Cover

Das Buch

Sommer 1960: Schwüle Hitze brütet in den Straßen der kleinen Stadt Elm Haven in Illinois. Träge fließen die Tage dahin und vor den fünf Freunden Mike, Duane, Dale, Harlen und Kevin liegt die beste Zeit ihres Lebens – die Sommerferien. Drei Monate lang keine Schule, keine Hausaufgaben, keine Lehrer, stattdessen Wochen von grenzenloser Freiheit. Denken sie zumindest … Denn schon bald geschehen merkwürdige Dinge: Ein geheimnisvoller Soldat wird immer wieder in den Feldern rund um Elm Haven gesehen, ein mysteriöser Truck tötet beinahe einen der Freunde und schließlich verschwindet ein Junge spurlos durch ein Loch in der Wand. All diese Ereignisse scheinen mit dem riesigen leerstehenden Gebäude der Old Central School zusammenzuhängen. Als die Freunde versuchen, mehr darüber herauszufinden, stoßen sie auf ein uraltes Geheimnis – und der Albtraum beginnt.

Vierzig Jahre später kehrt der erfolgreiche, aber unglückliche Schriftsteller Dale Stewart nach Elm Haven zurück. Er hat eine Schreibblockade, seine Ehe liegt in Trümmern und in seiner Heimatstadt hofft er, genug Inspiration zu finden, um seinen neuen Roman zu beenden. Bald muss Dale jedoch feststellen, dass sich seit dem denkwürdigen Sommer 1960 zwar einiges verändert hat, eines jedoch nicht: das Grauen ist noch immer in Elm Haven zu Hause …

Der Autor

Dan Simmons wurde 1948 in Illinois geboren. Nach dem Studium arbeitete er einige Jahre als Englischlehrer, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Simmons ist heute einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart. Seine Romane Terror, Die Hyperion-Gesänge und Endymion wurden zu internationalen Bestsellern, die Verfilmung von Terror ist eine der erfolgreichsten TV-Serien unserer Zeit. Der Autor lebt mit seiner Familie in Colorado.

Dan Simmons

ELM HAVEN

Sommer der Nacht
Im Auge des Winters

Zwei Romane in einem Band

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgaben

SUMMER OF NIGHT

A WINTER HAUNTING

Deutsche Übersetzung von Joachim Körber (»Sommer der Nacht«) und Friedrich Mader (»Im Auge des Winters«)

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Überarbeitete Neuausgabe 04/2019

Copyright © 1991, 2002 by Dan Simmons

Copyright © 2019 dieser Ausgabe und der Übersetzung by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23475-1
V002

www.heyne.de

Für Wayne, der dabei war,
als alles passiert ist.

1

Unerschütterlich ragte die Old Central School mitten in Elm Haven auf, ein riesiger Bau, von Stille und Geheimnissen erfüllt. Durch die wenigen Sonnenstrahlen, die hineingelangten, schwebte der Kreidestaub von vierundachtzig Jahren, und von den dunklen Treppen und Böden stiegen Erinnerungen aus den Lackschichten auf, die die stehende Luft mit dem Mahagonigeruch von Särgen versetzten. Die Mauern der Old Central waren so dick, dass sie sämtliche Geräusche zu verschlucken schienen, die hohen Fenster, deren Glas vom Alter und von der Schwerkraft verformt und verzerrt war, tränkten die Luft mit brauner Müdigkeit.

Wenn überhaupt Zeit in Old Central verging, dann nur langsam. Schritte hallten gedämpft durch die Flure und Treppenhäuser, ohne zu den Bewegungen in den Schatten zu passen.

Der Grundstein von Old Central war 1876 gelegt worden, in dem Jahr, als General Custer und seine Männer weiter westlich beim Little Bighorn River abgeschlachtet worden waren; in dem Jahr, als weiter östlich während der Hundertjahrfeier der Nation in Philadelphia das erste Telefon vorgestellt wurde. Die Old Central School lag in Illinois, genau in der Mitte zwischen diesen beiden Schauplätzen und doch fernab vom Lauf der Geschichte.

Im Frühling des Jahres 1960 glich die Old Central School einigen der steinalten Lehrer, die hier bis jetzt unterrichtet hatten: zu alt, um weiterzumachen, aber zu stolz für den Ruhestand, und nur durch Gewohnheit und die störrische Weigerung, sich zu beugen, aufrecht gehalten. Selber eine unfruchtbare und tückische alte Jungfer, lieh sich Old Central im Lauf der Jahrzehnte anderer Leute Kinder aus.

Mädchen hatten im Schatten ihrer Flure und Klassenzimmer mit Puppen gespielt und waren später im Kindbett gestorben. Jungs rannten rufend durch die Korridore, mussten in der zunehmenden Dunkelheit des Winternachmittags in stummen Zimmern nachsitzen und wurden an Orten begraben, die nie im Geografieunterricht erwähnt wurden: San Juan Hill, Belleau Wood, Okinawa, Omaha Beach, Pork Chop Hill oder Inchon.

Ursprünglich war Old Central von freundlichen jungen Ulmenschösslingen umgeben gewesen, und die näher stehenden Bäume hatten an warmen Mai- und Septembertagen den unteren Klassenzimmern Schatten gespendet. Aber im Lauf der Jahre starben diese Bäume ab, und der Ring gigantischer Ulmen, die den Block von Old Central säumten wie stumme Wächter, verkalkte und magerte durch Alter und Krankheit zu einem Skelett ab. Einige dieser Riesen wurden gefällt und abtransportiert, doch der Großteil blieb stehen, und die Schatten ihrer kahlen Äste streckten sich wie knorrige Hände über den Spielplatz und die Sportfelder, fast als wollten sie nach der Schule greifen.

