Zum Roman
Ein beschauliches südfranzösisches Dorf ist in Aufruhr: Der prachtvolle alte Baum auf dem Marktplatz soll gefällt werden. Wo, wenn nicht in seinem wohltuenden Schatten wird die Barbesitzerin Suzanne Pastis servieren, wo Manu Artischocken verkaufen? Der junge Clément liebt es, in den Ästen zu klettern, und die Schwestern Adeline und Violette tröstet nichts so sehr wie der Anblick der Blätter, die sich seit ihrer Kindheit im Sommerwind wiegen. Widerstand formiert sich unter den Dorfbewohnern. Und auch der Baum, der seit Jahrzehnten das Kommen und Gehen auf dem Platz verfolgt, wird von ihren Emotionen mitgerissen.
Bestsellerautorin Karine Lambert erzählt warmherzig und voller Poesie von den großen und kleinen Wahrheiten des Lebens und unserer tiefen Verbindung zur Natur.
»Ein wunderschöner Roman, der nach Lavendel und Sommerregen duftet. Dieses Buch tut gut.« ELLE.fr
Zur Autorin
Karine Lambert ist Fotografin und Schriftstellerin und lebt in Brüssel. Ob in Bildern oder Worten, immer erzählt sie von der Freude und der Liebe, von der Verletzlichkeit und der Fähigkeit, sich neu zu erfinden. Ihre Romane erscheinen in über 25 Ländern. Auf das preisgekrönte Debüt Das Haus ohne Männer folgte der SPIEGEL-Bestseller Und jetzt lass uns tanzen. Eines Tages in der Provence ist Karine Lamberts dritter Roman.
KARINE LAMBERT
ROMAN
Aus dem Französischen
von Pauline Kurbasik
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Copyright © 2018 by Calman-Lévy
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Un arbre, un jour … bei Calmann-Lévy, Paris
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Uta Rupprecht
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Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-23391-4
V002
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Für einen Prinz der Worte,
eine Fee der Berge
und ein Licht in der Nacht.
Ewig allein
Im Winterfrost wie im Sommerschein,
Begrünten Stammes und fröstelnd nackt,
Von der Stille gekost, vom Wetter gepackt,
Ewig hält er das niedere Land
Mit der Größe und Wucht seines Lebens gebannt.
ÉMILE VERHAEREN, Der Baum
Übersetzt von Stefan Zweig
1. März
Aus zweiunddreißig Metern blicke ich auf sie hinab und sehe ihrem Treiben zu. Sie wohnt gleich neben mir in Nummer 27, ich sehe und beobachte sie durch die Fenster ihrer Wohnung in der dritten Etage, weide mich an ihrem Anblick. Heute ist es windig, die Vorhänge wehen und entblößen ab und zu ihren Nacken im Sonnenlicht. Warum zieht sie sich aus? Ihr Liebhaber ist noch nicht da. Manchmal taucht er auf, manchmal wartet sie auf ihn, und er kommt nicht. Sie seufzt. Einmal, dann noch einmal. Sie heißt Fanny.
Seit heute früh weht der Wind herrlich warm. Niemand hat damit gerechnet, der März hat gerade erst begonnen, die Zikaden singen, und die Schwalben machen bereits ab und zu auf mir halt. Sie suchen sich hartnäckig meine dünnsten Zweige aus. Wie ich diese sanfte Berührung liebe, wenn sie sich niederlassen, die Liebkosung ihrer Krallen, wenn sie auf und ab wippen. Die Jahreszeit der Liebenden vergeht so rasch. Vögel, Katzen, Hunde, Zikaden, Bienen, alle sind vom nahenden Frühling im Glückstaumel, und ich spüre ganz unten in meinen Wurzeln Leidenschaft, eine köstliche Aufregung. Wie sie sehne ich mich nach dem Frühling.
Überschwang liegt in der Luft. Vor dem Spiegel streicht Fanny sich anmutig eine Strähne ihres braunen Haars hinters Ohr. Mit dem Kajalstift zieht sie eine Linie, die das Gelbe im Grün ihrer Augen betont. Sie setzt verschiedene Varianten ihres Lächelns auf, welches wird sie ihm schenken? Ich befürchte, dass ein Mann sie eines Tages entführen wird. Ihr Liebhaber ist harmlos, er kommt vorbei, bleibt nie länger als nötig und geht wieder.
Er klingelt. Sie erbebt.
Die Süße der Mimose, die Glyzinie und ihr berauschender Honigduft sind betörend. Über den Blättern meiner zerzausten Baumkrone – der Baumpfleger hat meinen Schnitt wieder einmal vermasselt – strahlen weiße Wölkchen am blauen Himmel.
Ihr Liebhaber kommt herein, streift flüchtig ihre Wange, dann zieht sie den Vorhang zu, und ich sehe nichts mehr.
