Buch

Wie aus dem Nichts bricht Niclas Hunters Welt zusammen. Gerade noch war er ein erfolgreicher Staatsanwalt, doch nach einer Nacht mit einer ­attraktiven Frau steht er vor den Trümmern seines Lebens. Nachdem seine machthungrige Konkurrentin Gillian Mulhare es auf legalem Weg nicht schaffte, ihn auszustechen, brachte sie Niclas mit einer sorgsam eingefädelten Intrige zu Fall. Um dem darauffolgenden Skandal und der Belagerung durch die Presse zu entkommen, flüchtet Niclas nach Cape Cod, wo er im Familiensitz Sunset Cove zur Ruhe kommen will. Doch statt das Haus wie erwartet leerstehend vorzufinden, ertappt er eine ­mysteriöse Einbrecherin – unter der Dusche. Und nicht einmal die schlechten Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit können verhindern, dass sich Niclas von der ersten Sekunde an so stark zu der jungen Frau hingezogen fühlt, wie er es noch nie zuvor erlebt hat. Doch wer ist die schöne Unbekannte, und was führt sie im Schilde?

Die Au­torin

Ella Thompson, geboren 1976, verbringt nach Möglichkeit jeden Sommer an der Ostküste der USA. Ihre persönlichen Lieblingsorte sind die malerischen New-England-Küstenstädtchen, wo sie gerne die Biere regionaler Brauereien testet. Und an den endlosen Stränden von Cape Cod genießt sie die Sonnenuntergänge über dem Atlantik – am liebsten mit einer Hundenase an ihrer Seite, die sich in den Wind reckt.

ELLA THOMPSON

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SUNSET
COVE

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Originalausgabe 02/2019
Copyright © 2019 by Ella Thompson
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Bigstock (belander, CaptureLight, SvetlanaR, bioraven, Artenex, Anna Om), Shutterstock (StevanZZ, Nisachon Poompuang)

ISBN 978-3-641-23407-2
V002
www.heyne.de

Ein einziger Verrat kann dein Leben vernichten – wenn du es zulässt.

Prolog

Es hatte eine Zeit gegeben, da war das Überqueren des träge dahinfließenden Cape Cod Canal für Niclas Hunter der Inbegriff von Glück gewesen. Die Sommer seiner Jugend hatte er auf der Halbinsel verbracht. Ferien, Familienausflüge. Und später Segeltörns und Männerwochenenden mit seinen Collegekumpels. Früher war das Cape untrennbar mit guter Laune, dem Geruch nach Sonnencreme, salzigem Wind und kaltem Bier verbunden gewesen. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag vor elf Jahren, der alles verändert und das ohnehin sehr fragile Geflecht seiner Familie zerschmettert hatte.

Seitdem war Cape Cod nicht mehr, was es zuvor gewesen war. Sunset Cove hatte seine Unschuld verloren. Die Hunters hatten der Wahrheit, vor der sie in Boston leicht die Augen verschließen konnten, ins Gesicht sehen müssen. Niclas war nur noch selten auf die Halbinsel zurückgekehrt. Bei keinem dieser Besuche beflügelte ihn mehr diese Mischung aus Vorfreude und Freiheit, wenn er seinen Wagen auf die Sagamore Bridge lenkte. Auch heute nicht.

Seine rechte Hand umklammerte das Lenkrad, während er sich mit der linken die brennenden Augen rieb. Müdigkeit und abgrundtiefe Erschöpfung waren die einzigen Emotionen, zu denen er im Moment fähig war. Unter normalen Umständen würde er begeistert Fotos von dem dramatisch rot und lila leuchtenden Himmel und den schwarz dahinjagenden Wolken schießen. Er würde sich mit seinen Freunden zu einem Barbecue treffen. Zum Strand hinuntergehen, sich von den Böen treiben lassen und ein Sturmbier trinken.

Dieses Mal kam er nicht auf die Halbinsel, um zu feiern oder ein entspanntes Wochenende zu verbringen. Er war auf der Flucht. Vor seinem Job, der ihm mit einem Riesenknall um die Ohren geflogen war. Vor den hämischen Kommentaren und schadenfrohen Blicken seiner Kollegen und vermeintlichen Freunde. Nicht zuletzt vor der Presse – und irgendwie auch vor sich selbst, seiner Dummheit und seinem Versagen. Und vor der nagenden Angst, dass diese Dummheit einen Menschen das ­Leben kosten könnte. Dass eine junge Frau starb, weil durch sein Verhalten ein Mörder, der hinter Gitter gehörte, frei herumlief.

Er ließ Dennis und Eastham hinter sich und bog vor dem National Seashore auf die einsame Schotterstraße ab, die ihn nach Sunset Cove führte. Über den dunklen Himmel zuckten die ersten Blitze. Eine wunderbare Ergänzung zu seiner Stimmung. Niclas hatte nach der unwahrscheinlichsten aller Möglichkeiten gegriffen: sich im Sommerhaus zu verstecken. Hier konnte er in Ruhe seine Wunden lecken. Sunset Cove war jahrelang in seinem Bewusstsein so weit nach hinten gerückt, dass er es zunächst gar nicht als Rückzugsort betrachtet hatte. Und genau deshalb war es ein perfekter Unterschlupf.