Besucher der kleinen Stadt Elm Haven, die die Hard Road verließen und die zwei Blocks entlangschlenderten, bis sie Old Central sehen konnten, hielten die Schule manchmal irrtümlich für ein übergroßes Gerichtsgebäude oder ein abgelegenes, zu grotesken Dimensionen aufgeblähtes Amt des County. Was sollte das riesige dreigeschossige Bauwerk inmitten seines eigenen Blocks in dieser verfallenden Kleinstadt mit ihren achtzehnhundert Einwohnern sonst auch darstellen? Doch dann entdeckten die Besucher den Spielplatz und erkannten, dass es sich um eine Schule handelte. Eine bizarre Schule allerdings: Der schmuckvolle Glockenturm aus Kupfer und Bronze oberhalb des schwarzen, steilen Dachs war von Grünspan überzogen und schwebte mehr als fünfzehn Meter über dem Boden; protzige Steinbögen krümmten sich wie Schlangen über dreieinhalb Meter hohen Fenstern; die zusätzlichen, weit verteilten runden und ovalen Buntglasfenster wirkten wie eine absurde Kreuzung aus Schule und Kathedrale; die an ein Chateau erinnernden Giebel der Dachgauben ragten über Erkern im zweiten Stock empor; die seltsamen Voluten über den nach innen versetzten Türen und blinden Fenstern sahen wie Stein gewordene Holzschnitzereien aus; und am meisten beunruhigten die Besucher an diesem Gebäude seine gewaltigen und unheilvollen Ausmaße. Old Central mit seinen drei Fensterreihen, den überhängenden Erkern und spitzgiebligen Dachgauben, dem schrägen Dach und dem grünlich schimmernden Glockenturm schien für diese bescheidene Stadt viel zu groß.

Wenn der Besucher überhaupt eine Ahnung von Architektur hatte, hielt er oder sie auf der stillen Asphaltstraße an, stieg aus dem Auto, gaffte und machte ein Foto.

Doch dabei fiel dem aufmerksamen Betrachter plötzlich auf, dass die hohen Fenster große, schwarze Löcher waren, als wären sie entworfen worden, um das Licht zu verschlucken, anstatt es einzulassen oder zu reflektieren. Die theatralischen pseudoitalienischen Verzierungen waren einem brutalen und gewöhnlichen Stil aufgepfropft worden, den man als Schul-Gotik des mittleren Westens bezeichnen konnte; der abschließende Eindruck war nicht der eines atemberaubenden Bauwerks, nicht einmal der einer wahren architektonischen Kuriosität, sondern lediglich der einer zu groß geratenen, schizophrenen Anhäufung von Ziegeln und Steinen, gekrönt von einem Glockenturm, der eindeutig von einem Wahnsinnigen entworfen worden war.

Ein paar Besucher missachteten vielleicht ein zunehmendes Gefühl des Unbehagens und versuchten, von Einheimischen mehr zu erfahren; vielleicht fuhren sie sogar nach Oak Hill, dem Sitz des County, um in Aufzeichnungen über die Schule zu stöbern. Dort konnte man nachlesen, dass Old Central vor über achtzig Jahren Teil eines umfassenden Plans gewesen war, fünf große Schulen im County zu bauen – Northeast, Northwest, Central, Southeast und Southwest. Davon war Old Central die erste und einzige, die je gebaut wurde.

Elm Haven war 1870 größer gewesen als heute – 1960 –, was weitgehend auf die Eisenbahn (inzwischen nicht mehr in Betrieb) und einen massiven Zustrom von Siedlern zurückzuführen war, die ambitionierte Städteplaner von Chicago nach Süden gelockt hatten. Die Bevölkerung des County war von achtundzwanzigtausend im Jahr 1875 auf zwölftausend bei der Volkszählung von 1960 geschrumpft, hauptsächlich Farmer. 1875 hatten viertausenddreihundert Menschen in Elm Haven gewohnt, und Richter Ashley, der Millionär, der hinter dem Siedlungsplan und dem Bau von Old Central stand, hatte vorhergesagt, dass die Stadt bald mehr Einwohner als Peoria haben würde.

Der Architekt, den Richter Ashley von irgendwo aus dem Osten geholt hatte – ein gewisser Solon Spencer Alden –, war Student bei Henry Hobson Richardson und R.M. Hunt gewesen, und sein daraus resultierender albtraumhafter Baustil reflektierte die dunkleren Elemente der bevorstehenden Romanikrenaissance – allerdings ohne das Erhabene und Zweckhafte, das diese Bauwerke normalerweise zum Ausdruck brachten.

Richter Ashley hatte darauf bestanden – und Elm Haven hatte zugestimmt –, dass die Schule für kommende, umfangreichere Generationen von Schulkindern erbaut werden sollte, die im Creve Coeur County zu erwarten waren. Daher verfügte das Gebäude nicht nur über Klassenzimmer bis zum sechsten Jahrgang, sondern auch über Highschool-Räume im zweiten Stock – die nur bis zum Ersten Weltkrieg genutzt wurden –, Seitenflügel, die als Stadtbibliothek vorgesehen waren, und obendrein über Räumlichkeiten für ein College, falls sich die Notwendigkeit ergab.

Aber es kam nie ein College nach Creve Coeur County oder Elm Haven. Richter Ashleys Villa am Ende der Broad Avenue brannte bis auf die Grundmauern nieder, nachdem sein Sohn während der Wirtschaftskrise von 1919 Bankrott gemacht hatte. Old Central blieb stets eine Grundschule, die von immer weniger Kindern besucht wurde, da die Leute aus der Gegend fortzogen und in anderen Teilen des Countys Gesamtschulen erbaut wurden.

Die Highschool-Abteilung im zweiten Stock wurde überflüssig, als 1920 die richtige Highschool in Oak Hill ihre Tore öffnete. Die voll eingerichteten Zimmer wurden abgesperrt und der Dunkelheit und den Spinnweben überlassen. 1939 wurde die Stadtbibliothek aus den Räumen der Grundschulabteilung mit ihren Bogendecken ausquartiert, die Regale der oberen Galerie standen weitgehend leer und blickten auf die wenigen verbliebenen Schüler herunter, die durch die dunklen Flure und die breiten Treppen und Kellergewölbe schlichen wie Flüchtlinge in einer längst verlassenen Stadt aus einer rätselhaften Vergangenheit.

Im Herbst 1959 entschieden der neue Stadtrat und der Schuldistrikt Creve Coeur County, dass Old Central schon lange nicht mehr zweckdienlich und als architektonische Monstrosität – selbst in ihrem zurechtgestutzten Zustand – allzu schwer zu heizen und zu warten war; man beschloss, die letzten 134 Schüler der Klassen eins bis sechs ab Herbst 1960 auf die neue Gesamtschule in der Nähe von Oak Hill zu schicken.

Doch am letzten Schultag im Frühjahr 1960, nur wenige Stunden, bevor sie zwangsweise in den endgültigen Ruhestand versetzt werden sollte, hielt die Old Central School noch immer ihre Geheimnisse tief in sich verborgen.

2

Dale Stewart saß im Zimmer der sechsten Klasse von Old Central und war insgeheim davon überzeugt, dass der letzte Schultag die schlimmste Strafe war, die sich Erwachsene je für Kinder ausgedacht hatten.