Der Kirchturm schlägt Mittag. Eine Meise zwitschert. Ich spüre einen Lufthauch, dabei ist alles ruhig. Seit ein paar Monaten hat die Bar PMU, die Bar mit Lottoannahme und Sportwetten, wieder geöffnet, die Leute schlendern umher, und mein Schatten tanzt auf den ockerfarbenen Fassaden der Häuser mit den graublauen Fensterläden.
Die Haustür fällt ins Schloss, und ich sehe ihren Liebhaber in eine Gasse entschwinden. Hinter dem Fenster richtet Fanny sich vor dem Spiegel das Haar und schlüpft in ein Kleid. Mir kommt es vor, als ob sie freier atmete, wenn er wieder weg ist. Die Laken sind zerwühlt.
Der Winter hat verloren, überall treiben Knospen, es grünt. Ununterbrochen zwitschern die Spatzen, das Lachen wird heller. Der Frühling ist endlich da. Ich freue mich über diesen Sieg, obwohl mir das Treiben der Menschen weiterhin ein Rätsel ist.
Fanny kommt mit dem leichten Schritt einer Verliebten aus dem Haus. Als sie klein war, hat sie in der heißesten Zeit des Tages ihr Gummiband zwischen zwei Stühlen gespannt und allein im Schatten meines Laubdaches gespielt. Sie ist schön geworden wie eine Kornblume.
François Lebrun
Er hat es versprochen, sobald sein Kind auf der Welt ist, wird François mit dem Rauchen aufhören. Bis dahin genehmigt er sich drei Zigaretten täglich, nicht eine mehr. Wenn er den Gulli auf der Hauptstraße gereinigt und den Vorplatz der Kirche gefegt hat, raucht er die erste. Seine Arbeit führt ihn zunächst mitten auf den Platz. Unterwegs grüßt er bekannte Gesichter. Er kennt jeden Pflasterstein, jedes Gässchen seines Dorfes, und bei der Vorstellung, einmal wegzugehen, überkommt ihn die Angst. Dort, wo er geboren wurde, will er bleiben. Geburt, Leben und Sterben, alles am selben Ort.
In seinem Werkzeugkasten: ein Metermaß, ein Bleistift, ein Hammer und zwei Nägel. Um achtzehn Uhr wird François daheim sein. Er braucht seinen geregelten Tagesablauf, den Lohnzettel am Ende des Monats und die Zahlungen in die Rentenkasse wie andere ihre Freiheit. Vor dem einzigen Baum bleibt er stehen, entrollt den Aushang und hämmert ihn an den Stamm der Platane, tritt einen Schritt zurück, um sicher zu sein, dass der Zettel gerade hängt, und geht zufrieden seines Weges.
Autsch! Traktiert da etwa wieder ein Grünspecht mein Nervensystem?
Clément Pujol
Clément ist gerade nach Hause gekommen und nimmt sein Zeugnis aus der Schultasche. Natürlich hat die Lehrerin »schwätzt zu viel« geschrieben, doch er ist stolz auf seine gute Note in Französisch, seine Eltern werden sich freuen.
Sie giften sich wieder einmal in der Küche an. Sein Vater möchte ein neues Auto kaufen, seine Mutter ist dagegen, so viel Geld auszugeben, und der Ton wird schärfer. Jedes Mal bekommt Clément dann dieses flaue Gefühl im Bauch. Jedes Mal bedauert er, keine Geschwister zu haben, mit denen er seinen Kummer teilen kann. Er hält sich die Ohren zu, dann rennt er aus dem Haus und sucht die wohltuende Ruhe der Platane. Er entdeckt einen Zettel am Stamm, liest ihn, versteht nicht gleich, liest ihn erneut und bleibt einige Sekunden wie erstarrt vor dem Baum stehen. Sein Vater und seine Mutter streiten über belangloses Zeug, dabei passiert hier gerade etwas Schreckliches. Er reißt den Zettel ab, knüllt ihn zusammen, wirft ihn so weit weg wie möglich und stößt, um sich Mut zu machen, einen gellenden Schlachtruf aus wie ein Wikinger beim Angriff. Wie oft werden sich seine Eltern noch streiten, bis sie sich trennen? Heute war mindestens der hundertdreiundfünfzigste Streit. Und – das steht außer Frage – wenn sie von dem Aushang erfahren, wird er beim Abendbrot das Thema sein, und sie werden sich wegen der Platane anmaulen. Sein Vater wird sagen: Öfter mal was Neues, seine Mutter wird darauf beharren, dass alles beim Alten bleiben soll.
