Band 1
Der erste Fall für die MounTeens
Für Maurice und Cédric
Impressum
Copyright © 2018 boox-verlag, Urnäsch
Alle Rechte vorbehalten
Illustrationen und Covergestaltung: Natalie Behle
ISBN
978-3-906037-42-4 (Hardcover)
978-3-906037-43-1 (ebook)
www.boox-verlag.ch
(Mit 1% seiner Einnahmen unterstützt der Verlag eine Umweltschutzorganisation)
DIE MOUNTEENS SIND
SAISONERÖFFNUNG
BLOSS EIN STREICH?
»MOUNTEENS« – EIN NAME WIRD GEFUNDEN
VERFOLGUNGSJAGD AUF DEM SCHLITTELWEG
BEFRAGUNG IN DER GONDELBAHN
VORSICHTIGE NEUE VERDACHTE
NACHT AUF DER LÄRCHENALP
SONNTAGMORGEN BEI SANDERS
DAS WAR KEIN FUCHS!
INDIZIENSUCHE IM MÜLL
ÜBERRASCHUNG IM ARVENHOF
OPERATION KRÄUTERBUTTER
DER LACK IST AB
GERÜCHTE IM COIFFEURSALON
AUFREGUNG AM WEIHNACHTSMARKT
SCHRITTE IM DUNKELN
ZU UNRECHT VERDÄCHTIGT
WIE EIN FALL DEN FALL LÖST
Samuel Winter, von seinen Freunden Sam genannt, ist für seine dreizehn Jahre gross, kräftig und ein richtig guter Sportler. Er ist stets voller Tatendrang, wagemutig und besitzt einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Vielleicht liegt das ja daran, dass sein Vater, Wachtmeister Jan Winter, als leitender Polizist in Bad Lärchenberg arbeitet.
Seine Mutter Sarah ist Englischlehrerin im örtlichen Sportgymnasium und hofft insgeheim, dass sich Sam in der Schule noch etwas mehr anstrengt, um nicht nur im Eishockey erfolgreich zu sein. Sam hat wilde blonde Locken und blaue Augen. Die vereinzelten Sommersprossen und sein spitzbübisches Lächeln machen ihn unwiderstehlich sympathisch. Sam ist selbstbewusst, spontan und unbekümmert, sodass er sich oft ohne zu überlegen in neue Abenteuer stürzt.
Lena Sander ist blitzgescheit und gilt als Denkerin der MounTeens. Gemeinsam mit ihren Freunden besucht sie die siebte Klasse in Bad Lärchenberg, wobei sie den Schulstoff eher als lästige Pflicht sieht. Viel lieber stillt sie ihren grossen Wissensdurst, indem sie in ihrer Freizeit das Internet nach allen möglichen Informationen durchsucht. Mit ihren schulterlangen roten Haaren, der frechen schwarzen Hornbrille und ihrem leicht spöttisch wirkenden Gesichtsausdruck gilt Lena als pfiffiger, kaum zu bändigender Wirbelwind. Was andere über sie denken, kümmert sie wenig. Das zeigt sich auch in ihrem ausgefallenen Kleidungsstil. Sie legt sich – zumindest mit Worten – mit jedem an und ist dabei nicht auf den Mund gefallen. Ihre Mutter, Anna Sander, ist alleinerziehend und als Tourismusdirektorin von Bad Lärchenberg zeitlich stark beansprucht, weshalb Lena viele Freiheiten geniesst.
Matteo Bertone, kurz »Berti«, ist ausgesprochen hartnäckig – und dies nicht nur beim Fussballspielen, wenn er dem Ball nachjagt. Auch bei den MounTeens kann er sich so richtig in einen Fall verbeissen. Besonders auffallend ist Matteos positive Ausstrahlung – sein allzeit spürbarer Optimismus und die ansteckend gute Laune, welche seine Freunde Matteos italienischen Wurzeln zuschreiben. Mit seinem wachen Blick, den dunkelbraunen Augen und seiner temperamentvollen Art versprüht Matteo jedenfalls viel Charme. Als Einziger der MounTeens wohnt Matteo nicht in Bad Lärchenberg, sondern mitten im Ski- und Wandergebiet, da seine Eltern Claudio und Monica Bertone das Hotel Regina auf der Lärchenalp führen. Matteos Bruder Diego ist bereits achtzehn, was ihn aber nicht daran hindert, seinen Bruder und die MounTeens immer wieder mal tatkräftig zu unterstützen.
