Für Christopher Hitchens
und für Gisela Stege (1927–2003)
in Dankbarkeit
TEIL I: ESSAYS
Out of Kansas
Die besten jungen britischen Romanciers
Angela Carter
Beirut Blues
Arthur Miller mit achtzig
Wieder einmal – Zur Verteidigung des Romans
Bemerkungen über das Schreiben und die Nation
Einfluss
Die Adaptation der Mitternachtskinder
Reservoir Frogs (oder Lokale, die Mama’s heißen)
Heavy Threads: Frühe Abenteuer im Klamottenhandel
In der Voodoo Lounge
Rockmusik – Notizen aus der Hinterhand
U2
Eine alternative Karriere
Über gesäuertes Brot
Über das Fotografiertwerden
Crash: Prinzessin Dianas Tod
Der Volkssport: Notizen eines Fans
Über die Straußenzucht
Eine Commencement-Rede am Bard College, New York
»Imagine There’s No Heaven«: Ein Brief an den sechsmilliardsten Erdenbürger
»Verdammich, das ist eben der Orient!«
Indiens fünfzigster Geburtstag
Gandhi heute
Der Taj Mahal
Das Baburnama
Der Traum von einer glorreichen Heimkehr
TEIL ZWEI:
BOTSCHAFTEN AUS DEN JAHREN DER HEIMSUCHUNG
TEIL DREI: KOLUMNEN
Dezember 1998: Drei Staatschefs
Januar 1999: Das Millennium
Februar 1999: Zehn Jahre Fatwa
März 1999: Globalisierung
April 1999: Rockmusik
Mai 1999: Der Trottel des Jahres
Juni 1999: Kaschmir
Juli 1999: Nordirland
August 1999: Kosovo
September 1999: Darwin in Kansas
Oktober 1999: Edward Said
November 1999: Pakistan
Dezember 1999: Der Islam und der Westen
Januar 2000: Terror vs. Sicherheit
Februar 2000: Jörg Haider
März 2000: Amadou Diallo
April 2000: Elián González
Mai 2000: J. M. Coetzee
Juni 2000: Fidschi
Juli 2000: Sport
August 2000: Zwei Abstürze
September 2000: Senator Lieberman
Oktober 2000: Der Human Rights Act
November 2000: Auf ins Wahlmännerkollegium
Dezember 2000: Eine große Koalition?
Januar 2001: Wie der Grinch Amerika gestohlen hat
Februar 2001: Die Korruption meldet sich zurück
März 2001: Tiger und Drache
April 2001: Ich war’s nicht
Mai 2001: Abtreibung in Indien
Juni 2001: Reality-TV
Juli 2001: Die Freilassung der Bulger-Mörder
August 2001: Arundhati Roy
September 2001: Telluride
Oktober 2001: Die Angriffe auf Amerika
November 2001: Nicht um den Islam?
Februar 2002: Antiamerikanismus
März 2002: Gott in Gujarat
TEIL VIER:
ÜBERSCHREITEN SIE DIESE GRENZE!
Danksagung
Register
Erläuterungen
Meine erste Kurzgeschichte schrieb ich mit zehn Jahren in Bombay. Ihr Titel lautete Over the Rainbow. Sie bestand aus etwa einem Dutzend Seiten, von der Sekretärin meines Vaters gewissenhaft auf Durchschlagpapier getippt, und ging bei den vielen Umzügen meiner Familie, die uns zwischen Indien, England und Pakistan hin- und herführten, schließlich verloren. Kurz vor seinem Tod im Jahre 1987 behauptete mein Vater, in einem alten Aktenhefter eine halb vermoderte Kopie gefunden zu haben, legte sie mir aber trotz meiner inständigen Bitten niemals vor. Ich habe oft über diesen Vorfall nachgedacht. Vielleicht hatte er die Geschichte ja gar nicht gefunden, sondern nur den Verlockungen der Phantasie nachgegeben, und dies war das letzte von zahlreichen Märchen, die er mir erzählt hatte. Oder er hatte sie doch gefunden, sie aber als einen Talisman und Erinnerung an problemlosere Zeiten für sich behalten, sie als seinen – nicht meinen – persönlichen Schatz betrachtet, als seinen Topf voll nostalgischem, elterlichem Gold.
An die Geschichte selbst erinnere ich mich nicht mehr genau. Sie handelte von einem zehnjährigen Jungen aus Bombay, der eines Tages zufällig auf den Anfang eines Regenbogens stößt, einen Ort, der ebenso schwer aufzufinden ist wie das Ende mit dem Topf voll Gold und nicht weniger verheißungsvoll. Der Regenbogen ist breit, so breit wie der Bürgersteig, und sieht aus wie eine riesige Treppenflucht. Natürlich beginnt der Junge hinaufzusteigen. Seine Abenteuer habe ich so gut wie vollständig vergessen, bis auf die Begegnung mit einem sprechenden Pianola, dessen Persönlichkeit eine unmögliche Mischung aus Judy Garland, Elvis Presley und den »Playback Singers« der Hindi-Filme ist, gegen die Der Zauberer von Oz wirkt wie eine biedere Abfolge von Küchenliedern.
Mein schlechtes Gedächtnis – das, was meine Mutter als »Vergesserei« bezeichnen würde – ist vermutlich ein Segen. An alles, was wichtig ist, erinnere ich mich jedenfalls. Ich erinnere mich, dass Der Zauberer von Oz (der Film, nicht das Buch, das ich als Kind nicht gelesen habe) das erste literarische Produkt war, das mich beeinflusste. Mehr noch: Ich erinnere mich, dass ich, als zum ersten Mal die Rede davon war, mich möglicherweise in England zur Schule zu schicken, diesen Vorschlag ebenso aufregend fand wie eine Reise hinter den Regenbogen. England war für mich ein nicht weniger wundervolles Ziel als Oz.
Der Zauberer hingegen wohnte bei uns in Bombay. Mein Vater, Anis Ahmed Rushdie, war ein märchenhafter Vater für kleine Kinder, aber er neigte auch zu Explosionen, donnernden Wutausbrüchen, emotionalen Blitzschlägen, Rauchwolken von schnaubendem Drachenqualm und anderen Einschüchterungsversuchen, wie sie von Oz praktiziert wurden, diesem großen, furchtbaren, dem ersten Zauberer de luxe. Als sich später dann der Vorhang hob und wir, seine heranwachsenden Sprösslinge, (wie Dorothy) die Wahrheit über den Humbug der Erwachsenen entdeckten, fiel es uns leicht, genau wie sie unseren Zauberer für einen wirklich sehr bösen Mann zu halten. Ein halbes Leben lang brauchte ich, um zu entdecken, dass des Großen Oz’ apologia pro vita sua haargenau auf meinen Vater passte; dass auch er ein guter Mensch, aber ein ziemlich miserabler Zauberer war.