Die Zeit verging so unglaublich langsam; es war schlimmer, als wäre er im Wartezimmer eines Zahnarztes, schlimmer, als hätte er Ärger mit seiner Mom und wartete darauf, bis sein Dad nach Hause kam, um das Strafmaß festzulegen, schlimmer als …

Es war furchtbar.

Die Uhr an der Wand über dem blau getönten Kopf der alten Mrs. Doppelbett sagte, dass es 14.43 Uhr war. Der Kalender an der Wand informierte ihn, dass heute Mittwoch, der 1. Juni 1960 war, der letzte Schultag, der letzte Tag, an dem Dale und die anderen die unsägliche Langeweile im Bauch von Old Central ertragen mussten – aber nun schien die Zeit in jeder Hinsicht so unerbittlich stehen geblieben zu sein, dass sich Dale vorkam wie ein Insekt in Bernstein, wie die Spinne in dem gelblichen Stein, den Pater Cavanaugh Mike geliehen hatte.

Es gab nichts zu tun. Nicht mal Schularbeiten. Die Sechstklässler hatten diesen Nachmittag um halb zwei ihre ausgeliehenen Schulbücher zurückgegeben, Mrs. Doubbet hatte sie entgegengenommen und jedes aufs Gründlichste nach Schäden untersucht … obwohl Dale sich nicht vorstellen konnte, wie sie die Beschädigungen dieses Schuljahrs von denen der jahrelangen Misshandlungen unterscheiden wollte, die die zerlesenen Schulbücher von früheren Ausleihern hatten erdulden müssen … und als das vorbei war und das leere Klassenzimmer ganz fremd aussah, bis hin zu den kahlen schwarzen Brettern und den säuberlich geschrubbten Holzpulten, hatte die alte Doppelbett lethargisch vorgeschlagen, dass sie etwas lesen sollten, obwohl die Bücher der Schulbibliothek schon am Freitag zuvor eingefordert worden waren, mit der Androhung, sonst das abschließende Zeugnis nicht zu bekommen.

Dale hätte sich ja eines seiner Bücher von daheim zum Lesen mitgebracht – vielleicht das Tarzan-Buch, das er mittags offen auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte, als er zum Essen nach Hause gegangen war, vielleicht auch einen der Doppelromane aus der ACE-Science-Fiction-Reihe, die er verschlang –, aber obschon er mehrere Bücher pro Woche las, hätte Dale niemals die Schule als Ort zum Lesen betrachtet. Die Schule war der Ort, wo man Klassenarbeiten schrieb, dem Lehrer zuhörte und Antworten gab, die so einfach waren, dass sogar ein Schimpanse sie aus den Büchern hätte ablesen können.

Und so hockten Dale und die anderen sechsundzwanzig Sechstklässler in der drückenden Hitze des Zimmers, während draußen ein aufziehendes Gewitter den Himmel verdunkelte und die ohnehin schon düstere Atmosphäre in Old Central noch mehr verfinsterte; der Sommer schien endlos weit zurückzuweichen, die Zeiger der Uhr erstarrten, und der stickige Dunst im Innern von Old Central legte sich wie eine Decke über sie.

Dale saß am vierten Pult in der zweiten Reihe von rechts. Von seinem Platz aus konnte er am Eingang zur Garderobe vorbei über den dunklen Flur sehen und gerade noch einen Teil der Tür zum Zimmer der fünften Klasse erkennen, wo Mike O’Rourke, sein bester Freund, ebenfalls auf das Ende des Schuljahrs wartete. Mike war so alt wie Dale – sogar einen Monat älter –, hatte aber die vierte Klasse wiederholen müssen, und daher waren die Freunde seit zwei Jahren durch den Abgrund eines ganzen Schuljahrs voneinander getrennt. Doch Mike hatte sein Unvermögen, die vierte Klasse zu absolvieren, mit derselben Fröhlichkeit hingenommen wie die meisten Situationen – er machte Witze darüber, war weiterhin Anführer auf dem Spielplatz, gehörte zu Dales engstem Freundeskreis und zeigte keinen Groll gegen Mrs. Groissant, diese alte Schachtel, die ihn ganz sicher aus schierer Boshaftigkeit hatte durchfallen lassen.

In Dales Klassenzimmer fanden sich ein paar von seinen anderen guten Freunden: Jim Harlen am ersten Pult, wo Mrs. Doubbet ihn im Auge behalten konnte. Momentan hatte Harlen den Kopf in die Hände gestützt, und seine Augen flackerten mit einer Nervosität durchs Klassenzimmer, die Dale ebenfalls spürte, aber zu verbergen versuchte. Harlen sah Dales Blick und verzog das Gesicht – mit einem Mund so elastisch wie Silly-Putty-Knetmasse.

Das alte Doppelbett räusperte sich, worauf Harlen wieder fügsam in sich zusammensank.

In der Fensterreihe saßen Chuck Sperling und Digger Taylor – Kumpels, Anführer, Wichtigtuer, Knallköpfe. Außerhalb der Schule sah Dale Chuck und Digger selten, nur im Training und bei Spielen der Jugendliga. Hinter Digger saß Gerry Daysinger in einem zerrissenen vergrauten T-Shirt. Außerhalb der Schule trugen alle Jeans und T-Shirts, aber nur die ganz armen Kinder wie Gerry und die Brüder von Cordie Cooke hatten sie auch in der Schule an.

Hinter Gerry saß Cordie Cooke selbst mit ihrem Mondgesicht und einem Ausdruck von Trägheit, der irgendwie weit über Dummheit hinausging. Sie hatte das feiste, flache Gesicht zum Fenster gewandt, doch ihre farblosen Augen blickten ins Leere. Sie kaute Kaugummi – sie kaute immer Kaugummi –, aber aus irgendwelchen Gründen schien Mrs. Doubbet das nie zu bemerken oder das Mädchen deshalb zurechtzuweisen. Hätten Harlen oder einer der anderen Tunichtgute der Klasse mit solcher Regelmäßigkeit Kaugummi gekaut, hätte Mrs. D. sie wahrscheinlich sofort suspendiert – aber bei Cordie Cooke schien sie das als natürlichen Zustand zu werten. Dale kannte das Wort Wiederkäuer nicht, aber wenn er Cordie sah, musste er oft an eine Kuh denken, die ihr Heu mampfte.

