Das Buch
Elf Jahre ist es her, dass ein verhängnisvolles Ereignis auf Cape Cod Andrew Hunters Familie entzweite. Damals kehrte er dem Familiensitz Sunset Cove den Rücken, doch nun zwingen berufliche Probleme und der Gesundheitszustand seines Vaters ihn heimzukehren. Auf der Halbinsel erwarten ihn nicht nur die Erinnerungen an Sommer voller Lebensfreude, abenteuerliche Segeltörns und Freundschaft. Hier lauern auch die Schatten seiner ersten Liebe, Holly Clark. Sie lebt noch immer auf Cape Cod. Als Andrew ihr zufällig begegnet, ist die alte Vertrautheit sofort wieder da. Ihre Blicke brennen wie Feuer auf seiner Haut. Doch Andrew ist vorsichtig, schließlich hat Holly ihm schon einmal das Herz gebrochen …
Die Autorin
Ella Thompson, geboren 1976, verbringt nach Möglichkeit jeden Sommer an der Ostküste der USA. Ihre persönlichen Lieblingsorte sind die malerischen New England-Küstenstädtchen. An den endlosen Stränden von Cape Cod genießt sie die Sonnenuntergänge über dem Atlantik – am liebsten mit einer Hundenase an ihrer Seite, die sich in den Wind reckt.
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Originalausgabe 05/2019
Copyright © 2019 by Ella Thompson
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Friederike Arnold
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München.
Bigstock (belander, CaptureLight, SvetlanaR, bioraven, Artenex, Anna Om), Shutterstock (Naomi Creek, Allan Wood Photography, Nisachon Poompuang)
Kartenillustration »Cape Cod«: Andreas Hancock
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-23408-9
V004
www.heyne.de
Epilog
Die Sonne brannte vom strahlend blauen Himmel. Holly zählte nur zwei winzige Schäfchenwolken in der Ferne, als sie sich mit ihrem kalten Bier gegen das Terrassengeländer lehnte. Sie genoss es, die langen Hosen, Sweatshirts und Stiefel gegen Shorts, Tops und Flip-Flops zu tauschen. Sie liebte es, ihre Sonnenbrille auf den Kopf zu schieben und das Gesicht mit geschlossenen Augen in den Wind zu halten. Und noch mehr liebte sie die Hände, die sich um ihre Mitte schoben, und den Mann, der zu diesen Händen gehörte. Sie hob ihr Bier und stieß mit Andrew an. »Auf uns«, sagte sie.
»Und auf diesen Sommer.« Die Flaschen klirrten gegeneinander, und Andrew trank einen Schluck. »Kommen die irgendwann mal an Land?«, fragte er mit einem Blick über ihre Schulter.
Holly sah in die Bucht hinunter. Jackson und Rachel schossen gemeinsam mit ihren Freunden in Jetskis über das Wasser. Lachend und grölend. »Wenn sie Hunger haben, vielleicht«, vermutete sie und musste lächeln. »Ich kann mich noch gut an diesen Tag erinnern. Der letzte Schultag fühlte sich immer so an, als ob man die Türen des Gefängnisses aufgeschlossen hatte. Der Abschlussball war aufregend. Aber der Tag danach, der erste Tag in Freiheit war wundervoller als alles andere zusammen.« Sie nippte an ihrem Harbour Beach Ale. »Wir haben ihn immer auf dem Meer verbracht.«
»Und Jackson tritt in deine Fußstapfen.« Sie fühlte Andrews Lächeln, als er seinen Kopf an ihren schmiegte.
Holly öffnete die Hand und betrachtete die schmale, weiße Narbe, die sich über ihre Handfläche zog. An der gleichen Stelle wie bei ihrem Bruder. »Ich bin jedenfalls froh über den Einfluss, den Rachel auf ihn ausübt. Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn er die Schule nicht abgeschlossen oder keine Kurse auf dem College belegt hätte. Das Mädchen ist Gold wert.«
»Ist sie. Ich muss allerdings gestehen, dass ich auch ein Riesenfan dieser Party bin, die ihr zum Beginn der Ferien schmeißt. So etwas gab es bei uns nie. Aber ich finde, es geht nichts über ein fantastisches Barbecue mit Freunden.«
»Da hast du recht.« Sie hatten den Tag am Strand und auf dem Meer verbracht. Inzwischen hatte Jake den riesigen Grill angeschmissen und fachsimpelte mit Paul Hennings über die beste Art, einen Codfish zuzubereiten. Holly war dankbar, dass es ihrem kleinen Bruder nicht peinlich war, den ersten Ferientag mit ihnen zu verbringen. Sie war dankbar, dass sie mit ihren Freunden auf der Terrasse von Sunset Cove stehen konnte, um den Tag mit Blick auf den Leuchtturm ausklingen zu lassen. Sie war nach Cartwrights Angriff gemeinsam mit ihrem Bruder in ein kleines Ferienapartment gezogen, weil sie es nicht mehr fertigbrachte, in ihre Wohnung zurückzukehren. Sie hatten sie an einen der jungen Beiköche vermietet, der eine WG mit einem Segellehrer gegründet hatte. Die Ferienwohnung war wirklich gemütlich, aber hier, auf dieser Terrasse, gemeinsam mit Andrew, fühlte sie sich am wohlsten.