Niclas stellte seinen Wagen vor den Garagen ab und stieg die großzügigen Stufen zur zweiflügligen Eingangstür von Sunset Cove hinauf. Er tippte den Code ein, atmete tief durch, stieß die schwere Eichentür auf – und blieb wie angewurzelt stehen. Anstatt dunklen Geistern und schmerzhaften Erinnerungen zu begegnen, erblickte er einen Hund. Einen großen Labrador, der breitbeinig mitten im lichtdurchfluteten Foyer stand. Er knurrte nicht, und doch erweckte er den Eindruck, dass er das Haus, wenn nötig, gegen Niclas verteidigen würde. Aus dem oberen Stockwerk drangen gedämpfte Geräusche. Niclas war sich sicher gewesen, niemanden aus seiner Familie in Sunset Cove anzutreffen. Er legte seine Hand dafür ins Feuer, dass seine Mutter keinen Schritt über die Schwelle des Strandhauses setzen würde. Sein Bruder Andrew war viel zu sehr damit beschäftigt, in einer Bostoner Klinik Leben zu retten, um hier rauszufahren. Damit blieb einzig sein Vater, der regelmäßig herkam. Aus Gründen, über die Niclas nicht nachdenken wollte. Deshalb hatte er die Assistentin seines alten Herrn vor der Fahrt angerufen. Es gab schließlich Dinge, bei denen man seine Eltern nicht ertappen wollte. Ihm war versichert worden, dass Theodor Hunter gerade dabei war, einen spektakulären Finanzdeal abzuschließen.

Mit einer langsamen Bewegung, um den Hund nicht zu reizen, zog Niclas sein Handy aus der Tasche. Sein Bruder war immer über jede Kleinigkeit informiert. Hey, Drew. Haben wir im Moment einen Gast in Sunset Cove, von dem ich nichts weiß? tippte er und schickte die Nachricht ab.

Es dauerte keine drei Sekunden, bis das Handy in seiner Hand vibrierte. »Ist das dein Ernst?«, ertönte die Stimme seines Bruders an seinem Ohr. Andrew klang sauer. Stinksauer. »Ich versuche seit gestern, dich zu erreichen. Genau wie der alte Mann und Mom. Jake hat es versucht …«

»Ja, und eine Million andere Leute auch«, unterbrach Niclas ihn. Der Hund legte den Kopf schief und betrachtete ihn neugierig. »Hör mal, wenn du mich anbrüllen willst, verschieben wir das lieber auf später. Ich stehe im Foyer von Sunset Cove und bin ganz offensichtlich nicht allein.«

Andrew schwieg einen Moment. Wahrscheinlich überlegte er. »Meines Wissens hast du das Haus ganz für dich. Der alte Herr steckt mitten in Firmenverhandlungen. Wer außer ihm würde schon freiwillig auf die Halbinsel fahren?«

Der Labrador ließ sein Hinterteil entspannt auf die italienischen Fliesen sinken und schlug einmal mit dem Schwanz auf den Boden. Er schien zu grinsen.

»Hier ist jemand.« Niclas trat endlich über die Schwelle. Er schnappte sich einen Golfschläger aus der Tasche, die hinter der Tür lehnte, und ging auf die Treppe zu. »Jemand duscht.«

»Ein Einbrecher, der duscht?«, erwiderte Andrew. »Sei bloß vorsichtig. Soll ich die Cops oder die Sicherheitsfirma anrufen?«

»Nein. Ich kümmere mich schon darum. Ich lege jetzt auf.«

»Wenn ich in zehn Minuten nichts von dir gehört habe, kontaktiere ich die Polizei. Also ruf mich an!«

Niclas drückte das Gespräch weg. Die Aufforderung seines Bruders bezog sich nicht nur auf den Einbrecher, das war ihm klar. Er seufzte innerlich, steckte das Handy ein und warf dem Hund noch einen wachsamen Blick zu. Er schien tatsächlich harmlos zu sein. Also ließ Niclas ihn links liegen und schlich nach oben. Die Geräusche kamen eindeutig aus dem Badezimmer rechts von der Treppe. Er hielt kurz inne. Die Tür war nur angelehnt, aber er konnte niemanden sehen. Er schloss seine Hände fest um den Golfschläger und stieß die Tür mit einer so heftigen Bewegung auf, dass sie gegen die Wand prallte.

Mit einem erschrockenen Laut fuhr der Eindringling ­her­um. Niclas blinzelte. Hinter der Wand aus Glas stand eine Frau. Er konnte ihre große, schmale Gestalt deutlich erkennen. Langsam ließ er den Golfschläger sinken. Auch wenn das Wasser ihre Silhouette verschwimmen ließ, war er sich sicher, ihr noch nie begegnet zu sein. Das musste nichts heißen. Sie konnte eine der Geliebten seines Vaters sein. »Verdammt noch mal, wer sind Sie? Und was haben Sie in diesem Haus verloren?«

1

»Einen Moment.« Die Frau drehte sich um und stellte die Dusche ab. Niclas bekam ihre Kehrseite zu sehen. Ihr Haar war lang. Es reichte ihr fast bis zum Ansatz eines wirklich bemerkenswerten Hinterns. Da die Haare nass waren, konnte er ihre Farbe nicht genau bestimmen.

