Cover

Das Buch

Jake Foster hat den Traum von einer eigenen Brauerei. Nachdem seine Freunde Niclas und Andrew Hunter ihr Glück in Sunset Cove gefunden haben, hält ihn nichts mehr in Boston und die Harbour Beach Brewerie ist genau das, wonach er gesucht hat. Doch ihm fehlt das nötige Kapital. Die Investorin Eliza Woodward ist die schönste Frau, die Jake je getroffen hat – aber auch äußerst undurchsichtig. Sie bietet ihm einen Deal an, zieht ihr Angebot jedoch kurzfristig zurück. Niclas’ und Andrews Vater, Theodor Hunter, bietet Jake das fehlende Geld an. Unter einer Bedingung, die Jake den Boden unter den Füßen wegzieht. Als Eliza abermals auftaucht und ihr Interesse an der Brauerei und an ihm bekundet, wird sein Lebenstraum plötzlich zu einem gefährlichen Unterfangen – und Jake zur Zielscheibe.

Die Autorin

Ella Thompson, geboren 1976, verbringt nach Möglichkeit jeden Sommer an der Ostküste der USA. Ihre persönlichen Lieblingsorte sind die malerischen New England-Küstenstädtchen. An den endlosen Stränden von Cape Cod genießt sie die Sonnenuntergänge über dem Atlantik – am liebsten mit einer Hundenase an ihrer Seite, die sich in den Wind reckt.

Lieferbare Titel

Rückkehr nach Sunset Cove – Sommerträume auf Cape Cod

ELLA THOMPSON

WIEDERSEHEN AM

Harbour Beach

ROMAN

Teil 3

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 08/2019

Copyright © 2019 by Ella Thompson

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Diana Mantel

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München unter Verwendung von Shutterstock (Nataly Lukhanina, Chaiwalk58, StevanZZ, Darryl Vest), Bigstock (belander, SvetlanaR, Anna OM)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23409-6
V001

www.heyne.de

Wenn dein Leben von einem Geheimnis bestimmt wird, wächst die Angst vor der Wahrheit mit jedem Tag.

Prolog

Die frische Brise, die vom Atlantik herüberwehte, trug den Geruch nach Sonnencreme und Barbecue vor sich her, das Lachen eines Kindes und die Schreie sich zankender Möwen. Sie kühlte die brennende Hitze des Sommertages ein wenig ab. Jake Foster blickte auf die sanft schaukelnden Fischerboote im Hafen, die bereits mit ihrem Fang für diesen Tag vom Meer zurückgekehrt waren. Dahinter glitzerte der Ozean so gleißend, dass er sich wünschte, eine Sonnenbrille zu tragen. Das blendende Licht trug nicht wie sonst zu seinem Wohlbefinden bei, also schob er die Hände in die Taschen seiner Anzughose und drehte sich zu George Owerton um – und zu seinem Traum, der sich in einer Kombination aus rotbraunem Ziegelstein und dunkelgrünem Efeu vor ihm erhob.

Jake hatte sich in Cape Cod verliebt, als er zum ersten Mal auf der Halbinsel gewesen war. Damals, er war vielleicht gerade mal dreizehn oder vierzehn, hatte er seine beiden besten Freunde Andrew und Niclas Hunter in ihr Sommerhaus Sunset Cove begleitet. Die Erinnerungen an diesen unbeschwerten, wilden Sommer hatten sich in ihm festgebrannt und ihn nie wieder losgelassen. Das Cape liebte er, aber das, was hier vor ihm lag, war sein Traum. Das große Ziel seines Lebens. Die Harbour Beach Brewerie. Im Moment sah es allerdings so aus, als würde seine Vision schmelzen wie Eis in der Sonne.

George warf ihm einen Seitenblick zu, und Jake fuhr mit dem Finger unter den Halsausschnitt seines Hemdes, als könne er so das beklemmende Gefühl vertreiben, das ihm die Kehle zuschnürte. Er trug lieber Shirts und Jeans, aber für diesen Termin hatte er bewusst einen Anzug gewählt. Jetzt sorgte nicht nur die Hitze sondern auch seine Nervosität dafür, dass sich der Schweiß unter dem viel zu warmen Jackett auf seinem Rücken sammelte.

George gab einen unwilligen Laut von sich und stützte die Hände in die Hüften. »Scheint nicht besonders pünktlich zu sein, deine Investorin«, brummte er.

»Vielleicht wurde sie aufgehalten.« Jake schob das ungute Gefühl zur Seite. Wenn die potenzielle Geldgeberin nicht auftauchte, wäre das nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Sie hatte ihn schon einmal versetzt. Er zog sein Handy aus der Tasche und rief sie an. Es klingelte neun Mal, ehe der Anrufbeantworter ansprang und ihre kühle, kultivierte Stimme darum bat, eine Nachricht zu hinterlassen. »Mrs. Woodward, hier spricht Jake Foster. Wir waren um vierzehn Uhr in Harbour Beach verabredet. Inzwischen ist es vierzehn Uhr siebenundvierzig. Rufen Sie mich bitte zurück, damit ich weiß, ob Sie aufgehalten wurden und wir noch länger auf Sie warten sollen. Falls Sie«, es sich anders überlegt haben, dachte er, sprach seine Befürchtungen aber nicht aus. Wenn sie es sich wirklich anders überlegt haben sollte, würden sich seine Wünsche in Luft auflösen. Er versuchte, weiter positiv zu denken. Vielleicht steckte sie ja wirklich im Stau fest, den die Touristen um diese Zeit des Jahres auf der Interstate 6 verursachten. »Rufen Sie mich einfach zurück, okay?« Er schob das Handy in die Tasche und schloss für einen Moment die Augen. Vor einer Dreiviertelstunde hatte er noch geglaubt, dass sein Traum endlich Wirklichkeit werden könnte. Jetzt hatte er das Gefühl, dieser Traum versank irgendwo hinter dem Horizont im Atlantik. Unerreichbar und – wäre er erst einmal versunken – für immer verloren.

1

»Mailbox?«, fragte George. Er trug im Gegensatz zu Jake ein Poloshirt mit dem Logo der Brauerei, das leicht über seinem Bauch spannte, und eine Cargo Hose. Die Sonnenbrille hatte er in seine grauen Haare geschoben.

»Ja.« Jake zog sein Jackett aus und nahm die Krawatte ab, bevor er den obersten Knopf seines Hemdes öffnete.