Ihr Blick wanderte wieder zur Bucht hinaus. Jacksons Freunde rasten noch immer johlend mit ihren Jetskis über das Wasser, aber Rachel wedelte wild mit den Armen und wies auf den Strand. Ihr Bruder drosselte seinen Jet und folgte ihrem Blick, was Holly dazu brachte, ebenfalls auf die Sichel aus Sand hinunterzublicken, die sich an der Bucht entlangzog. »O mein Gott!« Sie stellte die Bierflasche auf das breite Geländer und beugte sich vor. »Ist das was …«
»Was du denkst?«, vollendete Andrew ihren Satz. »Sieht ganz so aus.«
Sie hatten nicht bemerkt, dass sich Marie, Niclas und Sam davongestohlen hatten. Doch jetzt wurden sie Zeuge davon, wie Niclas Maries Hand nahm und vor ihr auf die Knie ging. Sie musste Niclas’ Frage nicht hören. Sie musste Maries Antwort nicht hören. Das Strahlen in ihren Gesichtern sagte alles. Die Art, wie Niclas Marie in die Arme nahm und herumschwang, nachdem er sich erhoben hatte, wie er sie küsste und wie Sam bellte, reichte völlig.
»Andrew«, flüsterte Holly, presste die Hand auf ihr Herz und fuhr zu ihm herum. »Wir werden eine Hochzeit feiern! O mein Gott! Niclas hat Marie gefragt. Hast du das gewusst?«
»Na ja, dass es irgendwann so weit wäre, war mir schon klar. Dass er sie ausgerechnet heute bittet, ihn zu heiraten, ist perfektes Timing, würde ich sagen. Ein Grund mehr, zu feiern.«
»Hmm.« Holly küsste Andrew und blickte wieder zum Strand hinunter.
»Das erinnert mich übrigens daran, dass es da etwas gibt, was ich dich gern fragen würde«, sagte Andrew hinter ihr.
»Was?« Holly drehte sich langsam zu ihm um. Sie hatten die Vergangenheit bewältigt. Cartwright saß nach ihrer Aussage sicher hinter Schloss und Riegel. Sie hatten die Liebe wiedergefunden – und Holly genoss jede Sekunde mit Andrew. Aber sie war sich sicher, noch nicht so weit zu sein, einen Heiratsantrag zu beantworten, falls Andrew auf eine so dumme Idee kommen sollte.
»Ich wollte dich und Jackson darum bitten, über einen Umzug nachzudenken.«
»Umzug?« Holly atmete erleichtert aus. Kein Heiratsantrag. Ein Umzug. »Wohin?« Sie lächelte ihn an.
Andrew umfasste ihr Gesicht mit den Händen und küsste sie. »Hierher.« Sanft strich er ihr eine widerspenstige Locke hinter das Ohr. »Sunset Cove ist groß genug für Jackson, dich und mich. Ich möchte neben dir liegen, wenn ich morgens aufwache. Ich möchte dich auf der Terrasse sitzen sehen, wenn ich nach Hause komme.« Er sah sie ernst an, und in seinen grauen Augen, die hart wie Stahl funkeln konnten oder an sanften Nebel über der Bucht erinnerten, so wie jetzt gerade, stand die Bitte, ihm zu vertrauen. »Frag Jackson. Und wenn er hier leben möchte, zieht ihr bei mir ein.«
»Andrew.« Sie strich über seine Wange und genoss das leichte Kratzen. Er hatte sich an diesem Morgen nicht rasiert. »Jacks wird es lieben. Und ich – auch.« Sie presste ihre Lippen sanft auf seine. »Ich liebe dich so sehr.«
»Nicht so sehr wie ich dich.« Andrew zog sie fest an sich, und Holly spürte, dass sein Herz im gleichen Rhythmus schlug wie ihres. Liebe, dachte sie. So fühlte sich die wahre Liebe an.
Prolog
Boston schlief nie. Auch um vier Uhr morgens sah die Stadt aus wie das Spiegelbild des Sternenhimmels. Wenn man sie von oben betrachtete. Zum Beispiel aus einem der Flugzeuge, die den Logan Airport ansteuerten. Oder vom Dach des Boston General Hospitals, vierzehn Stockwerke über den glitzernden Lichtern.
Der kalte Wind, der bereits einen Hauch von Frühling durch die Dunkelheit wirbelte, trug nur gedämpfte Fetzen der Melodie, die Boston ausmachte, hier herauf. Ein bisschen wirkte das Dach wie eine Oase im Chaos des Lebens. Dr. Andrew Hunter hatte das zumindest immer so empfunden. Er sah an seinen frei in der Nacht baumelnden Beinen vorbei nach unten. Ein Rettungswagen preschte mit blau, weiß und rot rotierenden Lichtern in die Auffahrt der Notaufnahme. Er müsste jetzt eigentlich dort unten stehen und einen Patienten in Empfang nehmen, schoss es Andrew durch den Kopf. Eigentlich.
Seine Hände umfassten die Kante der breiten Brüstung fester, auf der er saß und ins Ungewisse starrte. Er spürte die raue Oberfläche unter seinen Fingern. Als die stählerne Feuerschutztür hinter ihm mit einem Quietschen aufgeschoben wurde und mit einem dumpfen Knall wieder ins Schloss fiel, überlegte Andrew, ob es sich lohnte, den Kopf zu drehen und herauszufinden, wer ihm Gesellschaft leisten wollte. Er entschied, sich nicht die Mühe zu machen, und starrte weiter auf die Stadt und den Inner Harbour hinaus. Wer ihn stören wollte, tat das so oder so.
»Hey, Drew«, erklang Schwester Jessica Philipps’ sanfte Stimme. Sie lehnte sich neben ihm an die Brüstung.
»Jess.« Er sah sie nicht an. Das Letzte, was er im Moment brauchen konnte, waren besorgte Menschen mit noch besorgteren Gesichtern, die glaubten zu wissen, was mit ihm los war.