Amélie Richard ist humorvoll und unkompliziert. Ihr Lachen steckt an und macht sie gepaart mit ihrer herzlichen Art zur unverzichtbaren »Seele« der MounTeens. Amélie ist sehr sportlich, was wenig verwundert, da ihr Vater Tim Richard im Winter als Skilehrer und im Sommer als Bademeister in Bad Lärchenberg arbeitet.
Ihrer Mutter Lou Richard hilft sie manchmal im familieneigenen Friseurgeschäft, weshalb sie über Klatsch und Tratsch in der kleinen Bergstadt gut informiert ist. Amélie hat lange blonde Haare, blaue Augen und ist wie alle MounTeens dreizehn Jahre alt. Mit ihrer eher zurückhaltenden und bisweilen ängstlichen Art weckt sie den Beschützerinstinkt der Jungs – insbesondere jenen von Sam. Mit allen MounTeens verbindet sie eine enge Freundschaft, wobei sie sich selbst nicht sicher ist, ob der Begriff »Freundschaft« ihre Gefühle für Sam wirklich treffend beschreibt …
Der Schnee stiebte, als Sam seine Ski querstellte und damit die rasante Fahrt abbremste. Er blickte zurück, um seine Carvingspuren zu studieren. Der Innenski war nicht in allen Kurven gleichmässig belastet worden, weshalb der Aussenski am Ausgang der Kurve zum Teil leicht gerutscht war.
Sam schüttelte den Kopf. Es ärgerte ihn, dass er Amélies Tipps nicht sofort hatte umsetzen können. Als ehrgeiziger Sportler war es für ihn sowieso schwierig auszuhalten, dass ausgerechnet ein Mädchen besser Ski laufen konnte als er, auch wenn Amélie als Tochter eines Skilehrers natürlich gewisse Vorteile hatte.
Amélies Können auf der Piste fiel zweifellos auf, vor allem aber war sie das hübscheste Mädchen, das Sam kannte. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid schaute er deshalb zurück und beobachtete, wie seine Freundin dynamisch die Piste herunterkurvte, bevor sie lachend neben ihm stoppte. »Seine Freundin« hätte er sie selbst wohl nie genannt, aber das war etwas komplizierter. Viele von Sams Freunden fanden es aussergewöhnlich, dass er so viel Zeit mit ihr verbrachte, und gerüchteweise waren sie schon lange mehr als nur Freunde. Tatsächlich war aus ihrer langjährigen Freundschaft – seit sie in der ersten Klasse am ersten Schultag zufällig nebeneinandergesetzt wurden – so etwas wie geschwisterliche Liebe entstanden, aber mehr war da bisher nicht gewesen.
Als Amélie mit ihren langen blonden Haaren, die unter dem Helm hervorlugten, nun allerdings vor ihm stand und ihn anstrahlte, da kribbelte es in Sams Bauch und er musste sich eingestehen, dass für die wohlige Wärme, die sich in ihm ausbreitete, nicht bloss die Wintersonne verantwortlich sein konnte.
»Nicht schlecht gefahren!«, meinte Sam betont gleichgültig, wobei seine Mundwinkel verräterisch zuckten.
Amélie kam ganz nah an ihn heran, sodass sich ihre Skibrillen fast berührten. »Schauen Sie mir in die Augen, Sam Winter, und sagen Sie nochmals ganz ehrlich, was Sie von meinem Fahrstil halten, bitte!« Sie bemühte sich, ernst zu bleiben, doch der fehlende Ärger in ihrer Stimme verriet sie.
»Nun ja, Frau Richard«, führte Sam das Spiel betont sachlich weiter und versuchte dabei, ihre blauen Augen hinter dem Spiegelglas der Skibrille zu fixieren, »bei Ihnen fehlt einfach die nötige Körperspannung.« Er musterte sie von Kopf bis Fuss. »Haben Sie schon mal an gezielten Muskelaufbau gedacht?«
Amélie schnappte kurz nach Luft, und obwohl ein Funke von Zweifel auftauchte, ob Sam das nicht doch ernst meinte, knuffte sie ihn in die Seite und sagte herausfordernd: »Dann zeigen Sie mir doch, inwiefern Ihre Muskeln Ihnen dabei helfen, mich einzuholen.« Mit diesen Worten stiess sie sich mit ihren Skistöcken kraftvoll ab und raste davon.
