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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-862-9
»Da kommt er«, sagte Ulrike Brunner zu ihrem Mann.
Sie stand in gebeugter Haltung vor dem niedrigen Stubenfenster des alten Schwarzwaldhauses. Lump, der Jagdhund des Arztehepaars, drängte seinen großen Kopf neben ihren blonden Lockenschopf, um auch einen Blick nach draußen zu erhaschen. Als ein schwarzer Sportwagen auf den Patientenparkplatz fuhr, begann er, freudig zu bellen. Das tiefe Brummen des Motors kannte er doch …
»Hat er Frau Konzack mitgebracht?«, fragte der Landarzt, der am Tisch sitzen blieb.
»Das kann ich noch nicht erkennen«, murmelte Ulrike. »Jetzt steigt er aus. Wie gut er wieder aussieht, unser Sohnemann«, fügte sie voller Stolz hinzu.
Der junge Mann mit den langen Locken ging um den Wagen herum zur Beifahrertür. In der lässigen Jeans, zu der er ein einfaches weißes Shirt und Bikerstiefel trug, sah man Thorsten Brunner nicht an, dass er mit seinen dreißig Jahren schon ein international anerkannter Konzertdirigent war.
»Ja, Nicole Konzack ist mitgekommen«, informierte die Landarztfrau nun ihren Mann.
Die junge Frau, die aus dem Auto stieg, war groß und schlank. Viel zu schlank. Mit dem hellblonden Haar und der hellen Haut machte sie einen geradezu zerbrechlichen Eindruck, zu dem das weiße Sommerkleid, das ihre biegsame Figur wie ein Schleier umwehte, noch beitragen mochte.
»Man sieht schon von Weitem, dass sie völlig erschöpft ist«, sagte der Landdoktor mit betroffener Miene, der sich jetzt neben Frau und Hund gesellt hatte.
Ulrike lächelte ihn voller Zuversicht an. »Das bekommst du schon wieder hin.«
*
»Da sind wir!« Thorsten Brunner legte mit freundschaftlicher Geste den Arm um die junge Frau an seiner Seite. »Darf ich vorstellen? Meine Eltern – Nicole Konzack.«
Ulrikes schöne blaue Augen strahlten an diesem Sommertag mit dem Himmel um die Wette.
»Herzlich willkommen in Ruhweiler«, begrüßte die Landarztfrau zuerst Nicole. Dann lagen sich Mutter und Sohn in den Armen.
»Hallo, Vater.« Auch die beiden Männer verharrten in inniger Umarmung ein paar Herzschläge lang. Danach wandte sich der Landdoktor an ihren Gast.
»Frau Konzack, herzlich willkommen in unserem Haus und in Ruhweiler.«
»Danke, aber nennen Sie mich doch Nicole«, bat die junge Frau mit weicher, melodisch klingender Stimme.
»So, jetzt kommt erst einmal herein. Nach der Fahrt habt ihr bestimmt Hunger. Es gibt natürlich Schwarzwälderkirschtorte«, sagte Ulrike zu Nicole mit vielversprechendem Blick.
*
Während Thorsten zwei Stück Torte verschlang, naschte Nicole nur von ihrem Kuchen. Das Arztehepaar wusste, warum.
»Ich habe ein schönes Häuschen für Sie gefunden«, sagte Ulrike in aufmunterndem Ton. »Es liegt in einem Wiesengrund, gar nicht weit von uns entfernt, und Sie können bleiben, so lange Sie wollen.«
Nicoles Lächeln wirkte müde. »Leider habe ich nur drei Wochen Zeit.«
Matthias lachte. »Es hat schon Gäste gegeben, die sind für immer geblieben.«
»Hier ist es auch wunderschön«, erwiderte die junge Frau mit verklärtem Blick über die blühenden Wiesen, die unterhalb der Terrasse zur Steinache sanft abfielen. In der Ferne stellten sich die Schwarzwaldhöhen hintereinander auf. Am Horizont verschwammen ihre Konturen mit dem lichten Blau des Himmels.
»Wo kommen Sie her?«, erkundigte sich Matthias.
»Aus Zürich.«
»Eigentlich stammt Nicole aus Leipzig«, fügte Thorsten hinzu. Er sah seinen Vater bedeutsam an. »Ich habe euch ja erzählt, dass Nicole Primaballerina beim Schweizer Ballett ist.«
Ja, das wusste der Landarzt. Er wusste auch, dass die Primaballerina vor ein paar Tagen einen Zusammenbruch auf der Bühne gehabt hatte. Burnout, hatte der Notarzt diagnostiziert und ihr geraten, ein paar Wochen zu pausieren.
»Da fällt mir gerade ein«, wandte sich Thorsten wieder an Nicole. »Seit einem halben Jahr gibt es im Ort ein gut sortiertes Sportgeschäft, wo du alles bekommst. Fachmännische Beratung inklusive. Falls du überhaupt Sport machen möchtest …«
Mit gequälter Miene lachte die Tänzerin auf. »Ich werde Sport machen müssen, um beweglich zu bleiben.« Dann beugte sie sich zu Ulrike hinüber und vertraute ihr mit versonnenem Lächeln an: »Ich habe aber auch ein paar Bücher im Gepäck. Um endlich einmal zu lesen.«
»Ich bin auch so eine Leseratte«, ging die Arztfrau sofort auf das Thema ein und schon erzählte sie Nicole von den Neuerscheinungen, die sie ihr ausleihen wollte.
*
Das kleine Schwarzwaldhaus mit seinem tief gezogenen Schindeldach lag wie ein Schmuckstein in einer grünen Wiese unterhalb eines Tannenwaldes. Ein in allen Farben blühender Garten gab dem Häuschen einen ganz besonderen Charme.
Von der ersten Minute an fühlte sich Nicole dort zu Hause. Ganz anders als in ihrem Apartment in der Vorstadt von Zürich. An diesem ersten Abend konnte sie von der beschaulichen Stille um sich herum und der guten Luft nicht genug bekommen. Während sie beobachtete, wie die Dämmerung aus dem Tal hinauf über die Tannenhöhen schlich, tauchte die untergehende Sonne die Bergzüge im Osten in ein dunkles Purpur. Hinter den Hügeln, am weiten Horizont, segelten einzelne lang gezogene Wolkenstreifen mit lichtem Gold gesäumt. Keine Hochhäuser, keine Telegrafenmasten, kein Flugzeuglärm, der die Ruhe der Natur gestört hätte.