Hinter Cordie, am letzten besetzten Pult der Fensterreihe, saß Michelle Staffney, die einen beinahe erschreckenden Kontrast zu ihr bildete. Michelle trug einen makellosen hellgrünen Rock und eine gestärkte braune Bluse. Das Licht brachte ihr rotes Haar zum Leuchten, und Dale konnte selbst von seinem Platz aus ihre Sommersprossen sehen, die sich von ihrer blassen, fast durchscheinenden Haut abhoben.

Michelle sah von ihrem Buch auf, als Dale sie anschaute, und obwohl sie nicht lächelte, reichte der kurze anerkennende Blick aus, um das Herz des Elfjährigen schneller klopfen zu lassen.

Nicht alle Freunde von Dale befanden sich hier im Zimmer. Kevin Grumbacher war in der fünften Klasse – von Rechts wegen, da er neun Monate jünger war als Dale. Lawrence, Dales Bruder, saß in Mrs. Howes dritter Klasse im Erdgeschoss.

Dales Freund Duane McBride war hier. Duane – doppelt so dick wie der zweitpummeligste Schüler nach ihm – beanspruchte das dritte Pult der Mittelreihe. Er war wie immer beschäftigt und notierte etwas in dem abgegriffenen Spiralbuch, das er dauernd mit sich herumschleppte.

Duanes störrisches braunes Haar stand ihm zerzaust vom Kopf ab, und er rückte sich mit einer unbewussten Geste die Brille zurecht, während er stirnrunzelnd durchlas, was er geschrieben hatte, bevor er sich wieder an die Arbeit machte.

Obwohl die Temperatur über fünfundzwanzig Grad lag, trug Duane das dicke Flanellhemd und die ausgebeulten Cordhosen, die er den ganzen Winter über angehabt hatte.

Dale konnte sich nicht erinnern, dass er Duane je in Jeans und T-Shirt gesehen hatte, obwohl der dicke Junge von einer Farm stammte – Dale und Mike und Kevin und Jim und die meisten anderen kamen aus der Stadt – und dort Arbeiten erledigen musste.

Dale rutschte auf seinem Stuhl herum. Es war 14.49 Uhr. Aus einem abstrusen Grund, der mit dem Busfahrplan zu tun hatte, ging der Schultag erst um 15.15 Uhr zu Ende.

Dale studierte das Porträt von George Washington an der vorderen Wand und fragte sich zum zehntausendsten Mal dieses Jahr, wieso die Schulbehörde den Druck eines unfertigen Bildes aufhängte. Sein Blick schweifte zur Decke viereinhalb Meter über dem Boden und zu den drei Meter hohen Fenstern an der gegenüberliegenden Wand. Er betrachtete die Bücherkisten auf den leeren Regalen und fragte sich, was aus den Schulbüchern werden würde. Würde man sie zur Gesamtschule rüberschaffen? Oder verbrennen? Wahrscheinlich Letzteres, da Dale sich die alten, stockfleckigen Bücher nicht in der brandneuen Schule vorstellen konnte, an der seine Eltern mit ihm vorbeigefahren waren.

Vierzehn Uhr fünfzig. Noch fünfundzwanzig Minuten, bis der Sommer wirklich anfing, bis die Freiheit regierte.

Dale betrachtete die alte Doppelbett. Der Name kam ihm nicht voll Boshaftigkeit oder Gemeinheit in den Sinn; sie war immer das alte Doppelbett gewesen. Achtunddreißig Jahre lang hatten Mrs. Doubbet und Mrs. Duggan gemeinsam die sechste Klasse unterrichtet – ursprünglich in gegenüberliegenden Klassenzimmern, aber dann, als die Schülerzahl etwa zur Zeit von Dales Geburt zurückgegangen war, in ein und derselben Klasse –, Mrs. Doubbet vormittags Lesen, Aufsatz und Sozialkunde, Mrs. Duggan nachmittags Mathe und Naturwissenschaften, Rechtschreiben und Schönschrift.

Die beiden waren Mutt und Jeff, die humorlosen Abbott und Costello von Old Central: Mrs. Duggan dünn, groß und hektisch, Mrs. Doubbet klein, dick und langsam, ihre Stimmen fast gegensätzlich, was Timbre und Tonlage anging, ihre Leben miteinander verflochten. Sie lebten in nebeneinander gelegenen viktorianischen Häusern an der Broad Avenue, besuchten dieselbe Kirche, nahmen gemeinsam an Kursen in Peoria teil und verbrachten ihre Ferien zusammen in Florida; zwei unvollständige Persönlichkeiten, die ihre Fähigkeiten und Schwächen irgendwie kombinierten und so ein ausgewogenes Individuum schufen.

In diesem letzten Jahr der Vorherrschaft von Old Central war Mrs. Duggan kurz vor dem Erntedankfest krank geworden. Krebs, hatte Mrs. O’Rourke, Dales Mutter, mit Flüsterstimme verraten, als sie glaubte, die beiden Jungs würden nicht zuhören. Mrs. Duggan war nach den Weihnachtsferien nicht mehr zum Unterricht erschienen, aber anstatt eine Vertretung die Nachmittagsstunden übernehmen zu lassen und dadurch zu bestätigen, dass es bei Mrs. Duggan was Ernstes war, hatte Mrs. Doubbet die Fächer übernommen, die sie verabscheute – »nur bis Cora zurückkommt« – und derweil ihre Freundin gepflegt, zuerst in dem großen rosa Haus in der Broad, dann im Krankenhaus, bis eines Morgens nicht einmal mehr das alte Doppelbett erschienen war, zum ersten Male seit vier Jahrzehnten eine Aushilfe die sechste Klasse übernahm und man auf dem Spielplatz flüsterte, dass Mrs. Duggan gestorben sei. Das war am Tag vor dem Valentinstag.

Die Beerdigung fand in Davenport statt, und keiner der Schüler nahm daran teil. Auch wenn sie hier in Elm Haven gewesen wäre, hätte kein Schüler daran teilgenommen. Mrs. Doubbet kam zwei Tage später zurück.

Dale musterte die alte Frau und spürte so etwas wie Mitleid. Mrs. Doubbet war immer noch dick, aber jetzt hing das Gewicht an ihr wie ein zu groß geratener Mantel.

Wenn sie sich bewegte, wabbelten und schlotterten die Unterseiten ihrer dicken Arme, als hinge ihr Krepppapier von den Knochen. Ihre Augen waren dunkler geworden und lagen so tief in den Höhlen, dass sie wie Blutergüsse wirkten.

