Über dieses Buch

1943 erschien in der Büchergilde Gutenberg «Die Bargada», eine Familiensaga der Bewohner eines Tessiner Bauernhofes vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Der Roman «Dorf an der Grenze» erzählte diese Saga weiter durch die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Ohne Scheuklappen verarbeitete Aline Valangin die Ereignisse im Schweizer Dorf an der Grenze, so daß das Buch wegen politischer Brisanz nicht gedruckt wurde, es erschien erst 1982 im Limmat Verlag. Zum ersten Mal sind jetzt beide Teile gleichzeitig zugänglich.

Der Hof mit dem Namen «Bargada» ist größer als die anderen und liegt etwas ­abseits des Dorfs, es soll darin spuken. Die Dörfler hingegen leben eng beieinander, bei ihnen spukt es nicht, denn ihre Geheimnisse dringen alle durch die Mauern ins Nachbarhaus. Aline Valangin erzählt die Geschichte dieser ländlichen Gemeinschaft über mehrere Generationen hinweg. Sie erzählt vom Patriarchat und seiner Aufweichung durch die ­Abwesenheit der Männer, von Familienintrigen, Schmugglern und Partisanen, Krieg und Flüchtlingselend, hartem Existenzkampf und verzagter Resignation. Und sie erzählt vom Traum, den die Bargadatöchter über Generationen träumen: den Hof zu erben und einen Mann einzuheiraten.

«Unbeschönigend, ohne jedes niedliche Beiwerk, in einem eigenwillig prägnanten Stil gelingen ihr namentlich starke, unverwechselbare Frauengestalten höchst beeindruckend.» Tages-Anzeiger

Aline Valangin

Die Bargada

Dorf an der Grenze

Eine Chronik

Limmat Verlag

Zürich

Aline Valangin, 1889–1986, auf­gewachsen in Bern. Ausbildung als Pianistin. Mit ihrem Mann Wladimir Rosenbaum empfing und betreute sie im Zürich der dreißiger Jahre in ihrem Haus Emigranten und Künstler. Ab 1936 lebte sie im Tessin als Psychoanalytikerin, Publizistin und Schriftstellerin.

Die Bargada

I. Der seltsame Hof

Vor dem letzten, hochgelegenen Dorfe des Tales springt zwischen zwei Schluchten eine schön gerundete Anhöhe breit und frei ins Land hinaus. Sie ist von ferne und weit herum sichtbar. Die ersten Sonnenstrahlen vergolden ihre Kuppe, und sie glänzt noch im Abendschein, wenn alle andern Halden und Hügel längst im Schatten liegen. Es ist die Bargada, der schönste Bühl der ganzen Gegend.

Doch die Schluchten, die sie begrenzen, sind düstere Orte. In der ersten, der Bocca delle Torre, treten die Flühe wie riesenhafte versteinerte Burgen mit Zinnen und Türmen im Rund auseinander zu ödem Kessel. Ein Bach braust hindurch. Wo er sich staut, bevor er in kühnem Sprung als Wasserfall tosend in die Tiefe stürzt, führt eine Brücke darüber. Man nennt sie die Turmenbrücke.

In der zweiten, dem Dorfe näherliegenden Schlucht, stoßen Felsschichten schräg und so nah aufeinander, daß nur eine Spalte offen bleibt, zu eng, um eine Hand hineinzulegen. Doch müssen sich innen Räume ausweiten, denn nie verstummt da dumpfes Rauschen von strömendem Wasser. Aus der Spalte fallen Tropfen mit hellem Klang in einen flachen Steintrog, neben dem Blöcke zu einer Bank aufgeschichtet sind. Im dreieckigen Plan davor wuchern Farnkräuter, fette Vergißmeinnicht und andere Schattenpflanzen. Das Gras steht hoch. Auch allerlei Getier, das Feuchte liebt, hat hier sein Revier. Niemand stört es. Niemand würde sein Vieh dort tränken, niemand dort rasten. Der Grund ist gemieden, so einladend er aussieht und obwohl dort die Brücke beginnt, über die es dem Dorfe zugeht. In ihrem Bogen hängt mit verkralltem Gebein das Gerippe eines Fuchses. Das Tier soll vor Zeiten hier aufgeknüpft worden sein, um böses Gelichter zu bannen. Die Brücke heißt darum: Ponte della Volpe, Fuchsenbrücke. Gleich weit entfernt von beiden Tobeln, nahe der Fahrstraße, steht ein großes, in guten Ausmaßen erbautes Haus. Es schaut aus vielen Fenstern stolz nach Süden. Unter dem kassettenverzierten Vordach ist ein blau schabloniertes griechisches Muster als Fries zu sehen. Der übrige einst hellrote Anstrich ist schlecht erhalten bis auf ein gemaltes Fenster im zweiten Stock, das, der Wirklichkeit täuschend nachgeahmt, eine geschickte Hand noch erkennen läßt. Neben dem stattlichen Balkon in der Mitte der Front sind Sprüche zu erraten: «Besser beneidet als bedauert» und «Wen der Herr liebt, den züchtigt er».

Zum Haus gehören größere und kleinere Nebenbauten, Ställe und Speicher, fast alle zerfallen. Der Garten zieht sich in zwei Terrassen dem Berg entlang. Er wird gegen die Straße von einer hohen Mauer gestützt, auf der Steinvasen in klassischem Stil prangen. Einige davon sind umgestürzt oder geborsten, andere von Rosengebüsch und Geißlaub überwachsen. Oben im Garten lehnt an einem Baum ein altes Gartenhaus. Gleich dahinter beginnen sanft geneigte Wiesen. Sie steigen, allmählich steiler werdend, bis zu senkrechten Felsen an, die das ganze Gebiet nach oben verrammeln. Auch unterhalb des Hauses liegen Matten und Felder, die rasch in Gehölz, Gestrüpp und Heide übergehen, da der Abhang immer steiniger wird und in einer abfallenden Wand endet.

In frühern Zeiten, als nur Saumpfade ins Tal hinauf gingen, war die Bargada, von Felsen oben und unten, links und rechts abgeschlossen, mühsam zu erreichen gewesen, und ihre Lage hatte den Armini, die seit Gedenken ihre Besitzer waren, ein abgesondertes Leben aufgezwungen. Seit aber die neue Fahrstraße über die Brücken auf das Anwesen führte, stand der Hof in bequemer Verbindung mit dem übrigen Tal und der weitern Welt. Obgleich keine äußere Veranlassung mehr bestand, sich abseits zu halten, blieben die Armini für sich. Ebenso pflegten die Leute vom Dorf wenig Umgang mit ihnen. Das hatte seine Gründe, doch suchte man danach, waren sie verwickelt und im übrigen nicht derart, daß man frei hätte darüber sprechen wollen. Man begnügte sich, festzustellen, es sei von jeher so gewesen; das war ja Grund genug, es weiter so zu halten.