Fasziniert sah die junge Frau zu, wie die Farben um sie herum verblassten. Der Mond wanderte höher. Das vielstimmige Geläut der Kuhschellen verklang, und die Steinache, die in ein paar Meter Entfernung durch die Wiesen plätscherte, schien leiser zu fließen als noch am Nachmittag.
Nicole lächelte versonnen vor sich hin.
Wie gut tat diese Ruhe, diese Idylle, ihrem ausgebrannten Körper! Für ein paar Augenblicke spürte sie keinerlei Schmerzen mehr, vergaß alle Zukunftssorgen und versank ganz im Hier und Jetzt. Sie schloss die Augen, atmete den Duft von Harz und fruchtbarer Erde tief ein, spürte den lauen Abendwind auf ihrer Haut und glaubte sogar zu spüren, dass er etwas mit sich brachte, was ihr Leben fortan für immer verändern würde.
*
Nicole begann den nächsten Tag mit zwei Tassen starkem Kaffee und einem Vitamindrink. Wie fast ihr gesamtes Leben lang. Heiko Wieland, ihr Agent, versorgte sie mit den flüssigen Nährstoffen, wie auch seine anderen ›Schäfchen‹. So nannte er all die Tänzerinnen, denen er Auftritte vermittelte. Nach dem Frühstück beschloss sie, eine Wanderung zu machen, trotz der Schmerzen im Fuß.
In einer Jeans, die ihr inzwischen auch schon zu weit war, Turnschuhen und mit einem leichten Rucksack auf dem Rücken ging sie los. Da sie sich im Ruhweiler Tal nicht auskannte, schlug sie einfach eine beliebige Richtung ein.
Mal sehen, wohin mich dieser Weg führen wird, sagte sie sich.
Seit mehr als zwanzig Jahren waren ihre Tage bestimmt vom Balletttraining, von der Planung anderer Menschen; sie hatten stets den gleichen Rhythmus. Dass sie jetzt auf sich allein gestellt war, rief ein Gefühl der Unsicherheit in ihr hervor.
Sie atmete energisch durch.
Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und den Blumen, die am Wegesrand standen. Brunellen, Seidelbast und Frauenschuh –, Nicole erinnerte sich wieder daran, dass ihre Großmutter ihr diese Pflanzen einst gezeigt hatte. Sie lächelte bei der Erinnerung an ihre Kindheit still vor sich hin, an die Zeit, bevor sie Ballettunterricht genommen hatte. Doch gleich darauf schüttelte sie diese Gedanken schnell ab.
Von hier oben hatte man einen traumhaften Blick auf die Häuser von Ruhweiler, auf die kleine weiße Kirche, deren goldener Wetterhahn in der Sonne blinkte.
Sie ging weiter in den Hochwald hinein. Über ihr lispelten die Blätter im Sommerwind. Im Geäst der Tannen, Fichten und Buchen sangen die Vögel um die Wette. Dazwischen erklang immer wieder das Gekrächze eines Eichelhähers, des Wächters des Waldes, der dessen Bewohner auf die einsame Wanderin aufmerksam machen wollte.
Nach einer Biegung entdeckte die junge Frau einen Holztransporter, der quer zum Wanderweg stand. Männer waren damit beschäftigt, Bäume zu fällen und Stämme aufzuladen. Als sie näher kam, löste sich einer aus der Gruppe und kam auf sie zu. Ein Mann mit dunkelbraunen Locken, von denen ihm einige verwegen in die braun gebrannte Stirn fielen. Breitbeinig blieb er vor ihr stehen, mit einem jungenhaften Lächeln in dem gut geschnittenen Gesicht. Er kam ihr vor wie ein Teil dieser wilden rauen Waldwelt.
»Grüß dich«, sagte er ganz selbstverständlich zu ihr.
»Grüß dich«, wiederholte sie seine Worte in erstauntem Ton.
»Hier kannst du nicht weitergehen«, erklärte er mit einem Lächeln, das sie sofort in seinen Bann zog. »Das wird noch ein paar Stunden dauern. Wir holzen gerade.«
Sie hob die Schultern. »Dann kehre ich halt wieder um.«
»Wohin willst du denn?«
»Ganz gleich wohin.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Ich kenne die Gegend noch nicht.«
»Du solltest zur Hexenhütte wandern. Dort gibt es einen wunderschönen Ausblick und die besten Käsespätzle.«
Wie unter einem Blitz zuckte sie innerlich zusammen.
Kritisierte er mit diesem Vorschlag etwa ihre Figur?
»Dafür musst du ein Stück zurück und dann dem Schild nach«, erklärte er ihr und fügte mit strahlendem Lächeln hinzu: »Der Weg lohnt sich wirklich.«
»Danke für den Tipp.« Sie hörte selbst, wie viel kühler sie nun klang. Sie wollte schon umkehren, aber der Blick aus den sanftbraunen Männeraugen hielt ihren fest. Es war ein ernster Blick, ein forschender. Er schien bis in ihre Seele vordringen zu wollen.
»Machst Urlaub hier bei uns im Tal?«, fragte der junge Mann in dem grünen Overall, über dem er trotz der Wärme eine orangefarbene Warnweste trug.
»Ja«, antwortete sie.
Sie fühlte sich befangen, ja, sogar ein wenig verunsichert, was sie gar nicht von sich kannte. Hatte sie den Umgang mit Männern etwa völlig verlernt?
»Und? Gefällt’s dir bei uns?«
»Sehr.« Diese Antwort kam ihr aus dem Herzen und klang auch so.
Er nickte, lächelte, nicht mehr ganz so strahlend und verabschiedete sich dann mit den Worten: »Also dann … Ade. Ich wünsch dir was.«
»Ich dir auch.« Sie hob die Rechte, drehte sich um.
Ihr Herz schlug plötzlich schneller. In ihr breitete sich das Gefühl von Bedauern aus, das sie völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Gern hätte sie sich noch etwas länger mit dem Waldarbeiter unterhalten. Er stammte aus einer anderen Welt als der, in der sie heute lebte. Aus der Welt, in die sie einst hineingeboren worden war. Ihr Großvater war Förster gewesen.
Während Nicole so in Gedanken weiterging, betrachtete sie ein paar Vögel, die über ihr ihre Bahn zogen, elegant und schwerelos.
Sich einmal so richtig frei fühlen … Ja, das wünschte sie sich.
*
Daniel Geißle schaute der Urlauberin nach.
Eine Elfe, voller Anmut, aber viel zu dünn. Wunderschöne graue Augen hatte sie, denen der Kranz langer, schwarzer Wimpern noch mehr Tiefe gab. Erholungsbedürftig schaute sie aus. Blass. Er hatte auf ihren Zügen die Anzeichen von Erschöpfung gelesen, die er schon so oft auf Gesichtern gesehen hatte. Auch auf seinem eigenen.
Daniel strich sich die Locken aus der Stirn und schüttelte den Kopf, aus Unverständnis darüber, was diese Fremde in ihm angerichtet hatte. Immer noch stand er mitten auf dem Weg, hörte das Kreischen der Kettensägen in seinem Rücken und die Rufe der Männer ein paar hämmernde Herzschläge lang wie Geräusche von einem anderen Planeten, die ihn nichts angingen. So etwas war ihm noch nie passiert. Noch nie zuvor hatte eine Frau einen solch intensiven Eindruck bei ihm hinterlassen. Sie hatte eine Aura gehabt, die ihn, ohne dass er sich hätte wehren können, in ihren Bann gezogen hatte. Und nicht nur das. Er spürte dem Gefühl nach, das ihn ein paar Atemzüge lang beherrschte, das Gefühl, mit dieser Frau seelenverwandt zu sein. Ja, er glaubte, sie zu kennen, zu wissen, dass sie litt. In dem Leiden, das er bei ihr vermutete, kannte er sich aus. Er war diesem Zustand vor einem halben Jahr erst entkommen.
Noch einmal schüttelte er den Kopf, dieses Mal energischer.
Blödsinn. Vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein, weil ihn nachts oft noch die Träume an die vergangenen Jahre plagten.
Die Fremde war längst verschwunden, als Daniel zu den Holzfällern zurückging.
*
Nach der Wanderung, die kürzer ausgefallen war als Nicole sich vorgenommen hatte, fuhr die junge Frau nach Ruhweiler hinunter, um Obst und Tee einzukaufen. Ihre Füße brannten wieder, als würde ein Feuer in ihnen wüten. Der rechte Fuß und seine Zehen noch mehr als der linke. Schmerzen am Bewegungsapparat gehörten zwar zu ihrem Beruf. Sie kannte sie und konnte damit umgehen. Doch an diesem Nachmittag erschienen sie ihr schier unerträglich. Sie konnte kaum mehr gehen.
Vor einer der für diese Gegend so typischen Schwarzwälderstuben blieb sie aufatmend stehen. Sie betrachtete das verlockende Angebot im Schaufenster. Wagenradgroße knusprig gebackene Brote, geräucherte Schinken, handgeschöpfter Käse, Obstbrände, Weine …
Sollte sie? Nein, lieber nicht, sagte sie sich. Sie durfte nicht. Sie sollte sich hier erholen, Kraft tanken, aber nicht an Gewicht zunehmen.
»Vergiss nicht, ein paar Pfund mehr in den drei Wochen und du bist draußen«, hörte sie Heiko Wieland vor ihrer Abfahrt mahnend sagen.
Sie musste weitertanzen. Sie hatte doch nichts anderes gelernt. Seit das Ballett eine Vertretung für sie gefunden hatte, fürchtete sie sich davor, dass die vier Jahre jüngere und sehr ehrgeizige Tänzerin ihr auf Dauer die Position der Primaballerina streitig machen könnte.
In diese schweren Gedanken hinein klingelte ihr Handy.
O nein! Ihre Mutter.
Sie steckte das Funktelefon so schnell zurück in den Rucksack, als hätte sie sich an ihm verbrannt. Mit steifen Schritten ging sie weiter.
Am Ende der Geschäftsstraße hörte sie eine Frauenstimme ihren Namen rufen. Erstaunt drehte sie sich um und sah Ulrike Brunner auf sich zukommen. In dem hellen Landhauskostüm zog die Arztfrau so manchen Männerblick auf sich.
»Wie war die erste Nacht in dem Häuschen meiner Freundin?«, erkundigte sie sich mit ihrem sonnigen Lächeln.
»Sehr angenehm. Aber Sie sollen mich doch duzen«, fügte Nicole in bittendem Ton hinzu.
»Das mach ich gern.« Ulrikes hübsches Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. »Ich habe gesehen, dass du humpelst.«
»Ach, das ist nichts. Ich bin nur zu lange wandern.« Ihre Worte begleitete sie durch eine wegwerfende Geste.
Die Landarztfrau sah sie forschend an. »Du gehst so, als würdest du sehr starke Schmerzen haben.«
»Schmerzen sind in meinem Beruf an der Tagesordnung«, erwiderte sie leichthin.
Der Blick der Älteren intensivierte sich. »Scheu dich nicht, meinen Mann aufzusuchen. Wir haben Thorsten versprochen, dass wir uns um dich kümmern.« Aufmunternd zwinkerte ihr die Arztfrau zu. »Wie wäre es, wenn du morgen Nachmittag zum Kaffee zu mir kommen würdest? Danach schaust du einfach einmal in der Praxis vorbei, die liegt ja gleich nebenan.«
*
»Doktor? Die Bekannte von Thorsten ist hier.« Schwester Gertrud stand in der Sprechzimmertür und sah ihren Chef fragend an. »Soll sie noch warten oder haben Sie jetzt Zeit für sie?«
»Das Gutachten kann warten«, erwiderte Matthias, stand auf und knöpfte den weißen Mantel zu. »Schicken Sie Frau Konzack herein.«
»Sie ist so nett, aber spindeldürr, die Arme«, sagte die altgediente Sprechstundenhilfe mit unterdrückter Stimme. »Wenn Sie mich fragen, verschreiben Sie ihr mal was, das ihren Appetit anregt.«
Matthias lächelte in sich hinein.
