DAS BUCH
Korsika 1769: Unter dramatischen Umständen erblickt ein Junge das Licht der Welt, der schon bald das Schicksal Europas erschüttern wird: Napoleon Bonaparte. Im gleichen Jahr wird im fernen Dublin Arthur Wellesley geboren. Die Wege dieser beiden außergewöhnlichen Männer werden sich immer wieder kreuzen. Mit eisernem Willen arbeitet Napoleon sich empor. Als junger Offizier führt er einen blutigen Vorstoß gegen die britischen Armeen, die die Revolution niederschlagen wollen. Im Kampf der beiden Imperien treten Napoleon und Wellesley zum ersten Mal gegeneinander an …
Band 1 der großen Napoleon-Saga
DER AUTOR
Simon Scarrow wurde in Nigeria geboren und wuchs in England auf. Nach seinem Studium arbeitete er viele Jahre als Dozent für Geschichte an der Universität von Norfolk, bevor er mit dem Schreiben begann. Mittlerweile zählt er zu den wichtigsten Autoren historischer Romane. Mit seiner großen Rom-Serie und der vierbändigen Napoleon-Saga feiert Scarrow internationale Bestsellererfolge.
Simon Scarrow
SCHLACHT
UND BLUT
DIE NAPOLEON SAGA
1769–1795
Roman
Aus dem Englischen von
Fred Kinzel
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Namen, Daten und Maßeinheiten
Viele Leserinnen und Leser werden wissen, dass der Duke of Wellington zuvor Arthur Wellesley hieß. Noch früher lautete dessen Familienname Wesley. Dieser wurde in das häufigere Wellesley abgeändert, nachdem Arthurs älterer Bruder den Familientitel geerbt hatte. Arthur begann die neue Version erst nach seiner Ankunft in Indien zu benutzen, ein Ereignis, das im nächsten Buch der Serie behandelt wird.
Um die Leserschaft nicht zu verwirren, wird für beide Seiten der Geschichte das englische Maßsystem benutzt.
Was Daten angeht, habe ich den Revolutionskalender ignoriert, da die meisten Franzosen nur ein Lippenbekenntnis zu ihm ablegten und weiter den herkömmlichen Kalender gebrauchten.
Ich fürchte, Euer Mann verfügt über eine etwas schwächliche Konstitution, Mylady.« Der Arzt zog seinen Mantel an, während er seinen Befund kundtat. »Und insbesondere sein Herz ist anfällig für diese allgemeine Schwäche. Er wird für den Rest seines Lebens so viel Ruhe wie nur möglich benötigen und sollte jede Anstrengung meiden. Ist das klar?«
Anne nickte und drehte sich zu ihrem Mann um, der an die Kissen gelehnt im Bett saß. Sie nahm seine schlaffe Hand und drückte sie zärtlich. »Also, keine Konzerte mehr, mein Lieber. Ihr habt gehört, was der Doktor sagt. Ihr müsst ruhen.«
»Das müsst Ihr in der Tat«, wiederholte Dr. Henderson mit Nachdruck. »Euer Zustand macht es erforderlich, Sir.«
Garrett Wesley lächelte matt. »Nun denn. Ich bin überstimmt. Ich füge mich.«
»Gut.« Anne lächelte und stand auf. »Ich begleite den Doktor hinaus.«
»Wartet.« Garrett hob eine Hand. »Doktor?«
»Was ist, Sir?«
»Ihr habt heute Morgen Krankenbesuche unternommen. Wie sieht es in den Straßen aus?«
Der Arzt hatte bereits nach Stock und Tasche gegriffen, und nun stieß er den Rohrstock heftig auf die Bodendielen. »Schrecklich, Sir. Leichen überall und Soldaten … Sie halten alle Leute ungeachtet ihres Standes an und verlangen zu wissen, in welcher Angelegenheit sie unterwegs sind. Es ist ein untragbarer Zustand.«
»Allerdings.« Garrett runzelte die Stirn. »Leichen, sagt Ihr? Gibt es Berichte, wie viele?«
»Es müssen Hunderte von Toten sein, Sir. Tausende Verwundete. Von der Zerstörung, welche dieses verdammte Gesindel angerichtet hat, gar nicht zu reden. Dutzende katholischer Kirchen und Häuser wurden niedergebrannt oder unrettbar beschädigt. Sie waren sogar so dreist, das Newgate- und das Fleet-Gefängnis anzugreifen und die Insassen freizulassen. Selbst die Bank von England wurde angegriffen. Wäre nicht John Wilkes mit seiner Miliz gewesen, die Bank wäre niedergebrannt worden. Ich sage Euch, mein Herr, es war eine knappe Angelegenheit. Wir sind der Anarchie nur um Haaresbreite entgangen.«
Anne starrte ihn fassungslos an. »So schlimm kann es doch unmöglich gewesen sein?«
Der Arzt schürzte die Lippen. »Ich bin mir meiner Sache sicher. Ohne die Armee wären Recht und Ordnung ebenfalls in Rauch aufgegangen. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, Mylady. Ich habe heute Morgen viel zu tun.« Er drehte sich zu Garrett um und verbeugte sich formell. »Ich wünsche einen guten Tag, Mylord.«
»Danke Euch, Doktor.«
»Ich werde später jemanden mit der Rechnung schicken.«
Garrett lächelte. »Deren Erhalt eine rasche Genesung sicherstellen wird.«
Sie lachten beide, ehe Garrett vor Schmerzen das Gesicht verzog und sich mit geballten Fäusten vorbeugte, da ihn ein Hustenanfall schüttelte. Der Anfall ging rasch vorüber, und Garrett sank mit schweißnasser Stirn in die Kissen zurück. Der Arzt drohte ihm scherzhaft mit dem Zeigefinger, dann wandte er sich zum Gehen. In der Tür wäre er fast mit Arthur und Gerald zusammengestoßen, die halb hinter dem Türstock verborgen die Konsultation heimlich verfolgt hatten.
