schwere meiner damaligen Erkrankung hervorgeht, besonders wenn man sie mit ähnlichen Fällen vergleicht.
Tatsächlich wird innerhalb von 15 bis 20 Sekunden nach einem Herzstillstand eine EEG-Nulllinie sichtbar, weil kein Blut mehr ins Gehirn fließt. Das EEG ist somit kein sehr anspruchsvoller Test, wenn es darum geht, das Ausmaß umfassender neokortikaler Schäden festzustellen. Die Ergebnisse der an mir durchgeführten neurologischen Untersuchungen sowie der CT- und MRT-Scans, die das Ausmaß des Schadens (der alle acht Lappen meines Gehirns in Mitleidenschaft gezogen hatte) deutlich machten, zeichneten ein sehr düsteres Bild. Die verfügbaren klinischen Fakten zeigten, dass ich todkrank war und mein Gehirn erheblichen Schaden genommen hatte.
Aus einem schnell eingetretenen Koma aufgrund einer schweren, durch gramnegative Bakterien ausgelösten Meningoenzephalitis wachen praktisch alle Patienten am dritten Tag wieder auf, oder sie sind tot. Meine länger andauernde Existenz irgendwo zwischen diesen eindeutigen Zuständen irritierte meine Ärzte.
Am siebten Tag meines Komas teilten meine Ärzte meiner Familie mit, dass ich bei meiner Einlieferung in die Notaufnahme eine Überlebenschance von etwa zehn Prozent gehabt hatte, die jedoch nach einer Woche im Koma auf erbärmliche zwei Prozent gesunken war. Noch viel schlimmer als diese schäbige zweiprozentige Überlebenschance war die harte Realität, die sie damit in Verbindung brachten, nämlich dass ich, falls ich wieder aus dem Koma erwachen sollte, so gut wie keine Chance hatte, danach wieder ein normales Leben führen zu können, sondern bestenfalls ein Leben im Pflegeheim würde verbringen müssen. Aber selbst diese Aussicht war unwahrscheinlich.
Natürlich waren meine Familie und meine Freunde angesichts dieser düsteren Zukunftsaussichten erschüttert. Angesichts der Tatsache, dass ich so schnell ins Koma gefallen war, und des Ausmaßes der neokortikalen Schäden, die sich in den neurologischen Untersuchungsergebnissen und den extremen Laborwerten widerspiegelten (so wies etwa meine Zerebrospinalflüssgkeit einen Glukosewert von 1mg/dl auf; normal ist ein Wert von 60 bis 80 mg/dl), war jedem Arzt klar, dass eine vollständige Genesung medizinisch unmöglich war. Und doch ist genau das passiert. Mir ist kein einziger Fall eines anderen Patienten mit der gleichen Diagnose bekannt, der anschließend in den Genuss einer vollständigen Genesung gekommen wäre.
Gegen Ende jener Morbiditäts- und Mortalitätskonferenz wurde ich gefragt, ob ich den Anwesenden noch irgendwelche Überlegungen mitteilen wolle. Ich antwortete:
»Diese ganze Diskussion über meinen Fall und die Seltenheit einer Genesung wie der meinen verblasst vor dem, was ich als viel tiefer gehende Frage betrachte, die mich umtreibt, seit ich in dem Bett auf der Intensivstation die Augen aufgeschlagen habe: Wie habe ich bei einer so gut dokumentierten Dezimierung meines Neokortex überhaupt eine Erfahrung machen können? Besonders die einer so lebendigen und ultrarealen Odyssee? Wie ist das möglich gewesen?«
In den Gesichtern meiner Kollegen sah ich an diesem Tag nicht mehr als eine schwache Spiegelung meiner eigenen Verwunderung. Manche verlegten sich auf die simplifizierende Annahme, dass das, was ich erlebt hatte, nicht viel mehr gewesen sei als ein Fiebertraum oder eine Halluzination. Aber diejenigen, die sich um mich gekümmert hatten, und diejenigen, die hinreichende Kenntnisse von den Neurowissenschaften hatten, um zu wissen, wie unmöglich es war, dass ein derart geschädigtes Gehirn zu einer so außergewöhnlichen, so detaillierten und so komplexen Wahrnehmung auch nur im Ansatz fähig war, hatten ebenfalls das Gefühl, dass sich hier etwas sehr Geheimnisvolles ereignet hatte. Ich wusste, dass es letztendlich an mir war, nach zufriedenstellenden Erklärungen dafür zu suchen. Eine taugliche Erklärung für das, was ich erlebt hatte, war nicht in Sicht, und ich sah mich genötigt, mich darum zu bemühen, all das zu verstehen.