Jessica legte ihre warme Hand in einer freundschaftlichen Geste auf seinen ausgekühlten Unterarm und schuf damit eine Nähe, die Andrew nur von sehr wenigen Mitmenschen duldete. Jessica gehörte dazu. Vor zwei oder drei Jahren waren sie ein paar Mal miteinander ausgegangen, ohne dass der Funke zwischen ihnen übergesprungen war. Wahrscheinlich weckten ihre fröhlich wippenden, blonden Locken und die Sommersprossen auf ihrer Nase in ihm eine lang vergangene, romantische Erinnerung, mit der sie schlussendlich nicht hatte konkurrieren können. Seit dieser Zeit waren sie irgendwie – Freunde. »Es tut mir leid, was passiert ist«, sagte sie leise. »Ich kann dich verstehen.« Einen Moment zögerte sie, nicht sicher, ob sie die imaginäre Bombe, die Andrew in seinen Händen hielt, mit ihrem nächsten Satz zündete. »Sie hätten dich nicht suspendieren sollen«, fuhr sie schließlich fort. »Wenn du möchtest, trinken wir nach dem Dienst eine Tasse Kaffee und reden darüber.«
Das brachte Andrew endlich dazu, den Kopf in ihre Richtung zu drehen und ihn leicht zu schütteln. Soweit er sich erinnern konnte, war Jessica seit einem halben Jahr mit einem netten, unaufgeregten Banker verlobt. Er wollte nicht, dass sie in Erklärungsnöte geriet. Im Moment gab es schon genug Gerede um seine Person, weil er mitten in der Notaufnahme, in der er seit sechs Jahren arbeitete, ausgerastet war. »Das ist lieb von dir.« Seine Stimme klang so rau, dass er sie fast selbst nicht wiedererkannt hätte. »Ich gehe einfach nach Hause und schlafe mich ordentlich aus. Wenn ich wieder einen klaren Kopf habe, überlege ich mir, wie es weitergeht.«
Jessica strich mit ihrer warmen Hand über seine Schulter, und Andrew wurde bewusst, dass er noch immer seine Krankenhauskluft trug. Wie lange saß er jetzt schon hier oben?
Jessica nickte. Sie verstand, dass er seine Ruhe wollte. »Wenn ich etwas für dich tun kann, ruf mich einfach an, okay?«
»Sicher«, log er.
Die Schwester verschwand durch die Feuertür, die kurz darauf abermals aufgestoßen wurde. Andrew seufzte innerlich. Früher hatte man hier oben seine Ruhe gehabt. Er drehte sich nach dem Störenfried um.
»Sie wollen doch nicht springen, Doc?«, fragte ein junger Pfleger, den er flüchtig aus der Inneren kannte, und lehnte sich gegen die Wand des Treppenhauses. Er riss eine Red-Bull-Dose auf und leerte sie gierig mindestens bis zur Hälfte. »Soll ich einen der Psychologen anpiepsen?« Die Hilfsbereitschaft konnte den Sensationshunger in seiner Stimme kaum überdecken.
Andrew wandte den Blick wieder der Stadt zu und verdrehte die Augen. Ein Klugscheißer, dem zu viel Koffein-Taurin-Gemisch durch die Blutbahnen schoss, hatte ihm gerade noch gefehlt. Den Blödmann zu ignorieren war vermutlich am besten.
Als sein Handy klingelte, zog er es aus der Hosentasche und warf einen Blick auf das Display. Eine Handbewegung, die sich bei einem Arzt in der Notaufnahme längst in einen Reflex verwandelt hatte. Der Name, der weiß auf dem schwarzen Hintergrund leuchtete, ließ ihn für einen Augenblick das Atmen vergessen. Er wischte über die grüne Taste. »Dad? Ist alles in Ordnung?« Theodor Hunter rief Andrew nie an. Nie. Was brachte ihn dazu, um vier Uhr morgens …? Sein Puls beschleunigte sich, und sein Brustkorb zog sich zusammen, während er darauf wartete, dass sein alter Herr etwas sagte. Irgendetwas. Als es in der Leitung still blieb, fragte er noch einmal: »Dad? Bist du das?«
»Mr. … Dr. Hunter?«, verbesserte sich eine leise Frauenstimme. Sie klang jung und schien vor Angst zu zittern.
»Ja. Wer sind Sie? Und warum benutzen Sie das Telefon meines Vaters?« Noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, kannte er die Antwort. Plötzlich fröstelte er, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die Kälte setzte sich in seinem Herzen fest.
»Ich … bin … ich bin Alessia Michalson, die … ähm … Assistentin Ihres Vaters.«
Was bedeutete, sie war seine aktuelle, vermutlich zweiundzwanzigjährige Geliebte.
»Wir sind auf Cape Cod«, fuhr sie fort, und Andrew war sich sicher, sie stand kurz davor, vor Panik zu hyperventilieren. »In diesem Strandhaus … Sunset Cove? … Theodor hat … ich weiß auch nicht. Er ist … irgendwie zusammengebrochen. Aber er weigert sich, einen Arzt zu konsultieren.«
»Wie sind seine Vitalwerte?«
»Ich … ich weiß nicht.« Sie klang immer elender und schien mit der Situation völlig überfordert.
»Ist er bei Bewusstsein?«
»Ja!« Sie schrie fast, so froh schien sie darüber zu sein, endlich eine Frage beantworten zu können.
»Achten Sie darauf, dass das so bleibt. Sobald er ohnmächtig wird, rufen Sie einen Rettungswagen. Haben Sie mich verstanden?« Er wartete ihre Erwiderung nicht ab. »Ich bin unterwegs.« Ungeachtet dessen, dass sein Leben gerade um ihn herum implodierte und er der Letzte war, den sein Vater am Krankenbett sehen wollte, schwang er die Beine über die Brüstung, hastete mit ein paar schnellen Schritten an dem neugierigen Pfleger vorbei und raste die Treppe zum obersten Stockwerk hinunter. Ungeduldig hämmerte er auf den Knopf des Fahrstuhls, der ihn zu seinem Wagen in die Tiefgarage bringen würde. Um diese Tageszeit konnte er es in unter zwei Stunden auf die Halbinsel schaffen.