Sie lächelten schuldbewusst und wollten sich aus dem Staub machen, aber Anne rief sie zu sich. »Nachdem ihr vermutlich alles mit angehört habt, könnt ihr ebenso gut hereinkommen.«
Die beiden schlurften ins Zimmer und standen am Fußende des Betts. Ihr Vater lächelte sie an. »Alles in Ordnung, Jungs. Der Arzt sagt, ich werde nicht sterben.«
Anne sog scharf die Luft ein und sah ihren Mann böse an. »Natürlich werdet Ihr nicht sterben. Nicht, wenn Ihr vernünftig seid und tut, was der Arzt sagt. Was Ihr braucht, ist Ruhe, dann werdet Ihr bald wieder auf den Beinen sein.«
»Das hoffe ich.«
»Ich auch«, fügte Arthur leise an. Er hatte den Moment der Kameradschaft mit seinem Vater nicht vergessen, bevor dieser auf dem Balkon zusammengebrochen war. Er blickte auf und lächelte. »Schließlich müssen wir Bucklebys Stück noch zusammen lernen.«
Garrett nickte. »Ich freue mich darauf.«
Anne drohte ihrem Mann mit dem Zeigefinger. »Alles zu seiner Zeit. Ich verbiete Euch, Eure Geige auch nur anzurühren, bis der Arzt sagt, dass es Euch gut genug geht. Habt Ihr verstanden, werter Gatte?«
»Ja, meine Liebe. Ihr habt mein Wort. Arthur, du musst vorläufig ohne mich üben. Ich schließe mich an, sobald ich kann.«
»Ja, Vater.« Arthur senkte den Blick. »Aber Ihr müsst dieses Versprechen halten.«
»Ach, Herrgott nochmal!« Anne stampfte mit dem Fuß auf. »Sei nicht so selbstsüchtig, Kind. Dein armer Vater ist krank, und du kannst an nichts anderes denken als dein Gefiedel …«
»Anne …«, unterbrach Garrett seine Frau. »Anne, bitte, Liebste. Das reicht.«
»Nein, es reicht nicht!«, sagte sie verärgert. »Er läuft seit Monaten mit Leichenbittermiene herum und jammert, wir würden ihm nicht genügend Aufmerksamkeit schenken. Und dann dieser Brief von Major Blyth wegen seines schlechten Benehmens in der Schule. Es ist einfach zu viel.«
»Ja.« Garrett nickte. »Es ist zu viel. Ihr habt recht. Jetzt beruhigt Euch.« Er richtete sich langsam und unter Schmerzen auf. »Ich bin hungrig. Ich habe seit gestern Abend nichts gegessen. Ich könnte ein wenig Suppe vertragen. Könntet Ihr und Gerald euch bitte darum kümmern?«
»Was? Warum sollte …«
»Bitte, meine Liebe. Ich bin am Verhungern. Und ich würde mich gern ein wenig mit Arthur unterhalten. Allein.«
Anne sah ihn an und unterdrückte ihre Verärgerung. Dann nickte sie, nahm Gerald an der Hand und ging hinaus. Vater und Sohn lauschten den Schritten der beiden auf dem Weg nach unten zur Küche.
»So ist es besser.« Garrett lächelte und klopfte auf den Sessel am Bett, den Anne benutzt hatte. »Setz dich zu mir, Arthur.«
Als sein Sohn um das Bett herumgekommen war und Platz genommen hatte, änderte Garrett ein wenig seine Stellung, damit er Arthur leichter sehen konnte. Die beiden lächelten einander an, und ein verlegenes Schweigen machte sich breit. Schließlich holte Garrett Luft und begann.
»Deine Mutter und ich haben über dich gesprochen. Im Lichte des gestrigen Briefes.«
»Das habe ich mir beinahe gedacht.«
»Arthur, bitte spare dir diesen Tonfall. Ich mache mir Sorgen um dich. Sorgen, was aus dir werden soll. Offen gestanden deutet nichts darauf hin, dass du aus dem Besuch dieser Schule irgendeinen Nutzen ziehst. Dein Verständnis der klassischen Sprachen ist bestenfalls oberflächlich.«
»Es tut mir leid, dass ich Euch enttäusche, Vater.« Arthur runzelte die Stirn. »Ich habe einfach kein Talent für Griechisch und Latein. Es ist nicht meine Schuld.«
»Nun, du könntest dich mehr anstrengen.«
»Wozu? Damit ich am Ende halb so gut werde wie Richard? Und immer noch in seinem Schatten stehe? Es hat keinen Sinn, Vater.«
»Lernen hat immer einen Sinn. Wenn du so weitermachst, wirst du nur zum Soldaten taugen. Und ich habe dich nicht großgezogen, damit du einmal zu dieser Schicht von Tunichtguten und Dandys gehörst, die mit ihren grellbunten Uniformen die Ränder der Gesellschaft schmücken. Du kannst mehr, Arthur.«
»Tatsächlich?«, flüsterte er in bitterem Ton.
»Genug!«, brauste sein Vater auf, doch bevor er weitersprechen konnte, wurde er von einem neuerlichen Hustenanfall gepackt. Arthur beobachtete ihn besorgt und hielt die Hand seines Vaters, bis der Anfall vorbei war.
»Es tut mir leid, Vater. Ich wollte Euch nicht aufregen. Es tut mir so leid.«
Garrett schüttelte den Kopf. »Nicht deine Schuld … Zufällig bin ich nämlich stolz auf dich. Du hast Talent für die Violine, also halte es hoch. Eines Tages wirst du besser spielen, als ich es je konnte.«
»Nein.«
»Doch, verlass dich darauf.« Garrett streckte die Hand aus und gab seinem Sohn einen Klaps auf die Brust. »Hab Vertrauen in dich. Du hast das Zeug zum Erfolg, ich weiß es.«
Arthur legte den Kopf schief und antwortete nicht.