Ich überlegte, eine neurowissenschaftliche Abhandlung zu schreiben, um die fatalen Fehler aufzuzeigen, die wir mit unserer wissenschaftlichen Auffassung von der Rolle des Neokortex für unsere detaillierte bewusste Wahrnehmung machen. Ich hoffte darauf, die Körper-Geist-Frage tiefer durchdringen zu können, und darauf, vielleicht einen kleinen Einblick in den Mechanismus des Bewusstseins zu bekommen. Mir fiel es sehr schwer, mein Erlebnis im Koma mit dem wissenschaftlich-materialistischen Weltbild in Einklang zu bringen, das ich vor dem Koma gehabt hatte, und ich glaubte, dass mein geschädigtes Gehirn im Koma doch noch über genügend Kapazitäten verfügt hatte, die den Ursprung meiner Wahrnehmungen irgendwie erklären konnten.
Die größte Unterstützung bei dem Versuch, meine Erfahrung zu verstehen, bekam ich von Kollegen, denen ich vertraue und die ich als wirklich aufgeschlossen und intelligent respektiere. Die meisten Ärzte, mit denen ich ausführlich über meine Erfahrung gesprochen habe, waren fasziniert und haben sich weitgehend bemüht, mir zu helfen. Wir haben viele Theorien in Betracht gezogen – alles Versuche, meine Erfahrung als irgendwie gehirnbasiert zu erklären. Wir versuchten, den Ursprung meiner Wahrnehmungen in anderen Teilen des Gehirns als dem Neokortex (etwa im Thalamus, in den Basalganglien, im Stammhirn etc.) zu verorten oder zu postulieren, dass die Wahrnehmungen außerhalb des Zeitintervalls auftraten, in dem mein Neokortex eindeutig nicht aktiv war.
Wir versuchten, meine Erinnerungen an das, was ich im Koma erlebt hatte, im Prinzip mit der weitverbreiteten Annahme zu erklären, dass das Gehirn für jede Art von bewusster Wahrnehmung benötigt wird. In den fast drei Jahrzehnten meines Lebens, in denen ich als Neurochirurg täglich mit Patienten zu tun hatte, die häufig unter Bewusstseinsveränderungen litten, war ich zu der Überzeugung gelangt, etwas über die Beziehung zwischen Gehirn und Geist, also das Wesen des Bewusstseins zu wissen. Die moderne Neurologie ist der Ansicht, dass all unsere menschlichen Eigenschaften wie Sprechen, Vernunft, Denken, auditive und visuelle Wahrnehmung, emotionale Kräfte etc. – also im Grunde alle Qualitäten der mentalen Erfahrung, die ein Teil unseres menschlichen Bewusstseins werden – direkt aus dem stärksten Rechner des menschlichen Gehirns stammen, dem Neokortex. Auch wenn andere, primitivere (und tiefer liegende) Strukturen wie die oben erwähnten eine gewisse Rolle für das Bewusstsein spielen mögen, erfordern all die großartigen Details der bewussten Erfahrung den hochwertigen Neuronalrechner Neokortex.
Ich akzeptierte die allgemeine neurowissenschaftliche Auffassung, dass das physische Gehirn aus physischer Materie Bewusstsein erschafft. Was das bedeutet, ist klar: Unsere Existenz umfasst »Geburt bis Tod« und nichts weiter. Und genau davon war ich in den Jahrzehnten vor meinem Koma fest überzeugt. Hier wird eine Krankheit wie meine bakterielle Meningoenzephalitis zum perfekten Modell für den menschlichen Tod, weil sie bevorzugt den Teil des Gehirns zerstört, der am meisten zu unserer menschlich-geistigen Erfahrung beiträgt.
Ein paar Monate nach meinem Erwachen aus dem Koma fing ich wieder an zu arbeiten und nahm an der Jahrestagung der Society for Thermal Medicine in Tucson teil, um die noch junge Forschung der Focused Ultrasound Surgery Foundation zu unterstützen. Als ich an einem sonnigen Freitagnachmittag von Charlotte, North Carolina, nach Phoenix, Arizona, flog, freute ich mich am meisten darauf, Dr. Allan Hamilton, meinen langjährigen Freund und Neurochirurgenkollegen, zu treffen.