Ich habe mit diesen persönlichen Reminiszenzen begonnen, weil Der Zauberer von Oz ein Film ist, dessen treibende Kraft die Unzulänglichkeit der Erwachsenen ist, selbst der guten Erwachsenen. Anfangs zwingen die Schwächen der Erwachsenen die kleine Dorothy, die Kontrolle über ihr Schicksal (und das ihres Hundes) selbst in die Hand zu nehmen. Damit beginnt ironischerweise für sie der Prozess, selber zur Erwachsenen zu werden. Der Weg von Kansas nach Oz ist ein Ritus des Übergangs von einer Welt, in der Dorothys Pflegeeltern, Tante Em und Onkel Henry, ihr nicht helfen können, ihren Hund Toto vor der bösen Miss Gulch zu retten, in eine Welt, in der die Menschen nicht größer sind als sie selbst und in der sie nicht als Kind behandelt wird, sondern als Heldin. Zu diesem Ruf gelangt sie allerdings rein zufällig, weil sie mit dem Beschluss ihres Hauses, die böse Hexe des Ostens zu zerquetschen, nicht das Geringste zu tun hatte; am Ende ihres Abenteuers ist sie jedoch so groß geworden, dass sie deren Schuhe, die berühmten rubinroten Schuhe, ausfüllen kann. »Wer hätte gedacht, dass ein so gutes kleines Mädchen meine herrliche Bosheit vernichten würde«, lamentiert die böse Hexe des Westens, als sie dahinschmilzt – eine Erwachsene, die kleiner wird als ein Kind und vor einem Kind zurückweicht. Während die böse Hexe des Westens dahinschmilzt, sieht man, dass Dorothy aufzuwachsen scheint. Das ist meiner Ansicht nach eine weitaus zufriedenstellendere Erklärung für Dorothys neu gewonnene Macht über die rubinroten Schuhe als die sentimentalen Gründe, die von der unsäglich gefühlsduseligen guten Hexe Glinda und dann von Dorothy selbst in dem süßlichen Schluss genannt werden, einem Schluss, der für mich nicht zu dem eher anarchischen Geist des Filmes passt. (Mehr darüber später.)
Angesichts der Hilflosigkeit von Tante Em und Onkel Henry gegenüber Miss Gulch, die den Hund Toto vernichten will, beschließt Dorothy, wie Kinder es eben tun, von zu Hause wegzulaufen – zu fliehen. Das ist der Grund, warum sie sich, als der Tornado zuschlägt, nicht mit den anderen im Sturmkeller aufhält, sondern zu einer Flucht davongewirbelt wird, die ihre kühnsten Träume übersteigt. Als sie später jedoch mit der Schwäche des Zauberers von Oz konfrontiert wird, läuft sie nicht davon, sondern zieht tapfer zu Felde – zunächst gegen die Hexe, dann aber gegen den Zauberer selbst. Die Unfähigkeit des Zauberers ist eine der vielen Symmetrien des Films und passt zu den Schwächen von Dorothys Verwandten; wichtig ist jedoch Dorothys unterschiedliche Reaktion auf diese beiden.
Der Zehnjährige, der sich im Metro-Kino von Bombay den Film Der Zauberer von Oz ansah, wusste sehr wenig von fremden Ländern und noch weniger vom Erwachsenwerden. Dafür wusste er sehr viel mehr vom Kino des Phantastischen als jedes westliche Kind im selben Alter. Im Westen war Der Zauberer von Oz etwas Ausgefallenes, ein Versuch, so etwas wie die lebensechte Action-Version eines Comics von Walt Disney zu machen, obwohl die Filmindustrie wusste (wie sich die Zeiten ändern!), dass Fantasy-Filme gewöhnlich ein Flop wurden. Es scheint nur wenig Zweifel daran zu geben, dass es der große Erfolg von Schneewittchen und die sieben Zwerge war, der MGM veranlasste, einem 39 Jahre alten Buch seine ganze, uneingeschränkte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Dies war jedoch nicht die erste Filmversion. Den Stummfilm von 1925 habe ich nicht gesehen, aber es heißt, dass er nicht gut sein soll. Immerhin jedoch gab Oliver Hardy darin den Blechmann.
Der Zauberer von Oz spielte so gut wie gar kein Geld ein, bis er Jahre nach seinem ursprünglichen Kinostart zu einem oft wiederholten Film im Fernsehen wurde, obwohl – das sollte man nicht vergessen – die Tatsache, dass er nur wenige Tage vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs anlief, seine Chancen mit Sicherheit verringert hat. In Indien dagegen passte er genau in das, was damals der Mainstream der »Bollywood«-Filmproduktion war und es bis heute geblieben ist.
Es ist leicht, sich über die kommerzielle Filmindustrie in Indien lustig zu machen. In James Ivorys Film Bombay Talkie (deutsch Hollywood in Bombay) besucht eine Journalistin (die 1984 verstorbene, rührende Jennifer Kendal) ein Aufnahmestudio und beobachtet eine verblüffende Tanznummer, bei der knapp bekleidete Mädchen auf den Tasten einer riesigen Schreibmaschine tanzen. Der Regisseur erklärt ihr, dies sei nichts weniger als die Schreibmaschine des Lebens, und dass wir alle auf dieser gigantischen Maschine »die Geschichte unseres Schicksals« tanzen. »Das ist sehr symbolisch«, sagt die Journalistin. Und der Regisseur antwortet mit leicht verkniffenem Lächeln: »Danke.«
Schreibmaschinen des Lebens, Sexgöttinnen in nassen Saris (das indische Äquivalent zu nassen T-Shirts), Götter, die vom Himmel herabsteigen, um in die Probleme der Menschen einzugreifen, Zaubertränke, Superhelden, dämonische Bösewichter und so weiter waren schon immer das Hauptvergnügen der indischen Kinofans. Die blonde Glinda, die in ihrer magischen Seifenblase im Zwergenland erscheint, mochte Dorothy eine Bemerkung über die hohe Geschwindigkeit und ausgefallene Art der Transportmittel in Oz entlocken, für ein indisches Publikum dagegen erschien Glinda genau so, wie es einem Gott angemessen sein sollte: ex machina, aus ihrer göttlichen Maschine. Auch die orangefarbenen Rauchwolken der bösen Hexe des Westens waren ihrem superbösen Image angemessen. Dennoch bestehen trotz aller Ähnlichkeiten zwischen dem Kino von Bombay und einem Film wie Der Zauberer von Oz gravierende Unterschiede. Gute Feen und böse Hexen mögen, oberflächlich betrachtet, den Gottheiten und Dämonen des Hindu-Pantheons gleichen, in Wirklichkeit aber ist einer der auffallendsten Aspekte des Weltbilds im Zauberer von Oz sein fröhlicher und fast vollständiger Säkularismus. Religion wird in dem Film nur einmal erwähnt: Als Tante Em, sprühend vor Wut über die grässliche Miss Gulch, dieser erklärt, dass sie seit Jahren auf eine Gelegenheit warte, ihr mitzuteilen, was sie von ihr hält, »und jetzt … verbietet mir die Nächstenliebe, es Ihnen zu sagen«. Von diesem Moment abgesehen, in dem die christliche Nächstenliebe ein paar gute alte, deutliche Worte verhindert, ist der Film auf eine befreiend frische Art gottlos. In Oz selbst findet man keine Spur von Religion. Böse Hexen werden gefürchtet, gute geliebt, aber keine von beiden wird zur Heiligen erklärt; und obwohl der Zauberer von Oz als nahezu allmächtig gilt, denkt niemand daran, ihn anzubeten. Dieses Fehlen höherer Werte trägt deutlich zum Charme des Films bei und ist ein wichtiger Grund für seinen Erfolg, weil eine Welt gezeigt wird, in der nichts mehr Bedeutung hat als die Liebe, Fürsorge und Bedürfnisse der Menschen (und natürlich der Blechwesen, Strohwesen, Löwen und Hunde).