Adeline Bonnafay
Misstrauisch hat die alte Dame den Jungen von ihrem Fenster aus beobachtet. Es ist der Kleine mit den schwarzen Haaren aus Hausnummer 43, der zu jeder Jahreszeit Turnschuhe und seinen ausgeblichenen Rucksack trägt. Was heckt er nun wieder aus? Sie mag keine Kinder, die zu schnell groß werden und altklug daherreden. Dieser Clément hat immer Flausen im Kopf, und weil er zu häufig allein durch die Straßen streunt, vergisst er, was sich gehört. Wenn der Gemeindearbeiter eine Ankündigung am Baum befestigt hat, dann sicher aus gutem Grund.
Adeline klammert sich ans Geländer und steigt die Treppe vorsichtig hinunter, damit sie auf den ausgetretenen Stufen nicht ausrutscht. Mit winzigen Schritten trippelt sie zur Platane und bückt sich mühsam – der Boden wird auch jeden Tag unerreichbarer –, bekommt den Zettel zu fassen und richtet sich wieder auf. Soso! Was wird ihre Schwester wohl dazu sagen? Mit dreiundneunzig wirkt Violette noch unberechenbarer als mit zwanzig. Der Aushang befindet sich nun zusammengeknüllt in ihrer Tasche. Sie wird mit niemandem darüber sprechen. Schon gar nicht mit der Bäckerin, der Königin der Plaudertaschen. Oder erst dann, wenn ihr der Boden ihrer Aprikosentarte endlich einmal gelingt. Adeline ist verrückt nach Geheimnissen und hütet sie erst wie einen Schatz, um sie dann jedem zu verraten, der ihr zuhört.
François Lebrun
Als François von seiner Frühstückspause zurückkommt – er isst gern unter der Statue im Park –, geht er zum Baum. Vielleicht hat er nicht richtig hingeschaut. Nein, er hat sich nicht getäuscht, der Aushang ist verschwunden! Wenn der Bürgermeister nun hier vorbeikommt, könnte er denken, er hätte seine Arbeit nicht erledigt. »Ohne Fleiß kein Preis«, hatte ihm sein Vater wieder und wieder eingeschärft. In seiner Jugend hatte François darüber nachgedacht, sich als Klempner selbstständig zu machen wie sein Vater. Letztendlich war er dann aber in den öffentlichen Dienst eingetreten, er ist lieber Angestellter, folgt Anweisungen, führt die ihm zugeteilten Aufgaben gut aus. Dieser Vorfall bringt seinen ganzen Tagesablauf durcheinander. Umgehend eilt er zurück zum Rathaus und druckt einen neuen Aushang. So etwas muss man gleich erledigen.
Sorgfältig hängt er den Zettel auf.
ANKÜNDIGUNG FÜR DIE ANWOHNER DES PLATZES
Auf Anordnung der Gemeindeverwaltung
wird dieser Baum am 21. März gefällt.
Bitte entfernen Sie Fahrräder von der Straße
und halten Sie die Fenster geschlossen.
An diesem Tag kein Verzehr auf der Terrasse.
Ablauf des Vorgangs:
17. März: Ausästung
21. März: Fällen
30. März: Entfernung der Wurzeln.
Suzanne Fabre
Es ist zweiundzwanzig Uhr. Die letzten Gäste auf der Terrasse sind gerade gegangen. Suzanne trocknet sich an der Schürze die Hände ab und hängt sie an die Tür, dann zieht sie den Rollladen herunter und schaut in die Krone der Platane. Sie geht langsam hinüber, lehnt sich an den Stamm, zündet sich die einzige Zigarette ihres endlos langen Tages an und genießt diesen Augenblick der Ruhe. Als Wind aufkommt, glaubt sie, den riesigen Baum flüstern zu hören. Ein Blätterrascheln in der Abendbrise? Sie streift mit den Fingern über die Rinde, schließt die Augen. Wie lange hat sie Joe, ihren Mann, schon nicht mehr berührt? Ob der Baum wohl ihre Liebkosungen spürt? Ob es ihm gefällt? Sie schrammt sich die Hand auf. Da entdeckt sie die Ankündigung. Beim Lesen hat sie einen Kloß im Hals, und ihr kommen die Tränen. Sie reißt den Zettel ab, flucht und drückt die Zigarette aus. Warum nur wird ihr alles Gute weggenommen? Das letzte Mal hat sie geweint, als sie Joe ins Rehazentrum gebracht hatte.
Seltsamer Tag. Zunächst hat der Junge, der so zart ist wie ein Zweiglein im Wind, einen Schrei ausgestoßen. Die Rinde auf seinen Wangen – sie sagen Haut dazu – sah feucht aus. Und dann hat Suzanne, die neue Inhaberin der Bar, eine Sekunde lang das Gleichgewicht verloren. Jedes Mal, wenn ich besorgt bin, ziehen sich meine Wurzeln zusammen. Wie an dem Tag, als man mich – zu jung – verpflanzt hat, das ist mehrere Jahrzehnte her. Ich zähle nicht mehr.