Tatsächlich war Schwester Gertrud dreimal so breit wie Nicole und das bei gleicher Körpergröße.
»Also, ich bring sie jetzt rein zu Ihnen«, beschloss seine Sprechstundenhilfe, verschwand, um ein paar Sekunden später Nicole in sein Zimmer zu schieben.
Wieder fiel ihm auf, wie durchsichtig die Tänzerin wirkte.
»Hat der Apfelstreusel meiner Frau geschmeckt?«, erkundigte er sich lächelnd, während Nicoles kalte Hand in seiner lag.
Niedriger Blutdruck, diagnostizierte er sofort.
»Ja, danke«, antwortete die junge Frau höflich.
Er ahnte jedoch, dass sie höchstens ein paar trockene Streusel zu sich genommen hatte.
»Setz dich«, bat er sie und zeigte auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. »Was kann ich für dich tun?«
Nicole biss sich auf die Unterlippe. Dann räusperte sie sich und sagte mit entschuldigendem Lächeln: »Ich habe manchmal Schmerzen in den Füßen. Das ist ganz normal in meinem Beruf. Aber in der vergangenen Nacht waren sie so stark, dass ich kaum schlafen konnte.«
Matthias hob die Brauen. »Wie lange hast du sie schon?«
Die junge Frau lachte leise. »Schon seit Jahren.«
»Seit Jahren? Warst du schon einmal deswegen bei einem Orthopäden?«
»Nein. Als Primaballerina muss man gesund sein. Arztbesuche würden den Ballettleiter nur auf den Gedanken bringen, sich in naher Zukunft nach einem Ersatz umzusehen.«
»Du hast seit Jahren Schmerzen und tanzt weiter?«, fragte Matthias mit ungläubigem Blick.
»Es gibt doch Tabletten.«
»Schmerzen sind ein Signal des Körpers. Man sollte auf sie hören, wenn man gesund bleiben will.«
»Als Primaballerina muss man sie aber überhören, sonst rutscht man schnell wieder auf die Stelle einer ganz normalen Tänzerin im Ballett. Und dann hat man noch Glück. Dieses Geschäft ist hart«, fügte Nicole leise mit gesenktem Kopf hinzu.
Für einen Moment war er sprachlos. Kein Wunder, dass die junge Frau auf der Bühne zusammengebrochen war. Freiwillig hätte sie ihrem Körper keine Erholung gegönnt.
Er räusperte sich.
»Ich bin kein Orthopäde«, begann er dann. »Von der komplizierten Struktur der Füße verstehe ich nicht viel. Aber ich könnte dir einen guten Kollegen in Freiburg empfehlen, bei dem ich einen Termin für dich machen kann.«
Nicole sah ihn bittend an. »Thorsten hat gesagt, Sie verstehen von allem etwas. Weil Sie Landarzt sind und die Patienten mit allen Wehwehchen zu Ihnen kommen.«
Da musste Matthis lachen. »Hoffentlich überschätzt mein Sohn mich nicht.« Er stand auf. »Okay, ich kann mir deine Füße ja mal anschauen. Danach sehen wir weiter.«
Er bat sie, die Schuhe auszuziehen und sich auf der Untersuchungsliege auszustrecken. Einen vagen Verdacht hatte er schon bezüglich der Ursache für Nicoles beschriebene Schmerzen. Um ihn abzuklären, zeichnete er mit dem Finger die Verlaufsstrecke eines Nervs nach, der vom Innenknöchel fußabwärts führte. Seine Patientin stöhnte dabei leise auf.
»Wird der Schmerz durch den Druck noch stärker?«, fragte er.
Sie nickte stumm.
Dann klopfte er den Nerv ab, wobei Nicole die Luft scharf einzog.
»Wie fühlte sich der Schmerz jetzt an?«
»Wie elektrische Stöße.«
»Hattest du die Füße einmal gebrochen?«
»Nur den rechten. Den linken habe ich mir mehrmals verstaucht.«
»Sind die Schmerzen rechts stärker?«
Sie nickte wieder.
»Wahrscheinlich leidest du an einem Tarsal-Tunnel-Syndrom.« Er erklärte ihr die Einzelheiten dieser Erkrankung. »Aber wie gesagt, das ist nur ein Verdacht eines einfachen Landarztes. Die Diagnose muss von einem Fachkollegen bestätigt werden.«
Nicole richtete sich auf. »Wie kann man sie bestätigen?«
»In Zweifelsfällen betäubt man die Nervenbahn vorübergehend. Verschwinden die Schmerzen beim Stehen oder Gehen, ist dies ein wichtiger Mosaikstein für die Diagnose dieser Erkrankung.«
»Können Sie mir ein solches Betäubungsmittel spritzen?« Nicole sah ihm in die Augen.
Er schluckte. »Ungern. Ich pfusche meinen Kollegen von der Orthopädie nicht ins Handwerk.«
»Bitte, Herr Doktor. Ich will nicht zu anderen Ärzten gehen müssen. Sie kenne ich jetzt. Und gefährlich kann eine solche kurze Betäubung doch nicht sein.«
Er musste lächeln. »Nein, gefährlich ist sie nicht, aber …«
»Kein Aber«, sagte da die junge Dame überraschend energisch. Sie beugte sich vor und flüsterte ihm mit einem Lächeln zu, das einen Eisberg zum Schmelzen hätte bringen können: »Ich werde Sie auch nicht bei den Orthopäden verraten. Versprochen.«
Unschlüssig schüttelte er den Kopf. Natürlich wollte er ihr helfen, aber es gab nun einmal Fachärzte, die streng darauf achteten, dass sich ein Hausarzt nicht in ihre Bereiche drängte.
»Sie sind Landdoktor«, fuhr Nicole bittend fort. »Ihre Patienten haben doch so viele unterschiedliche Krankheiten. Thorsten hat mir erzählt, dass Sie sogar schon einmal einem Kälbchen ans Licht der Welt geholfen haben. Hat sich daraufhin der Tierarzt auch beschwert?«
Er musste lachen.