Der andere Unterschied ist schwerer zu definieren, weil er letztlich eine Frage der Qualität ist. Die meisten Hindi-Filme waren damals und sind jetzt das, was man wirklich nur als Schund bezeichnen kann. Das Vergnügen, das man an solchen Filmen haben kann (und einige sind überaus vergnüglich), ähnelt dem Spaß beim Essen von Junkfood. Der klassische Bombay Talkie stützt sich auf Drehbücher von erschreckender Abgedroschenheit, wirkt grellbunt-geschmacklos und vulgär und verlässt sich voll auf die Beliebtheit seiner Stars bei den Massen und darauf, dass die Musiknummern ein bisschen Schwung hineinbringen. Der Zauberer von Oz verfügt ebenfalls über Filmstars und Musiknummern, ist aber zugleich eindeutig ein guter Film. Er nimmt die Phantasie Bombays und ergänzt sie durch hohen Produktionswert und noch etwas anderes. Nennen wir es imaginative Wahrheit. Nennen wir es (na los, zieht nur schon die Revolver) Kunst.
Doch wenn Der Zauberer von Oz ein Kunstwerk ist, dann ist es äußerst schwierig zu sagen, wer der Künstler war. Die Geburt des Landes Oz ist selbst bereits Legende geworden: L. Frank Baum, der Autor, benannte seine Zauberwelt nach den Buchstaben O-Z auf der untersten Schublade seines Karteikartenschranks. Baums eigenes Leben glich auf sonderbare Weise einer Achterbahn. Reich geboren, erbte er von seinem Vater eine Kette kleiner Kinos, die er durch Missmanagement alle verlor. Er schrieb ein erfolgreiches Theaterstück und mehrere Stücke, die Flops waren. Die Oz-Bücher machten ihn zu einem der führenden Kinderbuchautoren seiner Zeit, doch seine übrigen Fantasy-Romane fielen allesamt durch. The Wonderful Wizard of Oz sowie eine Musical-Adaptation des Buchs für die Bühne brachten Baums Finanzen zeitweise wieder ins Gleichgewicht, doch ein finanziell katastrophaler Versuch zu einer Tournee durch Amerika, auf der er mit einem so genannten »Fairylogue« aus Dias und Filmen für seine Bücher werben wollte, führte im Jahre 1911 erneut zum Bankrott. Von da an wurde Baum zu einer etwas schäbigen, doch immer noch mit seinem Gehrock bekleideten Gestalt und lebte auf Kosten seiner Frau in »Ozcot« in Hollywood, wo er Hühner züchtete und auf Blumenschauen Preise gewann. Nach dem kleinen Erfolg eines anderen Musicals, The Tik-Tok Man of Oz, besserten sich seine Finanzen, doch er ruinierte sie abermals, als er eine eigene Filmgesellschaft gründete, die Oz Film Company, und erfolglos versuchte, die Oz-Bücher zu verfilmen und zu vertreiben. Nach zwei Jahren, in denen er bettlägerig, aber, wie wir erfuhren, immer noch optimistisch war, starb Baum im Mai 1919. Sein Gehrock dagegen lebte weiter und sollte auf seltsame Weise Unsterblichkeit erringen.
The Wonderful Wizard of Oz, erschienen im Jahre 1900, enthält bereits viele Zutaten des Zaubertranks: Alle wichtigen Personen und Ereignisse sind vorhanden, ebenso die wichtigsten Örtlichkeiten, der gelbe Steinweg, das tödliche Mohnfeld und Emerald City, die Smaragdstadt. Dennoch ist der spätere Film, Der Zauberer von Oz, eine große Seltenheit, denn es handelt sich dabei um einen Film, der besser ist als das gute Buch, aus dem er entstand. Zu den Veränderungen gehört die Erweiterung des Kansas-Teils, der im Roman vor dem Einsetzen des Tornados genau zwei Seiten und am Ende neun Zeilen umfasst. Die Handlung im Oz-Teil dagegen ist vereinfacht, indem mehrere Nebenhandlungen hinausgeworfen wurden, unter anderem der Besuch bei den kämpfenden Bäumen, das zierliche Porzellanland und die Quadlings, die im Roman kurz nach dem dramatischen Höhepunkt, der Vernichtung der Hexe, kommen und den erzählerischen Schwung des Buchs unterbrechen. Außerdem gibt es zwei sogar noch wichtigere Veränderungen: bei der Farbe der Stadt des Zauberers und der Farbe von Dorothys Schuhen.
Frank Baums Smaragdstadt war nur grün, weil jeder Bewohner eine smaragdgrüne Brille tragen musste, während es sich im Film um ein richtig futuristisches Chlorophyllgrün handelt, das heißt bis auf das Chamäleonpferd. Das Pferd verändert in jeder neuen Einstellung seine Farbe, ein Effekt, den man erreichte, indem man es mit pulverisierter Gelatine in vielen verschiedenen Farbtönen einstäubte. 1
Auch die rubinroten Schuhe hat Frank Baum nicht erfunden. Er nannte sie Silberschuhe. Baum glaubte, Amerikas Stabilität erfordere einen Wechsel vom Gold- zum Silberstandard, und die Schuhe waren eine Metapher für die magischen Vorteile des Silbers. Noel Langley, der erste der drei preisgekrönten Drehbuchautoren, hielt sich ursprünglich an Baums Vorstellung. Aber in seinem vierten Skript, dem Skript vom 14. Mai 1938, bekannt als das do-not-make-changes-Skript, wurde das schwerfällige, metallische und überhaupt nicht märchenhafte Schuhwerk verworfen, und man führte die unsterblichen Juwelenschuhe ein, vermutlich als Reaktion auf die Forderung nach Farbe. (In Einstellung 114 erscheinen »die rubinroten Schuhe an Dorothys Füßen; sie funkeln und glitzern in der Sonne«.)