»Ich weiß nicht, Junge. Wenn diese Frau Termine platzen lässt, ohne sich zu melden, ist sie wahrscheinlich nicht zuverlässig genug, um ihr in Geldangelegenheiten zu trauen.«

Das wusste Jake auch. Aber sie war seine letzte Hoffnung gewesen. Eliza Woodward-Ellerton war die einzige Geldgeberin gewesen, die bereit war, in sein Brauerei-Projekt zu investieren. Abgesehen von Andrew und Niclas. Aber die beiden waren seine Freunde, von ihnen würde er keinen Cent nehmen. Er hatte keine Ahnung, warum die Frau, die ein riesiges Firmenimperium leitete, so mit ihm umsprang. Obwohl, tief im Inneren wusste er es sehr wohl. Sie war reich und arrogant. Also konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Vielleicht machte sie sich einen Spaß daraus, ihn am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. Vielleicht saß sie gerade mit ihren Freundinnen in irgendeinem Bostoner Privatklub bei Mimosas und lachte sich über seine Ziele und Träume kaputt. Er kannte dieses Verhalten zur Genüge. Auch wenn er selbst alles andere als wohlhabend war, er war in diesen Kreisen aufgewachsen. Die Eltern seiner Freunde, Theodor und Georgina Hunter, behandelten ihn von oben herab, solange er sich erinnern konnte.

»Na komm, lass uns reingehen.« George setzte sich in Bewegung und ging auf die großen hölzernen Stalltore zu, die den Eingang zum Gästebereich der Brauerei markierten. Jake folgte ihm, vorbei an den schmiedeeisernen Tischen und Stühlen, die neben üppig blühenden Pflanzenkübeln auf dem gepflasterten Hof verteilt waren. Touristen in T-Shirts, kurzen Hosen und Flip-Flops genossen ein kühles Indian Pale Ale oder ein Belgian oder aßen einen der kleinen Snacks, die das Bistro anbot. Sonnenhüte in allen Farben und Formen und die schneeweißen Schirme, die zwischen den Sitzgarnituren aufgestellt worden waren, spendeten den Gästen der Brauerei Schatten, aber Jake war froh, als er das kühle Backsteingebäude betreten und der Hitze entfliehen konnte. Er warf sein Jackett auf einen der Hocker mit der abgeschabten Lederpolsterung, die am Tresen standen, und schob seine Krawatte in die Hosentasche. Außer George und ihm befanden sich nur drei Personen im Raum. Zwei ältere Herren saßen an einem der Tische und nippten an ihrem Bier. Es waren schwedische Touristen, wenn Jake die Sprache richtig deutete. Shelby, die Studentin, die den Sommer über hier jobbte, lächelte ihnen zu und widmete sich dann wieder dem Polieren der Gläser, die sie gerade aus der Spülmaschine gezogen hatte.

George nahm zwei Flaschen Wasser aus dem Kühlschrank und reichte Jake eine, bevor er sich auf den Barstuhl neben ihm fallen ließ. »Ob wir wollen oder nicht, wir müssen eine Entscheidung treffen. Ich kann die Madam nicht mehr lange hinhalten.« Nachdenklich drehte er an seinem Ehering, der im warmen Licht der Kupferlampen über ihnen matt aufleuchtete. »Es tut mir wirklich leid, Junge.«

Jake nickte. George war in den vergangenen Monaten zu einem väterlichen Freund geworden, der das Bierbrauen genauso liebte wie Jake selbst. Und Georges Frau Nancy, die er gern ›die Madam‹ nannte, mochte Jake von ganzem Herzen. Er konnte verstehen, dass die beiden nicht bis in alle Ewigkeit warten konnten. Oder so lange, bis er endlich das Geld für den Kauf der Brauerei zusammenhatte. Was in etwa genauso lange dauern dürfte. Sie wollten in ihr neues Leben starten. »Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, George. Ohne Eliza Woodward …« Er musste es nicht aussprechen und schüttelte nur leicht den Kopf.

»Jake.« George legte ihm seine riesige Hand auf die Schulter. »Ich will an dich verkaufen, das weißt du. Du bist meine erste Wahl, weil ich mir sicher bin, dass du mein Baby so behandelst, wie es sein sollte. Aber irgendwann muss einfach Geld fließen. Die Madam will auf Haussuche in Florida gehen, eine Kreuzfahrt machen. Du weißt schon, all das Zeug, das ich ihr irgendwann mal versprochen habe.«

Jakes Herz schlug unbehaglich laut gegen seinen Brustkorb. Scheiße, das war alles, was er denken konnte. »Angenommen, ich leiste eine Anzahlung …«, sagte er, ohne vorher darüber nachzudenken. Die Worte sprudelten einfach aus ihm heraus. Sie machten ihm unfassbare Angst, und doch fühlten sie sich so richtig an. Er hatte schon immer eine eigene Brauerei haben wollen – die Harbour Beach Brewerie war seine. Jake hatte sich im ersten Moment in das alte, ehrwürdige Gebäude verliebt. Er spürte die Seele dieses Unternehmens, das fest mit Cape Cod und den Traditionen der Halbinsel verbunden war. Er könnte George alles geben, was er besaß. Seit er begonnen hatte, für einen großen Bostoner Getränkekonzern zu arbeiten, hatte er so viel Geld wie möglich zur Seite gelegt. Er bewohnte ein winziges Apartment, und außer seinem Pick-up hatte er sich nie irgendwelchen Luxus geleistet. Weil er genau wusste, was er vom Leben wollte. Gemeinsam mit dem Erbe seiner Großmutter, das er gut angelegt und deshalb um einiges vermehrt hatte, konnte er den Grundstein für die Übernahme der Brauerei legen. Mehr aber auch nicht.

George seufzte und verzog das Gesicht voller Mitgefühl. »Ich kann dich verstehen, Junge. Wirklich. Aber seien wir ehrlich. Es wird nicht funktionieren.« Er schraubte die Wasserflasche auf, die er bis jetzt in den Händen gedreht hatte, und trank einen großen Schluck.

»Angenommen, du nimmst die Anzahlung«, versuchte Jake es noch einmal. »Wie viel Zeit hätte ich, den Rest des Geldes zu beschaffen?«

George schüttelte den Kopf. »Jake …«

»Nein.« Jake hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Wie lange?«

Der Brauereibesitzer schürzte die Lippen und sah ihn nachdenklich von der Seite an. Einen Moment schwieg er. »Ein Vierteljahr. Höchstens«, erwiderte er dann vorsichtig.