Unvermittelt drehte sich die Frau wieder um und ertappte ihn, wie er sie anstarrte. Peinlich berührt ließ er seinen Blick durch das Bad schweifen. Er griff nach einem Handtuch und warf es ihr zu, als sie aus der Dusche trat. Mit der linken Hand fing sie es auf und wickelte sich darin ein. Sie blickte ihn hochmütig mit ihren bernsteinfarbenen Augen an und reckte stolz das Kinn.

Um ihr zu zeigen, dass er sich von ihrer Arroganz nicht beeindrucken ließ, lehnte er sich mit der Schulter gegen den Türrahmen und zog die Augenbrauen hoch. »Ich frage Sie noch einmal: Was tun Sie hier?«

»Das Gleiche könnte ich Sie fragen.« Sie war wirklich frech.

»Sind Sie eine der Affären meines Vaters?«, fragte er geradeheraus.

Sie hob ihr Kinn noch höher. »Nein.«

»Was haben Sie dann hier verloren?«

Die Unbekannte schwieg.

Niclas wartete einen Moment, ob sie sich zu einer Erklärung herabließ. Als sie nichts sagte, zuckte er mit den Schultern. »Da mir kein Grund einfällt, der Sie berechtigen könnte, sich hier aufzuhalten, rufe ich jetzt die Polizei und lasse sie das klären.«

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte etwas in ihren Augen auf, das ihn an blanke Panik erinnerte. »Kein Problem.« Sie hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin schon weg. Kein Grund, einen großen Wirbel zu veranstalten. Geben Sie mir zwei Minuten.«

Niclas atmete den Duft nach Kokos ein, der in der feuchten Luft des Badezimmers hing, und bemühte sich, die Frau nicht anzustarren. Irgendetwas hatte sie an sich. Er hatte keine Ahnung, wieso er nicht einfach die Cops rief. »Zwei Minuten«, gestand er ihr zu. Bestimmt brauchte sie zehn Mal so lange. »Ich warte unten auf Sie.« Er kehrte ins Erdgeschoss zurück und räumte den Golfschläger weg. Der gut gelaunte und tatsächlich ziemlich harmlose Hund gesellte sich zu ihm und schnüffelte an seinem Hosenbein. Niclas kraulte ihn hinter den Ohren und ging ins Wohnzimmer, um sich einen Whiskey einzuschenken. Die Anwesenheit dieser mysteriösen Fremden stellte ihn vor ein Rätsel. Einen Augenblick überlegte er, ob sie eine Reporterin war, die ihm aufgelauert hatte. Er schüttelte den Gedanken ab. Auf die Idee, dass er sich in Sunset Cove versteckte, kam wirklich niemand.

Die Unbekannte hielt Wort. Sie tauchte zweieinhalb Minuten später in zerschlissenen Jeans und einer roten Kapuzenjacke auf. Ihr nasses Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing und feuchte Flecken auf ihrer Kleidung hinterließ. Der Wind rüttelte an den Fenstern. Es war stürmisch, und die Wolken rasten immer schneller auf das Festland zu. Die Frau blickte an ihm vorbei durchs Fenster, straffte die Schultern und wandte sich zur Tür. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Haus. Der Hund sah Niclas ein letztes Mal an und folgte ihr.

Was für eine surreale Begegnung! Niclas kippte den Whiskey hinunter und schenkte sich einen zweiten ein, den er mit auf die Terrasse nahm. Die Böe, die ihn erfasste, riss ihn beinahe von den Füßen. Doch der scharfe Wind tat gut. Er verhinderte zumindest, dass Niclas im Stehen einschlief. Einen Moment überlegte er, sein klingelndes Handy zu ignorieren. Andrews Anruf war seit dem Vortag der erste, den er angenommen hatte. Wahrscheinlich war es auch jetzt sein Bruder. Der keine Ruhe geben würde, bis er ihn erreichte. Oder ihm tatsächlich noch die Cops auf den Hals hetzte. »Hey«, meldete er sich.

»Nic, alles in Ordnung bei dir?« Jetzt hörte Andrew sich nicht mehr wütend an. In seine Stimme hatte sich ein sorgenvoller Unterton gemischt.

»Ja. Alles klar.« Niclas versuchte, so fröhlich wie möglich zu klingen, auch wenn er Andrew nicht täuschen konnte.

»Was war denn los? Wer ist in das Haus eingebrochen? Wir sollten auf jeden Fall die Polizei rufen. Schon wegen der Versicherung und so weiter.«

Niclas sah wieder das Gesicht der Fremden vor sich, spürte ihren gehetzten Blick, als er die Cops erwähnte. Es spielte keine Rolle mehr. Sie war verschwunden. Gleich morgen früh würde er den Türcode ändern. Seinem Bruder würde er nichts von dieser Begegnung erzählen. Wahrscheinlich war sie eines der Flittchen ihres Vaters, ein wunder Punkt in der Familie, der besonders Andrew zu schaffen machte. »Die Dusche war eingeschaltet. Wahrscheinlich hat die Putzfrau vergessen, sie abzustellen. Es ist wirklich alles in Ordnung.«

»Gut. Dann können wir jetzt darüber reden, was gestern passiert ist«, sagte Andrew gepresst.

»Eigentlich würde ich lieber einfach auf der Terrasse sitzen, auf den Ozean starren und mich betrinken.« Das war nicht gelogen.