Momentan saß die Lehrerin bloß da und starrte aus dem Fenster; ihr Gesichtsausdruck war so leer und hoffnungslos wie der von Cordie Cooke. Das blau getönte Haar wirkte zerzaust und gelblich an den Wurzeln, und das Kleid saß seltsam schief, als hätte sie es irgendwo falsch zugeknöpft. Irgendein übler Geruch umwehte sie, der Dale an den Geruch von Mrs. Duggan kurz vor Weihnachten erinnerte.

Dale seufzte und verlagerte sein Gewicht. 14.52 Uhr.

Der Hauch einer Bewegung war auf dem Flur zu sehen, ein verstohlenes Huschen, ein blasses Leuchten, und Dale erkannte Tubby Cooke, Cordies fetten und verblödeten Bruder, der über den Flur schlich. Tubby linste herein und versuchte, die Aufmerksamkeit seiner Schwester auf sich zu lenken, ohne vom Doppelbett bemerkt zu werden. Aber vergebens. Cordie war vom Himmel draußen hypnotisiert und hätte ihren Bruder nicht bemerkt, wenn er einen Backstein nach ihr geworfen hätte.

Dale nickte Tubby knapp zu. Der große Viertklässler in der Latzhose zeigte ihm den Stinkefinger, hielt etwas hoch, vielleicht einen Passierschein für die Toilette, und verschwand wieder im Schatten.

Dale verlagerte das Gewicht. Tubby spielte gelegentlich mit ihm und seinen Freunden, obwohl die Cookes in einer mit Dachpappe verkleideten Hütte aus Betonziegeln draußen bei den Bahngleisen in der Nähe des Getreidesilos wohnten. Tubby war dick, hässlich, dumm und schmutzig und kannte mehr schlimme Wörter als jeder andere Viertklässler, der Dale bisher begegnet war, aber das wäre letztendlich kein Hindernis gewesen, Mitglied der Gruppe von Stadtkindern zu sein, die sich selbst die »Fahrradpatrouille« nannten. Normalerweise jedoch wollte Tubby nichts mit Dale und seinen Freunden zu tun haben.

Dale fragte sich kurz, was der Idiot im Schilde führen konnte, dann sah er wieder auf die Uhr. Es war immer noch 14.52 Uhr.

Insekten in Bernstein.

Tubby Cooke gab es auf, seiner Schwester zu winken, und ging zur Treppe, ehe Doppelbett oder eine andere Lehrerin ihn auf dem Flur bemerkten. Tubby hatte zwar von Mrs. Groissant einen Passierschein für die Toilette, aber das bedeutete nicht, dass eine der alten Tanten ihn nicht in sein Klassenzimmer zurückschicken würde, wenn sie ihn beim Herumlungern auf dem Flur erwischte.

Tubby schlurfte die breite Treppe hinunter und sah die Stellen, wo das Holz von Generationen von Kinderfüßen abgetreten worden war, dann hastete er über den Treppenabsatz unter dem runden Fenster. Das aufziehende Gewitter hatte das einfallende Licht widerlich rot verfärbt. Tubby ging unter den leeren Regalen der ehemaligen Stadtbibliothek entlang, die um das gesamte Zwischengeschoss führten, ohne sie richtig zu bemerken. Die Regale standen leer, seit Tubby hier zur Schule ging.

Er hatte es eilig. Der Unterricht dauerte keine halbe Stunde mehr, und er wollte nach unten zur Knabentoilette, bevor der Tag zu Ende war und sie diese verfluchte alte Hütte für immer schlossen.

Im Erdgeschoss fiel mehr Licht herein, und durch die summende Betriebsamkeit der Klassen eins bis drei wirkte dieses Stockwerk irgendwie menschlicher, obwohl das dunkle Treppenhaus in die Dunkelheit der oberen Etagen mündete. Tubby eilte quer durch die offene Halle, bevor einer der Lehrer ihn sehen konnte, ging durch eine Tür und lief die Treppe in den Keller hinunter.

Es war seltsam, dass die dumme Schule keine Toiletten im Erdgeschoss oder im ersten Stock hatte. Nur im Keller gab es Klos, aber dafür zu viele … Die WCs für die Grund- und Mittelstufe, das abgeschlossene Klo neben dem zurückversetzten Zimmer mit der Aufschrift LEHRER-AUFENTHALTSRAUM, die kleine Toilette neben dem Heizraum, wo Van Syke pinkeln ging, wenn er mal musste, und darüber hinaus eine Menge weitere Räumlichkeiten – möglicherweise ebenfalls Klos – in den unbenutzten Fluren, die in der Dunkelheit verschwanden.

Tubby wusste wie viele Kinder, dass es noch Treppen gab, die vom Keller aus abwärtsführten, aber Tubby war genau wie die anderen noch nie da unten gewesen und hatte es auch nicht vor. Herrgott, da unten gab es nicht mal Licht! Niemand außer Van Syke und möglicherweise Rektor Roon wussten, was da unten lag.

Wahrscheinlich noch mehr Klos, dachte Tubby.

Er steuerte auf die Toilette für die höheren Klassen mit der Aufschrift BOY’S zu. Das Schild war schon seit Menschengedenken so. Tubbys Alter hatte ihm erzählt, es sei schon so gewesen, als er noch hier zur Schule gegangen war, und Tubby wie auch sein Alter wussten nur deshalb, dass der Wiehießerdochgleich, der Apostroph an der falschen Stelle war, weil die alte Lady Duggan von der sechsten Klasse dauernd herumgenörgelt und sich beschwert hatte, dass es so nicht stimmte. Schon als Tubbys Alter noch ein Kind gewesen war, hatte sie deswegen Zustände gekriegt. Nun, jetzt war die alte Lady Duggan tot und verfaulte auf dem Calvary-Friedhof hinter der Black Tree Tavern, wo Tubbys Alter fast den ganzen Tag rumhing, und Tubby fragte sich, warum die alte Frau das Wort nicht einfach geändert hatte, wenn es ihr so viel Kopfzerbrechen bereitete. Sie hatte an die hundert Jahre Zeit gehabt, hier runterzusteigen und das Schild neu zu beschriften. Tubby vermutete, dass sie sich gern deswegen aufgeregt hatte … weil sie dann oberschlau wirkte und andere Menschen, wie Tubby und sein Vater, sich dumm vorkamen.