Allan und ich waren enge Freunde geworden, als wir beide von 1983 bis 1985 im neurochirurgischen Labor des Massachusetts General Hospital in Boston gearbeitet hatten. Wir hatten viele Stunden miteinander verbracht, manchmal bis spät in die Nacht, hatten über diverse Laborprotokolle, Techniken und Projekte diskutiert und unser Bedauern über den endlosen Strom an Unvollkommenheiten kundgetan, der solche wissenschaftlichen Bemühungen begleitet und nur von denen wahrgenommen wird, die in den Gräben sitzen und die eigentliche Arbeit machen.
Unsere Freundschaft war weit über die Grenzen unserer neurochirurgischen Ausbildung hinausgegangen, und so kam es, dass ich Mitte der 1980er-Jahre zusammen mit »Old Mountain Hamilton« (wie ich ihn in der Wildnis nannte) eine Bergtour auf ein paar der berühmtesten Gipfel im Nordosten der Vereinigten Staaten machte. Dazu gehörten Gothics und Marcy (zwei der höchsten Gipfel in den Adirondack Mountains im Bundesstaat New York) und Mount Monadnock in New Hampshire, wo wir während eines Schneesturms die Nacht in einem Winterbiwak verbrachten. Das Letzte, was wir an diesem Abend im schwindenden Licht der Dämmerung sahen, war ein Hubschrauber des Roten Kreuzes, der einen weniger glücklichen Wanderer aus dem Berg über uns holte. Und auch Mount Washington, wo mit die schlimmsten Witterungsbedingungen dieser Welt herrschen, haben wir natürlich gemeinsam erstiegen.
Allan, ein erfahrener Bergwanderer, der Einsätze der US-Armee auf Bergen wie dem Mount McKinley in Alaska (mit 6190 Metern der höchste Berg in Nordamerika, heute auch als Denali bekannt) geleitet hat, zeichnete sich dadurch aus, dass er stets betonte, wie wichtig Wissen und eine entsprechende Vorbereitung für den sicheren Aufstieg auf solche Gipfel seien. Bevor wir im Oktober 1984 den Gipfel des Mount Washington bestiegen, gab mir Allan Hausaufgaben, die unter anderem darin bestanden, dass ich mir die Berichte über tödliche Unfälle an diesem Berg aus mehreren Jahrzehnten durchlesen musste.
Wir hatten unseren Aufstieg eine Stunde vor Sonnenaufgang begonnen. Windböen mit einer Geschwindigkeit bis zu 113 km/h und dichter Schneefall schränkten unsere Sicht so sehr ein, dass wir kaum den nächsten Steinhaufen (die Steinhaufen dienen in so leblosen Landschaften als Wegmarkierungen) erkennen konnten. Das überraschte uns nicht. Hier werden Windgeschwindigkeiten bis zu 372 km/h gemessen. Das ist der höchste Wert, der jemals mit einem Anemometer auf der Erde gemessen wurde. Als wir die Lakes-of-the-Clouds-Hütte betraten, überkam mich eine kolossale Erleichterung. Es ist die am höchsten gelegene von acht Steinfestungen in der Presidential Range, die dort errichtet wurden, um Wanderern in diesem potenziell tödlichen Terrain einen vorübergehenden Unterschlupf zu bieten. Dass diese schwere Steinhütte mit Ketten in der Felslandschaft verankert war, schien angesichts der extremen und stetigen Kraft dieser überirdischen Winde durchaus angebracht.
Allan, mein Mentor in dieser Situation, forderte mich auf, eine Entscheidung zu treffen. »Sollen wir unseren Aufstieg fortsetzen?«, fragte er.
Allan hatte mich nicht ohne Grund gebeten, die Berichte über tödliche Unfälle am Mount Washington zu lesen. Und dies war meine Abschlussprüfung. Das Wetter kann sich hier plötzlich ändern, und er wollte, dass ich entscheide, ob wir unseren Aufstieg trotz des immer eindrucksvolleren Schneesturms fortsetzen sollten oder nicht.