Immerhin übten die Dörfler von ferne und scheinbar unbeteiligt eine neugierige Aufsicht über die Bargada aus, gehörte sie doch zu den auffallendsten Anwesen des Tales. Nirgends stand das Gras so fett, reifte das Korn früher und wurden die Kartoffeln größer. Im Garten prangten die Pfingstrosen zweimal so dick wie anderswo, und oben, am Gartenhaus, wuchs eine Rebe, ein echter Weinstock, der nicht nur blühte, aber dunkelblaue, süße Trauben trug, wennʼs Jahr gut war. Er galt als der höchstgelegene Weinstock im Land. Daß er gerade auf dem Boden der Armini stand, daß überhaupt alles auf diesem Boden so viel besser gedieh, als auf anderer Leute Boden, war das nicht sonderbar? Sonderbar und nicht unverdächtig. Gewiß, man hörte nicht mehr auf das Geplapper der Alten, die wissen wollten, die Frauen der Bargada – nun, es war lächerlich es nur auszusprechen – seien allerlei besonderer Künste fähig, sie wüßten kräftige Sprüche zu verwenden, um die Fruchtbarkeit ihres Bodens anzuspornen und den Herbstsegen zu erzwingen, sie verstünden es, durch geheime Mittel die Krankheit von ihrem Stall zu bannen und Hagel und Unwetter an den eigenen Feldern vorbei auf die Felder des Nachbarn zu leiten … Unsinn! Geschwätz! Über Aberglauben war man hinaus. Aber immerhin … seltsame Leute waren die Armini, von jeher, und alles taten sie anders, als es der Brauch wollte. Sie nahmen wenig Anteil an den Gemeindeangelegenheiten, sie stellten keine Taglöhner vom Ort ein, sie kauften und verkauften nichts im Dorf. Ihre Frauen holten sie sich aus andern Gegenden. Sie schickten ihre Söhne in die Fremde, nicht um ihr Brot zu verdienen, wie es die meisten jungen Männer taten, weil der Heimatboden zu karg war, um sie zu ernähren, nein, nicht aus Not, aus Überfluß schickten sie sie weg, denn sie konnten es sich lei­sten, ihren Söhnen ein freies Jahr zu gönnen. Sie kleideten sich anders, aßen anders und sprachen anders; kurzum, sie waren eigenartige, unvertraute Leute, und Vorsicht und Zurückhaltung schienen ihnen gegenüber am Platze.

So bewußt und stolz die Armini ihrerseits sich als Besondere und Auserwählte fühlten, so litten sie doch unter dem ablehnenden Verhalten ihrer Dorfgenossen, das einer Ausschließung nahe kam. Sie trugen ihr Los aber mit gelassener Geduld, als wäre ihnen auferlegt, eine verborgene, ihnen selbst unbekannte Schuld abzubüßen. Zudem hatten sie genug mit sich selbst zu tun, denn das Leben auf der Bargada, wenn es gut sein mochte, war doch nicht leicht.

Vielleicht kam es daher: So weit man sich zurückerinnern konnte, wurde den Armini nach vielen Töchtern erst der Sohn geboren, stets nur ein Sohn, der sittegemäß beim Tode des Vaters den Hof erbte. Die zahlreichen Frauen der Familie blieben ledig und rechtlos im Hause, wenn sie nicht wegheirateten, was aber selten geschah. So lebte der Meister als einziger Mann in einem Schwarm von Weibern, die alle, ihrer Unmündigkeit zum Trotz, nur das eine im Sinne hatten, sich die Macht über ihn und damit über den Hof anzueignen.

Schon im voraus, um des Knaben Gunst schon, stritten sie sich. Sie lockten ihn mit Schleckereien, mit aufreizenden Geschichten und Spielen, sie halfen ihm seine kleinern und größern Unarten vor dem Vater verstecken und nahmen ihm jede Arbeit ab. Es mußte an der guten Art der Arminisöhne und an ihrer angebornen Klugheit liegen, daß sie ungeachtet solcher Verziehung rechte Männer wurden und sogar eher zu früh als zu spät ein gesetztes Wesen annahmen. Sie sahen ein, Heil war für sie nur zu erhoffen, wenn sie sich das ganze Weibervolk vom Leibe hielten und es alles, was nicht klare Männersache war, unter sich ausmachen ließen. Sie fristeten inmitten der Röcke ein einsames, mehr vorsichtiges als unternehmendes Leben, bemüht, sich selbst zu genügen und ihr Urteil für sich zu behalten. Dabei fanden sie Muße, sich ihre Gedanken über die Zeiten, den Weltlauf, über das Woher und Wohin zu machen. Fromm waren sie nicht. Sie gingen wenig zur Kirche und nahmen den Besuch des Pfarrers freundlichgleichgültig hin. Doch besaßen sie alle Sinn für nachdenkliche Worte und Sprüche, die sie sich merkten und nach denen sie sich gerne richteten. So hing das 4. Gebot in klarer Antiqua unter Glas in der Schlafkammer der Eltern, neben dem Himmelbett mit den weißen Vorhängen: Ehre Vater und Mutter, auf daß es dir wohlergehe auf Erden! Alle Arminisöhne hatten daran die Buchstaben lesen gelernt, lange bevor ihnen die Forderung, die der Spruch enthält, aufging. Später bestimmte er ihr Verhalten. Es war kein Beispiel in der Familie bekannt, daß je ein Sohn gegen dieses Gebot gehandelt hätte. Sie standen zu ihren Eltern in ehrfürchtigem Verhältnis und beugten sich, auch in vorgerückterem Alter, ihrem Willen.

Ganz im Gegensatz zu der stillen Art der Männer stand die vorlaute, leidenschaftliche der Frauen. Als besäßen sie die Lust am Werk, die dem Meister fehlte, doppelt und dreifach, und die Kraft dazu, sie auszukosten, gab es keine Verrichtung, vor der sie zurückgeschreckt wären oder die sie nicht so gut wie ein Knecht verstanden und ausgeführt hätten. Ihre Tatkraft kannte keine Grenzen. Sie kämpften um die Arbeit in Feld und Wald, im Stall und im Hause wie um ein hohes Gut. Jede suchte sich ein Tätigkeitsgebiet zu erobern. Gelang es ihr mit List oder Gewalt, dann verteidigte sie ihr Reich scharf gegen die andern, wußte es geschickt zu erweitern und gab es, bei zunehmendem Alter, nur ungern einer jüngeren ab, denn jedes dieser Gebiete, kostete es auch Schweiß und Mühe, bot doch die beste Gelegenheit, dem Meister wert zu werden, Einfluß auf ihn zu gewinnen und schließlich – wer weiß –, die Rivalin zur Seite zu schieben und die Herrschaft über den ganzen Hof an sich zu bringen. So weit kam es aber nie. Verstand es die eine, sich eine Vorzugsstellung zu erringen, fielen die andern sogleich unbarmherzig über sie her, und kein Mittel war verpönt, um die gemeinsam Verhaßte zu entthronen. Aus Furcht, diese oder jene könnte unvermutet in die Höhe kommen, arbeiteten sie auch zu Zeiten, wo nichts dergleichen anzunehmen war, gegeneinander. Es blieb nicht dabei, daß sie sich zuleide werkten und das Dasein erschwerten, so sehr sie konnten, den Mann mit allerlei Listen gegen die Gefährliche aufhetzten, und, wenn dies mißlang, sich offen balgten, das Haus mit Geschrei erfüllten, wobei Geschirr und Ware zu Schaden kamen, die Kinder erschrocken flüchteten und auch der Mann, wollte er nicht in das Unwesen gezerrt werden und Prügel ernten, sich in den Stall verzog, bis der Sturm vorüber war. Dabei blieb es nicht, und es war nicht das Schlimmste. Streit und Zank gibt es in allen Häusern, talab und talauf. Was das Leben der Frauen auf der Bargada in besonderer Weise entstellte, war etwas anderes, versteckt Gefährlicheres. Es war der böse Verdacht, eine jede von ihnen suche mit Mitteln, die nicht laut zu nennen waren, gegen die übrigen das erwähnte Ziel zu erreichen. Daß alle die ledigen Frauen einen eigenen Raum im Hause, oft sogar eine eigene Wohnung in einem der Nebengebäude bewohnten, diente den schlimmen Gedanken. Nach getanem Tagewerk zogen sie sich in ihre Kammern zurück. Sie saßen dort wie in einer Festung, prüften Lage und Aussichten der Gefährtinnen, berechneten ihre eigene Stärke oder Schwäche und entwarfen Pläne, nach denen günstig vorzugehen wäre. Was sie sich an ungewöhnlichem Beginnen ausdachten, um den Mann für sich einzunehmen und die Nebenbuhlerin zu besiegen, das muteten sie, da man leicht eigene Absichten dem Nächsten unterschiebt, jener selbst zu. Und etwa nicht zu Recht? Die Chronik der Bargada, von Tante zu ­Nichte weitergeflüstert, gab Beweis genug dafür, daß verborgene Kräfte einzufangen und dienstbar zu machen waren und daß die Arminifrauen dies verstanden. Wie man sich die Gunst des Mondes gewann in allen jenen Dingen, die sprießen oder verderben sollten, wie man erfuhr, ­welche Nächte und Orte dem Mutigen Vorteile boten, in den Lauf des Ge­schickes einzugreifen, wie Kräuter von Kräutern zu unterscheiden, wie zu mischen und herzurichten, wie die Worte zur Handlung zu wählen waren, damit Wirkung entstehe, das wußten sie alle. Darum galt es auf der Hut sein, kein Zeichen zu übersehen und mit kräftigen Gegenmitteln nicht zu sparen, ja, damit aufzutrumpfen.