Sam konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er liebte es, Amélie ein wenig zu necken, und hielt es auch gut aus, wenn sie ihn ab und zu hochnahm. Während er sich an die Verfolgung machte, fragte er sich, ob Amélie ihn wohl muskulös fand. Ganz zufällig hatte er das Thema schliesslich nicht gewählt.
Als Eishockeyspieler im HC Lärchenberg trainierte er dreimal pro Woche und galt unter den Mitspielern als Energiebündel mit viel Kraft. Sportlich konnte er auch mit den Neuntklässlern mithalten, was für die Akzeptanz unter den Jungs und das Ansehen bei den Mädchen nicht zu verachten war. Seine Kollegen fanden, er sehe aus wie der typische australische Surfer: kräftig aber schlank, mit wuscheligen blonden Haaren und braungebranntem Gesicht. Sam amüsierte dieser Vergleich, schliesslich wohnte er in den Schweizer Bergen.
»Du hast keine Chance!«, rief Amélie über ihre Schulter zurück, während sie in die Hocke ging, um Sam weiter abzuhängen. Sie genoss es, endlich wieder Ski fahren zu können, denn heute war Saisoneröffnung – der erste Samstag im Dezember. Bis Mitte April waren nun wieder alle Bergbahnen in Betrieb. Da die vielen Touristen aber jeweils erst nach Weihnachten anreisten, waren Sam und Amélie an diesem Morgen praktisch alleine auf den Pisten unterwegs gewesen. Beim Ziehen der ersten Spuren auf den frisch präparierten Hängen hatten sie vor Freude jeweils laut gejauchzt.
Aufgeregt und mit einem Lächeln auf den Lippen war Amélie an diesem Morgen erwacht – unsicher, ob sie sich mehr auf das Skifahren oder auf den gemeinsamen Tag mit Sam freute. Zwar besassen die meisten ihrer Freundinnen und Freunde eine Saisonkarte fürs Skigebiet, doch erstens durften die wenigsten ganz ohne Eltern losziehen und zweitens hatte Sam sie bereits vor zwei Wochen gefragt, ob sie die ersten Abfahrten der neuen Saison gemeinsam machen wollten.
Schon lustig, dachte sie nun, dass ihr das wie die Verabredung zu einem ersten Date vorgekommen war, obwohl sie Sam doch schon so lange kannte. Jedenfalls hatte sie tatsächlich etwas Herzklopfen verspürt, als sie sich um neun Uhr an der Talstation der Gondelbahn getroffen hatten.
Sams Eltern liessen ihren Sohn unter der Bedingung, dass er auf dem Handy erreichbar war, alleine ins Skigebiet fahren – auch weil sie wussten, dass er verantwortungsvoll mit der ihm gewährten Freiheit umging. Zudem war ja Amélies Vater, Tim Richard, der im Sommer als Bademeister und im Winter als Skilehrer arbeitete, ebenfalls auf den Pisten unterwegs und notfalls schnell zur Stelle.
Amélie und Sam hatten den Morgen genutzt, um das Skigebiet in der ganzen Breite zu durchqueren. Es war ihr erklärtes Ziel gewesen, alle vierzehn Anlagen mindestens einmal benutzt zu haben, bevor sie sich mit Amélies Vater zum Mittagessen treffen wollten.
Mit einem langgezogenen Linksschwung bog Amélie nun auf die Piste zur Lärchenalp ein, wo mehrere Hotels und Ferienhäuser auf knapp zweitausend Metern über Meer so etwas wie ein kleines Dorf bildeten. Die Lärchenalp war rund achthundert Meter höher gelegen als Bad Lärchenberg und im Winter ausschliesslich mit der Gondelbahn erreichbar. Nur wenige Einheimische wohnten dauerhaft hier oben, aber die über dreihundert Gästebetten sorgten dafür, dass auf dem Hochplateau knapp oberhalb des Lärchenwaldes in der Hauptsaison emsiges Touristen-Treiben herrschte.
Amélie freute sich auf das Mittagessen unten auf der Alp und lachte siegessicher, nachdem sie sich mit einem kurzen Blick zurück vergewissert hatte, dass Sam kaum nähergekommen war. Sie konzentrierte sich wieder auf die Piste und liess ihre Ski gleiten.
Sam ging noch tiefer in die Hocke, um den Luftwiderstand zu verringern, doch als er nun ebenfalls die Lärchenalp weiter unten auftauchen sah, wurde ihm klar, dass er Amélie nicht mehr einholen würde – und vor allem, dass er Hunger hatte.