»Ich weiß jetzt, wo du steckst. Du wirst mir also entweder sagen, was im Gerichtssaal passiert ist, oder ich setze mich ins Auto und komme nach Cape Cod, damit du es mir persönlich erzählen kannst«, erwiderte Andrew. Er verstand sich verdammt gut darauf, den großen Bruder raushängen zu lassen.

Niclas wusste, das war keine Drohung, sondern ein Versprechen. Er wollte nicht darüber reden, aber sein Bruder ließ ihm keine Wahl. »Was weißt du über die Sache?«

»Das, was den reißerischen Medien zu entnehmen war.« Andrew seufzte. »Du hast deine Nachrichten nicht abgehört oder gelesen. Du hast dich nicht bei Mom und Dad gemeldet. Glaub mir, der alte Herr sitzt in seinem Glasturm und spuckt Feuer«, fasste er die aktuelle Familienstimmung zusammen. »Ich war gestern Abend bei dir zu Hause, aber die Presse hatte dein Haus belagert, und es brannte kein Licht.«

»Ich saß im Dunkeln«, musste Niclas zugeben.

»Hast du dich inzwischen bei Mom oder Dad gemeldet?«

»Nein.« Niclas kippte seinen Whiskey hinunter, klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und goss sich weitere zwei Fingerbreit in den Kristalltumbler. »Es wäre mir sehr recht, wenn du ihnen nicht sagen würdest, dass ich in Sunset Cove bin.« Ein Gespräch mit seinem Vater war das Letzte, was er im Moment gebrauchen konnte. Er hatte die Anrufe und E-Mails aus dem Hunter Building nicht umsonst ignoriert. Dass er auf ganzer Linie gescheitert war, wusste Niclas selbst. Er war nicht scharf darauf, sich von seinem Vater vorhalten zu lassen, dass er sich nicht dermaßen in die Scheiße geritten hätte – wobei Theodor Hunter dieses Wort mit Sicherheit nicht benutzen würde –, wenn er BWL studiert hätte und ins Familienunternehmen eingestiegen wäre. Genauso wenig wollte er das Lallen und Jammern seiner Mutter hören, dass sein Verhalten sie zum Gespött ihrer gehässigen Freundinnen gemacht habe, die sich das Maul über sie zerreißen würden. Er schob die Gedanken an seine verkorksten Eltern beiseite.

»Keine Sorge, ich verrate dich nicht. Aber ruf sie an, okay?«, bat Andrew. »Zumindest Mom macht sich Sorgen um dich.«

Wer es glaubte.

Da er nicht antwortete, fuhr Andrew fort: »Wirst du mir jetzt verraten, was gestern los war?«

Das Ganze ließ sich ziemlich einfach zusammenfassen. »Ich bin daran schuld, dass eines der schlimmsten Monster, die Boston jemals gesehen hat, frei herumläuft.« Wieder leerte er das Glas in einem Zug und goss nach. »Ich habe es versaut. Und zwar auf ganzer Linie. Ich bin in die Falle einer Frau getappt wie ein blutiger Anfänger. Wenn noch ein Mädchen in Murray Bralvers’ Fänge gerät, kann ich niemanden dafür verantwortlich machen außer mich selbst. Das lässt sich nicht beschönigen, Drew.«

»Du wirst einen Weg finden. Du wirst das wieder hinbiegen.«

»Gerade du solltest das besser wissen.« Niclas schaffte es nicht, den zynischen Unterton aus seiner Stimme zu verbannen. Sein Bruder, ein Arzt, wusste, dass es nicht immer gut ging. Dass man nicht jeden retten konnte.

Andrew seufzte noch einmal. »Und wie geht es jetzt weiter? Du versteckst dich ausgerechnet in Sunset Cove?«

»Warum nicht? Ich brauche wirklich Abstand. Ich muss nachdenken. Überlegen, wie es weitergehen soll. Der alte Kasten steht sowieso leer. Niemand wird mich hier vermuten.« Niclas räusperte sich. »Dad … Er wird doch nicht hier auftauchen, oder?«

»Nein.« Andrew bestätigte, was Niclas bereits in Erfahrung gebracht hatte. »Momentan bleibt er offenbar lieber in der Stadt. Er zieht gerade irgendeinen riesigen Deal an Land und lebt praktisch in seinem Büro.« Obwohl Andrew ihren Vater und seine Neigung zu blutjungen, hohlköpfigen Assistentinnen verabscheute, wusste er verdammt gut über sein Treiben Bescheid. »Ich versteh dich, okay? Bleib in Sunset Cove. Sammele dich, finde zu dir, und schmiede einen Plan. Du wirst deinen Ruf wiederherstellen und dieses Schwein, Bralvers, zur Strecke bringen. Wenn das einer hinbekommt, dann du. Bis dahin – versuch, nicht durchzudrehen in der alten Hütte. Und kipp dir ordentlich was von dem teuren Whiskey hinter die Binde.«

Niclas blickte auf das Glas in seiner Hand. »Das werde ich.«

Andrew verabschiedete sich von ihm, und Niclas schob das Handy wieder in die Tasche. Aus dem Augenwinkel nahm er einen roten Fleck wahr, der seine Aufmerksamkeit erregte. Die Frau schlich also immer noch um das Haus. Den Hund an ihrer Seite, kletterte sie die Stufen zum Strand hinunter. Was zum Henker …? Hatte sie einen Schlafsack unter dem Arm? Niclas blinzelte in sein Glas. Begann er zu halluzinieren? Egal. Er schenkte sich nach. Sich zu betrinken war eindeutig das Beste, was er heute noch tun konnte. Der Sturm fegte über ihn hinweg, riss an seiner Kleidung und seinen Haaren. Einen der spektakulären Sonnenuntergänge, denen die Bucht ihren Namen verdankte, würde es heute nicht geben. Niclas musste sich mit dem düsteren Zwielicht zufriedengeben, was ihm nichts ausmachte. Die Dunkelheit spiegelte sein Inneres wider. Er lehnte sich gegen das Geländer und ließ den Whiskey durch seine Kehle rinnen. Der Wind brannte in seinen Augen.