Auch andere Autoren ergänzten den fertigen Film um wichtige Einzelheiten. Florence Ryerson und Edgar Allan Woolf waren vermutlich für »Es ist nirgends besser als daheim« verantwortlich, einen Satz, der für mich die am wenigsten überzeugende Idee des Filmes beinhaltet (es ist eine Sache, dass Dorothy sich nach Hause sehnt, eine ganz andere jedoch, dass ihr das nur gelingen kann, indem sie den idealen Staat verherrlicht, der Kansas ganz offensichtlich keineswegs ist). 2
Doch auch in dieser Hinsicht gibt es verschiedene Meinungen. Eine Mitschrift aus dem Studio lässt darauf schließen, dass es der Co-Produzent Arthur Freed gewesen sein könnte, der als Erster diesen putzigen Slogan ins Spiel brachte. Und nach einigen Auseinandersetzungen zwischen Langley und Ryerson-Woolf war es wohl der Autor der Songtexte Yip Harburg, der das endgültige Drehbuch zusammensetzte und die entscheidende Szene einfügte, in der der Zauberer, da er den Gefährten nicht geben kann, was sie verlangen, ihnen stattdessen Symbole aushändigt, die dann auch, zu unserer Genugtuung, ihre Wirkung tun. Der Name der Rose ist, wie sich herausstellt, letztlich doch Rose.
Wer also ist im Grunde der auteur des Zauberers von Oz? Tatsächlich kann diese Ehre kein einzelner Schreiber für sich beanspruchen, nicht mal der Autor des ursprünglichen Buches. Mervyn LeRoy und Arthur Freed, die Produzenten, haben beide ihre Favoriten. Mindestens vier Regisseure arbeiteten an dem Film, allen voran Victor Fleming, der aber vor dem Ende der Dreharbeiten aufhörte (und nicht gerade rühmlich durch King Vidor ersetzt wurde), um Vom Winde verweht zu drehen, ironischerweise genau den Film, der die meisten Oscars einheimste, während Der Zauberer von Oz nur drei Mal diese Auszeichnung erhielt: für den besten Song (»Over the Rainbow«) und die beste Filmmusik sowie einen Special Award für Judy Garland. In Wahrheit kommt ausgerechnet dieser großartige Film, in dem Zänkereien, Entlassungen und Fehler aller Beteiligten etwas hervorbrachten, das man als reinen, mühelosen und irgendwie unvermeidlichen Glücksfall bezeichnen könnte, verdammt dicht an einen Begriff heran, der noch immer durch die moderne Literaturtheorie geistert: den autorlosen Text.
Das Kansas, wie L. Frank Baum es beschreibt, ist ein trostloses Land, in dem alles grau ist, so weit das Auge reicht – die Prärie ebenso wie das Haus, in dem Dorothy wohnt. Tante Em und Onkel Henry werden wie folgt beschrieben: »Sonne und Wind … hatten das strahlende Leuchten in ihren Augen gelöscht und sie nüchtern-grau werden lassen; auch das Rot von ihren Wangen und Lippen hatten sie vertrieben und sie grau gemacht. Tante Em war dünn und ausgemergelt, und gelächelt hatte sie schon lange nicht mehr.« Und: »Onkel Henry lachte niemals. Auch er war grau, von seinem langen Bart bis zu den derben Stiefeln hinab.« Und der Himmel? »Er war sogar noch grauer als sonst.« Nur Toto blieb diese allgemeine Grauheit zum Glück erspart. Er »rettete Dorothy davor, ebenso grau zu werden wie ihre Umwelt«. Der Hund war zwar nicht gerade sehr farbig, doch seine Augen zwinkerten lustig, und sein Fell war seidenweich. Toto war schwarz.
Aus dieser Grauheit heraus – der zunehmenden, sich zusammenbrauenden Grauheit dieser trostlosen Welt – kommt das Unheil. Der Tornado ist die gebündelte Grauheit; er wirbelt und wirbelt und wird sozusagen gegen sich selbst entfesselt. All diesen Schilderungen folgt der Film erstaunlich werksgetreu, indem die Kansas-Szenen in jenem Ton gedreht werden, den wir Schwarzweiß nennen, der aber in Wirklichkeit aus einer Vielzahl von Grauschattierungen besteht, und die Bilder immer dunkler werden, bis der Wirbelwind sie einsaugt und zerfetzt.
Es gibt jedoch auch noch eine andere Möglichkeit, den Tornado zu sehen. Dorothy hat einen Nachnamen: Gale, zu Deutsch Sturm. Und in vieler Hinsicht ist auch Dorothy der Sturm, der durch diesen kleinen Winkel im Nichts dahinfegt. Sie fordert Gerechtigkeit für ihren kleinen Hund, während die Erwachsenen eingeschüchtert der mächtigen Miss Gulch nachgeben. Sie ist bereit, mit der grauen Unabwendbarkeit ihres Lebens zu brechen, indem sie ausbüxt, kehrt in ihrer Gutherzigkeit jedoch sofort um, als sie von Professor Marvel erfährt, Tante Em sei untröstlich darüber, dass sie davongelaufen ist. Dorothy ist die Lebenskraft von Kansas, genau wie Miss Gulch die Macht des Todes ist; und vielleicht ist es Dorothys innerer Aufruhr, der Wirbelsturm von Gefühlen, die in dem Konflikt zwischen Dorothy und Miss Gulch entstehen, der sich in der großen, finsteren Schlangenröhre der Wolke materialisiert, welche über die Prärie dahintobt und die Welt in sich hineinschlingt.
Das Kansas im Film ist ein bisschen weniger erbarmungslos öde als das Kansas im Buch, wenn auch nur durch die Einführung der drei Farmarbeiter und des Professors Marvel, vier Personen, die ihren »Reim«, ihr Gegenstück, in den drei Freunden von Oz und dem Zauberer selbst finden. Andererseits ist das Film-Kansas auch beängstigender, denn ihm wird noch etwas wirklich Böses hinzugefügt: die knochendürre Miss Gulch und ihr Profil, mit dem man einen Truthahn tranchieren könnte, wie sie mit einem Hut wie ein Plumpudding oder eine Bombe steif auf ihrem Fahrrad umhergondelt und für ihren Kreuzzug gegen Toto den Schutz des Gesetzes fordert. Dank Miss Gulch ist das Film-Kansas nicht nur durch die Trostlosigkeit erdgrauer Armut definiert, sondern auch durch die Bösartigkeit von Möchtegern-Hundemörderinnen.
Und das soll die Heimat sein, der kein anderer Ort gleichkommt? Das ist das verlorene Paradies, das wir (wie Dorothy) dem Lande Oz vorziehen sollen?