»Lass es uns machen.« Jakes Herzschlag beschleunigte sich, und er hatte Mühe durchzuatmen. Was tat er hier? »Ich gebe dir die Anzahlung, und spätestens in drei Monaten habe ich einen Investor gefunden.«

»Das würde bedeuten, dass du dein Leben in Boston aufgeben musst. Du musst deinen Job kündigen, die Brauerei übernehmen. Und das alles, ohne eine Sicherheit zu haben, ob du sie in einem Vierteljahr noch halten kannst. Überleg dir das gut.«

»Hop oder Top, wie es so schön heißt.« Jake zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihm schlecht wurde bei dem Gedanken daran, auf was er sich da einließ. »Ich finde jemanden. Ich bekomme das hin.«

Sein Geschäftspartner schien nicht so überzeugt von der Idee. »Schlaf wenigstens noch eine Nacht darüber«, schlug er vor.

»Nein.« Das würde er nicht. Gerade hatte er all seinen Mut zusammengenommen und war ins Ungewisse gesprungen. Er würde jetzt keinen Rettungsring akzeptieren, der ihn zurück an Bord des Lebens zog, das er unbedingt hinter sich lassen wollte. Wenn er zu viel Zeit bekam, darüber nachzudenken, würde er einen Rückzieher machen. Deshalb musste es jetzt sein. Eliza Woodward hin oder her. Er würde es auch ohne sie schaffen. Jake wischte die plötzlich feuchte Handfläche am Stoff seiner Anzughose ab und hielt sie George entgegen. »Schlag ein«, forderte er ihn auf. »Ich packe das.«

Sein Gegenüber zögerte einen Moment, dann schüttelte er die dargebotene Hand. »Dein Freund Niclas soll die Verträge aufsetzen. Und ich muss los, die Madam will sicher wissen, ob sie endlich ihre Kreuzfahrt buchen kann.«

Jake wartete, bis George durch die Tür ins gleißende Sonnenlicht getreten war, dann rieb er sich mit den Händen über das Gesicht. Seine Finger zitterten. Was habe ich getan, schoss es ihm durch den Kopf. Er musste den Verstand verloren haben. »Kann ich ein Bier haben?«, fragte er Shelby und presste die Faust auf sein immer noch viel zu schnell klopfendes Herz.

Die junge Frau lächelte an ihren Piercings vorbei zu ihm herüber. »Harbour Beach Ale?«, fragte sie und hielt bereits ein Glas unter den Zapfhahn, weil sie wusste, dass das sein Lieblingsbier war.

Jake nickte. Er setzte das Glas an und trank es in einem Zug leer. Kälte und Geschmack schossen durch seine Speiseröhre. Er schmeckte die leicht bittere Note im Abgang und spürte, wie sich das Adrenalin langsam aus seinem Körper verflüchtigte. Was Andrew und Niclas zu dieser überstürzten Entscheidung sagen würden? Er würde es herausfinden. Jetzt sofort. Entschlossen stand er auf, um nach Sunset Cove zu fahren. Er kramte ein paar Dollarnoten aus seiner Hosentasche und legte sie neben das Glas. »Danke, Shelby«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

Sie erwischte Jake an der Hand und hielt sie fest. Als er sich zu ihr umdrehte, legte sie die Geldscheine in seine Handfläche und schloss seine Finger darum. »Sieht so aus, als wärst du jetzt hier der Boss«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. »Und der Boss zahlt sein Bier nicht.«

»Ja, stimmt.« Jake schluckte. »Sieht so aus.« Er war der Boss. Zumindest für die nächsten drei Monate. Er schob das Geld zurück in seine Hosentasche und hob die Hand zum Gruß. »Bis später, Shelby.«

»Tschüss, Chef«, rief sie ihm hinterher.

Jake kehrte in den lichtdurchfluteten Nachmittag zurück und blinzelte gegen die Helligkeit an. Auf dem Weg zu seinem Wagen wählte er noch einmal Eliza Woodwards Nummer und wartete, bis die Mailbox sich meldete. Diesmal machte er sich allerdings nicht die Mühe, eine Nachricht zu hinterlassen. Er warf das Mobiltelefon auf die Sitzbank seines Pick-ups und schob sich hinter das Lenkrad. Mit einem letzten Blick auf die Harbour Beach Brewerie lenkte er den Wagen auf die Straße und reihte sich in den Touristenstrom ein, bis er auf die unbefestigte Straße in Richtung Sunset Cove abbiegen konnte.

*

Eliza Woodward hörte das Klingeln ihres Handys und das Klicken, als die Person am anderen Ende zum Anrufbeantworter in ihrem Arbeitszimmer weitergeleitet wurde. Sie sah die Haarsträhne vor ihrem Gesicht, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. Unscharf nahm sie wahr, wie sie sich bewegte, wenn sie ein- und ausatmete.

»Mrs. Woodward, hier spricht Jake Foster«, klang die Stimme des Anrufers aus dem Lautsprecher.

Eliza schloss die Augen und öffnete sie wieder, in der Hoffnung, ihre Umgebung schärfer wahrnehmen zu können. Sie hob den Arm, um sich die Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen – und ließ ihn mit einem schmerzerfüllten Wimmern wieder sinken. Tränen traten ihr in die Augen. Keine Tränen der Wut, Scham oder Enttäuschung. Keine Tränen wegen des Verrates und der Demütigung. Die salzigen Tropfen, die sich aus ihren Augenwinkeln lösten, abermals alles vor ihrem Gesicht verschwimmen ließen und sich dann in der Haarsträhne verfingen, waren dem Schmerz geschuldet, der durch ihre linke Seite schoss.

»Wir waren um vierzehn Uhr in Harbour Beach verabredet. Inzwischen ist es vierzehn Uhr siebenundvierzig«, fuhr Jake Foster fort. Er hatte eine schöne Stimme. Tief und warm. Sie war beruhigend. Jedenfalls hatte sie diese Wirkung bei den wenigen Malen gehabt, die sie bereits aufeinandergetroffen waren oder miteinander telefoniert hatten.