1
Solange Andrew ein Kind gewesen war, hatte das Überqueren der Sagamore Bridge etwas Magisches an sich gehabt. Es war der Auftakt der Ferien gewesen. Der Beginn der Freiheit, die aus Strand, Sonne und Meer bestand. Wenn er auf den Cape-Cod-Canal hinunterblickte, hatte er sich bereits den Wind vorstellen können, der an seinen Haaren riss. Er hatte die Augen geschlossen und den Geruch nach Kiefernwäldern, Seegras und gegrillten Hotdogs heraufbeschworen. Schmeckte die Mischung aus Vanille- und Erdbeereis auf der Zunge, die den Sommer ausmachte.
In dem Jahr, in dem er siebzehn wurde, verlor die Halbinsel ihren Zauber, weil ihm das Mädchen, das so lange Zeit seine Gedanken beherrscht hatte, das Herz brach. Ein paar Jahre später beschloss Andrews Mutter Georgina ausgerechnet in ihrem Strandhaus Sunset Cove, den Demütigungen seines Vaters zu entkommen, indem sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Sie wurde im letzten Augenblick gerettet, aber Cape Cod hatte in diesem Moment jede gute Erinnerung, mochte sie auch noch so flüchtig sein, eingebüßt und sich in einen Albtraum verwandelt. Andrew hatte nie wieder einen Fuß auf die Halbinsel gesetzt.
Im vergangenen Dezember war er zum ersten Mal zurückgekehrt. Wenn auch nur für wenige Stunden, in denen er das Leben seines jüngeren Bruders Niclas in den Händen gehalten hatte. Die Zeit hatte gereicht, zu dem Schluss zu kommen, dass auf den Hunters und ihrem Sommerhaus ganz offensichtlich noch immer ein Fluch lag. Auch wenn Niclas ihm vehement widersprach, schließlich hatte er in Sunset Cove seine große Liebe, Marie, gefunden.
Beim letzten Mal war Andrew im gleichen Tempo auf die Halbinsel gerast wie jetzt. Er nahm den Fuß nicht vom Gas, als er das Ortsschild von Eastham erreichte. Er wurde nicht langsamer, als er die Interstate 6 verließ, um hinter dem Städtchen in die von Pinien gesäumte Schotterstraße einzubiegen, die zum National Seashore führte. Bei Tageslicht hätte er im Rückspiegel die Staubwolke sehen können, die er aufwirbelte. Bis zum Sonnenaufgang war es nicht mehr lange. Aber wie sagte man so schön? Die Stunde vor Tagesanbruch war die dunkelste. So schwarz wie die Nacht fühlte sich Andrew im Inneren. Sein Wagen kam schlitternd neben der Garage zum Stehen. Er schnappte seine Arzttasche vom Beifahrersitz, sprang aus dem Auto und eilte auf die Haustür zu, die ihm von einer sehr attraktiven, fast etwas unschuldig wirkenden, jungen Frau geöffnet wurde. Andrew wusste, dass sie nicht so unverdorben war, wie sie schien. Sie war opportunistisch und geldgierig genug, sich an Theodor Hunter zu binden. Immerhin dürfte ihr diese Nacht die Augen geöffnet haben, dass sie sich auf einen verdammt alten, verdammt kranken Mann eingelassen hatte. Diese Beziehung würde sicher nicht mehr lange halten. »Sind Sie Alessia?«, fragte er.
»Ja. Danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Hunter.« Sie rang nervös die Hände.
»Andrew«, bat er sie automatisch, ihn beim Vornamen zu nennen. »Wie ist sein Zustand?«
»Etwas besser. Er hat Tabletten genommen. Ich weiß nicht, was es war. Aber jetzt ist es nicht mehr ganz so schlimm.«
»Gut.« Andrew nickte. »Wo ist er?«
»In dem schönen Zimmer.« Alessia wies zum Turm, der die linke Seite des Hauses begrenzte.
Andrew stoppte abrupt. Er spürte, wie seine Gesichtszüge zu Stein wurden. Dieser verdammte Mistkerl. Im Turm befanden sich nur eine kleine Bibliothek und das Atelier seiner Mutter. Darüber lag das Schlafzimmer, das tatsächlich das schönste des Hauses war. Und in dem Georgina versucht hatte zu sterben. Wie brachte sein Vater es fertig, seine Flittchen ausgerechnet in diesem Bett …? Er schüttelte den Kopf. Diese Gedanken musste er auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Zweimal innerhalb von vierundzwanzig Stunden auszurasten war keine Option. Theodor zu treffen würde auch so schon zu einer Herausforderung werden. Er blendete die Vergangenheit aus und stürmte die Treppe zum Turmzimmer hinauf. Ohne anzuklopfen, riss er die Tür auf, durchquerte den Raum und ließ sich auf die Bettkante fallen. »Dad.«
»Was …?«
Ehe Theodor reagieren konnte, hatte Andrew bereits die Finger um sein Handgelenk geschlossen und prüfte seinen Puls. Die Hautfarbe seines Vaters schwankte zwischen Grau und Gelb, seine Augen glänzten, und kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Aber er schien nicht in einem Delirium zu sein, was zumindest ein gutes Zeichen war.
»Was soll das?«, fragte Theodor. Unwirsch wand er seinen Arm aus Andrews Hand. Nach einem Nierenversagen im vergangenen Herbst hatte er sich gut erholt. Aber er war noch immer auf Medikamente angewiesen und musste auf eine gesunde Lebensweise achten. Mit beidem hatte er es offenbar in letzter Zeit nicht so genau genommen, stellte Andrew mit einem Blick auf das leere Scotchglas und die blauen Pillen auf dem Nachtschränkchen fest, die eindeutig nicht zu seiner Therapie gehörten.