Ich erinnere mich (oder glaube mich zu erinnern), dass mir, als ich den Film zum ersten Mal sah, Dorothys Zuhause ziemlich schäbig vorkam. Ich hatte Glück, denn ich besaß ein schönes, gemütliches Zuhause, was mich zu der Überzeugung brachte, wenn ich nach Oz versetzt worden wäre, hätte ich mir natürlich gewünscht, nach Hause zurückkehren zu können. Aber Dorothy? Vielleicht sollten wir sie einmal zu uns einladen, dachte ich. Alles schien mir besser zu sein als das.
Und noch etwas anderes dachte ich mir, das ich nunmehr wohl eingestehen sollte, denn es flößte mir sowohl eine klammheimliche Hochachtung ein für Miss Gulch und ihr Gegenstück, die böse Hexe, als auch, wie manche sagen würden, ein geheimes Mitgefühl für alle Personen ihrer hexenhaften Veranlagung – alles Gefühle, die sich bis jetzt in mir erhalten haben: Ich konnte Toto nicht ausstehen. Ich kann es immer noch nicht. So wie Gollum es von dem Hobbit Bilbo Baggins in einem anderen großartigen Fantasy-Roman sagte: »Baggins: Wir hassen ihn zu Tode.«
Toto, dieses kleine, kläffende Haarteil von einem Hund, dieser lästige Kehrbesen! Löblicherweise hatte L. Frank Baum dem Hund eine eindeutig mindere Rolle gegeben: Toto hielt Dorothy bei Laune, und wenn sie nicht fröhlich war, neigte er dazu, »jämmerlich zu winseln« – kein besonders liebenswerter Zug. Der einzig wirklich wichtige Beitrag, den er in der Baum’schen Erzählung leistet, besteht darin, dass er zufällig den Wandschirm umstößt, hinter dem sich der Zauberer verbirgt. Der Film-Toto dagegen reißt eher absichtlich einen Vorhang herunter, um den großen Humbug zu entlarven, was ich trotz allem als einen sehr ärgerlichen Kinderstreich empfand. Als ich hörte, dass der Köter, der Toto spielte, regelrechte Starallüren hatte und einmal sogar mit einem Nervenzusammenbruch die Dreharbeiten aufhielt, war ich keineswegs verwundert. Mich hat es immer schon geärgert, dass Toto das einzige Objekt wahrer Liebe in diesem Film sein sollte. Doch jeder Protest ist sinnlos (wenngleich befriedigend). Längst kann mich niemand mehr von diesem quirligen Toupet befreien.
Als ich den Zauberer von Oz zum ersten Mal sah, machte das Erlebnis einen Schriftsteller aus mir. Viele Jahre später begann ich das Garn zu spinnen, aus dem letztlich Harun und das Meer der Geschichten entstand. Ich hatte das starke Gefühl, es müsste – wenn ich den richtigen Ton treffen könnte – möglich sein, die Geschichte so zu erzählen, dass sie sowohl für Erwachsene als auch für Kinder von Interesse sein würde. Die Welt der Bücher ist zu einem stark kategorisierten und abgegrenzten Tummelplatz geworden, auf dem Kinderbücher nicht nur eine Art Ghetto, sondern auch in Literatur für verschiedene Altersgruppen unterteilt sind. Das Kino dagegen hat sich immer wieder über eine derartige Kategorisierung hinweggesetzt. Von Spielberg bis zu Schwarzenegger, von Disney bis zu Gilliam hat das Kino häufig Filme herausgebracht, vor denen Kinder und Erwachsene fröhlich nebeneinander sitzen. Falsches Spiel mit Roger Rabbit habe ich mir an einem Nachmittag in einem Kino voll aufgeregter, lärmender Kinder angesehen und bin dann am folgenden Abend zu einer Zeit, die zu spät für die Kinder war, noch einmal in eine Vorstellung gegangen, damit ich alle Gags genießen, über die Insider-Witze der Filmindustrie lachen und noch einmal das brillante Toontown-Konzept bewundern konnte. Aber von allen Filmen war es Der Zauberer von Oz, der mir die größte Hilfe bei der Suche nach dem richtigen Ton für Harun geboten hat. Der Einfluss des Films ist deutlich im Text zu sehen. In Haruns Begleitern erkennt man sofort das Echo der Freunde, die mit Dorothy den gelben Steinweg entlangtanzten.
Und nun werde ich etwas Seltsames tun, etwas, das meine Liebe zu diesem Film zerstören müsste, es aber nicht tut: Ich sehe mir eine Videoaufzeichnung an – mit einem Notizbuch auf dem Schoß, einem Stift in der einen und der Fernbedienung in der anderen Hand, während ich den Zauberer von Oz der Demütigung der Zeitlupe, des Schnellvorlaufs und des Bildstopps unterwerfe, also versuche, das Geheimnis des Zaubertricks zu entdecken; und tatsächlich, ich sehe Dinge, die mir bis dahin noch nie aufgefallen waren …
Der Film beginnt. Wir befinden uns in der monochromen, der »realen« Welt von Kansas. Ein kleines Mädchen läuft mit seinem Hund einen Feldweg entlang. »Nein, sie kommt uns nicht nach, Toto. Hat sie dir wehgetan? Sie darf dir nichts tun!« Ein reales Mädchen, ein realer Hund und mit der allerersten Textzeile der Anfang eines realen Dramas. Aber Kansas ist nicht real, nicht realer als Oz. Kansas ist ein Ölgemälde. Dorothy und Toto sind in den MGM-Studios ein kurzes Stück des »Feldwegs« entlanggelaufen, und diese Einstellung ist zu einem Bild der Leere gestaltet worden. Die »reale« Leere würde vermutlich nicht leer genug sein. Sie hält sich so dicht an das allgemeine Grau von Frank Baums Geschichte, dass es kaum einen Unterschied gibt; die Leere wird nur durch ein paar Zäune und die vertikalen Striche der Telegrafenmasten durchbrochen. Wenn Oz nirgendwo ist, dann suggeriert das Kansas-Szenenbild des Studios, dass gerade Kansas ebenfalls nirgendwo ist. Das ist notwendig. Eine realistische Darstellung der extremen Armut, in der Dorothy Gale lebt, hätte eine Bürde geschaffen, eine Schwerfälligkeit, die den imaginären Sprung ins Märchenland, den schwerelosen Flug nach Oz hinein unmöglich gemacht hätte. Die Märchen der Gebrüder Grimm sind zwar häufig realistisch. In Der Fischer und seine Frau wohnt dieses eponyme Paar, bis die beiden dem Butt begegnen, in einer Bude, die kurz und bündig als »Pisspott« beschrieben wird. In vielen Kinderversionen der Grimm’schen Märchen wird der Pisspott jedoch zur Elendshütte oder noch etwas Schönfärberischerem herabgemildert. In Hollywood befleißigte man sich stets dieser Weichzeichner-Version. Dorothy wirkt außerordentlich wohlgenährt und ist nicht wirklich, sondern unwirklich arm.