Vierzehn Uhr siebenundvierzig, dachte Eliza. Das bedeutete, sie lag bereits seit über drei Stunden hier. Wahrscheinlich war sie bewusstlos gewesen. Nur so konnte sie sich erklären, dass so viel Zeit vergangen war, seit … Ihr Kopf ruhte auf dem rechten Arm, der ausgestreckt auf dem Orientteppich lag. Ihre Fingerspitzen glitten leicht über das handgeknüpfte weiche Material. Er lag schon seit drei Generationen an dieser Stelle. Im Arbeitszimmer, das erst ihrem Großvater, dann ihrem Vater gehört hatte und das jetzt ihres war. Sie wollte aufstehen, zum Telefon gehen und den Hörer abnehmen. Sie wollte mit Jake Foster sprechen und sich dafür entschuldigen, dass sie den Termin hatte platzen lassen. Die Harbour Beach Brewerie war sein großer Traum, und sie hatte die Mittel, ihn wahr werden zu lassen. Eliza war sogar überzeugt davon, dass sich die Investition lohnte. Aber sie konnte es ihm nicht sagen. Weil sie nicht aufstehen und zum Telefon gehen konnte. Und weil sie wahrscheinlich nur verwaschen sprechen würde, so angeschwollen und taub wie sich ihre linke Wange anfühlte. Vorsichtig fuhr sie mit der Zunge über ihre Zähne. Keiner abgebrochen, aber ein Eckzahn wackelte bedenklich.

»Rufen Sie mich bitte zurück, damit ich weiß, ob Sie aufgehalten wurden und wir noch länger auf Sie warten sollen.« Nein, sie brauchten nicht länger auf sie warten. Sie würde den Termin nicht wahrnehmen. Weder heute noch in den nächsten Tagen. Immerhin schaffte der Anruf es, sie in die Realität zurückzuholen. Sie musste eine Bestandsaufnahme durchführen, ihre Verletzungen analysieren. Vorsichtig bewegte sie sich und stöhnte vor Schmerz. Vor ihren Augen tanzten Sterne. Mit der Geschwindigkeit eines hundert Jahre alten Greises richtete sie sich in eine sitzende Position auf und strich sich mit der rechten Hand endlich die Haarsträhne aus dem Gesicht. Schweiß mischte sich mit den Tränen, die ihr noch immer vor Schmerz über das Gesicht liefen. Ihr Magen rebellierte, aber sie zwang die aufsteigende Magensäure zurück. Sie würde sich nicht übergeben. Nicht hier, auf dem teuren Teppich.

»Falls Sie …«, fuhr Foster fort. Dann stockte er kurz, und Eliza war sich sicher, er wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Mit einem »Rufen Sie mich einfach zurück, okay?«, legte er schließlich auf.

Sie würde ihn zurückrufen. Sie würde sich bei ihm entschuldigen und einen neuen Termin ansetzen. Sobald sie in der Lage dazu war. Und von diesem Termin würde sie Greg nichts erzählen. Zitternd sog sie Luft in ihre Lungen und stieß sie wieder aus, versuchte ganz langsam und methodisch, den Schmerz wegzuatmen. Wahrscheinlich waren eine oder mehrere Rippen geprellt oder sogar gebrochen. Eine Gehirnerschütterung hatte sie auf jeden Fall. Sie musste ihren Hausarzt anrufen, damit er herkam. Und sie musste Maggie anrufen und ihr außer der Reihe freigeben. Ihre Haushälterin durfte auf gar keinen Fall hier auftauchen und sie so sehen. Erschöpft schloss sie die Augen. Sie musste unbedingt aufstehen. Als sie es endlich schaffte, auf die Knie zu kommen und sich an einem Sessel hochzuziehen, waren weitere fünf Minuten vergangen. Jake Foster wartete sicher längst nicht mehr auf sie.

2

Es war ein gewagter Schritt, und doch fiel es Jake nicht schwer, seine Zelte in Boston abzubrechen. Er hatte darauf hingearbeitet, eine eigene Brauerei zu führen. Über die Frage, wo diese Brauerei stehen würde, hatte er sich nie Gedanken gemacht. Er war sich immer sicher gewesen, er würde schon wissen, welches Projekt seines war, wenn er das Angebot in den Händen hielt. Dass sich die Harbour Beach Brewerie ausgerechnet auf Cape Cod befand, wohin es seine Freunde verschlagen hatte, war das Sahnehäubchen auf dem Stück Kuchen, nach dem er gegriffen hatte.

Jake ließ den Blick ein letztes Mal durch sein Apartment schweifen. Es war nicht gerade schäbig gewesen, besonders komfortabel allerdings auch nicht. Ein Platz zum Schlafen, Duschen und Essen. Mehr hatte er nie gebraucht, nie gewollt. Er atmete den Hauch Sojasoße, Kokosöl und Erdnüsse ein, der immer im Apartment hing, weil es drei Stockwerke über einem Thairestaurant lag. Dann hängte er sich seine Gitarrentasche quer über den Rücken, warf seine abgewetzte Lederjacke auf den letzten Karton Schallplatten, hob ihn an und schob die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. Seine Plattensammlung war sein Heiligtum. Aber im Moment wäre sie ihm auf Cape Cod nur im Weg. Er würde sie gemeinsam mit seinen Büchern und seiner Musikanlange bei seiner Mutter unterstellen, bis er auf der Halbinsel ein eigenes Zuhause gefunden hatte. Nur seine Gitarre würde er mitnehmen.

*

Eliza saß in ihrem Büro im Woodward Tower und starrte auf den Inner Harbour hinaus. Unzählige weiße Segel leuchteten auf dem tiefblauen Wasser. Die Amphibienbusse der Stadtrundfahrt tuckerten zwischen ihnen hindurch und priesen Bostons Sehenswürdigkeiten an. Sie konnte sich vorstellen, wie die Touristen mit großen Augen vom Wasser aus die Skyline aus Beton, Glas und den stets präsenten roten Klinkern betrachteten, die sich am Ufer majestätisch in den Himmel erhob und das Sonnenlicht reflektierte. Zwischen den Bürotürmen würden sie historische Kleinode entdecken, wie den Nachbau des Tea Party-Schiffs Eleanor oder das Old State House. Das war es, was Boston für Eliza zu etwas Besonderem machte. Die Verflechtung von Geschichte und Moderne.