Garrett betrachtete die Miene seines Sohns und versuchte, die Gedanken hinter diesem schmalen Gesicht zu lesen, das durch die lange Nase noch schmaler erschien. Der Junge war von Selbstzweifeln zerfressen, so viel war offensichtlich, und Garrett wünschte, er könnte mehr tun, als ihm gut zuzureden. Aber er hatte nicht mehr zu bieten als die Liebe und Zuneigung eines Vaters. Das reichte nicht annähernd aus als Stütze für einen Jungen in Arthurs Alter, der viel mehr Gewicht auf die Anerkennung seiner Geschwister und Altersgenossen legte, mit denen er sich messen konnte, um seinen Wert als Mensch zu bestimmen. Wie traurig, dachte Garrett, dass man sich immer nach dem Wohlwollen anderer sehnt und die viel tiefere Zuneigung der Eltern als selbstverständlich erachtet. Er drückte die Hand seines Sohns.
»Ich war dir kein guter Vater, nicht wahr? In diesen letzten Jahren. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass ich dich so vernachlässige.«
»Pst, Vater. Ihr dürft Euch nicht aufregen.«
»Arthur, ich wünschte, ich könnte es wiedergutmachen. Solange noch Zeit ist.«
»Was wollt Ihr damit sagen?« Arthur spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. »Der Doktor hat gesagt, Ihr braucht nur Ruhe.«
»Das hat er gesagt, und vielleicht hatte er recht. Dennoch, ich fühle mich schon seit Monaten nicht wohl. Ich werde immer schwächer. Inzwischen befürchte ich, dass Ruhe allein nicht genügt, um mich wieder gesunden zu lassen. Und ich mache mir Sorgen um deine Zukunft und die Zukunft der restlichen Familie.«
»Ihr dürft Euch keine Sorgen machen«, erwiderte Arthur beunruhigt.
Garrett sank in die Kissen zurück und schloss die Augen. »Ich spüre, dass sich die Dinge verändern, und nicht zum Besseren. Die Nachrichten vom Krieg in den amerikanischen Kolonien werden mit jedem Monat schlechter. Wir werden diesen Krieg verlieren, Arthur. Und wenn die Rebellen dem König trotzen können, welches Beispiel setzt das für all die Unzufriedenen überall auf der Welt?« Er hustete kurz und räusperte sich. »Selbst hier in London ist die bestehende Ordnung in Gefahr. Du hast den Arzt gehört: Hunderte von Toten, öffentliche Gebäude geplündert und niedergebrannt. Soldaten in den Straßen. Ich sage dir, Arthur, ich habe nie dergleichen gesehen, und ich habe Angst. Angst um uns alle. Wenn die Stunde kommt, in der ich am dringendsten gebraucht werde, werde ich vielleicht nicht da sein. Oder zumindest nicht in der Lage, euch zu beschützen.«
Arthur hörte nur mit halbem Ohr zu, er sah wie gebannt auf den von Blut rot gefärbten Speichelfaden, der seit dem letzten Hustenanfall aus dem Mundwinkel seines Vaters lief. Eine Erinnerung blitzte in seinem Kopf auf, an den frühen Morgen, als er kurz nach Tagesanbruch in der Tür ihres Hauses gestanden hatte und zur Straße hinaussah, wo einer der Diener das klebrige Blut der Frau von den Stufen schrubbte, die am Abend zuvor dort niedergemäht worden war. Ihre Leiche hatte man bereits entfernt, ein Karren der Armee hatte sie noch vor Sonnenaufgang eingesammelt. Arthur hatte eine seltsame Stimmung in der Morgenluft wahrgenommen. Die Straße war beinahe menschenleer, und Angst und gespannte Erwartung traten deutlich zutage in den wenigen Gesichtern, die aus Türen und Fenstern spähten, und in den Mienen der Handvoll Passanten, die vorbeikamen und den Blicken der Soldaten auswichen, die an allen wichtigen Kreuzungen der Hauptstadt postiert waren. Sein Vater verspürte aus gutem Grund Angst. Recht und Ordnung waren zerbrechliche Dinge. Viel zerbrechlicher, als sich Arthur hätte träumen lassen. Ein bloßer Damastschleier über einer weitaus hässlicheren und gewalttätigeren Welt, die ewig mit blutigem Chaos drohte. Wenn es nicht genügend verantwortungsbewusste Männer gab, die es verhinderten, würde alles zusammenbrechen. Die Nation, die man ihn zu verehren gelehrt hatte, würde sich nicht halten können. Was dann? Arthur wagte nicht, daran zu denken.
Seine Gedanken gingen zu seinem Vater zurück, der reglos im Bett lag. Er hielt die Augen nach wie vor geschlossen und murmelte jetzt zunehmend unzusammenhängend vor sich hin, während er in einen unruhigen Schlaf glitt. Schließlich hörte auch das Murmeln auf, seine Finger erschlafften in Arthurs Hand, und sein Atem ging in einem leisen, unangestrengten Rhythmus. Arthur zog seine Hand fort, und als er sich ganz sicher war, dass sein Vater schlief, strich er ihm sanft über die Stirn. In seinem Herzen lag eine merkwürdige Zärtlichkeit bei diesem Rollentausch, da das Kind den Vater tröstete. Der friedliche Gesichtsausdruck ließ Garrett viel jünger und unschuldiger wirken, als Arthur ihn je gesehen hatte.