Sie erreichen den Farmhof, und hier sehen wir (wenn wir das Bild anhalten) den Anfang eines visuellen Motivs, das immer wiederkehren wird. In der Szene, die wir angehalten haben, sind Dorothy und Toto im Hintergrund und steuern auf das Hoftor zu. Links in der Szene ist ein Baumstamm zu sehen, eine vertikale Linie, welche die Telegrafenmasten der vorigen Szene wiederholt. An einem annähernd horizontalen Ast hängen ein Triangel (zum Herbeirufen der Farmhelfer zum Abendessen) und ein Kreis (das heißt ein Autoreifen). Im Mittelgrund sehen wir weitere geometrische Elemente: die parallelen Linien des Zaunes, die teilende Diagonale des Holzbalkens am Tor. Wenn wir später das Haus betrachten, entdecken wir abermals diese schlichte Geometrie; alles besteht aus rechten Winkeln und Dreiecken. Die Welt von Kansas, die große Leere, wird durch den Einsatz einfacher, unkomplizierter Figuren zum »Zuhause« gestaltet; hier gibt es keine verstädterte Vielfalt. Im ganzen Zauberer von Oz werden Zuhause und Sicherheit durch diese geometrische Einfalt gekennzeichnet, während Gefahr und Böses unweigerlich gewunden, unregelmäßig und missgestaltet sind.
Eine ebenso unzuverlässige, sich windende, sich ständig verändernde Form ist auch der Tornado. Entfesselt, losgelassen vernichtet er die schlichten Formen des einfachen, schmucklosen Lebens.
Diese Kansas-Sequenz erinnert nicht nur an Geometrie, sondern ganz allgemein an Mathematik. Als Dorothy wie ein aufgewühlter Wirbelwind in ihrer Angst um Toto zu Tante Em und Onkel Henry läuft – womit sind die beiden gerade beschäftigt? Warum schicken sie sie davon? »Wir sind doch jetzt beim Zählen«, tadeln sie sie, während sie die Bilanz ihrer Hühnerzucht ziehen und metaphorische Küken zählen, ihre kleine Hoffnung auf ein Einkommen, die der Tornado kurz darauf davonfegen wird. So errichtet Dorothys Familie mit einfachen Figuren und Zahlen ihre Abwehr gegen die immense und aufreizende Leere; Abwehrmechanismen, die natürlich sinnlos sind.
Nach Oz vorgreifend, wird deutlich, dass diese Gegenüberstellung von Geometrie und Schnörkeln kein Zufall ist. Man braucht sich nur den Beginn des gelben Steinwegs anzusehen: Er ist eine perfekte Spirale. Man beachte Glindas Transportmittel, diese perfekt kugelförmige, leuchtende Luftblase. Man beachte die straffe Aufstellung der Zwerge, die Dorothy begrüßen und ihr für den Tod der bösen Hexe des Ostens danken. Später dann die Smaragdstadt: Aus der Ferne gesehen, besteht sie aus senkrechten Strichen, die in den Himmel emporragen! Und nun dagegen die Welt der bösen Hexe des Westens: ihre geduckte Gestalt, ihr missgestalteter Hut. Wie entschwebt sie? In einer formlosen Rauchwolke … »Nur böse Hexen sind hässlich«, erklärt Glinda Dorothy, eine Bemerkung höchster politischer Inkorrektheit, welche die Animosität des Films gegenüber allem verkörpert, was wirr, krallenkrumm und unheimlich ist. Wälder sind unweigerlich beängstigend – die knorrigen Äste der Bäume könnten zum Leben erwachen –, und der einzige Moment, da Dorothy sogar der gelbe Steinweg Angst einflößt, ist der Moment, als er aufhört, geometrisch (anfangs spiralförmig, dann geradlinig) zu sein, sich teilt und in alle Himmelsrichtungen verzweigt.
Wieder in Kansas, liefert Tante Em die Strafpredigt, welche die Einleitung zu einem der unsterblichen Momente des Kinos ist. »Bilde dir doch nicht immer solche Dinge ein! Du regst dich ganz umsonst auf … Such dir einen stillen Platz und reg dich nicht mehr auf!«
»Einen Platz ganz ohne Aufregungen? Glaubst du, es gibt einen solchen Platz, Toto? Das muss es doch …« Jeder, der die Auffassung des Drehbuchschreibers geschluckt hat, dass dieser Film davon handele, wie viel besser »daheim« als »die Fremde« ist und dass die »Moral« des Zauberers von Oz so zuckersüßlich ist wie eine kreuzgestickte Lebensweisheit – »Osten, Westen, daheim ist’s am besten« –, sollte der Sehnsucht in Judy Garlands Stimme lauschen, wenn sie den Blick hoch in den Himmel richtet. Was sie dadurch ausdrückt, was sie mit der Reinheit des Archetypus verkörpert, ist der menschliche Traum des In-die-Fremde-Gehens, ein Traum, der mindestens so mächtig ist wie der entgegenwirkende Traum von den Wurzeln. Im innersten Kern des Zauberers von Oz herrscht eine starke Spannung zwischen diesen beiden Träumen, doch wenn die Musik anschwillt und diese große, klare Stimme in die bangen, sehnsüchtigen Höhen des Songs aufsteigt – kann da noch jemand fragen, welche Botschaft mächtiger ist? In seinen kraftvollsten, gefühlvollsten Momenten ist dies ganz unbestreitbar ein Film über die Freuden des In-die-Fremde-Gehens, des Zurücklassens all der Grauheit und des Eintretens in die Farbe, vom Beginn eines neuen Lebens, an einem »Platz ganz ohne Aufregungen«. »Over the Rainbow« ist – oder sollte es zumindest sein – die Hymne aller Migranten der Welt, all jener, die sich auf die Suche nach einem Platz begeben, wo »die Träume, die man zu träumen wagt, tatsächlich wahr werden«. Dieser Song feiert das Entfliehen, ist ein Lobgesang auf das entwurzelte Ich, eine Hymne – die Hymne an das Anderswo.
E. Y. Harburg, Texter von »Brother, Can You Spare a Dime?«, und Harold Arlen, der »It’s Only a Paper Moon« mit Harburg schrieb, haben die Songs für den Zauberer von Oz komponiert, und die Melodie fiel Arlen tatsächlich vor Schwab’s Drugstore in Hollywood ein. Aljean Harmetz notierte Harburgs Enttäuschung über die Vertonung: zu kompliziert für eine Sechzehnjährige, die sie doch singen soll, zu fortschrittlich im Vergleich zu Disney-Hits wie »Heigh Ho, Heigh Ho, It’s Off To Work We Go«. »Harburg zuliebe«, setzt Harmetz hinzu, »schrieb Arlen die Melodie für den geschwätzigen Mittelteil des Songs.« Where troubles melt like lemon drops,/Away above the chimney tops,/That’s where you’ll find me … Kurz gesagt, ein bisschen höher als die Protagonistin in jener anderen Ode an das Entfliehen, »Up on the Roof«.