Sein Sohnemann …, gab mit seinem Vater an …
»Ich mache diesen Test nur, wenn du danach die Therapie, die zur Heilung erforderlich ist, genau einhältst«, sagte er streng.
Sie zögerte. »Wie sieht die denn aus?«
»Absolute Ruhestellung der Füße und zusätzliche Injektionen gegen den Schmerz.«
»Ruhigstellung?« Sie sah ihn groß an. »Ich wollte hier Sport machen, damit ich meine Beweglichkeit nicht verliere und mir Kondition antrainiere.«
»Kein Sport.«
»Okay, okay«, gab sie schnell nach.
»Je nach Stärke der Verengung des Nervenkanals ist jedoch eine Operation nötig.«
Sie erblasste. »Ich muss in drei Wochen wieder tanzen.«
»Mädchen«, sagte er in eindringlichem Ton und nahm ihre kalte Hand in seine, »viel wichtiger als der Beruf ist die Gesundheit von Körper und Seele. Dein Burnout und die Schmerzen in den Füßen sollten dir eine Warnung sein. Hör bitte auf sie.«
*
In der zweiten Nacht konnte Nicole durchschlafen. Als sie morgens aufstand, verspürte sie jedoch wieder das ihr schon bekannte Brennen, besonders im rechten Fuß.
Mit einem leisen Seufzer sah sie aus dem Fenster.
Dort draußen sagten ihr die Sonne und ein wolkenloser Himmel Guten Morgen. Und sogleich hob sich ihre Laune.
Ruhigstellung?, sagte sie sich. Gut, ich könnte mich nach draußen setzen und lesen. Doch dann dachte sie daran, dass sie in drei Wochen wieder auf der Bühne stehen musste. Der Notarzt, der sie nach ihrem Zusammenbruch auf der Bühne behandelt hatte, war Sportmediziner gewesen. Immer noch hatte sie seine Worte im Ohr: »Ausdauertraining ist wichtig. Fehlt die Kondition, übersäuert der Muskel, die Koordinationsleistung lässt nach und die Verletzungsanfälligkeit steigt.« Harte Worte, die der Ballettmeister abgetan hatte. Für sie ergaben sie jedoch Sinn. Also? Sie musste hier etwas tun. Schwimmen? Ja, das war doch ein Kompromiss. Beim Schwimmen belastete sie ihre Füße kaum. Und die Autofahrt zu dem kleinen See in der Nähe würde ihrer Therapie doch nicht so abträglich sein können, oder?
*
Die vier Autos am Seeufer zeigten Nicole, dass sie nicht die Einzige war, die zu dieser frühen Stunde baden ging.
Sie schaute über die spiegelnde Wasserfläche. Hier und da konnte sie Köpfe erkennen. Es waren Schwimmer, die sportlich ihre Bahnen zogen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal geschwommen war.
Das Wasser war überraschend warm. Sie tauchte unter und aalte sich wie ein Fisch. Herrlich. Dann schwamm sie los. Ihr Ziel war der Holzsteg am gegenüber liegenden Ufer. Hin und zurück, überlegte sie. Das Ganze fünf Mal. Morgen würde sie ihr Pensum steigern.
Kurz vor dem Steg musste sie sich jedoch eingestehen, dass sie sich ein zu hohes Ziel gesteckt hatte. Sie kam aus der Puste. Da passierte es. Sie hatte den Schwimmer vorher nicht bemerkt, der im Schmetterlingsstil vor ihr auftauchte. Und er sie auch nicht. Sie wich nach rechts aus, dennoch berührten sich ihre Beine. Der Mann mit dem dunklem Haar und der Schwimmbrille kam aus dem Bewegungsrhythmus, ruderte mit den Armen auf der Stelle und sah sich um. Sie erkannte ihn wieder. Er war der Holzfäller.
»Grüß dich«, sagte er schwer atmend.
Dabei schob er die Brille ins Haar. Sein strahlendes Lächeln zeigte ihr, dass er sich freute, sie zu sehen.
»Hallo.« Auch ihr Atem ging unregelmäßig, obwohl sie viel ruhiger geschwommen war als er.
»Haben die Käsespätzle geschmeckt?«
Sie musste lachen. »Ich war gar nicht in der Hütte.«
»Nicht gefunden?«
»Mir taten die Füße weh«, gestand sie ihm offen.
Er zeigte auf den Steg, der in den See ragte, und sah sie auffordernd an. Sie nickte. Er schwamm die wenigen Meter hinüber, sie folgte ihm. Dort angekommen hielten sie sich am Holz fest, was sie als Erleichterung empfand.
Muskulöse Schultern hatte er, braun gebrannt, gestählt von der Forstarbeit, nicht durchs Fitnessstudio. Sehr männlich, musste sie sich eingestehen. Dabei beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl. War es etwa Scham? Mit wie vielen Ballettkollegen hatte sie schon die Umkleidekabine geteilt? Die besaßen jedoch alle nicht diese ungemein männliche Ausstrahlung wie dieser Waldarbeiter.
»Daniel.« Förmlich reichte er ihr seine nasse Hand, in der ihre verschwand.
»Nicole.« Sie erwiderte seinen Blick, der wieder bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken schien. In Tiefen, an die sie selbst lieber nicht rührte.
Rasch sah sie weg, über die Wasserfläche, zu den Tannen hinüber, die sich die Hügel hinaufzogen.
»Schön ist es hier«, sagte sie.
Das Schweigen zwischen ihnen machte sie nervös. Immer noch lag sein Blick auf ihrem Gesicht.
»Ich schwimme jeden Morgen hier«, erzählte er ihr. »Bis in den Herbst hinein. Auch bei Regen.«
»Du lebst ja richtig gesund. Sport, die Arbeit in der Natur …«
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte der Ausdruck von Verwirrung über sein kantig geschnittenes Gesicht, dann lachte er sie wieder an.
»Wo bist du denn zu Hause?«, erkundigte er sich.
»Leipzig.« Sie lächelte und berichtigte sich sogleich: »Also, ich stamme aus Leipzig. Ich bin schon früh von dort weggegangen. Seit vier Jahren lebe ich in Zürich.«
»Dort ist es auch schön, aber leben möchte ich nur hier.«
»Das kann ich verstehen.« Ganz spontan war ihr die Bemerkung von den Lippen gesprungen.
»Wirklich?« Er klang erstaunt.
Sie nickte. »Ja, wirklich. Aber soll ich dir etwas verraten?« Sie lächelte ihn verschmitzt an. »Das ist mir gerade erst jetzt bewusst geworden. Ich wohne im Außenbezirk von Zürich, inmitten von Hochhäusern.« Sie lächelte verlegen. Sie hatte den Eindruck, schon viel zu viel über sich zu erzählen. Trotzdem fuhr sie fort: »Ich meine, ich könnte mir vorstellen, hier zu leben. Obwohl das niemals ginge, zumindest nicht in den nächsten Jahren«, fügte sie murmelnd hinzu. Sie fühlte sich plötzlich kraftlos.
Wieder einer seiner Blicke. Dann räusperte er sich, sah auf seine Sportuhr und erschrak sichtlich.
»Ich muss zur Arbeit«, sagte er in bedauerndem Ton. Doch sein Gesicht hellte sich sofort wieder auf, als wäre ihm eine gute Idee gekommen. »Ich kann dir ein bisschen von der Gegend zeigen, wenn du möchtest. Ich stamme von hier.«
Ihr Herz, das sich gerade etwas erholt hatte, verfiel wieder in einen schnelleren Rhythmus. Dieses Mal nicht durchs Schwimmen.
Sollte sie sich auf diese Einladung einlassen? Durfte sie sich auf sie einlassen? Natürlich bemerkte er ihr Zögern. Er lächelte sie an, ein wenig enttäuscht, wie ihr schien.
»Na ja, vielleicht sieht man sich ja noch mal«, meinte er dann freundlich, aber deutlich distanzierter. Er hob die Hand. »Ade.«
Sie lächelte zurück und wollte schon fast sagen, dass es ihr heute am Spätnachmittag gut passen würde, doch da war er schon untergetaucht.
Wie ein Delfin glitt er durchs Wasser und entfernte sich immer weiter von ihr. Zurück blieb ein Gefühl, das sich in ihrem Innern ausbreitete. Das Gefühl, eine Chance auf schöne Stunden vertan zu haben. Denn eines wusste sie jetzt schon: Morgen würde sie sich eine andere Schwimmmöglichkeit suchen. Sie hatte ihm einen Korb gegeben. Ihr war peinlich, ihm noch einmal zu begegnen. Vielleicht würde er ja jetzt sogar sauer auf sie sein, und ein Wiedersehen würde unangenehm ausfallen.
Schade.
*
Das Gefühl des Bedauerns begleitete Nicole auch noch auf dem Rückweg zu ihrem gemieteten Häuschen. Nach einem Frühstück, das aus Kaffee und ihrem Vitamindrink bestand, überlegte sie, wie sie den Tag, der vor ihr lag, gestalten sollte. Ihre Füße brauchten Ruhe, wie Dr. Brunner gesagt hatte. Also würde sie sie hochlegen und ein Buch zur Hand nehmen.
Sie hatte gerade erst ein paar Seiten gelesen, als ihr Handy klingelte. Dieses Mal öffnete sie die Leitung zu ihrer Mutter.
»Kind, wo bist du denn? Ich habe schon mehrmals versucht, dich zu erreichen«, überfiel ihre Mutter sie in der für sie so typischen übereifrigen Art.
Tja, wo war sie? Auf gar keinen Fall wollte sie ihr verraten, dass sie in einem kleinen Ort namens Ruhweiler im Schwarzwald war.
»Bist du nicht in Zürich? Arbeitest du nicht?«
Nun gut, was blieb ihr anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen?
»Ich pausiere drei Wochen.«
Stille.
Ihre Mutter schwieg, was ihr zeigte, wie betroffen sie sein musste.
»Du pausierst?«
Kurz und knapp erzählte sie, was passiert war.
»Drei Wochen lang?«
Dass diese Zeitspanne viel zu kurz war, wusste sie seit gestern von Dr. Brunner.
»Aber du stehst doch nach drei Wochen wieder auf der Bühne, oder?«
»Natürlich.«
Sie konnte durch die Leitung hören, dass ihre Mutter ausatmete.
»Ich mache hier viel Sport«, erzählte sie weiter. »Der Notarzt, ein Sportmediziner, hat mir Ausdauertraining empfohlen.«
»Hier? Was heißt denn hier? Wo ist das?«
Sie seufzte. »Im Schwarzwald.«
»Und wo da?«
»Ach, Mama, ein kleiner Ort. Ein Bekannter von mir kennt ihn. Jetzt sag mal, wie geht es denn dir eigentlich?«
Ihre Mutter antwortete nicht. Stattdessen hörte sie Stimmen im Hintergrund. Dann meldete sie sich wieder. »Kind, ich muss auflegen. Gerade ist der Heizungsinstallateur gekommen. Ich gehe übrigens auf Kreuzfahrt. Und wir müssen unbedingt noch einmal über deinen Zusammenbruch reden. Tschü-üs.«
Nicole atmete erleichtert aus.
Herzlichen Dank an den Installateur, dachte sie lächelnd und wollte sich wieder in ihr Buch vertiefen. Doch das sollte ihr nicht mehr so recht gelingen. Die Stimme ihrer Mutter klang immer noch in ihr nach.
Gerda-Franziska Konzack, ihre Mutter … Geschieden, alleinerziehend, beruflich gescheitert. Zumindest in ihren eigenen Augen. Nicole seufzte leise. Ihre Mutter hatte alles für sie getan. Mehr als das. Ihren ganzen Verdienst als Kassiererin in einem Discounter in Leipzig hatte sie in ihre Ballettausbildung gesteckt, hatte ihren Weg vom kleinen Mädchen, das mit fünf Jahren zum ersten Mal die Spitzenschuhe angezogen hatte, bis zur Primaballerina begleitet und mitgetragen. Ja, sie musste ihrer Mutter dankbar sein. Und trotzdem steckte da ganz tief in ihr auch ein ganz anderes Gefühl als Dankbarkeit. Nein, dieses Gefühl wollte sie gar nicht erst näher betrachten.
Sie richtete sich auf der Liege auf.
Das Herumhängen brachte sie nur auf Gedanken, die ihrer Seele schadeten. Sie war nicht gewöhnt, in den Tag hineinzuleben. Sie musste etwas tun. Ob es ihrer Heilung schaden würde, wenn sie in dieses Sportgeschäft fuhr, das Thorsten ihr empfohlen hatte? Sie brauchte einen neuen Badeanzug. Und vielleicht würden ja auch ein paar richtige Wanderschuhe mit geformtem Fußbett Wunder tun.
*
Nicole fuhr langsam die beschauliche Geschäftsstraße von Ruhweiler entlang. Zu ihrer Rechten lag der Schwarzwaldladen, vor dem sie schon gestanden hatte. Ihr war zumute, als würden die knusprigen Brote und die geräucherten Schinken sie hereinwinken. Bei ihrem Anblick lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Ihr knurrte der Magen.
Nein, gleich kaufe ich Obst, Gemüse und Salat, sagte sie sich energisch und gab Gas.
Ein paar Meter weiter entdeckte sie das Schild, das sie suchte. ›Tonis Sportmoden‹, stand über dem Geschäft. Zwei riesige Schaufenster luden den Kunden ein. Dass sie direkt vor dem Eingang eine Parklücke fand, wertete sie als Zeichen, hier genau richtig zu sein.
Wie lange hatte sie sich nichts mehr gekauft? Ihr schwebte ein farbenfroher Badeanzug vor, einen schöneren als ihr altes dunkelblaues Schwimmmodell. Karibische Farben, Muster der Südsee, sommerlich, sprühend, lebensfroh. Ja, genau das wollte sie sich jetzt leisten.
*
So schwungvoll, dass es sie selbst überraschte, öffnete Nicole die Tür und sah sich erst einmal allein in dem Geschäft. Dann wurden Schritte laut. Eine dunkelhaarige, etwas mollige Frau mittleren Alters erschien hinter einem Vorhang. Ihr warmherziges, mütterliches Lächeln nahm sie auf den ersten Blick gefangen. Auch die braunen Augen der Verkäuferin lächelten, als diese auf sie zutrat.
»Grüß Gott, kann ich etwas für Sie tun?«
Nicole nannte ihren Wunsch.
»Ich glaube, ich weiß genau, was Sie suchen. Kommen Sie mal mit mir.«
Die Frau berührte ihren Ellbogen, zog sie zu einem Ständer und zeigte ihr exakt das Modell, dass sie im Geiste vor sich gesehen hatte.
»Das ist er!«, rief Nicole gleichermaßen erfreut wie begeistert aus.
Die ältere Dame lachte. Ihr Lachen klang wie das einer Frau, die mit sich und der Welt im Reinen war. Bewundernswert.
»Jetzt muss er nur noch passen«, meinte sie dann ernst. Ja, fast mit bekümmertem Blick.
»Ich weiß.« Nicole seufzte. »Das ist immer mein Problem.«
»Sie haben eine tolle Figur, aber ein paar Pfündchen mehr könnten Sie schon vertragen«, meinte die Verkäuferin mit herzlicher Offenheit. »Das mögen die Männer«, vertraute sie ihr augenzwinkernd an.
Die Schwarzwälder Männer bestimmt.
Wieder sah sie den Waldarbeiter namens Daniel vor sich. Groß, breit, ein Hüne, der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Männlich. Und mit so viel jungenhaftem Charme.
»Probieren Sie den Badeanzug an. Sollte er zu weit sein, kann ich Ihnen einen hervorragenden Schneidermeister im Ort empfehlen, der ihn enger machen kann.«
Das schöne Stück passte, was Nicole zunächst sprachlos machte. Dann freute sie sich. Sie hätte jubeln können. Endlich einmal hatte sie sich etwas gegönnt, was nicht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit stand.
»Fantastisch«, lautete das Lob der Verkäuferin. »Aber trotzdem …« Sie senkte in verschwörerischer Manier die Stimme und wiederholte: »Ein paar Pfündchen mehr könnten es schon sein.«
Nicole lächelte sie an. »Jetzt brauche ich noch Wanderschuhe, mit einem guten Fußbett.«
»Dafür rufe ich lieber meinen Sohn, der packt hinten gerade neue Ware aus. Er versteht mehr vom Wandern.«
Nun gut, dann sollte Toni mal kommen. Sie befand sich gerade im Kaufrausch, vielleicht würde Toni heute das Geschäft seines Lebens machen.
*
Tonis Mutter verschwand hinter dem Vorhang. Nicole hörte Stimmen, dann feste Schritte und da erschien Toni auch schon – nur dass der Mann nicht Toni, sondern Daniel hieß.
Ihr stockte der Atem, als ›ihr‹ Waldarbeiter, sichtlich genauso überrascht wie sie, stehen blieb und sie ansah.
»Du?«, fragte er mit großen Augen.
Sie lachte. »Ich bin genauso verblüfft wie du. Das ist doch Tonis Laden.«
»Ich habe Toni das Geschäft vor einem halben Jahr abgekauft.«
»Tja …« Innerlich völlig durcheinander sah sie sich um. Dann sammelte sie sich. »Ich dachte, du wärst Forstarbeiter.«
»Ich habe den Leuten nur geholfen. Der Wald gehört uns. Das heißt, meiner Mutter. Mein Vater ist seit Jahren tot.«
Sie räusperte sich und sagte mit fester Stimme, so kam es ihr zumindest vor: »Also, ich brauche Wanderschuhe. Mit einem guten Fußbett oder Einlegesohlen.«
»Hast du Fußbeschwerden?«
»Wie heißt das noch?« Mit nachdenklicher Miene legte sie den Zeigefinger auf die Nasenspitze. »Dr. Brunner sagte, ich hätte ein Tarsal-Tunnel-Syndrom.«
»Kenne ich«, erwiderte Daniel wie aus der Pistole geschossen. »Ein Verwandter von mir hatte das. Er musste operiert werden. Was bedeutet, der Tarsal-Tunnel musste operativ erweitert werden, um den Druck vom Nervus tibialis zu nehmen.«
Sprachlos sah sie ihn an.
»Das ist eine bekannte Krankheit unter Berufstänzern«, sagte er ernst.
Sie schluckte.
»Mein Verwandter ist Ire und arbeitet als Stepptänzer.«
»Ach so.« Mehr konnte sie nicht sagen.
Er sah sie eindringlich an. »Bei einem Tarsal-Tunnel-Syndrom solltest du das Wandern vergessen. Eigentlich solltest du gar nicht hier stehen.« Er schenkte ihr ein jungenhaftes Lächeln. »Was ich jedoch sehr bedauern würde.«
Sie lächelte zurück, und zwei, drei Lidschläge lang verfingen sich ihre Blicke. Sie wollten sich gar nicht mehr loslassen, bis Nicole ganz heiß wurde. Schnell drehte sie Daniel den Rücken zu und täuschte Interesse für die Schuhe vor, die auf dem Regal standen.
»Was machst du denn beruflich?«, hörte sie Daniel hinter sich fragen.
»Ballett.«
»Das ist hart.« Er trat an ihre Seite, lehnte sich ans Regal und sah sie mit feinem Lächeln an. »Ich habe es mir fast schon gedacht.«
Sie zog die Stirn in Falten. »Was gedacht?«
»Dass du Hochleistungssport machst.«
Sie stieß ein kurzes Lachen hervor. »Weil ich so ausgemergelt aussehe?« Ihre Stimme klang hart, das hörte sie selbst.
»Ich kenne die Anzeichen. Ich habe jahrelang Zehnkampf gemacht. Dann wollte ich nicht mehr.«
»Du wolltest nicht mehr?«, fragte sie verblüfft.
»Genau.« Sein Lächeln zauberte wieder den Charme auf seine Züge, der sie innerlich berührte. »Jeder hat sein Leben in der Hand. Man muss es nur erkennen. Ich habe Schluss gemacht mit dem Sport, weil ich wieder ich selbst sein, wieder richtig leben wollte.«
Seine Worte schwirrten ihr durch den Kopf. Sie rieb sich die Stirn, als könnte sie so der Klarheit auf die Beine helfen.
»So einfach geht das?«, fragte sie.
Er lachte. Das Lachen erinnerte sie an das seiner Mutter. Auch Daniel war mit sich und der Welt im Reinen.
»So einfach natürlich nicht«, erwiderte er. »Wenn es dich interessiert … Hast du heute Abend schon etwas vor?«
»Nein.«
»Dann möchte ich dich in die Rottwalder Brauerei einladen. Dort verrate ich dir, wie ich es geschafft habe.«
»Einverstanden.« Sie sah zu ihm auf. Obwohl sie nicht klein war, überragte er sie immer noch um eine Kopfhöhe. »Ich komme gern«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das ihr aus dem Herzen kam.
Noch einmal wollte sie sich den Fehler einer Absage nicht erlauben.
*
Es war einer dieser Sommerabende, die so prall gefüllt sind mit Verheißungen, dass sie zur Liebe einladen. Die Luft war erfüllt vom Duft blühender Wiesen. Der Himmel schimmerte wie Perlmutt, und ein weicher Wind schien eine Ahnung mit sich zu tragen.
Nicole und Daniel trafen sich vor dem Gartenlokal der Rottwalder Brauerei, in dem die für Biergärten so typische heitere Gelassenheit herrschte. Dicht gedrängt saßen die Leute an den Tischen, plauderten, lachten, tranken und ließen sich die deftige Küche schmecken. Kellnerinnen in Dirndln schleppten in großen Krügen das Bier heran; durch die Blätter der Kastanien, die über dem bunten Treiben ihre mächtigen Kronen ausbreiteten, fielen die goldenen Strahlen der untergehenden Sonne.
Die beiden jungen Leute fanden in einer der hintersten Ecken des Gartens noch einen kleinen Tisch. Schön für sich.
Daniel schlug die Karte auf. »Ich lade dich ein«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Er überlegte nicht lange. »Ich esse Schäufele. Das solltest du auch probieren. Es schmeckt hier ganz hervorragend und ist typisch für den Schwarzwald.«
Nicole schluckte.
Sie hatte bereits die riesigen Teller auf den Nebentischen bemerkt. Das ging ja gar nicht. An solche Portionen war ihr Magen nicht gewohnt.
Sie schlug die Karte zu und lächelte Daniel an.
»Ich nehme einen Beilagensalat und Mineralwasser.«
Wieder sah er sie mit diesem eindringlichen Blick an, in dem sie den Ausdruck von Sorge zu erkennen glaubte. Er enthielt sich jedoch jeden Kommentars und gab der drallen Kellnerin die Bestellung auf.
Nach den ersten Minuten, in denen beide etwas verlegen miteinander umgingen, kam dann doch zwischen ihnen schnell eine Unterhaltung in Gang, die jedoch hauptsächlich Daniel bestritt. Er schwärmte Nicole von der Schönheit seiner Heimat vor.
Die junge Frau ertappte sich beim Zuhören dabei, dass sie weniger auf seine Worte hörte, als sie seine Mimik und Gestik beobachtete. Sein kantiges Kinn verriet Durchsetzungsvermögen und Wildheit. Der fein geschwungene Mund dagegen erzählte davon, dass in diesem robust wirkenden Mann ein weicher Kern steckte. Seine Hände, mit denen er seine Worte lebhaft begleitete, waren groß und kräftig. Sie verrieten Stärke, und in seinen sanftbraunen Augen lag so viel Lebenserfahrung und Weisheit.
»Möchtest du nicht auch ein Bier trinken?«, fragte Daniel, als die Kellnerin die Getränke brachte.
Warum eigentlich nicht?, sagte sie sich. Sie fühlte sich innerlich so aufgedreht wie als Teenager beim ersten Rendezvous.
»Ja, gern«, erwiderte sie.