Aus der Zeit, in der ich Extremsportarten betrieben hatte, angefangen mit einer vierjährigen Fallschirmspringer-Karriere an der University of North Carolina in Chapel Hill, wusste ich, dass es unter Teilnehmern an solchen potenziell tödlichen Abenteuern darum geht, der jeweiligen Situation angemessene, professionelle und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen, statt wildes Draufgängertum an den Tag zu legen. Die einzige Möglichkeit, in meiner Fallschirmspringerzeit zur Teilnahme an einer der größeren Freifall-Sternformationen eingeladen zu werden, bestand darin, einen sehr klaren Kopf zu beweisen, gleichgültig, wie extrem die Herausforderungen auch waren. Wilde Cowboys hatten dort nichts zu suchen. Und so war es auch hier, an diesem »Ort des Großen Geistes«. Allan verdiente es, dass ich eine optimale Entscheidung traf.
»Vielleicht sollten wir uns lieber wieder auf den Rückweg machen«, sagte ich schließlich. Es gefiel mir zwar nicht, dass wir unser begehrtes Ziel jetzt nicht erreichen würden, aber tief in meinem Herzen wusste ich, dass dies angesichts all der Berichte über tödliche Unfälle die richtige Entscheidung war.
»Gute Wahl«, murmelte Allan, während wir unsere Sachen packten, um die sichere und gemütliche Steinfestung zu verlassen. Gegen den draußen tobenden Wind stieß er die Tür auf, und wir machten uns auf den mühsamen Rückweg.
Doch das Schicksal war uns gnädig. Kurz nachdem wir die Baumgrenze erreicht hatten, änderte sich das Wetter schlagartig. Die Wolkendecke riss auf, die Temperatur stieg über Null, und als wir uns umdrehten, hatten wir bei strahlendem Sonnenschein und im T-Shirt einen atemberaubenden Blick auf den Gipfel und rundum kilometerweit in die Ferne. Einer der letzten Abschnitte dieser Bergtour führte durch einen riesigen Birkenwald. Ich werde den kristallblauen Himmel über dem wunderschönen Netz aus weißen Baumrinden nie vergessen. Einzelne leuchtend goldene Blätter klammerten sich immer noch an manchen Zweigen fest – eine bunte Missachtung des sich schnell und mit aller Brutalität nähernden Winters. In der unterschwelligen Lektion dieses Tages und der ganzen Herrlichkeit, mit der wir dafür belohnt wurden, dass wir unseren höchsten Instinkten und unserer Verbindung zur Natur vertraut hatten, sehe ich eine Parallele zu dem Wandel meines Weltbilds, der sich in den neun Jahren nach meinem Koma vollzogen und mein Leben verändert hat.
In der Tat, eine gute Wahl!
Ich hatte Allans tiefschürfenden Intellekt, seine wohldurchdachten Einsichten und seinen erfrischenden Sinn für Humor schätzen gelernt. Er war ein hervorragender Wissenschaftler, was sich in den nächsten paar Jahren in einer steilen Karriere niederschlug. Er absolvierte die erstklassige neurochirurgische Facharztausbildung am Massachusetts General Hospital und erwarb einen akademischen Grad nach dem anderen an der University of Arizona in Tucson, wo ihm nicht nur die Leitung der Neurochirurgie, sondern auch die der Abteilung für Chirurgie übertragen wurde. Allan war wirklich ein ganz heller Stern in der höchsten Konstellation der akademischen Neurochirurgie.
Als ich nun wenige Monate nach meinem Koma zur Konferenz der Society for Thermal Medicine nach Tucson flog, freute ich mich daher auf mein Wiedersehen mit Allan, das ich als Höhepunkt der Reise betrachtete. Und ich sollte nicht enttäuscht werden! Er holte mich mit seinem strahlend blauen Smart ab, und wir fuhren zu seinem Haus, einer Pferderanch am Stadtrand von Tucson. Während der Fahrt erzählten wir einander viel darüber, was seit unserem letzten Treffen vor ein paar Jahren passiert war.
Als wir später in seinem mit vielen Büchern und Erinnerungsstücken ausgestatteten Arbeitszimmer saßen, hörte mir Allan aufmerksam zu, während die Wüstensonne hinter den großen Fenstern unterging. Ich gab ihm eine nahezu vollständige Zusammenfassung nicht nur meiner Erinnerungen an mein tiefes Koma, sondern auch der medizinischen Details, die so verwirrend waren, dass die Möglichkeit, dies alles als einen Fiebertraum oder eine Halluzination zu erklären, ausgeschlossen werden konnte. Wie viele meiner Medizinerkollegen und ich selbst war auch Allan ratlos, wie mein Fall zu interpretieren sei, und diese Ratlosigkeit wurde noch verstärkt durch die Tatsache, dass eine Heilung wie die meine extrem selten war. Ich wusste, dass ich mit seiner Hilfe bei der Beantwortung der Frage rechnen konnte, wie ich in einer Zeit, in der mein Neokortex in solch einer Weise geschädigt war, derart lebendige und erinnerbare Erfahrungen hatte machen können.
Zufälligerweise hatte ich in der Woche vor meiner Reise nach Tucson den für meine jüngsten Bemühungen, meine Erfahrung zu erklären, entscheidenden Hinweis bekommen. Ich hatte in eben dieser Woche das Foto meiner leiblichen Schwester erhalten, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, und der Schock der Erkenntnis, dass das, an was ich mich aus meinem Koma erinnerte, offenbar sehr real war, saß mir noch in den Knochen. Wie diejenigen, die Blick in die Ewigkeit gelesen haben, wissen, war die Ähnlichkeit dieses Fotos von meiner verlorenen Schwester mit meiner schönen Begleiterin in meinem tiefen Koma eine welterschütternde Erkenntnis für mich. Auch Allan war erstaunt, als ich ihm von dieser neuesten Entdeckung erzählte.
»Das ist Gold wert«, sagte er nach ein paar Minuten des Nachdenkens am Ende meiner langen Erzählung. Allan war mir schon weit voraus. »Reines Gold«, wiederholte er, und seine Frau Janey, die Teile meiner Geschichte mitgehört hatte, stimmte von ganzem Herzen zu. »Es fällt einem schwer, nicht ein bisschen eifersüchtig zu sein. So eine Erfahrung hätte ich auch gern gemacht!«, fügte sie hinzu.
Allan vertrat die Ansicht, meine Geschichte habe eine tiefere und umfangreichere Einsicht über die Verbindung zwischen Geist und Körper vermittelt. Mit einem offenen Geist statt aus dem von mir vertretenen eingeschränkten wissenschaftlichen Blickwinkel betrachtet, könne meine Erfahrung uns helfen, über unser mageres Verständnis von Bewusstsein, der Beziehung zwischen Geist und Gehirn und sogar vom Wesen der Wirklichkeit hinauszugehen.
»Das könnte dir gefallen«, sagte Allan und reichte mir lächelnd ein mit Widmung versehenes Exemplar seines kürzlich erschienenen Buches Skalpell und Seele. Was die Medizin nicht erklären kann. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch nie über irgendetwas sonderlich Übernatürliches gesprochen. Daher war ich ausgesprochen überrascht, zu erfahren, dass er an Derartigem ein Interesse hatte – genug, um ein Buch darüber zu schreiben. Rückblickend fällt mir auf, dass viele wissenschaftlich orientierte Menschen mit ihren Kollegen ganz bewusst nicht über solche Themen sprechen. Es könnte als frivol empfunden wer-den und ein Augenrollen und hochgezogene Augenbrauen hervorrufen. Angesichts seiner prestigeträchtigen akademischen Auszeichnungen schien er jedoch den Mut aufgebracht zu haben, der so vielen anderen fehlte.
Ich hatte mir seit einiger Zeit erlaubt, Bücher über solche Themen zu lesen, und Allans Buch habe ich auf dem Nachtflug zurück in den Osten der USA regelrecht verschlungen. Es enthält eine fesselnde Sammlung von Anekdoten aus Allans Leben als nachdenklicher Neurochirurg, der seine Tür für die Realität unserer spirituellen Natur weit offen hält. Seine reflektierenden persönlichen Geschichten über Visionen auf dem Sterbebett, Vorahnungen, Engel und die erstaunliche Macht des Glaubens und der Liebe, durch die die Seele von Grund auf geheilt werden kann, haben mich an mehreren Stellen des Buches zu Tränen gerührt.
Ein Beispiel ist die herzerwärmende Geschichte einer Großmutter, welche die Betreuung des behinderten Sohnes ihrer Tochter übernommen hatte und sich nun mit ihrer eigenen Diagnose konfrontiert sah: Eierstockkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Man sagte ihr, dass sie wahrscheinlich in wenigen Monaten sterben würde. Wer konnte sich um das arme Kind kümmern, wenn die Großmutter ihrer Krankheit erlag? Der Glaube der Großmutter machte es ihr möglich, allen Prognosen ihrer Ärzte zu trotzen. Sie überlebte ihren eigenen Arzt und nahm an der Hochzeit ihres Enkels teil, der offenbar ebenfalls von ihrem starken Glauben profitierte, denn trotz seiner Behinderung wurde er ein geschickter Handwerker. Die Kombination aus Allans wissenschaftlichem Verständnis und einem tiefen und erweiterten Bewusstsein für die Realität der Seele, garniert mit einer angemessenen Prise Humor, hat mir viel Energie für meine persönliche Suche gegeben.
Eine weitere großartige Rückmeldung bekam ich von Michael Sullivan, der in der Woche meiner Krankheit immer an meinem Bett gewesen war. Michael war der Pfarrer der Episkopalkirche, an deren Gottesdiensten ich in den letzten beiden Jahren, seit wir nach Lynchburg in Virginia gezogen waren, immer wieder teilgenommen hatte. Ich hatte ihn in der Vergangenheit nie um einen geistlichen Rat gebeten – vor meinem Koma hatte ich einfach nie das Bedürfnis danach gehabt.
TimaiosallemGefühl
»Deine Beschreibung dessen, was du erlebt hast, erinnert mich an die Schriften mancher früher christlicher Mystiker«, sagte Michael zu mir. »Ich habe ein Buch, das dir möglicherweise viel mehr hilft als deine ganzen Neurologiebücher. Ich bringe es heute Nachmittag vorbei.«
Später an diesem Tag fand ich, als ich nach Hause zurückkam, ein Buch mit dem Titel Light from Light. An Anthology of Christian Mysticism (»Licht vom Licht. Eine Anthologie der christlichen Mystik«) auf der Eingangstreppe. Es enthielt faszinierende Zeugnisse von Menschen mit tief greifenden, ihr ganzes Leben verändernden spirituellen Erfahrungen, und manche dieser Berichte waren fast zweitausend Jahre alt. Ich war bereit, sie ohne Vorbehalte zu lesen.
Meine Kenntnis des Christentums beschränkte sich damals auf ein sehr begrenztes Allgemeinwissen, wie man es als Ergebnis einer normalen religiösen Erziehung in einer methodistischen Kirchengemeinde in North Carolina erwarten konnte. Mystik war nichts, was ich jemals mit dem Christentum in Verbindung gebracht hatte. Dieses Buch machte mich zum ersten Mal mit den Mystikern bekannt, also mit jenen, die unsichtbare Bereiche durchqueren und ihr Leben in der Gewissheit führen, dass der physische Bereich nur ein kleiner Teil einer größeren Realität ist, von der das meiste unserem normalen Wachbewusstsein verborgen bleibt. Es überraschte mich, die Kraft und die Vielfalt dieser Schriften aus einem christlichen Blickwinkel kennenzulernen. Sie reichten von Origenes (3. Jahrhundert) über Bernhard von Clairvaux (12. Jahrhundert), Franz von Assisi (13. Jahrhundert), Meister Eckhart (13. Jahrhundert), Juliana von Norwich (14. Jahrhundert) und Teresa von Ávila (16. Jahrhundert) bis hin zu Thérèse von Lisieux (19. Jahrhundert), und all ihre Bewusstseinsreisen klangen seltsam vertraut.
Fundierte mystische Berichte waren für die Erkenntnisse der Menschheit über das Wesen des Universums wegweisend. Solche außerordentlichen, tief im Innern des spirituellen Reichs gemachten Erfahrungen bilden die Grundlage aller Religionen. Eigene Erfahrung ist der beste Lehrer, und die Anthologie der christlichen Mystik, die Michael mir vorbeigebracht hatte, half mir, meine scheinbar unerklärliche Erfahrung besser zu verstehen. Am wichtigsten war jedoch die allmählich aufkeimende Erkenntnis, dass alle Wege, die zu einem solchen Wissen führen, eine Reise durch das eigene Bewusstsein beinhalten.
Nachdem ich meine Erfahrung mehrere Monate lang nur mit vertrauten Freunden und Kollegen diskutiert hatte, war ich der Ansicht, dass ich meine Recherchen erheblich ausweiten und damit auch in Territorien außerhalb meines vertrauten Wissenspools vordringen musste. Die allgemeine Herangehensweise an einen Fall wie den meinen war, ihn unter den Teppich zu kehren, abzuqualifizieren und einfach als nicht erklärbar abzuhaken. Aber meine Vertrauten verstanden mein Dilemma und unterstützten mich in meinem Bemühen um eine Erklärung. Hier war etwas Größeres am Werk, und ich wollte es unbedingt besser verstehen.