Dass »Over the Rainbow« Gefahr lief, aus dem Film herausgeschnitten zu werden, ist wohl bekannt und ein Beweis dafür, dass in Hollywood Meisterstücke durch Zufall entstehen, weil es einfach nicht weiß, was es tut. Andere Songs wurden ebenfalls herausgenommen: »The Jitter Bug«, nach fünf Wochen Dreharbeiten, und praktisch alles von »Lions and Tigers and Bears«, das nur als kleine Melodie der Gefährten bestehen bleibt, als sie auf dem gelben Steinweg singen: »Löwen und Tiger und Bären – o weh!« Unmöglich zu sagen, ob der Film mit diesen Songs besser oder schlechter geworden wäre; würde Catch-22 auch Catch-22 sein, wenn es unter dem Originaltitel Catch-18 veröffentlicht worden wäre? Fest steht jedoch, dass sich Yip Harburg (keiner von Judys Bewunderern) geirrt hat, was Garlands Stimme betrifft.
Die Hauptdarsteller der Besetzungsliste beschwerten sich, es gebe in diesem Film »nichts zu schauspielern«, und im konventionellen Sinn hatten sie Recht. Aber als Garland »Over the Rainbow« sang, geschah etwas Außergewöhnliches. In diesem Moment verlieh sie dem Film ein Herz. Die Kraft ihrer Wiedergabe ist so stark, süß und tief, dass sie uns durch die ganzen darauf folgenden Spielereien trägt und ihnen sogar einen rührenden Anstrich gibt, einen verletzlichen Charme, der nur durch Bert Lahrs ebenso außergewöhnliche Interpretation des feigen Löwen erreicht wird.
Was könnte man noch über Garlands Dorothy sagen? Die landläufige Meinung besagt, dass sie an Ironie gewinnt, weil ihre Unschuld so krass mit dem kontrastiert, was wir von dem problembeladenen späteren Leben der Schauspielerin wissen. Ich bin nicht sicher, ob das zutrifft, obwohl alle Filmfans dazu neigen, Bemerkungen dieser oder ähnlicher Art zu machen. Ich habe den Eindruck, dass Judy Garlands Erfolg sowohl ihr eigener Verdienst war als auch der des Films. Die Rolle verlangt von ihr einen nahezu unmöglichen Trick. Einerseits soll sie die Tabula rasa des Filmes sein, die leere Tafel, auf die sich die Handlung der Geschichte nach und nach selber schreibt – oder, weil dies schließlich ein Film ist, die leere Leinwand, auf der die Handlung stattfindet. Bewaffnet nur mit dem Aussehen großäugiger Unschuld, muss sie ebenso das Objekt des Streifens sein wie sein Subjekt, muss zulassen, dass sie selbst zu dem leeren Gefäß wird, das der Film allmählich füllt. Und dennoch soll sie andererseits – mit ein wenig Hilfe vom feigen Löwen – das gesamte emotionale Gewicht, die ganze zyklonische Wucht des Filmes tragen. Dass sie das schafft, verdankt sie nicht nur der reifen Tiefe ihrer Singstimme, sondern auch ihrer komischen Stämmigkeit, ihrer Ungelenkigkeit, die gerade deswegen so liebenswert wirken, weil sie im Gegensatz zu der affektierten Schönheit, die eine Shirley Temple in die Rolle eingebracht hätte – und es war tatsächlich erwogen worden, Temple diese Rolle zu geben –, halb un-schön ist, jolie-laide. Die sauber geschrubbte, ein klein wenig mollige Geschlechtslosigkeit von Judy Garlands Spiel ist es, die diesem Film seine Wirkung verleiht. Man braucht sich nur die katastrophale Koketterie vorzustellen, auf der die junge Shirley bestanden hätte, und wird dem Glück danken, dass die MGM-Manager sich überreden ließen, es mit Judy zu versuchen.
Der Tornado, von dem ich gesagt habe, er sei das Produkt des »Sturms« (gale) in Dorothys Namen, bestand eigentlich aus drahtverstärktem Musselin. Ein Requisiteur musste sich in die Musselinröhre hinablassen und von innen helfen, die Nadeln hereinzuziehen und wieder hinauszustechen. »Als wir das enge Ende erreichten, wurde es ziemlich unbequem«, gestand er. Diese Unbequemlichkeit war die Sache jedoch wert, denn daraus, dass der Tornado über Dorothys Haus herfällt, entsteht das zweite wahrhaft mythische Bild des Zauberers von Oz: sozusagen der archetypische Mythos des moving house.
In dieser Übergangssequenz des Films, in der die irreale Realität von Kansas der realistischen Surrealität der Welt der Zauberei weicht, gibt es, wie es sich für einen Türschwellenmoment gehört, alle möglichen Fenster- und Türenaktivitäten. Erstens öffnen die Farmarbeiter die Türen des Sturmkellers, während Onkel Henry, heldenhaft wie eh und je, Tante Em davon überzeugt, dass sie es sich nicht leisten können, auf Dorothy zu warten. Zweitens kämpft Dorothy, die mit Toto von ihrem Fluchtversuch zurückkehrt, gegen den Wind, um die äußere Fliegendrahttür des Wohnhauses zu öffnen; diese Außentür wird sofort aus den Angeln gerissen und davongeweht. Drittens sehen wir, wie die anderen die Türen des Sturmkellers schließen. Viertens öffnet und schließt Dorothy im Haus die Türen verschiedener Zimmer, während sie aufgeregt nach Tante Em ruft. Fünftens geht Dorothy zum Sturmkeller, dessen Türen jedoch verschlossen sind. Sechstens sucht Dorothy, deren Rufe nach Tante Em jetzt schwach und angstvoll klingen, im Wohnhaus Zuflucht, woraufhin ein Fenster – Echo der Außentür – aus den Angeln gerissen wird und sie bewusstlos schlägt. Sie fällt aufs Bett, und von nun an regiert die Zauberei. Wir haben die wichtigste Schwelle des Films überschritten.
Dieses Manöver – Dorothy bewusstlos werden zu lassen – ist in Frank Baums Originalversion die radikalste und in gewisser Hinsicht schlimmste Veränderung. Denn im Buch besteht keinerlei Zweifel daran, dass Oz real ist, dass es ein Ort derselben Gattung, wenn auch nicht desselben Typs ist wie Kansas. Der Film bringt hier, wie in der TV-Seifenoper Dallas, ein Element des Unglaubens ein, weil er die Möglichkeit zulässt, dass alles, was nun folgt, ein Traum ist. Dieser Unglaube hat Dallas sein Publikum gekostet und die Serie letztlich erledigt. Dass dem Zauberer von Oz das Schicksal der Seifenoper erspart blieb, ist ein Beweis für die allgemeine Integrität des Films, durch die es gelang, dieses haarsträubende Klischee zu überwinden.