Ihre Bürotür wurde geöffnet, und sie zuckte kaum merklich zusammen. Im Spiegel der bodentiefen Fenster erkannte sie die Gestalt ihres Mannes. Wer sonst betrat ihr Büro, ohne anzuklopfen und auf ihr Herein zu warten? Eliza konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Aber ihr war klar, dass es ein Fehler wäre, Greg zu ignorieren. Ein letztes Mal ließ sie den Blick über den unbeschwerten Sommer vor ihrem Fenster gleiten, schob dann ihren Bürostuhl mit der Fußspitze an und drehte sich, bis sie ihm ins Gesicht blicken konnte. In ihrem Brustkorb breitete sich ganz automatisch ein pochender Schmerz aus. Was durchaus Einbildung sein konnte. Wie lang lag ihre letzte Verletzung zurück? Waren es bereits zwei Wochen? Mehr? Weniger? Sie konnte es nicht mehr mit Sicherheit sagen. Die Hämatome waren inzwischen verblasst. Ihre geprellten Rippen heilten.

Greg Ellerton war ein gut aussehender Mann. Einer, dem Anzüge ganz hervorragend standen. Er war nur ein paar Zentimeter größer als Eliza, aber unter der Kleidung lag ein durchtrainierter Körper, der mit mehrmaligen Fitnessstudiobesuchen pro Woche und gesundem Essen gepflegt wurde. Sein blondes Haar war von einem angesagten Friseur modisch kurz geschnitten, besaß aber noch immer das richtige Maß an Konservativität, um bei ihren Kunden und Geschäftspartnern Vertrauen zu wecken. Seine Schuhe waren so blank gewienert, dass er sich in ihrem Leder wahrscheinlich spiegeln konnte, und seine blaugrünen Augen blickten scharf und intelligent. Nur der Hauch an Geringschätzung, der in seinem leicht nach oben gezogenen rechten Mundwinkel lag, und den mit Sicherheit außer ihr niemand sehen konnte, zeigte, was für ein Mensch er wirklich war.

Er durchquerte den Raum, und Eliza bemühte sich, ihre unverbindliche Miene aufrechtzuerhalten. Mit einer ausholenden Bewegung – die sie noch einmal dazu brachte zusammenzuzucken – ließ er eine Mappe mit Unterlagen auf ihren Schreibtisch fallen. »Unterschreib die«, verlangte er und warf einen Blick auf die Rolex an seinem Handgelenk. Sie hatte ihm die Uhr zu ihrem ersten Jahrestag geschenkt. »Wir haben ein Meeting um zwei. Ich hoffe, du bekommst es bis dahin gebacken, die Sache durchzusehen. Wäre zwar nicht verwunderlich …«, er machte eine künstliche Pause, die genau so lange anhielt, wie er brauchte, sich über sie zu beugen und die Fäuste vor ihr auf der Tischplatte abzustützen. Sie hasste sich selbst dafür, dass diese bedrohliche Geste sie die Schultern einziehen ließ. »… dass du dich mal wieder blöd anstellst und alles ruinierst.« Er wollte fortfahren, und Eliza wusste genau, wie es weitergehen würde. Wie er eine ihrer Unzulänglichkeiten nach der anderen aufzählen würde – und da gab es viele. Doch ein Klopfen an der Tür schien ihre Rettung zu sein.

»Herein«, rief sie, ehe Greg noch etwas sagen konnte. Erleichterung durchflutete sie, als der Firmenanwalt der Woodward Holding, Jeffrey Penn, den Raum betrat. »Jeff, schön dich zu sehen.«

»Störe ich?«, fragte er von der Tür aus und blickte mit wachsamen Augen zwischen Eliza und Gregs Rücken hin und her.

Ihr Mann öffnete bereits den Mund, um ihn abzuwimmeln, doch Eliza war schneller. »Aber nein«, sagte sie. »Komm doch rein.«

Greg bedachte sie mit einem wütenden Blick. Bis er sich aufgerichtet und zu Jeffrey umgedreht hatte, war der böse Gesichtsausdruck verschwunden und hatte dem offenen Lächeln Platz gemacht, mit dem er die Menschen täuschte – mit dem er auch sie vor Jahren getäuscht hatte. »Jeff.« Er nickte dem Anwalt zu. »Schön, Sie zu sehen.«

»Ich muss mit Ihrer Frau sprechen«, sagte Jeffrey zu ihm.

Gregs Lächeln blieb in seinem Gesicht, aber Eliza konnte klar erkennen, wie er die Zähne zusammenbiss. Wenn er auf Jeffrey losgehen würde, weil er endgültig die Kontrolle über seine Aggressionen verlor, wäre alles vorbei. Jeffrey würde sich niemals einen von Gregs Ausrastern gefallen lassen. Aber natürlich hatte er sich im Griff. Er ließ den Anwalt spüren, dass er ihn nicht mochte – mehr aber auch nicht. Der Funken Hoffnung, der für einen Augenblick in ihrem Herzen aufgeflammt war, erlosch. Begleitet von einem unfassbar schlechten Gewissen. Denn Jeffrey und seine Frau Bella waren neben ihrer Haushälterin Maggie die einzigen Freunde, die sie noch hatte. Ihre engsten Vertrauten. Auch wenn Eliza ihnen von der dunklen Seite ihres Lebens nichts erzählte, denn sie wollte nicht, dass ihr Freund und Mentor verletzt wurde. Schon gar nicht von Greg.

»Wir haben keine Geheimnisse voreinander«, ließ Greg ihn auf seine herablassende Art wissen, die er Fremden gegenüber nur selten zeigte.

»Das glaube ich Ihnen, Gregory.« Jeffrey war der Einzige, der ihren Mann immer mit seinem richtigen Vornamen ansprach, was Greg auf den Tod nicht ausstehen konnte. Es war die Art ihres alten Freundes, ihm zu zeigen, dass er ihn nicht respektierte. »Ich halte mich trotz allem an meine anwaltliche Schweigepflicht.«

»Wie Sie meinen.« Greg wandte sich zu Eliza um. »Wir sehen uns zum Lunch, Schatz.«

Eliza musste sich zusammenreißen, um nicht zusammenzuzucken oder den Kopf zur Seite zu drehen, als er sich vorbeugte und seine Lippen über ihre Wange strichen. Die Gänsehaut, die die Berührung über ihren ganzen Körper laufen ließ, war unvermeidlich. Greg richtete sich auf. »Jeff.« Er nickte dem älteren Mann zu, und im nächsten Moment fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Jeffrey nahm auf dem Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch Platz und legte im Gegensatz zu ihrem Mann die Mappe, die er mitgebracht hatte, mit einer sanften Bewegung auf die Tischplatte und schob sie in ihre Richtung. »Ich habe alles zusammengetragen, was du über Jake Foster wissen wolltest. Falls du noch immer interessiert bist, in die Brauerei zu investieren, kann ich dir nur dazu raten. Er hat gute Studienabschlüsse, hat immer hart gearbeitet. Seine Konten sind nie überzogen. Ganz im Gegensatz, er hat sich ein ordentliches Polster angespart. Keine Verhaftungen. Ein paar Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit und Falschparkens. Im vergangenen Jahr taucht er in Zusammenhang mit einem Polizeieinsatz auf Cape Cod auf. Er hat dabei geholfen, Murray Bralvers dingfest zu machen. Du erinnerst dich an diesen Mörder, der Niclas Hunters’ Freundin bedroht hatte?«

Eliza nickte. Dieser Fall war genau wie der Freispruch von Niclas’ Lebensgefährtin durch alle Medien gegangen.

Jake Foster. Eliza lehnte sich in ihrem Sessel zurück und knetete nachdenklich ihren kleinen Finger. Sie hatte nicht mehr an ihn gedacht, seit seiner Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Unbehaglich strich sie über ihre Rippen. Sie konnte den Schmerz, der an jenem Nachmittag in ihrem Körper gewütet hatte, noch immer spüren. Damals hatte sie ihre Assistentin gebeten, Jake zurückzurufen und ihm im Nachhinein mitzuteilen, dass sie unpässlich gewesen war. »Ich soll es deiner Meinung nach also machen?«, fragte sie Jeffrey. Ihm konnte sie in diesen Dingen vertrauen wie keinem anderen. Denn auch wenn Greg ihr immer wieder sagte, dass sie unfähig war, tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie ein Gespür fürs Geschäftliche hatte. Trotzdem traf sie ohne den Rat ihres Freundes keine Entscheidungen mehr.

»Da du sowieso aus deinem persönlichen Fonds investieren willst, musst du das mit niemandem absprechen. Außer mit mir.« Du musst Greg nicht um Erlaubnis bitten, schwang der unausgesprochene Satz zwischen den Zeilen mit. »Und selbst ich kann nur als Berater fungieren. Aber wenn du mich fragst, das Investment lohnt sich. Microbreweries schießen wie Pilze aus dem Boden. Sie haben inzwischen einen Marktanteil von über zwölf Prozent erobert. Einmal eröffnet schließt kaum eine Brauerei wieder. Du weißt, was das heißt.«

»Hmm.« Eliza nickte. »Wenn man bedenkt, dass in der Regel achtzig Prozent neu gegründete Unternehmen im Bereich der Gastronomie wieder dichtmachen, ist die Quote hier wirklich verschwindend gering.«

»Und«, ergänzte Jeffrey, »die Harbour Beach Brewerie ist keine dieser neu gegründeten Firmen, obwohl wir sie als Microbrewerie betrachten können. Es gibt sie seit über hundert Jahren, und sie hat immer guten Profit abgeworfen. Jake Foster macht auf mich nicht den Eindruck, dieses Erbe in Grund und Boden zu wirtschaften. Seine Ideen sind innovativ und zeitgemäß. Kombiniert mit den Traditionen des Unternehmens ist das eine Goldgrube.«

»Du weißt, was mir deine Einschätzung bedeutet.« Eliza schenkte ihm ein Lächeln. »Wahrscheinlich werde ich irgendwann tatsächlich nach Cape Cod fahren und mir das Projekt ansehen.« Greg würde ihr das nicht erlauben, aber es war schön, sich für einen Moment dieser Fantasie hinzugeben.

»Tu das«, stimmte Jeffrey ihr zu. »Häng ein paar Tage dran, und spann ein bisschen aus. Du hast dir etwas freie Zeit wirklich verdient.« Er erhob sich, zögerte aber einen Moment, ehe er sich zur Tür umwandte. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragte er und sah sie eindringlich an.

Er weiß es, dachte sie zum tausendsten Mal. Eliza senkte den Kopf ein wenig, um ihm nicht mehr in die Augen sehen zu müssen, und kämpfte gegen die Scham, die sie erfasste. Sie schüttelte leicht den Kopf. »Danke für die Informationen«, sagte sie leise.

»Okay. Dann geh ich jetzt. Du weißt, du kannst mich jederzeit anrufen.« Er strich sich durch seine grauen Haare. »Egal, um was es geht«, betonte er.

»Ich weiß. Danke, Jeff.«

Er nickte. »Ruf Bella an. Sie würde sich freuen, mal wieder mit dir zu plaudern. Und schau bald wieder zum Essen bei uns vorbei.« Einzahl. Eliza verstand den Wink. Komm vorbei, bring Greg nicht mit. Das Lächeln, das sie Jeffrey zum Abschied schenkte, schmeckte bitter. Wie hatte ihr Leben in einer so aussichtslosen Sackgasse enden können? Sie drehte den Bürostuhl wieder zum Fenster und starrte auf den Hafen hinaus. Dabei hatte alles so romantisch und vielversprechend angefangen.

Sommer 2014

Eine Hochzeitsfeier innerhalb der Familie war das, was Eliza als ihre persönliche Hölle betrachtete. Ihre Cousinen brachten sie an ihre Grenzen. Eliza wusste, dass die albernen, gackernden Mädchen, die sich um die Braut scharten, sie nicht ausstehen konnten und gleichzeitig beneideten. Mirabelle war eine wunderschöne Braut. Ein Wirbel aus Tüll, Glitzer und Tattoo-Spitze, der vor Liebe und Glück strahlte. Mit leuchtenden Augen hatte sie ihrem Aaron das Jawort gegeben. Mirabelles Schwestern schienen ihr den Tag allerdings nicht zu gönnen, zumindest sagten das ihre Blicke. Ihre Cousinen waren einfach nie zufrieden, solange sie nicht mehr hatten als alle anderen. So war das schon immer gewesen. Elizas Vater war von jeher der erfolgreichste Woodward gewesen und hatte Eliza damit zum Ziel der Spitzen und Gemeinheiten ihrer Verwandten gemacht. Eine Hochzeit bildete da keine Ausnahme. Peaches und Apple – die ihrer ungesunden Körperhaltung entsprechend eigentlich Banana heißen müsste – lächelten nur für die Fotos. Sobald sie sich unbeobachtet fühlten, taxierten die beiden die Umstehenden mit Blicken, tuschelten und lästerten hinter den Rücken der Gäste. Wenn es um Eliza ging, machten sie sich nicht mal die Mühe zu flüstern. Sie waren gezwungen, den Abend miteinander zu verbringen. Eliza gehörte zur Familie und war damit automatisch Brautjungfer. Zu gern hätte sie darauf verzichtet, aber ihre Mutter hatte darauf bestanden. Also hatte sie klein beigegeben. Wenigstens waren die Kleider, die Mirabelle für ihre Begleiterinnen ausgewählt hatte, ziemlich geschmackvoll. Die hellblauen, bodenlangen Roben im Empirestil waren aus zarter Seide geschneidert und umspielten den Körper wie eine sanfte Brise.

Die Trauzeremonie fand in einem wundervollen alten Herrenhaus, eine Stunde außerhalb Bostons, statt. Das Anwesen lag direkt am Meer, und vom Ballsaal führten große Fenstertüren auf eine Terrasse, die auf der Klippe über dem Ozean thronte. Eliza stand, umringt von den anderen Brautjungfern, denen sie heute einfach nicht zu entkommen schien, an einer dieser Türen und blickte sehnsüchtig hinaus. Selten in ihrem Leben hatte sie sich so sehr gewünscht, allein zu sein.

»Wie war das noch mal bei dir, Eliza?«, begann Peaches, die offenbar schon ein paar Gläser Champagner zu viel intus hatte. »Wann hast du vor zu heiraten? Ups!« Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Und hielt ihre Hand dabei so, dass jede der umstehenden Frauen von ihrem riesigen Verlobungsring geblendet werden musste. »Du hast ja gar niemanden, den du heiraten kannst. Und dabei bist du schon so richtig alt.«

Ja, sie wurde in diesem Sommer dreißig, dachte Eliza. Aber wenigstens war sie nicht nach einer Obstsorte benannt worden. Sie zwang sich zu einem Lächeln, biss sich auf die Zunge und verkniff sich einen Kommentar.

»Das muss schrecklich sein, so ein einsames Leben zu führen.« Gespielt mitfühlend strich Apple ihr über den Arm. »Aber da sieht man es mal wieder: Geld ist nicht alles. Die Liebe kann man sich eben nicht kaufen.« Sie drehte ihren Verlobungsring, der dem ihrer Schwester in nichts nachstand.

»Umso mehr freue ich mich für euch, liebe Cousinen«, versuchte Eliza, freundlich zu bleiben. Wie lange würde sie noch durchhalten müssen, bis sie sich davonstehlen konnte, ohne sich eine Predigt ihrer Mutter anhören zu müssen?

»Miss Woodward?«

Eliza drehte sich um, als jemand ihren Namen sagte. Vor ihr stand ein Mann im Smoking, den sie nicht kannte. Die Cousinen verstummten mit weit aufgerissenen Augen und Ohren, um ja kein Wort der bevorstehenden Unterhaltung zu verpassen.

Der Mann hielt ihr ein Glas Champagner entgegen. »Ich habe mich gefragt, ob ich Sie vielleicht auf einen Drink oder einen Tanz entführen dürfte.«

Sie griff nach dem Glas wie nach einem Rettungsanker. Er war attraktiv. Nicht viel größer als sie, aber seine blau-grünen Augen lächelten. Und um seinen Mund lag ein ironischer Zug. Eliza mochte ihn auf der Stelle. Doch selbst wenn er ausgesehen hätte wie Quasimodo, hätte sie seine Einladung angenommen. Allein, um von ihren grausamen Verwandten wegzukommen. »Das ist sehr nett von Ihnen. Vielen Dank.«

Er bot Eliza seinen Arm, und sie hakte sich unter. Als er in Richtung Tanzfläche steuern wollte, hielt sie ihn auf. »Hier entlang«, flüsterte sie und zog ihn durch eine offenstehende Fenstertür auf die Terrasse. Der Mann folgte ihr bereitwillig. Hier draußen waren sie völlig allein, obwohl das Haus mit über dreihundert Gästen fast aus allen Nähten platzte. Eliza begriff, warum das so war, als der raue Wind, der über den Atlantik fegte, begann an ihrem Kleid und ihrer Frisur zu zerren, kaum dass sie draußen war. Wahrscheinlich gab es nicht viele Frauen, die sich auf einer Hochzeitsfeier freiwillig so durcheinanderwirbeln ließen.

Ihr Begleiter schien den gleichen Gedanken zu haben. Er blickte sie von der Seite an. »Möchten Sie lieber wieder reingehen?«

»Nein.« Eliza schüttelte den Kopf. Ihre Mutter würde nicht begeistert sein, wenn sie mit einer völlig zerzausten Hochsteckfrisur ins Haus zurückkehrte. Aber im Moment genoss sie die Stille und das Alleinsein – na ja, sie war ja nicht ganz allein. Sie ging bis zur Terrassenbrüstung und blickte auf das Meer hinaus, das in wilden Wellen gegen die Klippen schlug.

Der Mann trat neben sie. Einen Moment schwieg er. Dann spürte sie abermals seinen Blick auf ihr ruhen. »Ich kam nicht umhin, das Gespräch zwischen Ihnen und Ihren Cousinen mitzuhören«, sagte er leise. »Was automatisch dazu geführt hat, dass ich das Bedürfnis verspürt habe, den Ritter zu spielen und Sie aus den Fängen dieser Hexen zu retten.«

Eliza drehte sich zu ihm um und schenkte ihm ein scheues Lächeln. Sie wäre gern offener, ungezwungener gewesen. Aber sie hatte bisher nicht viele Erfahrungen mit Männern gemacht. Und die, die sie hatte machen müssen, hatten allesamt nicht gut geendet. »Sie kamen genau im richtigen Moment. Noch einmal vielen Dank.« Sie hob ihr Glas, stieß mit ihm an und nippte an ihrem Champagner.