»Alessia hat mich angerufen. Offenbar ging es dir nicht so gut. Und du weißt genau, was Alkohol und Viagra mit deinen Nieren anstellen.«
»Mir geht es nicht so schlecht, dass ich mich von dir untersuchen lassen muss.«
Es war die immer gleiche Leier. Andrew verachtete seinen Vater dafür, wie sehr er seiner Frau mit seinen Eskapaden das Leben zur Hölle machte. Und Theodor hielt ihn für einen Nichtsnutz, der sein Leben in einer Notaufnahme vergeudete, anstatt sich im familieneigenen Finanzimperium, der Hunter Boston Bank, einzubringen. Sein Platz befand sich dementsprechend weit unten auf der Stufe aller zu erduldenden Kreaturen. »Wenn du dich nicht an das hältst, was dir die Ärzte sagen, läufst du Gefahr, ein weiteres Nierenversagen zu erleiden«, versuchte er, an die Vernunft seines Vaters zu appellieren. »Beim zweiten Mal kann dein Körper wirklich nachhaltige Schäden davontragen.« Als ob das erste Nierenversagen nicht schon dramatisch genug gewesen wäre. »Du spielst mit deinem Leben!«
»Ganz genau. Mein Leben.« Zornige Röte breitete sich auf seinem unnatürlich blassen Gesicht aus. »Damit spiele nur ich. Dir steht das nicht zu. Und jetzt verschwinde.« Theodor schlug die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Er trug noch seine Anzughosen und ein Hemd. Die Schuhe standen vor dem Bett, doch er ignorierte sie. Seinen Vater kostete es sicher einige Anstrengung, sich hinunterzubeugen und sie anzuziehen. Eine Blöße, die er sich vor seinem Sohn nicht geben würde. »Alessia, meine Jacke«, herrschte er seine Geliebte an. Sie zuckte zusammen und griff nach seinem Jackett, das über einer Stuhllehne hing. Etwas mühsam streifte er es über und setzte sich leicht schwankend in Bewegung. »Wenn ich zu dem Schluss komme, einen Arzt zu brauchen, werde ich einen Spezialisten konsultieren«, sagte er über die Schulter, ehe er durch die Tür hinaustrat.
Andrew rieb sich über das Gesicht. Warum nur war jedes Gespräch mit seinem Vater ein solcher Kampf? Erkannte er denn nicht, dass er seine Gesundheit aufs Spiel setzte? Er folgte seinem alten Herrn und Alessia. »Dad«, versuchte er es noch einmal und legte bewusst einen ruhigen Ton in seine Stimme. Auf der Treppe stützte sich sein Vater schwer auf die junge Frau, die flehend zu ihm aufblickte. »Lass mich dir doch wenigstens helfen.«
»Ich brauche deine Hilfe nicht.« Sie hatten das Erdgeschoss erreicht, und Theodor ging auf die Haustür zu. »Alessia, wir fahren.«
»Dad. Verdammt noch mal! Hier geht es doch nicht darum, dass du seit fünfzehn Jahren sauer auf mich bist, weil ich lieber Medizin studieren wollte, als in deiner Bank zu arbeiten. Hier geht es um dich! Wenn du so weitermachst, brauchst du eine Nierentransplantation.«
»Was dann ebenfalls mein Problem wäre«, gab Theodor über die Schulter zurück. Er öffnete die Tür, und ein Schwall kühle, salzige Seeluft drang ins Haus, bevor sie mit einem unschönen Knall ins Schloss fiel und Andrew in der Stille zurückließ. Erschöpft lehnte er sich gegen die Wand. Sein Vater konnte ihn mit seinen Worten noch genauso treffen wie als kleinen Jungen, wenn er seinen Ansprüchen nicht gerecht geworden war. Er legte den Kopf in den Nacken und atmete mit geschlossenen Augen tief durch. Warum machte es ihm noch immer so viel aus? Er gestand es sich selten ein, aber es ließ ihn nicht kalt, wenn sein Vater wie ein Hurrikan durch sein Leben fegte und eine Spur der seelischen Verwüstung hinterließ.
Wahrscheinlich lag es einfach an dieser verdammten Müdigkeit, die zentnerschwer auf ihm lastete. Sie raubte ihm die Rationalität. Sie ließ ihn so verdammt dünnhäutig werden. Andrew drehte sich um und schleppte sich zu der Couch, die vor der breiten Fensterfront stand. Dieser Platz war einer der schönsten im ganzen Haus. Von hier konnte man den Leuchtturm auf der linken Seite der Bucht sehen. Davor verlief der feine Sandstrand in einem halbmondförmigen Kreis bis zu der Klippe am rechten Rand dieses kleinen Paradieses. Es öffnete sich der Blick auf die unendliche Weite des Atlantiks, über dem die ersten fliederfarbenen Schlieren den nahenden Sonnenaufgang ankündigten. Andrews Augen brannten vor Müdigkeit. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so erschöpft gewesen war. Er schloss die Lider, und das Brennen ließ ein wenig nach. Nur einen Moment ausruhen, dachte er. Einen Moment. Dann würde er überlegen, was er als Nächstes tun würde.