Tubby eilte den dunklen Flur entlang. Hier waren die Backsteinwände vor Jahrzehnten grün und braun gestrichen worden, an der niedrigen Decke verliefen Rohre und die Sprinkleranlage, und man hatte den Eindruck, als würde man durch einen langen, schmalen Tunnel auf eine Gruft zumarschieren.

Wie in dem Film über die Mumie, den Tubby im vergangenen Sommer gesehen hatte, als der Freund seiner älteren Schwester Maureen ihn und Cordie im Kofferraum ins Autokino von Peoria geschmuggelt hatte. Es war ein guter Film gewesen, aber Tubby hätte ihn mehr genossen, wenn er nicht ständig das Schmatzen, Schlabbern und Stöhnen auf dem Rücksitz hätte mit anhören müssen, wo Maureen es mit diesem pickligen Jungen namens Berk getrieben hatte.

Jetzt war Maureen schwanger und lebte mit Berk hinter der Müllhalde ganz in der Nähe von Tubbys Zuhause, aber er glaubte nicht, dass sie und dieser dämliche Berk verheiratet waren.

Cordie hatte die ganze Zeit verkehrt herum auf dem Vordersitz gekauert und lieber die geile Maureen und Berk beobachtet, statt sich die tollen Filme anzusehen.

Tubby hielt vor dem Eingang zur Toilette mit der Aufschrift BOY’S inne und lauschte, ob noch irgendjemand anders hier unten war. Manchmal lauerte der alte Van Syke den Kindern im Keller auf, und wenn sie Unfug anstellten, wie Tubby es vorhatte, aber auch, wenn sie gar nichts machten, verpasste Van Syke ihnen einen Schlag auf den Kopf oder kniff sie schmerzhaft in den Oberarm. Er tat nicht allen Kindern weh, den reichen Rotznasen wie Dr. Staffneys Tochter, dieser Dingsda … Michelle, zum Beispiel nicht, nur Kindern wie Tubby oder Gerry Daysinger und so. Kinder von Eltern, denen es scheißegal war oder die selber Angst vor Van Syke hatten.

Eine Menge Kinder hatten jedenfalls Angst vor Van Syke. Tubby fragte sich, ob auch viele Eltern Angst vor ihm hatten. Er lauschte, hörte nichts und schlich dann auf Zehenspitzen in die Toilette.

Sie war dunkel, niedrig und lang geschnitten. Es gab keine Fenster, und nur eine Glühbirne funktionierte. Die Urinale waren uralt und sahen aus, als wären sie aus irgendeinem glatten Stein oder was in der Art. Dauernd rann in ihnen das Wasser. Die sieben Toilettenkabinen waren verwüstet und vollgekritzelt. Tubbys Namen konnte man in zweien finden, den seines Alten in der letzten, und alle bis auf zwei hatten ihre Türen eingebüßt. Aber Tubby hatte was hinter den Waschbecken und Urinalen vor, hinter den Kabinen, im dunkelsten Bereich hinten bei der Außenwand.

Sie bestand aus Stein. Die gegenüberliegende Wand, wo sich die Urinale befanden, war aus rauen Ziegeln gebaut. Aber die Innenwand hinter den Kabinen bestand nur aus einer Art Gips, und dort stand Tubby jetzt und grinste.

Denn in dieser Wand war ein Loch; ein Loch, das zwölf oder fünfzehn Zentimeter über dem kalten Steinboden anfing (wie konnte noch ein Keller unter so einem Steinboden sein?) und fast neunzig Zentimeter hoch war. Tubby konnte frischen Gipsstaub auf dem Boden sehen, verfaulte Latten ragten wie freigelegte Rippen aus dem Loch hervor.

Seit Tubby heute Morgen hier unten gewesen war, hatten sich andere Kinder daran zu schaffen gemacht. Das war in Ordnung. Sie konnten einen Teil der Arbeit übernehmen, Hauptsache, es war Tubby, der dem Ding den letzten Arschtritt verpasste.

Tubby bückte sich und spähte in das Loch. Es war jetzt schon so breit, dass er den Arm reinstecken konnte, was er auch tat, und dabei spürte er eine Armeslänge weiter drinnen eine Mauer aus Stein oder Ziegeln. Links und rechts tastete Tubby nichts als freien Raum, und er fragte sich, wieso jemand diese neue Wand eingezogen hatte, wo die alte noch dahinter war.

Er zuckte die Achseln und fing an zu kicken. Das machte ziemlichen Lärm, der Gips bekam Sprünge, Latten splitterten, Stücke von der Wand und Staub flogen überallhin, aber Tubby war sich trotzdem sicher, dass ihn niemand hören würde. Die Mauern dieser dämlichen Schule waren dicker als die einer Burg.

Van Syke geisterte in diesen Kellerräumen herum, als würde er hier wohnen. Und vielleicht wohnt er ja echt hier, überlegte Tubby, niemand war ihm je anderswo begegnet … aber der unheimliche Hausmeister mit den schmutzigen Händen und gelben Zähnen war seit Tagen von keinem Schüler mehr gesehen worden, und es war ihm sowieso furzegal, ob manche der Boys (Boy’s, grinste Tubby) im Keller auf dem Klo eine Wand eintraten. Warum sollte sich Van Syke auch daran stören? In ein oder zwei Tagen würden sie dieses große alte Scheißhaus von einer Schule ohnehin zunageln. Und dann abreißen. Warum also sollte sich Van Syke daran stören?

Tubby kickte mit einer Verbissenheit gegen die Wand, die er sonst nur selten an den Tag legte, und ließ seine ganze Frustration an ihr aus. Fünf beschissene Jahre in dieser Schule, davor schon im Kindergarten, die ganze Zeit hatten sie ihn in diesem Schrotthaufen von einer Schule einen »langsamen Schüler« genannt. Fünf Jahre als »Verhaltensgestörter«, in denen er hier eingepfercht mit alten Schachteln wie Mrs. Groissant und Mrs. Howe und Mrs. Farris gehockt hatte, immer an einem Pult ganz in ihrer Nähe, damit sie ihn »im Auge behalten« konnten, sodass er ständig ihren Altweibermief riechen, ihren Altweiberstimmen zuhören und sich ihren Altweiberregeln beugen musste …

Tubby trat gegen die Wand und spürte, wie sie jetzt, wo das Loch größer wurde, zusehends nachgab, bis plötzlich Mörtelbrocken über seine Turnschuhe purzelten, ein sechzig mal eins zwanzig großes Stück einbrach und er in ein Loch blickte: Ein großes Loch. Eine richtige Höhle!

Tubby war ein dicker Viertklässler, aber dieses Loch war so groß, dass selbst er fast hineinpasste. Nein, er passte hinein! Ein ganzer Abschnitt der Wand war eingestürzt, sodass das Loch jetzt beinahe wie eine Luke in einem Unterseeboot wirkte. Tubby drehte sich zur Seite, steckte den linken Arm und die Schulter in die Öffnung, ließ den Kopf noch einen Moment draußen, und ein breites Grinsen legte sich über sein Gesicht. Dann hievte er das linke Bein in die Lücke zwischen der Trennwand und der alten Mauer dahinter. Das war ja ein verdammter Geheimgang hier!

Tubby duckte sich und trat ganz in das Loch, zog das rechte Bein nach, bis nur noch sein Kopf und ein Teil seiner Schulter herausragten. Er machte sich noch kleiner und zwängte sich mit einem leisen Grunzen in die kühle Dunkelheit.

Cordie oder mein Alter würden sich tierisch aufregen, wenn sie jetzt reinkämen. Natürlich würde Cordie niemals eine Toilette für Boy’s betreten. Oder doch? Tubbys Schwester war ziemlich daneben. Vor zwei Jahren, als sie selbst noch in die vierte Klasse ging, hatte Cordie den Baseballstar der Jugendliga Chuck Sperling, seines Zeichens ein komplettes Arschloch, bis zum Spoon River verfolgt, als er allein angeln gegangen war, hatte ihn den halben Vormittag beobachtet und schließlich überfallen, niedergeschlagen, sich auf seinen Bauch gesetzt und gedroht, sie würde ihm den Kopf mit einem Stein einschlagen, wenn er ihr nicht seinen Pimmel zeigte.

Laut Cordie hatte Sperling ihn weinend und Blut spuckend herausgeholt und ihr gezeigt. Tubby war sich ziemlich sicher, dass sie das außer ihm niemandem erzählt hatte, und er war ganz sicher, dass Sperling es niemandem je erzählen würde.

Tubby lehnte sich in seiner kleinen Höhle zurück, spürte den Mörtelstaub in seinem Bürstenschnitt und grinste in die spärlich erhellte Toilette. Er würde rausspringen und dem nächsten Jungen, der pinkeln musste, einen Heidenschreck einjagen.

Tubby wartete zwei oder drei Minuten lang, aber niemand kam. Einmal war ein Schlurfen oder Rasseln im Hauptkorridor des Kellers zu hören, aber dem folgte kein Turnschuhtappen, und niemand machte die Tür auf. Die einzigen anderen Geräusche waren das ständige Rinnen des Wassers in den Urinalen und ein leises Blubbern in den Rohren an der Decke, als würde die verfluchte Schule mit sich selbst reden.

Hier ist es wie in einem Geheimgang, dachte Tubby wieder, drehte den Kopf nach links und blickte die schmale Passage zwischen den beiden Wänden entlang. Es war dunkel und roch wie der Boden unter der Veranda seines Hauses, wo er sich vor seiner Ma und seinem Alten versteckt und gespielt hatte, als er noch kleiner war. Derselbe erdige, durchdringende Fäulnisgeruch.

Gerade als ihm etwas mulmig in dem engen Schacht wurde, sah Tubby ein Licht am anderen Ende der Passage, ungefähr dort, wo sich das Ende der Toiletten und die Außenmauern befanden, vielleicht ein Stückchen weiter. Und eigentlich war es gar kein Licht, sondern eher eine Art Leuchten. So ähnlich wie der weiche, grüne Schimmer, den Tubby schon nachts im Wald an verfaulenden Pilzen gesehen hatte, wenn er und sein Alter auf der Jagd gewesen waren.

Tubby spürte, wie es ihm am Hals kalt wurde. Er wollte schon aus dem Loch kriechen, doch dann wurde ihm klar, was das Leuchten bedeuten musste, und er grinste. Die Mädchentoilette nebenan (GIRLS’ – hier hatte es der Schildermaler richtig gemacht) musste eine Öffnung haben. Tubby stellte sich vor, wie er durch das Loch oder den Spalt, durch den das Leuchten drang, ins Mädchenklo spähte.

Mit etwas Glück konnte er ein Mädchen pinkeln sehen. Vielleicht sogar Michelle Staffney oder Darlene Hansen oder eine der anderen hochnäsigen Sechstklässlergören, mit den Schlüpfern auf den Knöcheln und entblößten Schamteilen.

Tubby spürte sein Herz klopfen, spürte sein Blut auch in einem anderen Körperteil pochen und schob sich seitwärts, weg von dem Ausgang und tiefer hinein in die Passage. Es war sehr eng.

Tubby blinzelte Spinnweben und Staub aus den Augen, roch das Unter-der-Veranda-Aroma von Erde ringsum und arbeitete sich dem Leuchten entgegen, weg vom Licht.

Dale und die anderen hatten sich in einer Reihe aufgestellt, bereit, ihre Zeugnisse in Empfang zu nehmen und verabschiedet zu werden, als das Kreischen anfing. Zuerst war es so laut, dass Dale es für ein merkwürdig hohes Donnergrollen des Gewitters hielt, das immer noch den Himmel vor den Fenstern verfinsterte. Aber es war zu schrill und dauerte zu lange, als dass es zu dem Unwetter gehören konnte – obwohl es sich andererseits auch nicht menschlich anhörte.

Zuerst schien das Geräusch von oben zu kommen, von der Treppe zur dunklen Etage der Highschool her, aber dann begann es von den Wänden widerzuhallen, von unten, sogar von den Rohren und dem Heizkörper aus Metall. Und es hörte nicht auf. Dale und sein Bruder Lawrence hatten im vergangenen Sommer auf der Farm von Onkel Henry und Tante Lena erlebt, wie man dort ein Schwein schlachtete. Man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten und es kopfüber an einem Balken in der Scheune über eine Blechschüssel gehängt, mit der man das Blut auffing. Dieses Geräusch jetzt erinnerte ihn daran: dasselbe Falsettkreischen und Quietschen, als würden Fingernägel über eine Schiefertafel gezogen, gefolgt von einem tieferen, volltönenderen Schrei, der in ein Gurgeln überging. Und dann fing es wieder an. Und wieder.