Leise Schritte auf der Treppe kündigten die Rückkehr seiner Mutter an. Sie betrat das Zimmer mit einer dampfenden Suppenschale auf einem Tablett und erschrak heftig beim Anblick ihres reglos auf dem Bett liegenden Gatten.
»Garrett!« Das Tablett neigte sich, und die Schale begann zum Rand zu rutschen.
»Mutter!« Arthur zeigte auf das Tablett. »Passt auf.«
Sie blickte nach unten und brachte das Tablett gerade noch rechtzeitig wieder ins Gleichgewicht. Dann eilte sie ins Zimmer, stellte es auf einer Kommode ab und trat ans Bett.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich wollte nicht schreien. Ich dachte nur … Als ich ihn hier schlafen sah, dachte ich für einen Augenblick, dass er …«
»Er schläft nur, Mutter. Weiter nichts.«
»Ja.« Sie lächelte ihren Sohn an, dann blickte sie stirnrunzelnd zu Garrett. »Der Arme. Es geht ihm nicht gut.«
»Es wird ihm bald wieder besser gehen, Mutter.«
Sie tätschelte Arthurs Wange. »Natürlich.«
Frankreich, 1786
Die Kanonenerprobung in der Waffenschmiede von Nantes stellte sich als interessante Ablenkung für Napoleon heraus. Fast alle anderen Länder Europas verfügten über Geschütze mit größerem Kaliber als Frankreich. Einer der Generäle im Kriegsministerium hatte deshalb entschieden, die Armee müsse die Möglichkeit einer Neuausrüstung der Artillerie untersuchen, um dem allgemeinen Standard zu entsprechen. Natürlich war ein solches Unterfangen kostspielig, und eine Reihe von Gießereien war gebeten worden, Kanonen zu Probezwecken zur Verfügung zu stellen. Fast zwei Wochen lang begutachteten Napoleon und Hunderte andere Offiziere verschiedener Dienstgrade aus der ganzen Armee die bereitgestellten Waffen und wurden in ihre Funktionsweise eingeführt.
Die versammelten Geschütze zeigten recht gute Leistungen, vor allem eine Kanone, die von einem Pferdegespann für schnellen Einsatz auf dem Schlachtfeld gezogen werden konnte. Napoleon war von den Möglichkeiten einer solchen Waffe sofort fasziniert. Doch auch wenn die Artillerieoffiziere von den angebotenen Waffen beeindruckt waren, so waren es die Kavallerie- und Infanterieoffiziere nicht. Jedes Programm, um bestehende Waffen zu ersetzen, würde zwangsläufig zu weniger Ausgaben in den anderen Zweigen der Armee führen. Die Erprobung wurde beendet, ohne dass es zu einer Einigung kam, und alle kehrten zu ihren Einheiten zurück.
Napoleon gewöhnte sich rasch an das Leben in der Garnisonsstadt Valence. Die täglichen Pflichten wurden immer leichter, je tüchtiger er im Umgang mit Männern und Ausrüstung wurde. Wenn er dienstfrei hatte, bedeutete das Fehlen eines privaten Einkommens ein beständiges Ärgernis für ihn. Er konnte es sich schlicht nicht leisten, jeden Abend mit Alexander und den übrigen Offizieren zu trinken. Das wurde zu einem gewissen Streitthema zwischen ihnen, besonders nach der Beförderung eines Offiziers in einem anderen Bataillon. Der fragliche Mann hatte kein erkennbares militärisches Talent, was er jedoch mit einem beispiellosen Stammbaum wettmachte, sodass er bereits in einem unanständig jugendlichen Alter zum Oberstleutnant aufstieg.
»So ist es eben«, sagte Alexander achselzuckend, als sie in der Offiziersmesse saßen. »Es hat keinen Sinn, deswegen wütend und verbittert zu werden.«
»Warum nicht?«, brauste Napoleon auf. »Es ist absurd. Und es ist falsch.«
»Falsch?«
»Ja.« Napoleon beugte sich vor. »Und das hat nichts mit Eifersucht zu tun, bevor du damit ankommst. Es geht einfach um Gerechtigkeit und, wichtiger noch, darum, was gut für die Armee ist.«
»Tatsächlich? Würde Leutnant Buonaparte freundlicherweise erklären, warum sein Urteil dem aller Generäle und Minister Seiner Majestät überlegen ist?«
Einige Offiziere in der Messe drehten sich zu ihnen um, und Napoleon war nahe dran, die Diskussion an diesem Punkt zu beenden, aber dann ritt ihn irgendein Teufel fortzufahren. »Denk an meine Worte, Alexander. Das darf nicht so weitergehen. Und nicht nur in der Armee. Eines Tages wird der Adel auf alle seine Vorrechte verzichten und anderen Franzosen die Möglichkeit geben müssen, sich zu beweisen.«
»Und wenn er es nicht tut?«
»Dann wird ihm die Macht entrissen werden.«
»Wirklich?« Alexander lachte. »Von wem? Von den Kleinbauern? Den Fabrikbesitzern? Oder wird vielleicht alles auf einen Korsen mit einem ganz besonderen Reformeifer hinauslaufen?«
Napoleon zwang sich, nicht auf den Spott zu reagieren und zu seiner ursprünglichen Aussage zurückzukehren. »Alles, was ich sage, ist, dass die gegenwärtige Lage untragbar ist. Es darf und wird nicht so weitergehen. Du hast genauso Gelegenheit, die Nachrichten aus Paris zu lesen wie ich. Den Leuten reicht es. Für uns kommt es nur darauf an, auf welcher Seite wir stehen wollen.«
»Auf welcher Seite?«, feixte Alexander. »Du sagst das, als würde das alles zu einem Krieg führen.«
»Es könnte sein.«
»Und auf welcher Seite wirst du in diesem Fall stehen, Napoleon?«
Es war eine gute Frage, und nun, da sie gestellt war, wusste Napoleon keine Antwort. Sicher, seine Sympathie galt den Leuten, die auf eine Modernisierung Frankreichs abzielten; durch sie konnte der Traum von einem unabhängigen Korsika eines Tages wahr werden. Auf der anderen Seite hatte er dem König von Frankreich einen Eid geschworen, und er sah, dass jede fundamentale Veränderung der Art und Weise, wie Frankreich regiert wurde, zu Chaos führen konnte – oder schlimmer noch, zu dem Bürgerkrieg, auf den Alexander angespielt hatte.