Andrew erwachte mit einem Ruck. Die Sonne, die hoch über dem weiten Meer stand, blendete ihn. Für einen Moment wusste er nicht, wo er sich befand. Dann erinnerte er sich wieder daran, dass er wegen seinem Vater nach Sunset Cove gerast war. Offenbar war er genau so eingeschlafen, wie er sich hingesetzt hatte. Den Kopf an die Sofalehne gelegt. Er rieb sich über die steifen Nackenmuskeln, stand auf und streckte seine schmerzenden Glieder. Dann zog er sein Handy aus der Hosentasche, um einen Blick auf die Uhrzeit zu werfen, und stellte fest, dass er jede Menge Nachrichten und Anrufe verpasst hatte. Er musste geschlafen haben wie ein Toter. Denn das Klingeln seines Handys überhörte er nie. Es war ein Reflex, jeden eingehenden Anruf anzunehmen.
Er scrollte durch die Nachrichten, während er sich eine Flasche Wasser aus der Küche holte. Gierig trank er. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er glatt glauben können, in der vergangenen Nacht einen über den Durst getrunken zu haben. Seine Mutter wollte wissen, was passiert war. Das wunderte ihn nicht wirklich. Georgina verließ ihren goldenen Käfig in Beacon Hill meist nur, um an irgendwelchen vermeintlich wichtigen Teegesellschaften oder Dinnerpartys teilzunehmen. Und doch hatte sie ihre Ohren überall. Mit Sicherheit wusste sie längst von seinem Ausraster im Krankenhaus. Genauso wie sie – von der eigentlichen Assistentin seines Vaters – erfahren hatte, dass ihr Ehemann im Sommerhaus auf Cape Cod zusammengebrochen war.
Dr. Burnstine, die Vorsitzende der Ethikkommission des Boston General, hatte ihm eine Sprachnachricht hinterlassen und forderte ihn auf, um Punkt zwölf Uhr vor dem Gremium zu erscheinen, um Stellung zum Vorfall der letzten Nacht zu nehmen. Erst jetzt warf Andrew einen Blick auf die Uhr. Zwölf Uhr dreiunddreißig. Tja, diesen Termin hatte er verpasst. Scheißegal, war das einzige Wort, das ihm durch den Kopf schoss. Er war über sich selbst überrascht. Noch nie war es ihm passiert, dass die Arbeit in der Notaufnahme nicht an erster Stelle gestanden hatte. Eigentlich müsste er jetzt zum Telefon greifen, Dr. Burstines Nummer wählen und beten, dass die Kommission seinen Ausbruch auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit, geistige Umnachtung oder Burn-out zurückführen würde. Er hoffte, dass er eine Chance bekam, sein Fehlverhalten wiedergutzumachen. Durch Zusatzdienste. Doppelschichten. Was auch immer. Aber im Grunde genommen tat es ihm nicht leid, auf Walsh losgegangen zu sein. Er öffnete und schloss seine rechte Faust. Wenn er etwas bereute, dann, dass seine Kollegen ihn davon abgehalten hatten, diesem Arschloch mitten ins Gesicht zu schlagen. Nur Millimeter hatten gefehlt, und er hätte zumindest etwas Genugtuung empfinden können.
Abgesehen von diesem Gefühl, hatte ihn die Erschöpfung noch immer fest im Griff, und alles um ihn herum schien in einem wattigen Nebel zu verschwinden. Bevor er mit irgendjemandem sprach, brauchte er einen klaren Kopf, und den würde er auf dieser Couch ganz sicher nicht bekommen. Mit der Wasserflasche in der einen und seinem Handy in der anderen Hand schleppte er sich die weiße Holztreppe, wo an der Wand stilvoll gerahmte Fotografien hingen, hinauf in das Zimmer, das er schon als Kind in den Ferien bewohnt hatte. Die zeitlosen, weißen Möbel waren noch die gleichen, stellte er fest. Die bodenlangen, luftigen Vorhänge waren offenbar zwischenzeitlich ausgetauscht worden. Genau wie die Dekoration, die aus weiteren Schwarz-Weiß-Fotos und Treibgutstücken bestand. Ohne die Laken aufzudecken, ließ Andrew sich auf das Bett fallen. Er hörte die Wellen des Atlantik, die träge, aber machtvoll gegen die Klippen prallten. Schon im nächsten Moment sank er abermals in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Erst siebzehn Stunden später kam er wieder zu sich. Ausgeruhter und erholter als seit Jahren.
Nach einer ausgiebigen Dusche zog er eine Jogginghose und einen Kapuzenpulli an, die sein Bruder offenbar bei seinem Auszug aus dem Strandhaus vergessen hatte, und ging ins Erdgeschoss hinunter. Er brühte sich einen Kaffee auf und stellte mit einem Blick in den Kühlschrank fest, dass Alessia offenbar gern kochte. Sein Vater hätte mit der Flut an Lebensmitteln, die hier lagerten, sicherlich nichts anfangen können. Die beiden waren verschwunden. Das war aber kein Grund, all diese Leckereien in der Küche vergammeln zu lassen. Andrew war kein so guter Koch wie sein Bruder Niclas, aber er kam zurecht. Er belegte zwei Bagel mit Frischkäse, Schinken, Cheddar und Salat und trug sie gemeinsam mit seinem Kaffee auf die Terrasse. Er setzte sich auf die oberste Stufe der Holztreppe zum Strand und verschlang sein Frühstück wie ein Wolf, während sich vor ihm die Sonne aus dem Ozean erhob. Sein zweiter Sonnenaufgang innerhalb von zwei Tagen. Andrew hatte das Gefühl, dass der riesige Feuerball genau wie das längst überfällige Essen seine leeren Energiereserven füllte, je weiter er sich in den Himmel erhob. Der Wind wehte ihm kalt ins Gesicht, aber der Frühling ließ sich bereits erahnen.