Ob nun Tränke gebraut, Friedhofblumen gesammelt und unter Betten gestreut, ob Wachsglieder geformt und durchbohrt wurden, Erfolg hatten die Praktiken nicht. Es gelang nie einer Frau, das Regiment an sich zu reißen, wie sie auch, so oder so, darum kämpfte.

In dieser Weiberwirtschaft stritten nicht, wie es den Anschein haben konnte, gleicherweise alle gegen alle. Es zeichneten sich Gruppen ab: die der Mütter und Schwiegertöchter, die der ledigen Schwestern, Tanten und Nichten. Auch darin von andern Familien verschieden, wo die ­Mutter meist ungern die Frau des Sohnes kommen sieht, freuten sich die Arminifrauen auf ihre Schwiegertöchter, nahmen sie freundlich auf und hätten sie gerne vor allen ausgezeichnet, wenn nicht lange Erfahrung mit den Ledigen sie gelehrt hätte, ihre Vorliebe behutsam zu verbergen. ­Mutter und Schwiegertochter standen aber, wenn sie sich auch offen bekriegen mochten wie die andern, in Verbindung, weil beide nicht von der Bargada waren und daher eine geheime, natürliche Partei gegen die echten Armini bildeten. Es gab Zeiten, wo auch zwischen Ledigen Eintracht herrschte, etwa zwischen einer Tante und ihrer Nichte oder ­zwischen zwei ältern Schwestern. Dieser Bund wurde den andern laut gepriesen und als Machtzuwachs dargestellt. Die neuen Freundinnen waren unzertrennlich. Es kam vor, daß sie in eine Kammer zogen. Man hörte sie bis spät plaudern und lachen oder nachts zusammen durchs Haus schlurfen, die schwere Haustüre öffnen und hinausgehen. Zu welchem Zweck, fragten sich mißtrauisch und ängstlich die vom ungewohnten Geräusch Geweckten. Es hieß aufpassen … Doch lange dauerten diese Freundschaften nicht. Sei es, daß die ungewohnte Men­schen­nähe die Frauen verwirrte und verführte, der Freundin mit ihren Schubladen auch ihre Absichten, geheimsten Wünsche und Künste zu eröffnen und auszuliefern, was stets noch zu Verdruß führte, sei es, daß auch in diesen Bünden die Sucht zu herrschen keine der Partnerinnen je verließ: die Freundschaften gingen bald mit Lärm in die Brüche, und giftiger als vordem hockten die wieder Einsamen in ihren Gehäusen und sannen auf Rache, während die andern sie schadenfreudig auslachten.

So arg die Frauen im Hause einander nachstellten, nach außen gaben sie nichts von ihrem Hader preis. Mehr als das: gegen Fremde standen sie zusammen, verteidigten sich und waren bereit, füreinander zu leiden. Man sah sie ab und zu einträchtig zur Messe gehen, eine ganze Schar, schön geputzt, fast feierlich. Sie waren alle groß und knochig gebaut, von dunklem Typus. Ihre Gesichter trugen den selben Stempel: eine niedere, breite Stirn mit tiefem Haaransatz, welche hohe, sehr buschige Brauen noch niedriger erscheinen ließen. Darunter ungewöhnlich große, schwarze und nahestehende Augen. Die Nase war lang und fein gebogen, doch der Schwung artete mit den Jahren und bei zunehmender Magerkeit zur Hakennase aus. Der schmallippige Mund erhielt schon früh den zweifelhaften Schmuck eines kleinen Schnurrbartes, der sich zu grausigem Gestrüpp verdichtete, wenn die Frauen ein hohes Alter erreichten. Auffallend waren die Ohren, gut geformt, groß und blaß wie aus Papier. Sie klebten sehr nahe am Kopf, der sich in edler Kurve schmal nach hinten wölbte und stolz den schweren Knoten aus schwarzem Haar trug. Sie waren schön, die Frauen von der Bargada, sie hätten schön sein können, wäre nicht ihr Blick gewesen, der, brennend und saugend, so glänzte, daß mancher, den er traf, nach dem Zahn fingerte, der zur Abwehr gegen das böse Auge an seiner Uhrkette baumelte.

II. Wohin?

Zur Zeit, als Tomaso auf dem Hof saß, war von der frühern großen Hausgemeinde nicht viel mehr übrig: er und seine Frau Detta, die er sich aus Italien geholt hatte, seine Schwester Giulia, viel älter als er, und seine Kinder Orsanna und Bernardo, der Sohn wieder um fünfzehn Jahre jünger als die Tochter. Zwischen den beiden waren mehrere Kinder in zartem Alter gestorben.

Mit der Verkleinerung der Familie war es im Hause stiller geworden. Der Krieg, den die weiblichen Angehörigen sich einst lieferten, war in ein stummes Sich-aus-dem-Wege-Gehen ausgelaufen. Doch hatten sich die Leidenschaften dabei nicht beschwichtigt. Unter der ruhigeren Oberfläche gärte der Unfriede zwischen der Hausmutter und ihrer Schwägerin, zwischen dieser und ihrer Nichte weiter und giftiger, weil das, was sich einst in der breiten Schicht vieler abspielen konnte, nun auf ein paar Vereinzelte beschränkt war. Die Möglichkeit, sich in Gruppen zu verbinden und in gemeinsamem Erleben Erleichterung zu finden, fiel dahin. Wollte Orsanna sich nicht zur alten Giulia schlagen, blieb diese allein, das Los der ledigen Arminifrauen zu tragen, das kein freundliches war: bedingungslos sich der fremden Meistersfrau beugen und arbeiten, nicht anders als ein Knecht. Sie bäumte sich dagegen auf, rüttelte daran wie ein Tier an den Stäben seines Käfigs. Es half ihr wenig. Die alte Ordnung der Dinge stand fest.