Er wollte die Frau nicht mit seinen Blicken verfolgen, wollte sie nicht beobachten. Doch er wurde magisch von dem roten Fleck am Strand angezogen. Sie hatte sich in ihren Schlafsack gewickelt. Die Hand auf dem Rücken des Hundes starrte sie auf den Atlantik hinaus. Was trieb sie da unten? Er wollte nicht darüber nachdenken. Er leerte sein Glas und schenkte sich erneut ein. Langsam setzte das Summen in seinem Kopf ein. Taubheit breitete sich in seinen Gliedern aus. Der erste Schritt in Richtung Vergessen.

*

Der Wind fuhr durch Marie McMillans Haare. Sandkörnchen fegten durch die Luft und bohrten sich in ihre Haut wie feine Nadelspitzen. Die Wetterwarnungen, die bereits den ganzen Tag in Endlosschleife im Radio wiederholt wurden, hatten sich bewahrheitet. Ein tropisches Tiefdruckgebiet wälzte sich nach Norden und würde noch in dieser Nacht in Massachusetts und Maine auf die Küste treffen. Die Wetterfrösche befürchteten, dass sich der Sturm zu einem Hurrikan auswachsen könnte. Marie hatte ein solches Unwetter zwar noch nie erlebt, konnte sich das aber bei den dunkelgrauen Wolken, die über einen unheimlich orange-lila leuchtenden Horizont auf sie zujagten, durchaus vorstellen. Es würde ungemütlich werden auf Cape Cod. Binnen Minuten verschwand die Welt um sie herum in einem Wirbel aus Grau und Schwarz. Nur die gelegentlichen Blitze, die grell am Horizont aufflammten, tauchten ihre Umgebung für einen Augenblick in stroboskopisch gleißendes Licht. So, als wolle das Unwetter ihr die Realität überdeutlich vor Augen führen, weil sie ansonsten nicht bereit war, sie zu erkennen. Dabei war sich Marie der Wirklichkeit um sich herum mehr als bewusst. Sie spürte den schneidenden Wind, der durch ihre Kleider und Haare fuhr, fühlte den feuchten Sand, in den sie ihre rechte Hand gegraben hatte. Sie fror erbärmlich. Lange konnte sie hier nicht mehr sitzen bleiben. Der Regen würde sicher jeden Moment über sie hereinbrechen.

Ihr Handy vibrierte. Marie zog es aus der Tasche ihrer Kapuzenjacke und klickte sich durch die beiden Nachrichten. Holly Clark lud sie zum Essen ein. Vermutlich wollte sie Marie vor dem Wetter schützen. Sie hatte mit Sicherheit von dem kleinen Zwischenfall Wind bekommen, der vor zwei Tagen ihr Leben aus der Bahn katapultiert hatte. Holly bekam alles mit, was auf der Halbinsel geschah. Doch Marie brauchte ihre Hilfe nicht. Sie hatte eine Lösung gefunden. Ihre Lösung. Sie musste die Vorstellung von einer Nacht an einem gemütlichen, warmen Platz wie Sunset Cove begraben. Aber sie ging keiner Herausforderung aus dem Weg, und waren die Steine, die ihr in den Weg gelegt wurden, auch noch so groß.

Die zweite SMS informierte sie darüber, dass ihre Tante Annerose versucht hatte, sie zu erreichen, und eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte.

»Marie, mein Schatz. Die Wettermeldungen an der Ostküste haben es bis ins deutsche Fernsehen geschafft. Dieser Hurrikan hält genau auf Cape Cod zu. Du bist doch in Sicherheit, oder? Bitte sag mir Bescheid, damit ich mir keine Sorgen zu machen brauche.« Mit einem Kussgeräusch endete die Nachricht. Marie nahm das Handy vom Ohr und starrte einen langen Augenblick auf das Display. Ihr Daumen schwebte über der Taste mit dem grünen Telefon. Sie sehnte sich danach, Annerose einfach anzurufen. Deutsch zu reden. Wenigstens für einen Augenblick ein Stück Heimat zu spüren.

Sams Wimmern holte sie in die Wirklichkeit zurück. Marie lockerte ihre verspannten Schultern und schüttelte über sich selbst den Kopf. Was für eine dämliche Idee! Sie würde kein für sie nahezu unbezahlbares Ferngespräch führen. Entschlossen öffnete sie das Nachrichtenfenster und ließ ihre Tante mit wenigen, sorgsam gewählten Worten wissen, dass alles in bester Ordnung war. Mit ein paar getippten beruhigenden Sätzen log es sich besser als in einem Gespräch mit dem einzigen Menschen, der sie wirklich kannte und sich nicht von ihr hinters Licht führen lassen würde.