Der ironische Blick, mit dem der Mann ihre Cousinen bedacht hatte, war verschwunden. Zurückgeblieben waren nur Freundlichkeit und Offenheit. »Mein Name ist Gregory Ellerton. Meine Freunde nennen mich Greg.« Er reichte ihr die Hand, und Eliza ergriff sie. Warm und fest, stellte sie fest und war überrascht, dass auf einmal ein Schmetterling in ihrem Bauch vorsichtig mit den Flügeln schlug. »Ich muss gestehen, dass ich mich nicht ohne Grund an Sie herangeschlichen habe. Sie sind die schönste Frau auf dieser Hochzeit, abgesehen von der Braut selbstverständlich«, ergänzte er mit einem schiefen Lächeln. »Ich wollte Sie unbedingt um einen Tanz bitten.«

Eliza trank einen großen Schluck Champagner, während er ihre Hand noch immer festhielt. Die Kohlensäurebläschen prickelten an ihrem Gaumen. »Das wäre schön. Ich würde wirklich gern mit Ihnen tanzen, Greg.« Sie wandte sich zum Haus um, doch Greg, der noch immer ihre Hand hielt, blieb stehen. Mit einem fragenden Blick drehte sie sich zu ihm um.

»Da wäre noch eine Sache«, sagte er.

Die Schmetterlinge in ihrem Bauch stellten das Flattern ein. Hatte sie sich gerade lächerlich gemacht, weil sie dachte, er wäre tatsächlich an ihr interessiert? Dabei hatte ihn wahrscheinlich ihre Mutter gebeten, sie zum Tanzen aufzufordern.

»Ich möchte ehrlich sein, Miss Woodward«, begann er.

»Eliza«, verbesserte sie ihn ganz automatisch.

»Eliza.« Er lächelte sie unter halb gesenkten Lidern an. Sein Daumen glitt in einer zarten Geste über ihren Handrücken, und die Schmetterlinge kehrten zurück. »Ich arbeite für die Woodward Holding.«

»Oh.« Sie wusste nicht, was sie von diesem Geständnis halten sollte. Ihre beiden Exfreunde hatten nicht für ihren Vater gearbeitet. Aber sie hatten sich insgeheim trotzdem erhofft, an ihr Vermögen heranzukommen. Das Lächeln, zu dem sie sich zwang, fühlte sich wacklig an. »So ein Zufall. Ich arbeite auch für diese Firma. Wie finden Sie den Chef?«

Greg lachte und ließ ihre Hand los, was sich wie ein kleiner Verlust anfühlte. »Er soll ein strenger Hund sein. Fordernd. Aber ein Mann, von dem man viel lernen kann.« Er fuhr sich durch die Haare und zerzauste sie damit noch mehr, als es der Wind getan hatte. »Ich bin im Moment Trainee und darf für ein paar Wochen in den Vorstand hineinschnuppern. Er hat mich zu dieser Hochzeit eingeladen, und ich habe zugesagt, weil ich …« Seine Wangen färbten sich eine Schattierung dunkler. »Ich habe Sie gesehen, Eliza. In der Firma. Sie sind ein paarmal an meinem Büro vorbeigelaufen. Zusammen mit Mr. Penn. Ich wusste sofort, dass ich Sie gerne kennenlernen und auf einen Kaffee einladen möchte.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. Sein Geständnis schien ihm ein wenig unangenehm zu sein. »Als ich erfahren habe, wer Sie sind, sah ich die gemeinsame Tasse Kaffee schon am Horizont verschwinden. Aber als Ihr Vater mich und ein paar seiner Mitarbeiter zur Hochzeit seiner Nichte eingeladen hat, habe ich die Chance bei den Hörnern gepackt. Ich musste Sie einfach ansprechen.«

Seine Offenheit war überwältigend. Und einschüchternd. Eliza schluckte. So hatte noch nie ein Mann mit ihr gesprochen. Das Lächeln, das sich langsam, aber unaufhaltsam auf ihrem Gesicht ausbreitete, fühlte sich schon wesentlich echter an. »Wie wäre es mit dem Tanz, um den Sie mich gebeten haben?« Sie war überrascht von sich selbst. Flirtete sie gerade mit einem Fremden? Einem Mann, der für ihren Vater arbeitete? Anstatt sich diese Fragen zu beantworten, hakte sie sich bei Greg unter und begann, in Richtung Haus zurückzugehen. »Und wie ist das mit dem Kaffee?«, fragte sie ihn, nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren. »Wäre ein Stück Kuchen in der Einladung inbegriffen?«

Greg überlegte keine Sekunde, ehe er antwortete. »Was ist Ihr Lieblingskuchen, Eliza?«, fragte er.

»Pecan Pie.«

»Stellen Sie sich vor: Ich hatte gerade vor, Sie auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Pecan Pie einzuladen.« Er zwinkerte ihr zu.

Eliza konnte nicht anders. Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte. Wer hätte gedacht, dass sich die Hochzeit ihrer Cousine zu einem so angenehmen Abend entwickeln würde?

Sie zog sich kurz auf die Toilette zurück, um wenigstens etwas Ordnung in ihre vom Wind zerzausten Haare zu bringen. Die aufgeregte Röte, die sich über ihre Wangen zog und das Glänzen in ihren Augen hatten mit Sicherheit nichts mit der Witterung auf der Terrasse zu tun. Greg wartete im Flur auf sie, als sie aus dem Waschraum kam. Er nahm wie selbstverständlich ihre Hand und führte sie zur Tanzfläche. Sie wiegten sich zur Musik. Sie redeten. Sie lachten. Und Eliza trank viel zu viel Champagner. Greg sah gut aus. Er war charmant und bemühte sich um sie. Sie wusste nicht, wann ihr zum letzten Mal so viel Aufmerksamkeit geschenkt worden war. Diese Gefühle machten sie fast noch betrunkener als der Alkohol – und ließen sie auf Wolken schweben.

Als der Abend endete und Eliza in den Wagen stieg, der sie nach Hause brachte, versuchte er nicht, sie an sich zu ziehen oder zu küssen. Er sah sie nicht als alkoholbedingtes leichtes Ziel – Greg war ein perfekter Gentleman. Er griff nach ihrer Hand und ließ seine Lippen ganz leicht über ihre Fingerknöchel gleiten. »Kommen Sie gut nach Hause, Eliza«, sagte er, als er sich aufrichtete und ihr wieder in die Augen sah. »Ich würde mich wirklich freuen, wenn ich Sie auf einen Kaffee einladen dürfte.«

Elizas Herz machte einen Satz. Sie reichte ihm ihre Karte. »Auf der Rückseite steht meine private Nummer. Rufen Sie mich an.«

Greg Ellerton spielte keine Spielchen. Er wartete keine taktischen drei Tage, wie das üblich zu sein schien. Nein, er zeigte aufrichtiges Interesse an ihr. Dessen war sich Eliza sicher, als er sich am nächsten Morgen meldete.