»Nun, Napoleon?«
Er rutschte auf seinem Stuhl umher. »Ich weiß es nicht. Ich müsste abwarten und sehen, was auf dem Spiel steht, bevor ich mich für eine Seite entscheide.«
Alexander lachte wieder, und diesmal fielen einige der anderen Offiziere mit ein.
»Der Heißsporn des Regiments hat schlapp gemacht«, rief jemand, und das Gelächter verstärkte sich, während andere sogar johlten. Napoleon lief vor Zorn rot an. Vor einem Jahr wäre er noch mit den Fäusten auf sie losgegangen, aber ein solches Verhalten wurde in der Gesellschaft von Erwachsenen nicht toleriert. Abgesehen davon, waren die Risiken einer solchen Auseinandersetzung inzwischen wesentlich höher. Wenn die Kränkung groß genug war, die er verursachte, bestand die Möglichkeit, dass ihn einer der anderen Offiziere zum Duell forderte. Napoleon war realistisch genug, um zu wissen, dass seine Chancen bei einem Zweikampf mit Schwert oder Pistole nicht gut standen. Deshalb schluckte er seinen Zorn, stand auf und streckte Alexander die Hand entgegen.
»Ich muss gehen. Ich habe Arbeit zu erledigen. Ich wünsche dir eine gute Nacht, Alexander.«
Sein Freund starrte ihn einen Moment lang an, ehe er ebenfalls aufstand und ihm die Hand schüttelte. »Gute Nacht, Buonaparte.«
Die anderen Offiziere verstummten, als er durch die Messe zur Tür schritt. Napoleon spürte ihre Blicke wie Nadelstiche und musste dem Drang widerstehen, noch schneller zu gehen. Dann war er aus dem Raum, stieg die Treppe zur Eingangshalle hinunter und trat schließlich in die kühle Abendluft hinaus. Hinter ihm schwollen die Stimmen in der Messe langsam zu ihrer früheren Lautstärke an, während er zu seiner Unterkunft bei Mademoiselle Bou ging, die das Haus geerbt hatte.
Einen großen Teil seiner Freizeit verbrachte Napoleon mit Lesen. Geschichtswerke waren seine spezielle Leidenschaft, aber zuletzt hatte er angefangen, sich für politische Theorie und Philosophie zu interessieren. Rousseaus Werke tauchten in seinem Regal neben Plinius, Tacitus und Herodot auf. Es gab sogar Raum für einige Bücher über englische Geschichte, und Napoleon war fasziniert von der Art und Weise, wie das englische Parlament die Vorherrschaft über die Krone errungen hatte. Wenn so etwas in einem geistig rückständigen Land wie England möglich war, wieso dann nicht in Frankreich? Wenn Napoleon nicht las, verfasste er Essays über Artillerietaktik oder scharfsinnige Erwiderungen auf Plato, und nachdem er eine Ausgabe von Boswells Geschichte von Korsika entdeckt hatte, begann er, eine eigene Geschichte der Insel zu planen.
Er schrieb schnell in seiner krakeligen Handschrift, und er schrieb beim Schein der einzelnen Kerze, die er sich leisten konnte, bis tief in die Nacht hinein. Gelegentlich wurde er vom Lärmen der Trinker im Café Corde nebenan gestört, und es gab ihm einen Stich vor Wut und Verzweiflung, sooft er die Stimme eines anderen jungen Offiziers aus seinem Regiment erkannte.
Der Sitzungssaal im Rathaus von Trim hallte von den angeregten Gesprächen der Ratsmitglieder wider. Arthur blieb an der Tür stehen und versuchte, die Stimmung einzuschätzen. Sein Blick überflog die Männer, die vor dem langen Tisch an der Stirnseite des Raums standen. Henry Grattans eindrucksvoll gebieterische Gestalt stand in der Mitte, und er hörte aufmerksam den lokalen Würdenträgern zu, die den berühmten Mann umringten, um sich in seinem Glorienschein zu sonnen. Neben Grattan stand O’Farrell; er winkte Arthur, als er ihn entdeckte. Arthur lächelte zurück, auch wenn er innerlich kochte.
Der Wahlkampf in Trim lief seit fast einem Monat, und es war klar, dass O’Farrell einen besseren Start als der junge Offizier aus Dublin erwischt hatte. Wenn Arthur durch den Wahlbezirk reiste und um die Gunst der Wahlberechtigten warb, traf er meist im Kielwasser von O’Farrell ein und musste hart um Unterstützung kämpfen. Einmal, als Arthur in einem der Gasthäuser von Trim ein Fest mit reichlich Ale als Begleitung zu einer Rede an die Wähler organisiert hatte, musste er feststellen, dass sein Kontrahent ein noch ausschweifenderes Gelage in einer benachbarten Schenke bot, nur ohne langatmigen Aufruf, für ihn zu stimmen.
Nun spitzte sich alles bei der Ratssitzung zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde von Trim an Henry Grattan zu. O’Farrell hatte sich an die Spitze der Bewegung zur Ehrung Grattans gesetzt und wollte den entsprechenden Antrag stellen. Wenn er die Abstimmung heute gewann, würde ihn das Momentum sicherlich zum Sieg bei der bevorstehenden Wahl tragen. Arthur wusste, es war seine letzte Chance, das Ruder zu seinen Gunsten herumzureißen. Er holte tief Luft und ging zu seinem Kontrahenten und dessen Ehrengast.
»Mr. Grattan. Willkommen in Trim, Sir.« Er streckte die Hand aus.
Henry Grattan drehte sich zu Arthur um und musterte ihn aus hellblauen Augen. Dann verzog er den Mund zu einem Lächeln, nahm Arthurs Hand in einen kräftigen Griff und ließ sie auch nicht los, nachdem er sie geschüttelt hatte. »Ihr müsst der junge Wesley sein. Connor hat mir alles über Euch erzählt. Es scheint, Ihr habt ein Näschen für Politik …«
Während die Männer ringsum ein Kichern unterdrückten, verzog Arthur keine Miene. »Mr. O’Farrell ist ein ausgezeichneter Menschenkenner. Ich werde seine Schlagfertigkeit vermissen, wenn ich im Parlament bin.«
Grattan nickte. »Daran würdet Ihr guttun, Wesley. Aber erst müsst Ihr meinen Mann schlagen.« Er legte O’Farrell die Hand auf die Schulter und drückte sie. »Also brütet besser keine ungelegten Eier aus, ja?«
»Solange Ihr sie nicht nach mir werft, wenn ich gewinne, Sir.« Arthur verbeugte sich knapp. »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt. Ich muss mich meinen Freunden anschließen.«
Arthur wandte sich ab und war fast schon außer Hörweite, als er Grattan murmeln hörte: »Der Bursche hat gute Nerven, Connor. Er ist eine größere Herausforderung, als du glaubst.«
Die Wesley-Unterstützer grüßten Arthur respektvoll, und er erinnerte sie leise daran, dass sie ihr Äußerstes geben mussten, um die heutige Abstimmung zu gewinnen. Wenn Grattan die Ehrenbürgerwürde verliehen bekam, würde das ein Signal über ganz Irland aussenden, dass man sich der Regierung offen widersetzen durfte.
Nahezu achtzig stimmberechtigte Männer waren anwesend. Arthurs Partei zählte fast die Hälfte davon, und er konnte auf einige weitere Stimmen gegen Grattan aus den Reihen der Ratsmitglieder bauen, die dazu neigten, ohne nachzudenken für die Herrschenden zu votieren. Henry Grattans Ruhm war jedoch derart groß, dass zu Arthurs Überraschung und Verärgerung selbst einige seiner eigenen Unterstützer angekündigt hatten, für die Ehrenbürgerschaft des Mannes zu stimmen. Ehe Arthur sich um sie kümmern konnte, verkündete der Stadtsprecher die Ankunft des Bürgermeisters, und ehrerbietiges Schweigen senkte sich auf die Versammlung. Nachdem der Bürgermeister seinen Platz am Kopfende des Tisches eingenommen hatte, nickte er dem Sprecher zu, und dieser wandte sich an die anwesenden Männer.
»Die ehrenwerten Herren möchten bitte ihre Plätze einnehmen.«
Unter gemurmelten Gesprächen schlurften die Ratsmitglieder und ihre Gäste zu den ordentlichen Stuhlreihen vor dem Tisch. Als alle saßen, bat der Sprecher um Ruhe und trat dann beiseite, um an den Bürgermeister zu übergeben. Dieser war ein wohlbeleibter, in puritanisches Schwarz gekleideter Kaufmann. Sein einziges Zugeständnis an einen liberaleren Geschmack waren die glänzenden Messingknöpfe an seinem Rock und die diskret gemusterte Borte seines Kragens. Er hob die Hand und hustete.
»Wie Ihr wisst, wurden die Ratsmitglieder versammelt, um die Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Mr. Henry Grattan zu besprechen. Nun ist dies eine Ehre, die nicht leichtfertig vergeben wird, und den Ratsmitgliedern ist bewusst, dass der Vorschlag umfassend beraten werden muss, ehe wir zu einer Abstimmung schreiten …«
Der Bürgermeister fuhr zehn Minuten lang fort, die Bedeutung dieses Verfahrens genauer zu erläutern, und Arthurs Aufmerksamkeit schweifte schnell ab. Er hatte versucht, sich auf die Sitzung vorzubereiten, aber es war unmöglich, eine rhetorische Strategie festzulegen, bevor er nicht gehört hatte, wie Grattans Fürsprecher, Connor O’Farrell, dem Rat die Sache vortrug. Und doch hing furchtbar viel von seiner Antwort ab, nicht zuletzt seine Erfolgsaussichten bei der kommenden Wahl. Der Bürgermeister kam mit seiner Einführung zu einem Ende und bedeutete O’Farrell, die Debatte zu eröffnen.
Der Anwalt aus Dublin stand auf und ging zu der freien Fläche zwischen dem Tisch des Bürgermeisters und dem versammelten Rat. Er hakte die Daumen in seine Weste ein, richtete sich zu seiner ganzen beeindruckenden Größe auf und setzte mit beispielhafter und erprobter Redekunst dazu an, Mr. Grattan vorzuschlagen. O’Farrell begann mit einem Lobgesang auf den großartigen Stimmkreis Trim und die Ehrbarkeit und den Fleiß seiner Wähler. Nach mehreren Minuten hustete Mr. Grattan laut und nickte seinem Fürsprecher zu, damit dieser nicht des Guten zu viel tat und endlich fortfuhr. O’Farrell stellte nun gehorsam Henry Grattan vor, fasste dessen politische Karriere zusammen und entwickelte dann sein Hauptthema – die Achtbarkeit dieses Helden des Volkes. Grattan, so beteuerte er, habe sich nicht nur die Achtung der einfachen Leute erworben, sondern eine viel weiter gehende Achtung auf den gesamten Britischen Inseln und bis Frankreich, wo das Beispiel Grattans gerade in den großen Debatten über Demokratie in den heiligen Hallen der Nationalversammlung angeführt werde. An diesem Punkt wurden zustimmende Äußerungen im Publikum laut, und als sich Arthur nervös unter seinen Unterstützern umblickte, musste er entsetzt feststellen, dass einige von ihnen O’Farrell mit offener Begeisterung ansahen.
O’Farrell schloss seine Darbietung mit einem weiteren Schwall Schmeicheleien, die direkt auf das Wahlvolk von Trim zielten, und verbeugte sich schließlich tief vor seinem Publikum. Sofort brachen die Ratsmitglieder in Beifall aus, dem sich Arthur, um die Form zu wahren, anschloss. Der Bürgermeister wartete, bis es vollkommen still war, ehe er sich im Sitzungssaal umsah.
»Möchte jemand gegen den Vorschlag sprechen?«
Arthur schluckte, dann hob er die Hand. »Wenn Ihr erlaubt, Sir.«
Der Bürgermeister spähte mit zusammengekniffenen Augen in Arthurs Richtung, ehe er antwortete: »Der Vorsitzende erkennt den Ehrenwerten Arthur Wesley.«
Arthur erhob sich und ging in dem schmalen Gang zwischen den Sitzen und der Wand nach vorn. O’Farrell räumte den Platz vor dem Publikum und setzte sich wieder neben Grattan. Während er rasch seine Gedanken sammelte, blickte Arthur in die Gesichter vor ihm. Er nahm hier und da eine gewisse Feindseligkeit wahr, aber die meisten schienen einfach überrascht zu sein von seinem Eingreifen und warteten nun gespannt darauf, was dieser junge Mann zu sagen hatte.
»Zunächst einmal wünsche ich zum Ausdruck zu bringen, dass mein Respekt für unseren Gast nicht weniger groß ausfällt als der aller anderen Anwesenden. Tatsächlich hat mich Mr. Grattans Beispiel inspiriert, seit ich Gelegenheit habe, seine parlamentarischen Heldentaten zu verfolgen. Es hat mich in einem Maße inspiriert, dass ich nun als Kandidat vor Euch stehe, mit dem Ziel, den wunderbaren Menschen von Trim ebenso erfolgreich und respektvoll zu dienen, wie Mr. Grattan den Wählern in seinem Bezirk dient.«
Arthur sah zustimmendes Nicken im Publikum und spürte eine warme innere Zufriedenheit mit der Eröffnung seiner Rede. Er hielt einen Moment inne, um den Moment auszukosten, bevor er fortfuhr.
»Ich bin überzeugt, Mr. Grattan wird seinen Pflichten weiter mit der erwiesenen Sorgfalt nachkommen und fürderhin jede Minute, die ihm der Allmächtige gewährt, an der Verbesserung der Menschen arbeiten.«
Arthur wurde mit weiterem beifälligem Nicken belohnt.
»Ein Mann von der politischen Statur Henry Grattans wird sicherlich von denen, die er bereits vertritt, stark in Anspruch genommen. Wie könnte es anders sein, angesichts der Talente, mit denen er gesegnet ist? Darin liegt die große Tragödie für die Mitglieder dieses Rats …«
Das Nicken hörte auf und wurde hier und dort durch ein unbehagliches Stirnrunzeln ersetzt.
»Wollen wir Mr. Grattan nicht in der fortgesetzten Erfüllung seiner Pflichten behindern, dürfen wir ihn nicht mit der Ehrenbürgerschaft der Stadt belasten. Jede Sitzung, die Mr. Grattan hier in Trim zu besuchen gezwungen wäre, würde ihn von Verpflichtungen gegenüber anderen abhalten. Meine Herren, ist es richtig von uns, so selbstsüchtig zu sein und so viel von der Zeit des großen Mannes zu fordern? Wer außer ihm wäre denn in der Lage, mit dieser Radikalität aus zweiter Hand hausieren zu gehen, die Mr. Grattans Rüstzeug ist? Wer sind wir, Irland die Anstrengungen dieses Mannes vorzuenthalten? Andererseits …« Arthur setzte unvermittelt einen verblüfften Gesichtsausdruck auf. »Vielleicht sollten wir Mr. Grattan genau deshalb die Ehrenbürgerwürde von Trim verleihen! Gentlemen, wir könnten ihn doch mit so schweren Bürgerpflichten überhäufen, dass er nicht mehr dazu käme, den Rest Irlands mit seinen gefährlichen revolutionären Gedanken zu belasten. Ich bin mir sicher, Mr. Grattan würde uns eine solche gewaltige Zusatzlast nicht danken.«
Der größte Teil des Publikums lächelte jetzt. Einige hatten jedoch noch ihre Mühe mit dem Übermaß an Ironie, das Arthur über sie ausgoss.
»Es geschieht also aus Respekt für Mr. Grattans breiteres Publikum und seine revolutionären Meister in Frankreich, wenn ich den Rat bitte, die Ehrung für Mr. Grattan zu überdenken. Ich möchte alle Anwesenden bitten, über die Konsequenzen dessen nachzudenken, was sie heute entscheiden. Wollen wir jene belohnen, welche die großartigen Traditionen unserer Nation zerstören würden? Man überlege es mit äußerster Sorgfalt und Vorsicht.«
Arthur ließ seine Worte einige Augenblicke wirken, ehe er in einem leichteren Ton fortfuhr. »Wenn wir von alldem absehen, bleibt von Mr. O’Farrells Beitrag nur Mr. Grattans angebliche Achtbarkeit als einziger guter Grund, warum wir ihm die Ehrenbürgerwürde zuerkennen sollten. Man wird die Schwierigkeit sicherlich sofort erkennen, die sich einstellt, wenn man eine solche Ehre allein aufgrund von Achtbarkeit vergibt.« Arthur gestikulierte in Richtung Publikum. »Ich bin überzeugt, jeder Mann hier ist mit Achtbarkeit gesegnet. Und außerhalb dieses Raums, wie viele weitere Männer in Trim sind achtbar? Und warum dort aufhören? Da wir Mr. Grattan und seinen Anwaltsfreund aus Dublin – beide zweifellos achtbare Männer – nach Trim eingeladen haben, warum nicht die Einladung auf alle achtbaren Männer in Irland ausdehnen? Ha, im Handumdrehen hätten wir eine ganze Nation voller Ehrenbürger Trims!«
Der größte Teil des Publikums lachte jetzt laut, und in das gutmütige Gejohle mischte sich Applaus. Arthur konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er ließ die Ratsmitglieder einen Moment gewähren, dann hob er die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, ehe der Bürgermeister nach seinem kleinen Hammer griff.
»Meine Herren! Meine Herren, bitte! Ich glaube, wir verstehen jetzt alle, warum wir diesen Vorschlag leider ablehnen müssen. Es wäre nicht richtig gegenüber Mr. Grattan, und es wäre nicht richtig gegenüber allen anderen achtbaren Menschen, die diese Ehre kein bisschen weniger verdient haben als Mr. Grattan. Aus diesem Grund fühle ich mich verpflichtet, gegen die Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Mr. Grattan Einspruch zu erheben – ungeachtet meines großen Respekts vor ihm.«
Unter neuerlichem lautem Gelächter verneigte sich Arthur und ging an seinen Platz zurück. Der Bürgermeister griff nach seinem Hammer und schlug ihn mehrmals kräftig auf den Tisch, bis wieder Ruhe herrschte.
»Danke, Mr. Wesley. Wir schreiten jetzt zur Wahl. Wer für den Vorschlag ist, hebe bitte den Arm …«
Quer durch den Raum fuhren Arme in die Höhe. Arthur blickte sich um, aber er traute sich nicht, sie zu zählen. Er wandte sich wieder dem Bürgermeister zu und beobachtete, wie dieser die Stimmen zählte, sich mit den Kollegen links und rechts von ihm besprach und die Zahl dann auf ein Blatt Papier schrieb.
»Wer ist dagegen …?«
Arthur hob die Hand und sah im Raum umher, wo weitere Arme in die Höhe gingen. Der Bürgermeister begann zu zählen, ließ sich das Ergebnis bestätigen und hustete laut, ehe er es verkündete.
»Für den Vorschlag: dreiunddreißig Stimmen, dagegen: siebenundvierzig.«
Arthurs Unterstützer standen auf und jubelten, und jemand gratulierte, indem er ihn an den Schultern packte. Er erhob sich lächelnd und schüttelte mehreren Männern die Hand. Im vorderen Teil des Saals war Henry Grattan aufgestanden und marschierte mit O’Farrell im Schlepptau auf Arthur zu. Die Ratsmitglieder um Arthur traten erwartungsvoll beiseite, um ihm Platz zu machen. Grattan baute sich vor ihm auf; er hatte Mühe, Zorn und Verlegenheit über seine Niederlage zu verbergen. »Gratuliere, Wesley. Ihr habt das Zeug zu einem erstklassigen Politiker.«
Arthur lächelte. »Es wurden schon Männer für weniger schwerwiegende Beleidigungen zum Duell gefordert.«
»Stimmt.« Grattan zwang sich, das Lächeln zu erwidern. »Dann macht es Euch ja nichts aus, dass Ihr die Wahl hier in Trim verlieren werdet.«
»Ich würde an Eurer Stelle nicht allzu viel Geld auf einen Wahlsieg von Mr. O’Farrell setzen.«
Grattan sah ihn noch einen Moment lang an, dann machte er abrupt kehrt und verließ den Raum.
Die Abfuhr für Henry Grattan führte zu einem sofortigen Anstieg der Unterstützung für Arthur bei den Wählern von Trim, und in den letzten Wochen vor dem Wahltag reiste Arthur pausenlos durch den Bezirk und sprach zu Menschenmengen, die durch das Versprechen von Braten, billigem Rotwein und fässerweise Bier angelockt wurden. Solche öffentlichen Versammlungen gingen oft in Straßenschlachten über, wenn betrunkene Anhänger der konkurrierenden Kandidaten in den Dörfern und auf den Landstraßen des Bezirks aneinandergerieten. Connor O’Farrell appellierte weiter an die liberalen Neigungen der Wähler, aber auch wenn die ärmsten Bewohner aus dem Beispiel der französischen Radikalen Hoffnung schöpften, waren sie nicht zur Wahl berechtigt, und so beutete Arthur die Nervosität aus, die unter den Besitzenden herrschte, wenn sie die schaurigen Geschichten von der Gewalttätigkeit des Pöbels in den Straßen von Paris hörten.
Die Wahllokale öffneten am letzten Tag im April. Als sie wieder geschlossen wurden, ergab die Stimmenauszählung, dass Arthur gewonnen hatte, und er wurde der Öffentlichkeit ordnungsgemäß als der frei gewählte Parlamentsabgeordnete für den Bezirk Trim vorgestellt.
Auf der Rückreise nach Dublin streckte sich Arthur quer über die Sitze der Kutsche aus und genoss den süßen Geschmack des Erfolgs. Endlich hatte er etwas vollbracht, auf das seine Familie vielleicht stolz sein würde, und besser noch: Sein neuer Status als Abgeordneter konnte durchaus dazu beitragen, ein noch wichtigeres Publikum zu beeindrucken, das seine Gedanken schon seit geraumer Zeit beherrschte. Er beschloss, Kitty Pakenham zu schreiben, sobald er in Dublin eintraf.