Sam zitterte wie Espenlaub, obwohl sie ihre Hand beruhigend auf seinen Hals gelegt hatte. Er war ein Angsthase. »Nicht mehr lange«, murmelte sie. Marie hatte noch keinen Herbststurm auf der Halbinsel erlebt. Die Erzählungen der Einheimischen und die Aufregung der Radiomoderatoren machten unmissverständlich klar, dass es ungemütlich werden würde. Sich in Sunset Cove einzunisten hatte sie für eine gute Idee gehalten. Das Strandhaus befand sich an einem besonders einsamen Küstenabschnitt hinter ­Eastham. Der Leuchtturm am Sunset Point, der Klippe, die die Bucht begrenzte, gehörte bereits zum National Sea­shore. Genau solch einen Ort brauchte sie. Er lag abseits der ­anderen ­Ferienhäuser an der Grenze zum Naturschutzgebiet, wo es nichts als Kiefernwald gab. Auf dem Cape fand man kaum einen abgelegeneren Flecken. Marie hatte ihren Wagen hinter der großen Doppelgarage versteckt und war mit ihrem Rucksack über der Schulter und Sam zu dem großen Haus mit den zwei Giebeln gegangen. Die für die Halbinsel ­typischen, im Laufe der Jahrzehnte verblichenen Zedernschindeln, weißen Sprossenfenster und dunkelgrauen Fensterläden waren das Einzige, was die Vorderfront von Sunset Cove mit den Häusern dieser Gegend gemein hatte. An der linken Stirn des Gebäudes erhob sich ein Turm, dessen unterer Teil ein helles Maleratelier und eine Bibliothek beherbergte. Darüber lag nur noch ein riesiges, luxuriöses Schlafzimmer, das von einem Witwen-Ausguck mit einem strahlend weißen Geländer gekrönt wurde. Die rechte Hausseite bestand aus einem fantastischen Wintergarten voller exotischer Pflanzen, um die sie sich einmal pro Woche ­kümmerte.

Ihre Hände hatten gezittert, als sie die drei großzügigen Stufen zur Eingangstür des Hauses hinaufgestiegen war, unentschlossen, ob sie es wirklich wagen sollte. Dann straffte sie sich. Sie war eine verurteilte Straftäterin. Warum sollte sie sich nicht wie eine verhalten? Menschen, die sich solche Sommerhäuser leisten konnten, waren nicht unschuldig an dem, was ihr zugestoßen war. Ihre Gier hatte einen erheblichen Beitrag zu Maries Untergang geleistet. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über den kleinen Höcker auf ihrem Nasenrücken. Er würde sie bei jedem Blick in den Spiegel an die Vergangenheit erinnern.

Als sie das helle Foyer betreten hatte, war sie sich noch sicher gewesen, dass die Besitzer kein großes Interesse mehr an dem Strandhaus hatten. Wie ein Kinderspielzeug, das, in eine Kiste geräumt, zu einer vagen Erinnerung verblasste. Seit einem halben Jahr arbeitete Marie auf der Halbinsel, kümmerte sich um die Außenanlagen und den Wintergarten von Sunset Cove. Außer dem wöchentlichen Putzdienst, dem Poolboy und ihr interessierte sich niemand für das Anwesen. Die Besitzer kannte sie nur von den geschmackvoll gerahmten Fotos, die überall verteilt herumstanden. Sie hatten sich den ganzen Sommer über nicht ein einziges Mal blicken lassen, und Marie war sich sicher gewesen, dass sie nicht gerade dann auftauchten, wenn einer der heftigsten Stürme des Jahres über das Land fegte.

Sam schob seinen Kopf unter ihrem Arm hindurch und kuschelte sich an sie. »Nur noch einen Moment«, versprach sie ihm. Einen Moment, den sie hinauszögerte, so lange sie konnte. Das war dumm. Wenn ihre Kleider so nass wurden wie ihre Haare vom Duschen, stünde ihr eine äußerst unangenehme Nacht bevor. Aber sie musste ja sowieso in ihrem engen Pick-up übernachten. Sie würde entweder überhaupt keinen Schlaf finden oder von Albträumen geplagt werden. Nur noch einen Augenblick hier sitzen bleiben. Gleich würde sie aufstehen, ihre Sachen zusammensammeln und sich mit Sam in ihren Wagen zurückziehen.

2

Eine Hand, die sich wie aus dem Nichts schwer auf ihre Schulter legte, ließ Marie herumfahren. Ihr erschrockener Schrei wurde von einer Sturmböe davongetragen. Ihr Puls raste. Der Typ, der sie in Sunset Cove ertappt hatte, stand auf unsicheren Beinen hinter ihr, in der Hand noch immer ein halb volles Whiskeyglas. Er hatte sie bereits zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde zu Tode erschreckt. Dabei war es normalerweise nicht ihre Art, sich von irgendetwas oder irgendjemandem überrumpeln zu lassen.

»Sie sind immer noch auf dem Grundstück.« Er sprach laut, damit sie ihn über den pfeifenden Wind hinweg verstehen konnte.