Mrs. Doubbet, im Begriff, dem ersten Schüler der Reihe – Joe Allen – sein Zeugnis auszuhändigen, erstarrte, drehte sich zur Tür um und fixierte sie noch einen Augenblick, nachdem das Geräusch endgültig verstummt war, als würde sie damit rechnen, dass der Verursacher des Geschreis dort auftauchen würde. Dale dachte, dass sich in den entsetzten Gesichtsausdruck der alten Frau noch etwas anderes mischte … Vorfreude?

Eine dunkle Gestalt tauchte im Halbdunkel unter der Tür auf, und die Klasse, die immer noch in alphabetischer Ordnung aufgereiht stand, holte kollektiv Luft.

Es war jedoch nur Dr. Roon, der Rektor, dessen dunkler Nadelstreifenanzug und eingeöltes schwarzes Haar mit der Finsternis des Flurs hinter ihm verschmolzen, sodass sein schmales Gesicht missbilligend dort zu schweben schien. Dale betrachtete die rosa Haut des Mannes und dachte nicht zum ersten Mal: Wie die Haut einer neugeborenen Ratte.

Dr. Roon räusperte sich und nickte der alten Doppelbett zu, die noch genau wie vorher Joe Allen sein Zeugnis hinhielt, die Augen aufgerissen und so blass, dass das Rouge und das übrige Make-up auf ihren Wangen aussahen wie bunter Kreidestaub auf weißem Pergament.

Dr. Roon blickte auf die Uhr: »Es ist … äh … Viertel nach drei. Ist die Klasse zur Verabschiedung bereit?«

Mrs. Doubbet brachte ein Nicken zustande. Die rechte Hand hatte sie so fest um Joes Zeugnis geklammert, dass Dale fast damit rechnete, das Knacken von splitternden Knöcheln zu hören.

»Äh … ja«, sagte Dr. Roon und ließ den Blick über die siebenundzwanzig Schüler schweifen, als wären sie Eindringlinge in seinem Gebäude. »Nun, Jungs und Mädchen, ich wollte euch nur mitteilen, dass es sich bei dem seltsamen Geräusch, das ihr eben gehört habt, wie Mr. Van Syke mir versicherte, lediglich um den Boiler handelte, der getestet wurde.«

Jim Harlen drehte sich einen Moment lang um, und Dale war sicher, dass er eine komische Grimasse schneiden würde – eine todsichere Katastrophe für Dale, der so nervös war, dass er dabei garantiert in hysterisches Gelächter ausgebrochen wäre. Und Dale wollte um nichts auf der Welt nachsitzen müssen. Doch Harlen riss nur die Augen zu einer Miene auf, die mehr skeptisch als komisch wirkte, und wandte sich wieder zu Dr. Roon um.

echt?

Jim Harlen bückte sich und reckte der alten Schule seinen Hintern entgegen.

»Ich glaube, es war das alte Doppelbett, das einen Furz gelassen hat«, sagte er und lieferte den entsprechenden Geräuscheffekt dazu.

»Hey«, rief Dale, zielte mit dem Fuß auf Harlens Allerwertesten und nickte zu seinem kleinen Bruder hinüber. »Pass auf, was du sagst, Harlen.«

Aber Lawrence wälzte sich schon lachend im Gras.

Die Schulbusse fuhren auf verschiedenen Straßen davon. Der Schulhof leerte sich zusehends, Schüler hasteten unter den hohen Ulmen davon, auf der Flucht vor dem drohenden Unwetter.

Dale blieb am Rand des Baseballfelds stehen, genau gegenüber seinem Haus, und betrachtete die Wolken, die sich über Old Central auftürmten. Die Luft war schwül und so still wie vor Sturmwarnungen, aber er bemerkte jetzt, dass die Gewitterfront schon fast vorbeigezogen war. Im Süden war über den Bäumen ein Streifen blauer Himmel zu sehen. Noch während die Jungen hinsahen, kam Wind auf, brachte die Blätter der Bäume rings um den Block zum Rauschen, und der Sommergeruch von frisch gemähtem Gras, von Blüten und Vegetation erfüllte die Luft.

»Schaut mal«, sagte Dale.

»Ist das nicht Cordie Cooke?«, fragte Mike.

»Ja.« Die plumpe Gestalt stand allein vor dem Nordeingang zur Schule, hatte die Arme verschränkt und wippte mit dem Fuß auf und ab. In dem zu großen Hauskleid, das fast auf dem Kies schleifte, sah sie altbackener und dümmer aus denn je. Die zwei kleinen Cooke-Zwillinge aus der ersten Klasse standen in schlotternden Latzhosen hinter ihr. Die Cookes wohnten so weit außerhalb der Stadt, dass sie ein Recht auf Transport mit dem Schulbus gehabt hätten, aber kein Bus fuhr Richtung Getreidesilo und Müllhalde, daher gingen Cordie und ihre drei Brüder zu Fuß auf den Eisenbahnschienen nach Hause. Jetzt schrie sie etwas in das Gebäude hinein.

Dr. Roon tauchte unter der Tür auf und scheuchte sie mit einem Wedeln seiner rosa Hand fort. Weiße Schlieren in den hohen Fenstern oben hätten die Gesichter von Lehrern sein können, die heraussahen. Mr. Van Sykes Visage schwebte hinter dem Rektor in der dunklen Türöffnung.

Roon rief noch etwas, drehte sich um und machte die große Tür zu. Cordie Cooke bückte sich, hob einen Stein vom Kiesweg auf und warf ihn Richtung Schule. Der Stein prallte von der Fensterscheibe des Haupteingangs ab.

»Großer Gott«, hauchte Kevin.

Die Tür wurde aufgerissen, und Van Syke stürmte in dem Augenblick heraus, als Cordie die Hände ihrer beiden kleinen Brüder schnappte und den Kiesweg nahm. Auf der Depot Street hasteten sie in Richtung Schienen davon. Für ein dickes Mädchen bewegte sie sich ziemlich schnell. Einer ihrer Brüder stolperte, als sie die Third Avenue überquerten, aber Cordie zerrte ihn einfach mit, bis er wieder Tritt fasste. Van Syke trabte zum Rand des Schulgeländes und blieb dort stehen, seine langen Finger machten Greifbewegungen in der Luft.

»Großer Gott«, sagte Kevin wieder.

»Kommt mit«, sagte Dale. »Ziehen wir Leine. Meine Mom hat gesagt, sie hat nach der Schule für uns alle Zitronenlimonade.«

Die Gruppe der Jungs verließ mit einem Jubelruf den Schulhof, eilte unter den Ulmen dahin, hüpfte über den Asphaltbelag der Depot Street und rannte der Freiheit und dem Sommer entgegen.