Auch daß Tomaso sich nicht mehr vor einer Schar Frauen zu hüten hatte, wie es seinem Vater noch beschieden gewesen war, und er es daher wagte, offen zu Detta zu stehen, verbitterte Giulia. Ihr Groll gegen die Frau des Bruders, die immer die stärkere war, der sie auch mit geheimem Tun nichts anhaben konnte, da Dettas ruhige Gemütsart sie gegen die Praktiken der Arminifrauen zu schützen schien, ihr Groll, der keinen Ausweg fand, wuchs zu einem dichten Haß aus. Doch hütete sie sich, ihn deutlich zu zeigen. Sie fürchtete ihren Bruder, der sie unsanft in ihre Schranken wies, so oft sie einen Anlauf nahm, Detta zu verdrängen und sich einen bessern Platz zu erobern. Er hatte sie aus dem großen Hause in ein Nebengebäude verwiesen, wo sie nun für sich hauste. Nur die Arbeit brachte sie mit den andern zusammen. Sie besorgte den Stall, fütterte, mistete und molk, zog die Kälber auf und machte die Butter. Da Detta sich im Haus und Garten beschäftigte und Orsanna mit dem Vater und den Taglöhnern aufs Feld zog, kamen sich die Frauen wenig ins Gehege, und es gab kaum mehr Lärm auf der Bargada.

Erst als Bernardo dem engsten mütterlichen Schutz entwuchs, loderte noch einmal die alte Lust an lautem Streit auf. Detta zitterte um ihren Knaben, der ihr so spät und nach so viel Kummer um andere Kinder geschenkt worden war. Sie fühlte sich so innig mit ihm verbunden, daß sie ihn am liebsten in sich beschlossen gehalten hätte. Auch Bernardo hing mit stiller Leidenschaft an seiner Mutter, ganz ihr zugekehrt. Er genoß es noch als großer Bub, von ihr herumgetragen zu werden oder still auf ihrem Schoß zu sitzen, über die runden Knöpfe ihrer Jacke fingernd seinen Kopf an ihre Brust zu pressen, die im Atmen sich ihm entgegenhob oder entsank, und den Geruch ihrer Kleider, ihrer Haare und ihrer Haut vorsichtig prüfend einzuziehen. Die besondere, ausschließende Liebe zwischen Detta und dem Kind kam für die andern fast einer Beleidigung gleich. Giulia faßte es so auf. Sie benützte die ersten Anzeichen, als dem Bub die Lust erstand, über seine Mutter hinaus mehr von der Welt zu erfahren, um ihn Detta abzulisten. Oft verschwand sie mit ihm auf Stunden, worüber Detta in Zorn geriet und sich bis zu Tätlichkeiten hinreißen ließ, wenn die Alte mit scheinheiliger Miene das Kind, das nach solchen Ausflügen auf seltsame Art ungebärdig und verstört war, wieder ablieferte. Sie behauptete, Giulia erzähle dem Kleinen furcht­erregende Geschichten oder nehme mit ihm Gott weiß was für Dinge vor, um ihn an sich zu fesseln. Täte sie nichts Unerlaubtes, warum wäre der Bub so verändert, wenn er von ihr nach Hause zurückkehrte? Aber auch Orsanna versuchte, den Kleinen zwischen den beiden Streitenden für sich herauszufischen und seine Zuneigung zu gewinnen. Sie tat es auf ihre Art, gab ihm verbotene Schleckereien zu essen und redete ihm ein, nur sie liebe ihn, nur von ihr könne er alles haben, was er sich wünsche. Sie erhitzte sich selbst an ihren Worten, so daß sie plötzlich das Kind an sich riß und mit Küssen fast erstickte, worüber Bernardo in Zetergeschrei ausbrach, sobald er Luft bekam, und mit den Fäusten auf die große Schwester einhämmerte, bis eine der andern Frauen ihm zu Hilfe eilte und ihn der Heftigen entriß. Der Zank hörte nicht auf. Hier nun zeigte sich, daß Tomaso, im Gegensatz zu den frühern Armini, welche nie in die Erziehung der Kinder eingriffen, es sei denn zum Strafen, gesonnen war, dem Wesen ein Ende zu setzen, indem er den Knaben den Frauen entzog und an sich band. Er nahm ihn mit zur Arbeit, unterhielt sich mit ihm in lehrhafter, etwas steifer Art und überwachte seine Spiele. Bernardo, stolz, zu den Männern gezählt zu werden, schloß sich dem Vater gerne an. So verlief der Streit, den die Frauen um den Knaben auszufechten bereits begonnen hatten, frühzeitig im Sand, und das Leben auf der Bargada ging seinen Gang weiter. Vielleicht, daß die Schulzeit des Jungen noch Anlaß zu Aufregung gab. Wie jeder Armini, hatte auch Tomaso gehofft, es werde dem Sohn glücken, ein einfaches und gutes Einvernehmen zu seinen Kameraden zu finden. Er irrte sich. Gerade Bernardo, so schien es, traf auf besondern Widerstand der Dorfjugend. Er kam oft beschmutzt, mit zerrissenen Kleidern nach Hause. Die Buben hätten sich auf ihn geworfen und so zugerichtet. Daß sie ihm offenen Kampf ansagten, war nicht das Schlimme, fand Tomaso, schlimmer war, daß sie, nach des Buben weinerlichem Bericht, hinter ihm her lachten und beschimpfende Andeutungen über sein Haus, seine Familie, seine Mutter fallen ließen, die das Kindergemüt verwirren und verletzen mußten. Es waren die alten, dummen Geschichten von Spuk und Zauberei, die nicht verstummen wollten.

Doch sah Tomaso ein, es lag auch an dem Buben selbst, daß sich das Verhältnis nicht bessern konnte. Er zeigte kein Verlangen, sich unter die andern zu mischen. Sein Sinn war nicht darauf gerichtet, mit den Buben zu spielen, sich herumzutreiben, den Mädchen aufzulauern und sie mit Schabernack zu verfolgen oder Tiere zu plagen, ein Hauptvergnügen der Schuljugend. Noch weniger lockten ihn ihre kleinen Geschäfte mit Taschenmessern, Bleistiften und Briefmarken. Höchstens, daß er Glasmarmeln eintauschte. Glasmarmeln hatten es ihm angetan. Um ein schönes Stück zu ergattern, gab er dafür, was ihm abverlangt wurde: Äpfel und Süßigkeiten, Federkasten mit Inhalt, Teile seiner Kleidung, trotzdem er deswegen Schelte zu gewärtigen hatte. Er verteilte die Glaskugeln je nach ihrem Aussehen in verschiedene Täschchen, die Detta ihm nähte: die gestreiften zusammen, die geflammten, die spiraligen, die bunten und die einfarbigen. Die schönste von allen war groß, hellbraun, halb durchsichtig. Darin schwammen goldene Funken. Bernardo hielt sie sich gerne nah vors Auge und starrte hinein, bis ihm schwindlig wurde und er glaubte, die goldenen Funken im eigenen Auge stieben zu spüren. Nie ließ er sie von jemandem anrühren.