Marie schüttelte seine Hand ab. Sie mochte es nicht, wenn Fremde sie berührten. »Keine Sorge. Ich bin gleich weg.«

Er hob den Blick zum Himmel. »Das Unwetter geht jeden Moment los.«

Mann, ist der schlau, dachte sie sarkastisch. »Dann sollten Sie hineingehen.« Allmählich verlor sie die Geduld. Was wollte dieser angetrunkene Idiot am Strand? Er würde über einen angespülten Ast stolpern und sich das Genick brechen.

»Und Sie?«

»Ich bin gleich weg«, wiederholte sie. Sie musste sich eingestehen, dass sein Blick trotz des offensichtlichen Whiskeykonsums verdammt scharf und fokussiert war, als er sie fixierte. Er ließ sich nicht für dumm verkaufen.

»Sind Sie obdachlos oder so was?«

Maries Körper spannte sich an, wie immer, wenn sie in Verteidigungshaltung ging. Es war ein Reflex. Antrainiert in vier Jahren in der Hölle. Sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Von diesem Mann ging keine Gefahr aus. Er war ein reicher Blödmann, der auf seinem Grundstück den wichtigtuerischen Hausherrn spielte. »Ich ziehe lediglich die freie Natur dem Eingesperrtsein in einem Apartment vor«, fasste sie mit grimmiger Miene ihre aktuelle Situation zusammen.

Schwankend beugte er sich zu ihr herunter. Fast hätte sie die Hand gehoben und ihn gestützt. »Sie haben also keine Ahnung, wo Sie heute Nacht schlafen sollen.« Er richtete sich wieder auf und strich sich die Haare zurück. Ein sinnloses Unterfangen. Der Wind wehte sie ihm sofort wieder ins Gesicht. »Kommen Sie mit.«

»Wie bitte?«

»Nun kommen Sie schon, bevor wir beide völlig durchnässt sind.« Er wies zum Sunset Cove. Der Whiskey in seinem Glas schwappte bedenklich. »Sie können heute Nacht eines der Gästezimmer haben.«

Das brachte Maries Blut zum Kochen. Wie konnte er es wagen! Sie war gern draußen. Sie saß gern am Strand. Dass sie seit zwei Tagen am Meer schlief, war allein ihre Entscheidung. Und es ging ihn nicht das Geringste an. »Ich brauche Ihre Almosen nicht.«

»Ach nein? Bevor ich kam, schienen Sie sich im Haus ganz wohl gefühlt zu haben.«

Marie ließ ihren Blick über den schwarzen Horizont gleiten. Seine Bemerkung bedurfte keiner Antwort.

»Ich habe keine Lust, länger hier herumzustehen. Sie kommen jetzt mit, damit ich mir keine Sorgen machen muss, oder ich rufe die Polizei.«

Maries Widerstand wich Resignation. Er hatte begriffen, wie er ihr drohen konnte. Daran trug sie selbst die Schuld. Als er sie unter der Dusche überraschte, hatte sie ihre Angst für einen Moment zugelassen. Er war scharfsinnig und hatte es gemerkt. Erstaunlich, dass er immer noch damit spielte, so betrunken, wie er war.

Er hatte recht. Sie wollte nichts mit den Cops zu tun haben. Bei ihrem Umzug auf die Halbinsel hatte sie sich beim Sheriff vorstellen müssen. Jede zweite Woche meldete sie sich in seinem Büro, weil das zu ihren Auflagen gehörte. Eines war sicher: Der Polizeichef konnte sie nicht ausstehen. Wie für jeden anderen Straftäter hatte er auch für sie nur Verachtung übrig. Mit Freuden würde er ihr einen Tritt verpassen, der ihren Hintern in null Komma nichts zurück in den Knast beförderte.

Trotzig hob sie ihr Kinn. Ihr Stolz wollte noch nicht klein beigeben. Natürlich nicht. Er war das letzte bisschen Stärke, das ihr geblieben war. »Haben Sie keine Angst, im Schlaf von mir umgebracht oder ausgeraubt zu werden?«

Er durchbohrte sie mit einem Blick, der sagte: Verarsch mich nicht, Mädchen. Die Härchen an ihren Armen richteten sich auf. Er hatte sie in der Hand. Wenn er sie wegen des Einbruchs ins Strandhaus anzeigte … Den Gedanken wollte sie nicht zu Ende denken. Sie bezwang ihren Stolz und richtete sich auf. »Also gut.«

Mit ihrem Schlafsack unter dem Arm und Sam neben sich begleitete sie ihn zum Haus zurück. Der Sturm schob sie die großen Steintreppen hinauf, die auf halber Höhe in stabile Holzplanken übergingen. Die Terrassentür stand noch immer offen. Wahrscheinlich hatte sich inzwischen jede Menge Sand auf dem hübschen Fußboden gesammelt. Sorgfältig klopfte sie ihre Schuhe und Kleidung ab und fuhr mit den Fingern durch Sams Fell.

Auf die Geste des Mannes hin betrat sie Sunset Cove zum zweiten Mal an diesem Tag.

»Sie haben die freie Wahl. Suchen Sie sich einfach ein Zimmer aus, das Ihnen zusagt.«

Marie schüttelte den Kopf. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber hierbleiben.«

»Auf dem Sofa? Wie Sie meinen.« Ohne ein weiteres Wort schnappte er sich die halb volle Whiskeyflasche, die auf dem Couchtisch stand, und verschwand.