Er stellte den Teller zur Seite, holte sein Handy aus der Tasche und scrollte durch die Anrufe und Nachrichten. Dr. Burnstine hatte zum zweiten Mal auf seine Mailbox gesprochen. Die Ethikkommission hatte ihn in seiner Abwesenheit für vier Wochen vom Dienst im Krankenhaus suspendiert. Sie gab ihm mit ihrer schneidenden Stimme deutlich zu verstehen, dass sein Nichterscheinen vor dem Gremium als Affront betrachtet wurde, und Andrew war sehr wohl klar, dass sie ihm die in seiner Situation höchstmögliche Strafe aufgebrummt hatten. Wäre er demütig gewesen und hätte den Damen und Herren den notwendigen Respekt entgegengebracht, hätte sich der Ausschluss vielleicht auf zwei Wochen verringert. So aber …
Er scrollte weiter durch das Telefonbuch zur Nummer seines Bruders und wählte. Burnstine hatte ihm die Entscheidung leicht gemacht. Er hatte so gut geschlafen wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Er hatte Appetit gehabt, und das, was er gegessen hatte, hatte sogar nach etwas geschmeckt. So gut hatte er sich wirklich lange nicht mehr gefühlt. Es war, als tauchte er aus dem Wasser auf und sei zum ersten Mal wieder in der Lage, frei zu atmen. Andrew wartete, bis Niclas abhob.
»Hey Drew, was gibt’s Neues?«, fragte sein Bruder zur Begrüßung.
»Ich bin in Sunset Cove und brauche deine Hilfe«, erwiderte Andrew ohne Umschweife.
Das brachte seinen Bruder dazu, für einen Moment, der sich zog wie Kaugummi, zu schweigen. Er konnte sich Niclas’ überraschtes Gesicht bildlich vorstellen. »Tatsächlich?«, fragte sein Bruder lang gezogen. Sie wussten beide, dass er damit nicht die Tatsache meinte, dass Andrew Hilfe brauchte. »Ausgerechnet dich verschlägt es in das verfluchte Haus«, hielt Niclas ihm seine eigenen Worte vor.
»Es gibt offensichtlich Dinge, auf denen ein weit größerer Fluch lastet.« Meine Karriere zum Beispiel, fügte er in Gedanken hinzu und stand auf, um sich noch eine Tasse Kaffee zu holen. »Kannst du mir für ein paar Tage Klamotten leihen?«
»Will ich wissen, warum du ohne Gepäck auf Cape Cod herumhängst?« Die Neugier hinter den Worten seines Bruders war nicht zu überhören.
»Das willst du. Und ich werde es dir auch erzählen, sobald du hier bist«, versprach er.
»Ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Reicht es heute Nachmittag?«
»Sicher. Ich löse mich ja nicht in Luft auf.« Andrew stellte seine Kaffeetasse unter die Maschine und wartete auf den Satz, der unweigerlich kommen würde.
»Auf diese Geschichte bin ich wirklich gespannt«, sagte sein Bruder prompt.
*
Holly Clarks Herz lief über vor Mitgefühl. Mitgefühl für ihren siebzehnjährigen Bruder Jackson, der, die Hände in seine rostroten Locken gekrallt, am Tresen ihrer Bar hockte. Er stöhnte, als ob er seelische Schmerzen litte, ehe er seinen Kopf theatralisch auf sein Algebraheft fallen ließ. »Ich hasse Mathe«, tat er zum gefühlt tausendsten Mal kund.
Holly öffnete ein Mountain Dew, füllte es in ein Glas voller Eiswürfel und schob es neben das mitgenommen aussehende Heft.
Ihre Freundin Marie McMillan, die es sich seit dem letzten Jahr zur Aufgabe gemacht hatte, Jackson den Umgang mit Zahlen näherzubringen, zwinkerte ihr zu. Ihr Labrador Sam lag gemeinsam mit Hollys Retriever Potter, der zwar körperlich ausgewachsen, im Kopf aber noch immer ein Kind war, unter dem Tresen.
Während Marie die Aufgabe noch einmal mit Engelsgeduld Schritt für Schritt mit Jackson durchging, ließ Holly den Blick durch ihre kleine Welt schweifen. Sonnenstrahlen fielen, gefiltert von den Sprossenfenstern, auf den dunklen Holztresen, über den seit Jahrzehnten regionale Biere und ausgesuchte Whiskeys den Besitzer wechselten. Rachel stand am Empfang und bedachte ein älteres Ehepaar mit ihrem einnehmenden Lächeln, ehe sie sie in den Restaurantbereich des Fairway führte. Seit Holly den Laden vor einem Jahr von ihrem Vater übernommen hatte, hatte sie viel Zeit und Kreativität in die Einrichtung, die Speisekarte und Getränkeauswahl gesteckt. Nur das Codfish-Rezept hatte sie auf der Karte gelassen. Schließlich war das Restaurant genau dafür bis weit über die Halbinsel hinaus bekannt. Die Geschäfte liefen gut, auch wenn sie während des Winters nach wie vor nicht ohne einen Nebenjob über die Runden kam. Aber das machte nichts. Holly konnte ihren Traum leben und schaffte es inzwischen sogar hin und wieder, einen freien Nachmittag oder Abend herauszuschinden, um ihn mit Freunden zu verbringen. Freunden wie Marie McMillan, auch wenn sie vor einem Dreivierteljahr nicht im Geringsten damit gerechnet hätte, dass dieses spröde Wesen überhaupt menschliche Bindungen eingehen konnte.
Marie legte Jackson die Hand auf die Schulter und lächelte Holly an. Ihr Bruder klappte das Heft zu und verschwand mit Lichtgeschwindigkeit aus der Bar. Nicht, ohne rot anzulaufen, als er an der lächelnden hübschen Rachel vorbeischlitterte. Holly seufzte innerlich. Ihr Bruder war ein süßer Kerl, aber eben auch ein typischer, siebzehnjähriger Trottel, der nicht begriff, dass er nur seinen Mut zusammennehmen müsste, um das Herz seiner schönen Mitschülerin zu gewinnen. Der sehnsüchtige Blick, den das Mädchen Jackson hinterherwarf, sprach Bände.