War er nicht ums Haus herum mit seinen Marmeln beschäftigt, konnte man sicher sein, ihn bäuchlings auf einer Bank oder Mauer liegend zu finden, die Ellenbogen aufgestützt und den Kopf mit dem braunen Haar über ein Buch gebeugt. Er las. Er las alles, was er fand. Sein Schulbuch wußte er auswendig. Die spärliche Schulbibliothek bot ihm nichts Neues mehr. So hatte er sich der Bücher bemächtigt, die von früher her in einem Schrank auf dem Estrich standen: vergilbte Kalender, Reisebeschreibungen, Heiligenlegenden und Wundermären. Er las sie immer wieder, andächtig. Was er nicht verstand, träumte er dazu. Neben den Geschichten enthielten viele der Bücher Bilder, die Bernardo mehr noch fesselten als der Text. Mit Ehrfurcht schlug er die bunten Seiten auf. Er kannte sie alle bis in die letzte Einzelheit, so lange und so oft hatte er sie betrachtet.

Da waren ungewöhnliche Landschaften zu sehen: Felsen, zehnmal so hoch und so gefährlich, so seltsam zu Fratzen ausgezackt wie der Grat im Norden des Dorfes, jener Grat, der eine liegende Frau mit hohem Leib und gespreizten Beinen darstellte, über deren unschickliches Benehmen er sich wunderte; wilde Meere, auf denen Menschen in kleinen zerbrechlichen Booten den Walfisch jagten, das Riesenungetüm aus der Bibel, das Jonas verschluckte; der verlorene Sohn, der aus Schweinetrögen aß, aussah wie ein Taglöhner und dann doch, auf einer andern Seite des Buches, sich wunderbarerweise wieder nach Hause fand, wo er herzlich aufgenommen wurde; Urwälder, in denen die ersten Christen, fast nackt, gegen gewaltige Bärinnen kämpften, als leuchtendes Beispiel von Mut und Glaube. Doch auch das Konterfei des Mondes war zu betrachten. Daß man es eben wisse, der Mond war keine freundliche Frau, er war eine Kugel, über und über blatternnarbig wie das Gesicht Cechs, jenes Taglöhners, den die Sonne zu Tode gestochen hatte, daß er am Abend leblos im Grase lag, worüber man nie fertig wurde, nachzudenken, denn was war es eigentlich: tot? Die blatterige Kugel war häßlich, und Bernardo überschlug die Seite gerne. Es gab ja andere, ganz andere Bilder. In einem mit Blumenkränzen verzierten Rund saß eine schöne Frau mit langem, goldenem Haar an einem Brunnentrog, in den Figuren eingeschnitten waren halb Fisch, halb Mädchen. Sie umwanden sich und quollen durcheinander wie Schlangen. Die Frau aber streckte ihre Hand ins Wasser und schaute Bernardo lächelnd und etwas wehmütig an. Wie er das Bild auch hielt, die Frau sah ihn an. Sogar wenn er es an die Wand lehnte und sich davon entfernte, nach rechts oder nach links auswich, sah ihn die Frau an. Dies zu erproben, war ein erregendes Spiel, und er spielte es, bis ihm das Herz im Halse klopfte.

Doch gab es ein noch schöneres Bild, das allerschönste, auf dem nur eine einzige riesige Blume gemalt war, die ihr Inneres, wie es Bernardo vorkam, fast schamlos preisgab: samtene Bahnen von glitzernden Kanten umrandet, durchsichtige Wändchen, schimmernde Höhlen, farbig leuchtende Grotten, seltsam gewundene, glattglänzende Zugänge zu der Mitte, wo im Kranz, zwischen langen Fäden, eine kleine, knorpelige Kapsel lag. Und diese Blume duftete. Das war das Aufregende. Es entstieg ihr ein süßlicher Modergeruch, der an Moos oder faulendes Holz erinnerte, vielleicht auch an den Geruch der Erde im Frühling, wenn es taut und der Mist auf den Feldern dampft. Bernardo genoß den Duft mit aufgeblähten Nasenflügeln und geschlossenen Augen.

Es tat Tomaso leid, den Sohn von derlei gefangen zu sehen, ja es verdroß ihn, daß er offensichtlich faul war, da es ihm nichts ausmachte zu lesen, wo doch ringsherum vieles zu tun blieb. Wenn er keine Zeit in gemeinsamem jugendlichem Treiben verlieren wollte, war es doch unrecht, daß er sie mit dem viel unnützeren Bücherkram verlor. Schon lange fehlten Arbeitskräfte auf der Bargada. Die drei Frauen konnten die Arbeit nicht mehr bewältigen, die ihnen zufiel. Das Gut ging nicht recht vorwärts; wenn man genau sein wollte, ging es damit zurück. Weniger Kühe im Stall, kleinere Misthaufen, mageres Gras, mäßiger Erlös; eines griff ins andere. Dazu schien es Tomaso, die Sommer seien weniger warm als früher, alles wachse langsamer und reife später. Da hieß es, sich an die Arbeit halten und nicht träumen, sollte der Hof nicht herunterkommen. Er machte Bernardo Vorstellungen. Der Junge, um dem Vater zu Gefallen zu sein, legte sich ins Zeug, doch jeder sah, er war vielleicht mit dem Willen, aber nicht mit dem Herzen dabei.

Als Bernardo aus der Schule kam, war es für den Alten keine Frage, daß der Sohn ihm mehr als bisher bei der Arbeit auf dem Hof zu helfen habe, um nach und nach in den Gang der Geschäfte hineinzuwachsen und ihn abzulösen. Es hieß auch schon im geheimen an eine Frau für ihn denken, denn nie ist es zu früh, nach der richtigen Frau für den einzigen Sohn Umschau zu halten.

Bis jetzt hatten die Armini ihre Frauen stets draußen geholt. Nie verband sich einer der Sippe mit einem Mädchen aus dem Dorf. Man trug es ihnen als unberechtigten Stolz nach, und Tomaso fragte sich, ob die fremden Frauen der tiefste Grund für ihre Ausschließung sein mochten. Doch in Gedanken hier angekommen, konnte er die Sache umkehren und sagen, weil die Dorfleute nichts von den Bewohnern der Bargada wissen wollten, seien die Armini angewiesen, ihre Frauen aus der Fremde zu holen. Die Dinge waren nicht so einfach. Für seinen Sohn wünschte er, wie dem auch sei, es möge glücken, ein Mädchen vom Ort zu gewinnen, um mit dem Brauche auch den Bann zu brechen, der auf ihnen lag.

Da war die blonde Alda Spertini, ein schönes Mädchen, das dem Sohn gefallen und dem Hof als spätere Meisterin wohl anstehen dürfte. Tomaso wußte, was sie einst zu erwarten hatte: nichts als Schulden. Er kannte die Wiesen ihres Vaters. Sie lagen jenseits der Fuchsenbrücke so, daß er sie gut mit den seinen, ohne viel Zeit für den Weg zu verlieren, besorgen konnte. Spertini suchte Geld, um sich aus den Händen eines Wucherers zu befreien. Er, Tomaso, hatte Geld. Man könnte sehen, dies und das gleichzeitig zum Klappen zu bringen: die Felder und das Mädchen an die Bargada, das Geld an den Alten.

Aus diesem lange und sorgfältig ausgeheckten Plan wurde nichts, und zwar war Bernardo allein schuld, daß er sich zerschlug. Er erklärte eines Tages dem Vater, er wolle fort. Hier bleibe er nicht mehr. Kein Mensch rede mit ihm, man benehme sich im Dorf, wenn er erscheine, als sei er räudig. Die Mädchen kehrten ihm den Rücken und kicherten, sogar die Alda. Er habe genug. Er gehe.

«Wohin?» fragte der Vater, schmerzlich erstaunt.

«Wohin, wohin! Irgendwohin!» erwiderte der Sohn. «Überall wird es besser sein als hier.» Daß Bernardo unter der Absonderung litt, war Tomaso verständlich. Hatte er nicht sein Leben lang darunter gelitten, sich dagegen aufgelehnt und gehadert, bis er sich damit abfand? Aber daß der Bub fort wollte, fort von der Bargada, vom Haus, den Wiesen, dem Vieh, der Arbeit … das verstand er nicht.

«Wohin denn, und was tun?» fragte er wieder. Der Sohn trotzte: «Fort … fort!»

«Von deinem Besitz weg?» versuchte Tomaso den Jungen zu locken.

«Was habe ich davon?» gab Bernardo zurück. «Ich will fort, etwas sehen … fort … fort!»

Er hat zuviel gelesen, dachte Tomaso bekümmert, das ist es. Wochenlang stritten sie sich, zuerst unter lauten, heftigen Worten, dann stiller und zäher, bis der Alte begriff, daß er der Schwächere war und den Jungen nicht zwingen konnte, zu bleiben.

«So geh!» schloß er ein Gespräch, das von Bernardo einsilbig und eigensinnig mit «Ich gehe!» bestritten worden war. «Aber dann geh gleich … mach Schluß!»

Bernardo wollte freudig aufspringen, doch fühlte er sich von dem schweren Ernst des Vaters eingeschüchtert. «Ich danke», murmelte er und ging in seine Kammer.

Auf dem Bett sitzend, überprüfte er nochmals seinen Plan, sann, was er anfangen sollte, um in der Fremde Arbeit zu finden. In seiner Sparbüchse war etwas Geld. Sie stellte ein Schwein dar. Er schmetterte sie auf den Boden, um sie zu zerbrechen. Zwischen den Scherben rollten einige Fünfliber hervor, kleinere Silbermünzen, Nickel und ein goldenes Vögelchen, zwanzig Franken, die einst ein Bruder der Mutter, der aus Amerika zu Besuch gekommen war, in die Sparbüchse hatte gleiten lassen. Alles zusammengerechnet, konnte er, auch wenn ihm der Vater nichts geben wollte, worüber noch zu sprechen war, die Reise nach Mailand wagen und dort ein paar Tage ausharren, bis er einen Meister gefunden haben würde. Er wollte Maler werden.

Von dem Lärm der zerschellenden Sparbüchse geweckt, rief seine Mutter aus der daneben liegenden Kammer, was los sei, warum er die Leute so erschrecke, bei nachtschlafender Zeit. Bernardo ging zu ihr hinüber. Sie lag im hohen Himmelbett mit den weißen Vorhängen. Es wollte ihn beschämen, denn er hatte die Mutter in den letzten Jahren nie liegend gesehen. Stets war sie als erste auf und ging als letzte zu Bett. Sie hielt sich die Nachtjacke am Halse zu, stützte sich auf den Arm und fragte mit leiser Stimme, noch einmal, was los sei.

«Ich gehe fort, Mutter», erklärte Bernardo, «ich habe mein Geld aus der Büchse genommen.»

Sie wußte es schon. Tomaso hatte ihr den Wunsch des Sohnes, die Bargada zu verlassen, mitgeteilt. Oft und lange war darüber zwischen ihnen und Orsanna, die sie zuzogen, hin und her beraten worden. In ihrem Herzen war es aber schon lange eine ausgemachte Sache, daß Bernardo gehen werde. Sie wünschte es ja, er käme von diesem einsamen Orte fort. Sie erinnerte sich ihrer eigenen Jugendzeit, die sie in freundlicher Gegend unter heitern Menschen verbrachte, und maß dagegen das Leben auf der Bargada. Gut genug für sie, die Alten, und für Orsanna, die ob des Alleinseins schon so wunderlich geworden war, daß sie nirgends anders mehr hinpaßte. Aber der Junge sollte nur gehen und sein Glück suchen, wenn ihr damit auch Sonne und Mond versinken mußten.

Bernardo stand immer noch unbeholfen vor dem Bett der Mutter. Es kam ihm in den Sinn, daß bis zu seinem zehnten Jahre sein eigenes kleines Lager hier aufgeschlagen war, und wie er oft, halb im Schlaf, die Eltern zur Ruhe gehen sah. Er hörte wieder das Klirren der Vorhangringe auf dem eisernen Stab, ein gemurmeltes Gebet, ein lautes Amen, das in Gähnen überging, dann tiefe Atemzüge des Vaters, leichtere der Mutter, etwa ein Seufzen. Er schaute nach dem Spruch an der Wand. Wie früher buckelte sich im Kerzenlicht eine Stelle der Glasscheibe, die ihn bedeckte, daß sie aussah wie ein Riesenmarmel. Die Buchstaben dahinter verzogen sich zu dunklen, verwickelten, gelbrot umrandeten Linien. Sie ergaben Zeichnungen und Bilder, die, wenn er den Kopf bewegte, ineinander übergingen: Blumen, Fangarme, Fische, Schweife, Regenbogen, Monde, was noch? Alles sah man da. Wie als Kind versuchte er, den Punkt zu finden, wo ein Bild sich in ein anderes verwandelte. Traf er ihn, hielt er ihn fest, wie eine Schaukel im Gleichgewicht. Er tastete mit großer Behutsamkeit ein Haar breit nach links: ein zottiges Tier mit fletschenden Zähnen erschien, eine Handbreit nach rechts: eine liebliche Mädchengestalt mit blondem, langem Haar.

Auch ein Erlebnis seiner Kindheit fiel ihm wieder ein. Er lag krank. Seine Eltern schliefen schon. Es war nichts zu hören im Hause als das leise Auf- und Zuklappen der Küchentüre und von Zeit zu Zeit das Gestöhne aus dem Keller hervor, von dem der Vater sagte, es zeige Wetterwechsel an. Doch die Tante Giulia wußte es besser. Es war die ururalte Bärin, die zuhinterst im Keller schlief, etwa erwachte und sich drehte, wenn sie Hunger spürte … Er begann, sich zu fürchten, und wollte nach der Mutter rufen, als die weißen Vorhänge des Bettes auseinander wallten und die Mutter – sie war aber die schöne Frau auf dem Bilde im Buch – lächelnd dazwischenstand und ihm winkte. Sofort kletterte er aus seinem Bett und ging auf sie zu. Sie schwebte zur Tür hinaus, die Treppe hinunter, an der Küche vorbei auf die Straße und dort weiter zur Fuchsenbrücke, er immer hinter ihr drein. Auf dem Plan, wo das viele Farnkraut wuchs, setzte sie sich auf die Steinbank und ließ ihre Hand ins Brünnlein tauchen. Ein Geruch von Moos war wie eine Wolke um sie herum.

Da hörte er Lärm und Geschrei, Menschen kamen auf der Straße gerannt. Sie trugen eine Laterne und riefen laut seinen Namen. Er erkannte die Eltern und hintendrein, wie Schatten, die Tante und die heulende Orsanna. Als sie ihn erreicht hatten, begann die Schelte. Der Vater drohte mit strenger Strafe, mit Schlägen, doch wußte Bernardo so beredt von der schönen Mutter zu erzählen, die ihn aufforderte, mit ihr zu gehen, daß alle still wurden. Der Vater nahm ihn auf den Arm und trug ihn in sein Bett zurück. Die Mutter brachte ein heißes Getränk und streichelte seinen Kopf, bis er einschlief.

Auch Detta gedachte in diesem Augenblick der nächtlichen Flucht des Knaben. Sie erschrak damals sehr, das Bett des Kindes leer, die Türen offen zu finden; sie suchte den Sohn im ganzen Haus, im Garten, in den angrenzenden Feldern, betend, es möge ihm nichts Schlimmes widerfahren sein. Sie sorgte sich so um den Verlorenen, daß die Freude, den Ausreißer im langen Hemd endlich auf der Straße zu finden, den eben durchlebten Gram nicht aufzuwiegen vermochte. Auch heute noch, jetzt eben, stieg das Entsetzen über das Verschwinden des Sohnes wieder in ihr auf, so frisch, als stünde das längst Vergangene erst vor ihr.

«Also, du willst uns Alte allein lassen», sagte sie schließlich. Bernardo war verwirrt. Während er so stumm vor seiner Mutter Bett stand, stieg um ihn der süßliche Moosgeruch auf, der ihn in jener fernen Kindernacht umweht und den er vergessen hatte. Er prüfte ihn mit kurzem, schnellem Atem, wie ein Hund eine Fährte schnuppernd aufnimmt. Unsinn, ich bin wohl närrisch, dachte er. Zur Mutter sagte er gemessen im Tone eines jungen Mannes, der schon etliches hinter sich hat: «Ja, ich gehe, und diesmal holt ihr mich nicht mit der Laterne heim!» Er versuchte zu spaßen, doch die Mutter weinte.

III. Die Bärin

Die Alten lebten weiter wie zuvor. In die Arbeit, die Bernardo verrichtet hätte, teilten sich Orsanna und der Vater. Über die Heuzeit und im Herbst, zur Ernte, stellten sie Taglöhner ein, die von unten durchs Tal hinaufzogen und ihre Dienste anboten. Das paßte Orsanna nicht. Sie fand die Leute faul und immer hungrig und durstig. Lieber hätte sie die ganze Arbeit allein übernommen. Sie werkte wie ein Mann, im Stall, auf dem Felde, im Wald. Es gefiel ihr, so zu wirtschaften und ihre Unentbehrlichkeit Tag für Tag bestätigt zu sehen. Bald nahm sie den Platz ein, der dem Bruder zugekommen wäre. Der Vater gewöhnte sich, seine Ge­schäfte mit ihr zu besprechen. Er hörte auf sie. Sie verstand von allem so viel wie er selbst, doch hatte sie ihm eine rasche Entschlußkraft voraus. Sie mußte nicht lange überlegen, gleich wußte sie eine Sache, ohne unvorsichtig zu sein, richtig anzupacken, daß sie vorwärts ging. Tomaso dachte, wie unglücklich es sich schicke, daß nicht diese tüchtige Frauens­person ein Mann und Bernardo das Mädchen war.

Auch die Mutter zog Orsanna zu Rate, tat oft nach ihrem Willen und überließ ihr zu selbständiger Führung, was sie seinerzeit ihrer Schwägerin zäh abgekämpft hatte. Sie war gleichgültig geworden, denn ihre Gedanken weilten nicht auf der Bargada. Sie folgten dem Sohn. In der ersten Zeit nach seiner Abreise verteidigte sie ihn gegen Vorwürfe, die Tomaso gegen den Ausreißer aufbrachte. Sie fand Entschuldigungen und Erklärungen, den Mann zu besänftigen. Ob er nicht mehr daran denke, wie er selbst als junger Bursch ausgezogen war, das Gipserhandwerk zu erlernen und sich in Genua fast als Schiffsjunge hätte anheuern lassen? Ja, wäre sie nicht gewesen, ihn zurückzuhalten! Auch dem Sohn sei Freiheit zu gönnen. Er werde sie nicht mißbrauchen, er schlage nicht aus der Art, und was dergleichen Betrachtungen mehr waren, des Mannes Verdruß zu beschwichtigen. Als aber Tomaso seine Enttäuschung überwand, sich in die Lage schickte, den Sohn selten nur erwähnte, hielt sie die Trauer um sein Fernsein nicht mehr zurück. Sie klagte. Wo sich Gelegenheit bot, kam sie darauf zu sprechen, Bernardo sei zu erwarten. Es gab feste Redewendungen, die sie nie versäumte anzubringen: «Wartet damit, bis er da ist. Wenn er wieder da ist. Er ist ja bald da!» Orsanna ärgerte sich darüber. Sie gab mit scharfer Zunge zurück, da könne man warten bis zum Jüngsten Tag, er habe Eltern und Heimat längst vergessen, oder ob die paar Grüße, die er an Festtagen schicke – sie wies nach dem Küchenschrank, wo in einer Reihe ein paar bunte Ansichtskarten aus Mailand angeheftet waren – als Gegenbeweis gälten? Bernardo sei nicht dumm, das lustige Leben in der Stadt, das die Mutter ja oft genug beschrieben habe, gefalle ihm zu gut, er bleibe, wo er sei. Und überhaupt: als ob Bernardo nötig wäre auf dem Hof! Sie ersetze ihn schon. So trieb sie es, bis Detta weinte und Tomaso sie zur Ordnung wies. Was sie sich eigentlich einbilde! Und wenn man auch bis zum Jüngsten Tage auf ihn warten müsse, seinen Platz würde sie nie einnehmen, das solle sie sich gesagt sein lassen.

Es traf Orsanna, daß die Stellung, die sie sich erarbeitet zu haben wähnte, ihr nur geliehen sein sollte. Empört fragte sie sich, ob sie nicht gescheiter täte, dem Beispiel Bernardos folgend, in die Fremde zu ziehen, wo man ihre Kraft besser zu würdigen wüßte. Mochten die Eltern schauen, wie sie allein fertig würden. Doch das waren zornige Faseleien. Nie könnte sie die Bargada verlassen. Für sie gab es nichts auf der Welt, als hier in schwerer Arbeit sich mühen und mit allen Mitteln versuchen, gegen Brauch und Umstände, gegen den Willen der Eltern sich den ersten Rang auf dem Hof, auf den der Bruder verzichtete und den sie schon so gut wie inne hatte, zu sichern. Es mußte gelingen.

Wenn sich ein Mann für sie fände, bereit, auf den Hof einzuheiraten? Fast lächerte sie der Gedanke. Sie war schon über die Dreißig und hatte nie Zeit gehabt, sich um junge Burschen zu kümmern. Zudem, welcher hätte es ernst mit ihr gemeint? Eine Armini heiratete keiner vom Dorf. Nun war da aber der neue junge Wegknecht Giovanni. Er wohnte weit unten im ersten Ort des Tales und half seiner Mutter, die mit vielen kleinen Kindern Witfrau geblieben war, die Geschwister aufziehen. Man rühmte ihn deswegen. Jede Woche führte ihn sein Arbeitsgang über die Bargada. Orsanna sah ihn gerne kommen und beobachtete ihn etwa vom Garten aus. Er arbeitete mit Schaufel und Harke, fleißig und doch ohne Hast, daß es ihr recht gefiel. Auch sein kantiges Gesicht gefiel ihr. Sie durfte es sich offen gestehen, er war so viel jünger als sie, fast ein Bub noch, kam ihr vor. Oft gab es sich, daß sie ihn auf dem Wege traf, wenn er nach Feierabend die Werkzeuge auf der Schulter den langen Gang in sein Dorf hinunter antrat. Sie plauderten, machten einen Scherz. So hatte es begonnen. Doch wollte ihr bald scheinen, Giovanni wisse es geschickt einzurichten, um sie zu treffen, und was er ihr sage, habe alles einen zweiten Sinn: es wolle anderes und mehr sagen, als was die Worte bedeuteten. Sie ertappte sich dabei, nach diesem Sinn zu suchen und zu prüfen, was darauf zu antworten wäre. Dann schalt sie sich närrisch, hielt sich Launen alter Mädchen vor und schämte sich, Zeit mit Unsinn zu vergeuden. Und doch wurden ihr die Tage der Woche lieb oder unlieb, je nachdem sie näher oder ferner jenem Tag lagen, der den Burschen auf die Bargada brachte.

An einem Abend, ganz außer der Wochenordnung, stand Giovanni neben ihr, als sie die Kühe am Brunnen tränkte. Sie war so verblüfft, daß sie vergaß zu grüßen.

«Guten Abend», sagte er nach einer stummen Weile. «Du staunst mich an, als wäre ich ein Gespenst.»

Orsanna nahm sich zusammen. «Was treibt dich her?»

«Du meinst wohl, es sei ein Mädchen?» gab er zurück.

Orsanna schlug mit der Hand gegen den Wasserstrahl, daß er Giovanni traf. «Das dürfte wohl die Alda sein?»

«Wer weiß!» Es freute ihn, sie zu plagen. «Jedenfalls muß ich ins Dorf.»

«Und gehst heute nacht noch nach Hause?» frug sie weiter.

«Warum nicht?» warf er hin. «Es ist angenehm, nachts zu wandern, allein, und an das zu denken, was man wünscht.»

Orsannas Herz klopfte: «Und was wünschest du dir denn, wenn man es wissen darf?»

Giovanni sagte scherzend: «Vielleicht weißt du es!» Er schaute sie mit harten, klaren Augen an, deren eindringlicher Ernst in Widerspruch stand zu seinem lachenden Mund.

Betroffen wich Orsanna dem Ernst wie dem Scherz aus und fügte gleichgültig bei: «Wenn du auf dem Rückweg bist, tritt bei uns ein; die Alten freuen sich, jemanden zu sehen.»

Er antwortete nichts darauf, grüßte nur mit der Hand und eilte davon, dem Dorf zu.

Orsanna war aufgeregt. Sie brachte nach dem Essen die Küche rasch in Ordnung, legte frisches Holz in den Kamin und setzte sich neben die Mutter auf die Bank. Sie wartete. Ob er kommen würde? Davon hing vieles ab. Endlich hörte sie Schritte. Sie hielt den Atem an. Gingen sie am Haus vorbei? Traten sie ein? Als der Bursche mit leisem Gruß in der Küche erschien, war sie gefaßt.

«Schau, der Giovanni», warf sie hin, stand auf und schob ihn an ihren Platz neben der Mutter. Dem Vater, der verwundert aufschaute, erklärte sie, warum Giovanni so spät erst nach Hause gehe, und daß er am frühen Morgen schon wieder hier oben an der Arbeit sein müsse.

«Viel Schritte umsonst», meinte Tomaso ohne Teilnahme. Doch Detta schlug vor, der Junge solle über Nacht im Heu bleiben, es hätte wohl niemand etwas dagegen.

Er blieb, und von da an kam es vor, daß Giovanni eine Nacht in der Woche auf der Bargada verbrachte, um sich den Weg zu sparen. Ja, um sich den Weg zu sparen. Nur die alte Tante Giulia erriet, daß Giovanni nicht aus Bequemlichkeit auf dem Hof übernachtete.

Man sah sie selten mehr. Sie spann sich in ihrem Hause ein, was sie aber nicht hinderte, alles zu wissen, was sich auf der Bargada zutrug, und mit besonderem Spürsinn zu ahnen, was weder zu sehen noch zu hören war. So war ihr aufgefallen, daß Orsanna an gewissen Tagen eine andere Ordnung in ihre Arbeit brachte, hier war statt dort, ausging, wo sie sich sonst im Hause beschäftigte. Sie fand bald heraus, daß diese Veränderungen im Tagesplan mit dem Auftauchen des jungen Wegknechtes zusammenfielen. Schau, schau! Neugierig strich sie herum, fing mit Or­sanna Gespräche an und tauchte unerwartet im Hause auf. So kam sie eines Abends, als Giovanni in der Küche saß, hereingeschlurft und hockte kichernd dem Jungen gegenüber auf einen niedern Schemel, von wo sie ihn mit kleinen, von Hautsäcken verhangenen Augen musterte. Er erzählte gerade von der Gant des Spertini, der nicht mehr aus seinen Schulden zu retten sei und nun das Tal verlasse, um in einer Stadt als Handlanger seinen Verdienst zu suchen, während seine Frau und die Tochter, jene Alda, die Tomaso für seinen Sohn ausgewählt hatte, die Wirtschaft «Zur Post» übernähmen. Tomaso nickte. So hatte es kommen müssen, weil Bernardo ohne Vernunft seine guten Pläne durchkreuzte.

In dieser Nacht glaubte Giulia durch das Guckloch ihrer Küche zu sehen, wie Giovanni, nachdem alle schlafen gegangen waren, sich nochmals ins Haus schlich. Schau, schau! Wie war das nun? Wenn Orsanna den Burschen heiraten mußte – und wie sollte es anders ausgehen? –, dann kehrte sich auf einmal die Ordnung auf der Bargada um. Nicht die angeheiratete Frau wurde Meisterin, sondern die Zugehörige, die Eingeborene, die Echte: eine Armini. Sie fühlte sich im voraus und hintendrein entschädigt für ein Leben, das sie im Schatten der Schwägerin und Fremden hatte verbringen müssen, verloren, verblaßt, aufgeopfert. Brach Orsanna mit dem alten Brauch, der verlangte, daß die ledigen Schwe­stern des Meisters seiner Frau dienten, dann waren alle Armini-Töchter bis zurück zum Anfang, von dem niemand mehr wußte, gerächt. Sie wurde aufgeräumt und guter Dinge. Man sah sie oft auf der Wiese nach jungen Löwenzahnblättern suchen. Sie füllte ihre Schürze damit und wisperte vor sich hin: «Oh, das Schleckermaul!»