War das nun ein Knurren im Magen gewesen oder hatte sein Handy vibriert? »Amélie, warte!«, rief Sam, doch bei diesem Tempo und dreissig Metern Vorsprung konnte sie ihn nicht hören. Sams Neugierde siegte und er hielt an, um aufs Display zu schauen. Seltsam! Matteo hatte offenbar schon fünfmal versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen. Was war denn los? Mit einem Stirnrunzeln wählte er die Nummer seines besten Freundes und blickte Amélie nach, die elegant über eine kleine Geländekuppe sprang und aus seinem Blickfeld verschwand.
»Wo seid ihr?« Matteo klang aufgewühlt.
»Was ist los?«, fragte Sam alarmiert.
»Kommt schnell, Lena ist schon hier … schlimm … Dirk … Polizei.« Die Verbindung wurde immer schlechter und Sam schnappte nur noch Gesprächsfetzen auf.
»Wir sind in fünf Minuten da!«, schrie er in sein Handy, auch wenn er wusste, dass die Lautstärke gegen die mangelnde Verbindungsqualität eigentlich nicht half. Hastig steckte er sein Handy ein, und während er seine Ski so schnell wie möglich laufen liess, fragte er sich voller Sorge, was bei Dirk Beermann, dem neuen Pächter des Hotels Montana, wohl vorgefallen sein mochte.
Amélie wunderte sich. Wo Sam nur geblieben war? Mit zwei kurzen Schwüngen bremste sie die rasante Fahrt ab, bevor sie neben der Skischulhütte auf der Lärchenalp ganz anhielt, um auf ihn zu warten.
Sie schaute sich um. Noch herrschte hier beim Sammelplatz der Skischule Ruhe, denn am Saisoneröffnungswochenende wurden keine Schülerinnen und Schüler unterrichtet.
Amélies Vater, der an diesem Morgen mit der Leiterin der Skischule den Einsatzplan für die bevorstehende Saison besprochen hatte, trat aus der Tür. Tim Richard – sonst stets gut gelaunt – wirkte ungewohnt ernst.
»Ist alles okay, Papa?«, fragte Amélie.
»Hallo Liebes«, ihr Vater nahm sie kurz in die Arme, »hast du es noch nicht gehört?«
»Was denn?« Wenn ihr Vater sie »Liebes« nannte, wollte er ihr wohl etwas schonend beibringen. »Sag schon!«
»Komm, ich zeige es dir. Wir wollten ja sowieso zum Mittagessen ins Montana gehen.«
Amélie blickte zu ihrem Lieblingsrestaurant hinüber und bemerkte, dass auf der Terrasse auffällig viele Leute standen und die Fassade anstarrten. »Papa, was ist passiert?«
Tim Richard seufzte, während er seine Tochter mit einer Kopfbewegung aufforderte, ihm zu folgen. »Heute Morgen hat Dirk an der Fassade seines Hotels einen üblen Spruch entdeckt. Jemand hat ›Hau ab, Ausländer!‹ an die Wand gesprayt und du kannst dir ja vorstellen, wie tief das Dirk getroffen hat! Ich hoffe mal, es ist nur ein dummer, unüberlegter Streich.«
Amélie schluckte leer. Das durfte doch nicht wahr sein! Konnte die unmissverständliche Aufforderung wirklich Dirk Beermann gelten – einem Deutschen, der in der Schweiz wohnte – oder war sie an ausländische Touristen gerichtet? Dirk war doch ein feiner Kerl, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Und auf die Touristen war man in Bad Lärchenberg dringend angewiesen. Wer konnte so etwas gesprayt haben? Und weshalb?
Tim hatte weitergesprochen, aber Amélie hörte ihrem Vater nicht mehr zu, weil sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen. Hatte Dirk Feinde oder war die Fassade des von ihm gepachteten Hotels nur zufällig Ziel des Anschlages geworden, weil man darauf die Botschaft von Weitem sehen konnte?
Beim Näherkommen erkannte sie unter den Personen vor dem Hotel ihre Freunde Lena und Matteo und aus den Augenwinkeln sah sie, dass nun auch Sam auf den Ski angebraust kam. In der ganzen Aufregung hätte sie ihn beinahe vergessen. Ihr Hochgefühl über das gewonnene Rennen war längst verflogen. Erleichtert stellte sie fest, dass Sam den Treffpunkt bei der Skischule offenbar ausgelassen hatte und direkt zum Hotel Montana gefahren war.
»Sam, hierher!«, rief sie ihm zu und winkte.
Er stoppte gleich neben ihr, sprang regelrecht aus der Bindung und rannte – so gut es mit Skischuhen ging – Richtung Terrasse. Amélie war zu verwirrt, um sich zu fragen, wie er gewusst haben konnte, wo sie sich alle treffen würden, eilte ihm aber hinterher, während sie ihrem Vater zurief, dass sie nun wirklich keinen Hunger mehr habe und erst mit ihren Freunden sprechen müsse.
Tim schaute seiner Tochter verdutzt nach und wollte erst etwas erwidern, entschied dann aber, mit einer resignierenden Geste des Winkens sein Verständnis zu signalisieren. Er hatte gewusst, dass seine Tochter emotional reagieren würde, denn für Amélie und ihre Freunde war Dirk schon ein väterlicher Freund gewesen, als er noch unten in Bad Lärchenberg den Kiosk beim Eishockey-Stadion geführt hatte. Seit er nun aber hier oben Hotelier geworden war, gingen sie bei ihm ein und aus und hatten in einem der Angestellten-Zimmer so etwas wie ein »Geheimversteck« eingerichtet. Eigentlich war es Sams Zimmer. Er hatte die ganzen Sommer- und Herbstferien damit verbracht, Dirk bei verschiedenen Arbeiten im Hotel zu helfen, sodass Dirk es angemessen fand, ihn wie andere Angestellte zu behandeln. Er hatte ihm deshalb bis auf Weiteres ein kleines Zimmer unter dem Dach überlassen, das sowieso nicht an Hotelgäste hätte vermietet werden können. Zwar hatte Sam bisher noch nie auf der Lärchenalp übernachtet, doch so konnte er sich wenigstens in die »Zimmerstunde« zurückziehen und sich ausruhen, wenn er jeweils an den Wochenenden im Service aushalf.
Amélie und Sam bogen um die Hausecke und blieben wie angewurzelt stehen. Fassungslos blickten sie auf den gesprayten Spruch, der sich auf Augenhöhe über fast die ganze Länge der Hotelfassade erstreckte.
»Um Himmels willen«, entfuhr es Sam, »wer hat das getan?«
Matteo und Lena hatten ihre Freunde entdeckt, liefen zu ihnen und beeilten sich, Sam und Amélie so schnell wie möglich auf den neusten Stand zu bringen.
Matteos Eltern hatten als Besitzer des benachbarten Hotels Regina die Aufregung bereits früh morgens mitbekommen. Gegen halb acht war Dirk offenbar von einem Mitarbeiter des Pistendienstes darauf hingewiesen worden, dass sein Hotel beschmiert worden war. Kurz darauf musste er die Polizei angerufen haben, denn diese war um halb neun bei Matteos Eltern aufgetaucht, um sie zu fragen, ob ihnen etwas Verdächtiges aufgefallen sei. Matteo, der gerade erst aufgestanden und zur Küche geschlurft war, hatte sich verwundert die Augen gerieben, als er dort nicht nur seine Eltern, sondern auch Wachtmeister Winter – Sams Vater – und einen weiteren Polizisten angetroffen hatte.
»Stellt euch meinen Schock vor«, sprudelte es nun aus Matteo hervor, »als die Polizei von der Sache hier berichtete und meine Eltern fragte, wo sie sich in der Nacht und am frühen Morgen aufgehalten hätten.«
»Da wäre ich auch erschrocken«, sagte Amélie mitfühlend und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Ich glaubte, im falschen Film zu sein. Wurden meine Eltern wirklich verdächtigt, mit dem hier« – Matteo zeigte auf die beschmierte Fassade – »etwas zu tun zu haben?«
Auch jetzt, da er seinen Freunden von den Ereignissen des Morgens berichtete, war Matteo immer noch erschüttert darüber, dass seine Eltern nicht nur als Zeugen, sondern auch als Verdächtige befragt worden waren.
»Matteo, das heisst doch noch lange nicht, dass die Polizei deine Eltern für schuldig hält«, versuchte ihn Lena zu beruhigen. »So etwas gehört einfach zur polizeilichen Routine.«
»Was willst du damit sagen?«, entgegnete Matteo unsicher.
»Die gehen immer so vor«, meinte nun Sam. »Bitte nimm es meinem Vater nicht übel, dass er das auch bei deiner Familie so tun musste.«
»Natürlich, ist schon klar«, lenkte Matteo nun ein. »Nur gut, dass meine Eltern nicht in der Gaststube befragt wurden. Das hätte bei unseren Hotelgästen wohl keinen guten Eindruck hinterlassen.«
»Bei aller Sorge um deine Eltern, Matteo, frage ich mich aber vor allem, wie es Dirk geht«, sagte Sam etwas harscher als beabsichtigt. Natürlich fühlte er auch mit seinem Freund Matteo, aber das Mitleid galt in erster Linie dem Opfer – Dirk Beermann.
Matteo schaute seinen Freund erst ungläubig an, dann kochte die Wut hoch. »Glaube ja nicht, mir sei Dirk egal!«, schnaubte Matteo, der Sams versteckte Kritik sehr genau gespürt hatte. »Was meinst du, wohin ich sofort gelaufen bin? Ich war einer der ersten auf Dirks Terrasse. Er stand ganz traurig da und ich versuchte ihn irgendwie zu trösten. Dann rief ich euch alle an, doch ausser Lena erreichte ich ja niemanden. Lena ist gleich mit der nächsten Gondel hochgefahren und wir haben versucht, Spuren im Schnee zu verfolgen oder vielleicht in irgendeinem Mülleimer hier auf der Alp eine leere Spraydose zu finden. Zudem …«
»Lass gut sein, Matteo«, sagte Amélie beschwichtigend, »keiner von uns wollte behaupten, du seist untätig gewesen und hättest dir bloss selbst leidgetan.« Beim Wort »keiner« bedachte sie Sam mit einem unmissverständlich strengen Blick, worauf diesem erst bewusst wurde, dass er Matteo verletzt hatte.
»Entschuldige«, sagte Sam deshalb in freundschaftlichem Ton, »so wars nicht gemeint.« Er rieb sich die Schläfen. »Ich bin etwas gereizt, weil mir das alles hier oben so viel bedeutet.«
»Ist schon okay, Sam. Ich bin ja selbst etwas von der Rolle.« Matteo zeigte sich schnell wieder besänftigt. Das war typisch für sein südländisches Temperament – manchmal aufbrausend und schnell beleidigt, im Prinzip aber äusserst grossherzig und dazu gnadenlos loyal gegenüber Familie und Freunden. »Schauen wir lieber, dass wir hier helfen können!«
In diesem Augenblick trat Dirk Beermann aus der Tür. Er wirkte niedergeschlagen und hatte den Blick auf den Boden gerichtet – wohl auch, um den Spruch an der Hauswand nicht ansehen zu müssen.
»Dirk tut mir leid«, sagte Lena mitfühlend. »Heute Morgen hat er noch etwas optimistischer gewirkt. Er versuchte sich einzureden, dass sein Hotel zufällig ausgewählt wurde. Nachdem ihn die Polizei vernommen hat, muss ihm aber klargeworden sein, dass dies womöglich kein Streich von ein paar Jugendlichen war, sondern, dass er auch Feinde haben könnte.«
»Oder vielleicht beides«, murmelte Sam vieldeutig. »Jugendliche Feinde.«
»Wie hast du das vorher mit den ›jugendlichen Feinden‹ gemeint, Sam?«, fragte Lena, sobald die vier Freunde die Tür zu Sams Zimmer im Hotel Montana hinter sich geschlossen hatten.
Lena war wie Sam ebenfalls oft ungeduldig und voller Tatendrang. Ihre schulterlangen roten Haare, die grünblauen Augen und die schwarze Hornbrille im Gesicht verliehen ihr ein nicht alltägliches Aussehen, womit sie auch gerne kokettierte; sie gefiel sich in der Rolle des etwas ausgefallenen, intelligenten Mädchens, das selbstbewusst und oft herausfordernd auftrat.
Sam hatte darauf bestanden, seinen Verdacht erst zu äussern, wenn sich keine anderen Leute mehr in Hörweite befanden. Er setzte sich neben Amélie aufs Bett, das den halben Raum ausfüllte, während sich Lena den einzigen Stuhl im Zimmer schnappte. Matteo stand gedankenverloren am Fenster und schien die Aussicht auf die verschneiten Berge der gegenüberliegenden Talseite und das weit unten erkennbare Städtchen Bad Lärchenberg nicht wahrzunehmen.
»Ich will niemanden anschwärzen – es ist alles reine Spekulation.« Sam schien noch mit sich zu ringen, aber nun musste er es seinen Freunden erzählen.
»Ihr wisst ja«, begann Sam zögerlich, »dass Dirk mein Eishockeytrainer ist.«
»Worauf willst du hinaus?«, drängte Lena.