»Man würde ihm am liebsten einen Schubs in die richtige Richtung geben«, sagte Marie leise. Sie war Hollys Blick gefolgt.
»Aussichtslos«, beschied Holly. »Teenager wissen nämlich grundsätzlich alles besser als du oder ich.« Sie zwinkerte Marie zu und füllte Cola in ein Glas. Gemeinsam mit einer Schale Brezeln schob sie es über den Tresen und ergriff mit der anderen Hand das halb leere Mountain-Dew-Glas ihres Bruders, um es wegzuräumen. In der Bar war im Moment nicht viel los. Die Gäste waren mit Getränken versorgt. Wie es sich in den letzten Monaten zwischen ihnen eingespielt hatte, nutzten sie die Zeit, um ein wenig zu tratschen. Marie, die sich vor einem halben Jahr mit Sicherheit nicht hätte vorstellen können, jemals eine Freundin wie Holly zu finden, sich in einen Mann wie Niclas Hunter zu verlieben oder einfach nur – wie jeder normale Mensch zu leben, schien diese Momente sehr zu genießen.
Mit glitzernden Augen lehnte sich die Freundin vor. »Hast du es schon gehört? Andrew ist auf der Halbinsel.«
Der Name ließ die Welt um Holly herum gefrieren, als wäre sie in flüssigen Stickstoff getaucht worden. Sie hielt den Atem an. An dem Kloß, der in ihrem Hals saß, ließ sich kein Sauerstoff vorbeipressen.
»Holly? Hast du mich gehört?«
»Was?« Sie zwang sich in die Wirklichkeit zurück. Marie sah sie besorgt an, und Holly rang sich ein Lächeln ab. »Ja …« Sie rieb sich über die Stirn und holte zu einer diffusen Handbewegung aus. »Ich war in Gedanken noch bei meinem Lieferanten. Entschuldige. Du sagtest, Andrew …«, der Name brannte wie Säure auf ihrer Zunge, »… ist auf Cape Cod. Andrew Hunter?«
»Der einzige Andrew, den wir beide kennen.« Marie legte den Kopf schräg und betrachtete sie. Bestimmt hatte sie während der vier Jahre im Gefängnis gelernt, selbst die kleinste Regung im Gesicht eines anderen Menschen wahrzunehmen.
Holly wollte ihr keinen Einblick in ihre Gedanken geben. Sie musste erst einmal selbst verstehen, was es bedeutete, dass Andrew Hunter und sie sich auf denselben tausend Quadratkilometern aufhielten. Diese Fläche war eindeutig zu klein für sie beide. Sie drehte sich zu den Regalen hinter dem Tresen um und begann, die Gläser geradezurücken, bis die gleichmütige Maske, die sie über ihr Gesicht zog, fest genug saß. »Was ist los mit dieser verdammten Hunterbrut?«, fragte sie in ihrer gewohnt schnippischen Art, die sie nicht unterdrücken konnte, wenn es um die Bewohner von Sunset Cove ging. »Haben sie vor, die Halbinsel zu übernehmen?«, fragte sie und drehte sich wieder zu ihrer Freundin um.
Marie knabberte an einer Brezel, die sie aus dem Schälchen gefischt hatte. »Vielleicht. Wer kann das bei den Hunters schon wissen?« Sie lächelte und war in Gedanken offenbar bei Andrews Bruder Niclas, der zwar nicht die Halbinsel – dafür aber Marie erobert hatte. »Er ist wohl ziemlich spontan im Strandhaus aufgekreuzt. Nic fährt gerade zu ihm, um ihm ein paar Klamotten zu bringen.«
Holly zuckte die Schultern in einer gleichgültigen Geste, von der sie hoffte, dass Marie sie ihr abnahm. »Ich bin tatsächlich ein wenig erstaunt. Ich hätte nicht gedacht, dass es ihn in diesem Leben noch einmal auf die Halbinsel verschlägt.« Sie warf Marie einen funkelnden Blick zu. »Eines ist jedenfalls so sicher wie das Amen in der Kirche. Andrew Hunter wird keinen Fuß über die Schwelle meines Restaurants setzen.«
Marie legte die Hand sanft über ihre, und Holly wurde bewusst, dass sie das Geschirrtuch, mit dem sie die Gläser polierte, zwischen ihren Fingern zerknüllte. »Du weißt, dass du mir jederzeit erzählen kannst, warum Drew auf deiner Abschussliste ganz oben steht.«
»Ja, das weiß ich.« Holly zog ihre Finger unter Maries Hand hervor und drückte sie kurz, bevor sie nach dem nächsten Glas griff, um es zu polieren. »Es ist so, wie ich es dir erzählt habe«, hangelte sie sich an dem Teil entlang, den sie nicht in ihrem Inneren verschloss und für sich behielt. »Reiche kleine Jungen, die Menschen nur in die Kategorien ›Kann segeln‹ und ›Kann es nicht‹ einteilten, entwickelten sich zu arroganten Teenagerarschlöchern, die diejenigen mobbten, die nicht zu ihrem elitären Kreis gehörten. Wie du dir denken kannst, gehörte ich nicht zu diesem Zirkel. Ende der Geschichte.«
Das war bei Weitem nicht die ganze Story. Marie lehnte sich zurück und nippte an ihrer Cola. Ihr Blick sagte deutlich, dass sie Holly diese Version nicht abnahm. Aber sie war ihre Freundin. Sie würde warten, bis Holly bereit war, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Was vermutlich nie der Fall sein würde.