Eigentlich hatte sie keine Ahnung, wer dieser Typ war. Sein jüngeres Gesicht war auf vielen der im Haus verteilten Fotos zu sehen. Vermutlich war er der wohlhabende Familienspross, der Spielchen spielte, weil ihn sein privilegiertes, elitäres Leben zu Tode langweilte.

Sie umarmte Sam. »Heute Nacht haben wir es trocken und warm. Wir können uns das Unwetter von hier drin ansehen. Wie findest du das?« Der Hund antwortete, indem er zweimal mit dem Schwanz auf den Boden klopfte und über ihr Handgelenk leckte.

Marie sah sich um. Der Raum, den die Hunters wahrscheinlich schlicht Wohnzimmer nannten, war riesig. Er umfasste zusammen mit der Küche den gesamten Bereich des rechten Giebels und ging seitlich nahtlos in den Wintergarten über. Über dem Wohnzimmer befanden sich keine weiteren Räume. Sie konnte den Blick bis zur mit weißem Holz verkleideten Dachkonstruktion heben, wo ein großer, weiß lackierter Kronleuchter hing. Bei den Ausmaßen wirkte dieses Ungetüm tatsächlich zierlich. Auf der linken Seite hinter den großen, bequem wirkenden Sofas befand sich ein gemauerter Kamin. Wie es sich wohl anfühlte, vor einem gemütlichen Feuer zu sitzen und den Kapriolen zuzuschauen, die das Wetter draußen machte?

Marie wählte die Couch vor der riesigen Fensterfront und nahm eine der edlen Kaschmirdecken von der Lehne. Wahrscheinlich war sie von einem angesagten Inneneinrichter kunstvoll drapiert und noch nie benutzt worden. Sie löschte das Licht und lauschte dem Regen, der inzwischen mit Macht gegen die Fenster schlug, und den Böen, die das Haus in unregelmäßigen Abständen erschütterten. Seit sie das Haus der Hunters vor einem halben Jahr zum ersten Mal betreten hatte, um sich um den Wintergarten zu kümmern, faszinierte sie der Ausblick durch die Glasfront, die das Wohnzimmer vom Meer trennte. Die Aussicht war atemberaubend. Man hatte einen unbeschreiblichen Blick über die gesamte Bucht, die Klippe und den alten Leuchtturm. Hier stand man nicht wie ein Beobachter am Fenster und schaute hinaus. Sunset Cove vermittelte seinen Gästen den Eindruck, ein Teil der Szenerie zu sein. Marie fühlte sich hier weniger eingesperrt als in anderen Häusern – oder dem Apartment, das bis vor Kurzem ihr Zuhause gewesen war. Einzig aus diesem Grund hatte sie den Ort gewählt, als Schutz vor dem Unwetter. Allerdings war sie nicht allein, sondern verbrachte die Nacht unter demselben Dach mit einem betrunkenen Unbekannten.

Es wurde höchste Zeit, darüber nachzudenken, wie sie auf dem Cape überwintern konnte. Wenn sie bereits bei ihrem ersten Einbruch erwischt wurde, war es mit ihren kriminellen Fähigkeiten offenbar nicht weit her. Hoffentlich fand sie schnell ein neues Zuhause. Sam kletterte auf das Sofa und quetschte sich in ihre Kniekehlen. Mit einem zufriedenen Schnaufen legte er seinen Kopf auf Maries Hüfte. Automatisch streichelte sie ihn zwischen seinen Ohren und vergrub ihre Finger in seinem weichen Fell. Den Gedanken an eine zukünftige Bleibe schob sie entschlossen beiseite. Darüber konnte sie morgen noch nachdenken. Sie starrte durch die Glasfront und beobachtete die von Blitzen erhellten Naturgewalten. Die Welt da draußen glich dem Sturm in ihrem Inneren. Ihr Bauch sagte ihr, dass die Begegnung mit diesem Mann, von dem sie nicht einmal den Namen wusste, nicht ohne Folgen bleiben würde. Vier Jahre Staatsgefängnis hatten sie gelehrt, solch ein Gefühl niemals zu ignorieren.

*

Niclas zog sich in das Zimmer zurück, in dem er die Sommer verbracht hatte, solange er denken konnte. Er griff nach der Fernbedienung, die auf der Kommode neben der Tür lag, und schaltete den Fernseher ein. Das gespenstige Flackern war neben dem gelben Kreis der Nachttischlampe die einzige Lichtquelle in dem ansonsten dunklen Zimmer. Er stellte den Ton ab und suchte nach einem Nachrichtensender. Wie vermutet starrte ihm sein Spiegelbild vom Bildschirm entgegen. Die glatt rasierte, selbstbewusst grinsende Version seines Selbst, die noch vor Kurzem durch Boston stolziert war. Perfekter Haarschnitt. Makellos sitzender Anzug. Wann war das gewesen? Letzte Woche? Es kam ihm vor, als läge ein komplettes Leben zwischen diesem Tag und dem Jetzt.

Niclas ließ sich an der Wand hinuntergleiten und zog die Knie an. Sein Kopf dröhnte. Erschöpft rieb er sich mit den Händen über das Gesicht. Einen Tag war das her. Erst gestern war seine Welt aus den Fugen geraten – oder besser gesagt: implodiert.