Während das Haus durch die Luft fliegt und in der Totale wie ein winziges Spielzeug wirkt, »erwacht« Dorothy. Was sie durchs Fenster sieht, ist eine Art Film – das Fenster dient als Filmleinwand, ein Bild innerhalb eines Bildes –, der sie auf die neue Art Film vorbereitet, in die sie nun eintreten wird. Zu den Spezialeffekten, für die damalige Zeit sehr raffiniert, gehören eine alte Dame, die in ihrem Schaukelstuhl sitzt und strickt, während der Tornado sie vorüberwirbelt, eine Kuh, die gelassen im Auge des Sturmes steht, zwei Männer, rudernd in einem Boot, das sich durch die kreiselnde Luft bewegt, und vor allem Miss Gulch auf ihrem Fahrrad, die sich vor unseren Augen in die böse Hexe des Westens auf ihrem Besenstiel verwandelt, mit wild flatterndem Umhang und einem gackernden Lachen, das sogar den Lärm des Tornados übertönt.
Das Haus landet. Dorothy kommt mit Toto auf dem Arm aus ihrem Schlafzimmer. Wir haben den Moment der Farbe erreicht.
Die erste Farbszene, in der Dorothy von der Kamera fort zur Vordertür des Hauses geht, ist bewusst – an das vorausgegangene Monochrom erinnernd – in einem matten Grau gehalten. Sobald sich aber die Tür öffnet, überflutet die Farbe den Bildschirm. In der heutigen, farbensatten Zeit kann man sich nur schwer in eine Zeit zurückversetzen, in der Farbfilme noch relativ neu waren. Wenn ich noch einmal an meine Kinderzeit im Bombay der fünfziger Jahre zurückdenke, als Hindi-Filme allesamt noch schwarzweiß waren, erinnere ich mich gut, wie aufregend der Beginn der Farbfilmzeit war. In einem Epos über den Großmogul, Kaiser Akbar, mit dem Titel Mughal-e-Azam gab es damals nur eine einzige Farbfilmrolle, die einen Tanz bei Hof mit der berühmten Anarkali zeigte. Und doch hat diese Rolle allein den Erfolg des Films garantiert und die Massen zu Millionen in die Kinos gelockt.
Die Filmemacher des Zauberers von Oz hatten sich eindeutig dafür entschieden, ihre Farben so farbig wie möglich zu gestalten, genau wie Michelangelo Antonioni, ein ganz anderer Filmemacher, es Jahre später in seinem Farbstreifen Die rote Wüste tat. In dem Antonioni-Film wird die Farbe benutzt, um übertriebene, häufig surrealistische Effekte zu erzielen. Der Zauberer von Oz verwendet ebenfalls starke, expressionistische Farbtupfer: das Gelb des Steinwegs, das Rot des Mohnfelds, das Grün der Smaragdstadt und der Haut der Hexe. So eindrucksvoll waren diese Farbeffekte, dass ich, nachdem ich den Film als Kind gesehen hatte, immer wieder von grünhäutigen Hexen träumte. Jahre später übertrug ich diese Träume auf den Erzähler meines Romans Mitternachtskinder, obwohl ich die Quelle total vergessen hatte: »Keine Farben außer Grün und Schwarz die Wände sind grün der Himmel ist schwarz … die Sterne sind grün die Witwe ist grün aber ihre Haare sind schwarz so schwarz.« In dieser Bewusstseinsstrom-Traumsequenz verschmilzt der Albtraum Indira Gandhis mit der ebenso albtraumhaften Gestalt Margaret Hamiltons: eine Vereinigung der bösen Hexen des Ostens und Westens.
Als Dorothy, umrahmt von exotischem Blattwerk mit einer Gruppe von Zwergenhäuschen dahinter, in die Farbe hinaustritt und aussieht wie ein Schneewittchen im blauen Kleid, keine Prinzessin, sondern ein bodenständiges amerikanisches Mädchen, wirkt das Fehlen der gewohnten, heimeligen Grautöne offenbar wie ein Schock auf sie. »Toto, es scheint mir, als ob wir nicht mehr in Kansas wären.« Dieser Camp-Klassiker von Textzeile, Toto, I have a feeling we’re not in Kansas any more, hat sich später verselbständigt und ist zu einem bekannten amerikanischen Schlagwort geworden, immer wieder neu verwendet, bis er schließlich sogar als Epigraph zu Thomas Pynchons paranoider Mammutphantasie über den Zweiten Weltkrieg, Die Enden der Parabel, auftauchte, in der die Bestimmung der Personen nicht »hinter dem Mond, jenseits des Regens« liegt, sondern »jenseits der Null« des Bewussten, in einem Land, das mindestens so seltsam ist wie Oz.
Aber Dorothy hat mehr getan, als aus dem Grau ins Bunt des Technicolor hinauszutreten. Sie wurde enthaust, und ihre »Hauslosigkeit« wird noch von der Tatsache unterstrichen, dass sie nach all der Türenspielerei der Übergangssequenz, und nachdem sie nunmehr ins Freie hinausgetreten ist, keine einzige Räumlichkeit mehr betreten wird, bis sie die Smaragdstadt erreicht hat. Vom Tornado bis nach Oz hat Dorothy kein einziges Mal mehr ein Dach über den Kopf.
Da draußen, inmitten der riesigen Stockrosen, die Blüten wie alte His-Master’s-Voice-Grammophontrichter tragen, dort draußen in der Ungeschütztheit des freien Raums, der so ganz anders ist als die Prärie, ist Dorothy drauf und dran, Schneewittchen um einen Faktor von etwa fünfzig den Rang abzulaufen. Man kann fast hören, wie die MGM-Studiochefs planen, den Disney-Hit in den Schatten zu stellen, nicht einfach, indem zwischen die Live-Action möglichst viele Zaubereffekte wie die von den Disney-Trickzeichnern gestreut werden, sondern auch was das Problem der Zwerge betrifft. Wenn Schneewittchen sieben Zwerge hatte, dann muss Dorothy Gale von dem Stern namens Kansas dreihundertundfünfzig haben. Die Meinungen, wie eine so große Zahl von Liliputanern nach Hollywood geholt und verpflichtet wurde, gehen auseinander. Die offizielle Version lautet, dass sie von einem Impresario namens Leo Singer zur Verfügung gestellt wurden. John Lahrs Biographie über seinen Vater Bert erzählt jedoch eine andere Geschichte, die ich aus Gründen, die Roger Rabbit verstehen würde – das heißt, weil sie so komisch ist –, hier gern wiedergeben möchte. Lahr zitiert den Leiter des Castings, Bill Grady: