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Unsere Reisenden von links nach rechts: Richard, Klara, Emma (vorn) und Karl im April 1900. Ganz rechts, stehend: Sejd Hassan. (© Karl-May-Museum Radebeul)


Chemnitz, Königreich Sachsen, Deutscher Bund

Der Angeklagte musste sich erheben. Auch Wachtmeister Uhlig, der sich trotz seines überaus breiten Mundes bei der Zeugenvernehmung bislang als wenig redselig erwiesen hatte, stand für seine Antwort auf. Er ging durch das Verhandlungszimmer, und zwischen dem Tisch des Richters und jenem für den Zeugen knarzte laut eine Diele, als er darauftrat. Vor dem Angeklagten blieb Uhlig stehen und deutete mit zackig ausgestrecktem Arm auf dessen Hosenstall.

»Dort«, sagte er.

Dann setzte er sich wieder, um weitere Fragen abzuwarten.

Durch die eisumkränzten Fenster fiel frostige Sonne in das Gericht, und in einer Ecke des Zimmers hatte sich ein zu kleiner Ofen beim Kampf gegen die Kälte übernommen. Unter dem Richter seufzte das Polster seines Stuhles in die Stille, als er sich vorlehnte und mit klammen Fingern die letzte Antwort des Wachtmeisters in die Akte schrieb. Oben trug sie den Briefkopf des Gerichtsamtes Chemnitz, darunter gab sie Auskunft über den Angeklagten: Karl May, geboren am 25. Februar 1842 in Ernstthal, Lehrer an der Fabrikschule von Altchemnitz.

Der Richter musterte ihn. In zerschlissenem Mantel stand dort ein Jüngling mit haflingerblondem Haar; ein harmlos wirkender Bursche, dem Kind gerade entwachsen. Aber solche waren ja oft die Schlimmsten. Keinesfalls durfte man sich täuschen lassen.

Ernst schaute der Richter zu ihm hinüber, dann notierte er auch das.

Karl war verloren vor seinem Stuhl stehen geblieben und hoffte weiter, dass sich das Missverständnis, um das es sich hier doch offensichtlich handelte, rasch aufklären würde.

Der Richter wies ihn an, sich zu setzen.

Karl nahm wieder die Haltung ein, in der er der ersten Viertelstunde der Verhandlung gefolgt war: Eingefallen auf seinem Stuhl, die gefalteten Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt, wippte er nervös mit dem Bein. Egal wo er hinschaute – nach rechts in Richtung des Wachtmeisters, links in die des Richters oder geradeaus, wo der Staatsanwalt saß –, immer strafte ihn der strenge Blick eines der drei Herren. Also starrte Karl auf die Tischplatte vor ihm, während das Schlottern seines Beines auch den Rest des Körpers antrieb. Bis zur Nasenspitze wackelte Karl, und genauso oft wie sein Knie wechselten auch seine Gedanken die Richtung: ein Missverständnis, dachte er zum hundertsten Male, nichts als ein leicht aufzuklärendes Missverständnis. Es sprach doch, dachte er, trotz allem vieles für ihn. Dass er, zum Beispiel … – oder wussten sie von seiner Entlassung? Das konnten sie nicht wissen, dachte Karl, nein, es musste doch alles gut ausgehen, weil … – oder es ging eben nicht gut aus. Konnte der Diebstahl der Kerzen gegen ihn verwendet werden? Wussten sie davon? Es war kaum möglich. Oder? Aber selbst wenn: Es blieb doch alles ein Missverständnis. Ein Missverständnis ohne böse Absicht, und diese hohen Herren würden den Irrtum doch sicher einsehen können, ganz bestimmt, oder jedenfalls durfte man es hoffen.

»Eindeutig spricht es für Vorsatz«, sagte der Richter und sah Karl streng an.

Oder man würde ihn ins Gefängnis werfen, dachte Karl. Wenn man es wirklich darauf anlegte, wäre es ein Leichtes, ihn ins Gefängnis zu werfen.

Karl rang mit sich.

Noch könnte er versuchen, sich zu retten, indem er die Frau des Wachtmeisters opferte.

 

Es war an diesem Tag keine drei Monate her, dass Karl seine zweite Stelle im sächsischen Schuldienst angetreten hatte. Im November hatte die Fabrikschule von Altchemnitz ihn aufgenommen, dort sollte er die Kinder unterrichten, die in der Baumwollspinnerei Julius Friedrich Claus und der Kammgarnspinnerei C.F. Solbrig arbeiteten. Die Arbeit war leicht, und nach dem unschönen Ende seines ersten Lehramtes musste der Dienst durchaus glücklich genannt werden. Täglich stellte sich der magere Karl also vor die Schüler, denen die Arbeit in der Textilfabrik die Hände schwarz und die Augen mit Entzündungen rot gefärbt hatte, und brachte ihnen Schreiben und Rechnen bei. Die Ältesten unter ihnen waren kaum fünf Jahre jünger als er, und so bemühte sich Karl, größer und erwachsener zu erscheinen, indem er seinen Rücken noch aufrechter spannte als gewöhnlich. Das jährliche Salär betrug 200 Taler, 25 mehr als auf seinem ersten Posten, und vielleicht war seine Entlassung also doch für etwas gut gewesen.

Auch für Logis hatte er nichts zu bezahlen. Eine der Dienstwohnungen auf dem Gelände der Kammgarnspinnerei war noch nicht vollständig belegt, dort konnte er einziehen. In der Küche standen ein Tisch und ein Ofen, in der Stube zwei Betten, und im zweiten davon schlief der Mann, der Karl vor Gericht bringen würde.

Bis zu Karls Einzug hatte Julius Herrman Scheunpflug jene Räume allein bewohnt. Er war ein überaus pingeliger Zimmergenosse, der die Scheiben abwog, die Karl vom gemeinsamen Brot schnitt, um am Ende der Woche genau abzurechnen. Scheunpflug stammte, wie er Karl nicht müde wurde zu erläutern, aus gutem Hause. Aufgrund einer glücklichen Erbschaft hatte er die meisten Jahre seines Lebens als Privatier verbracht, und lange war er einem geregelten Tagesablauf gefolgt, der aus Zeitungslektüre und Einladungen zu

Karl selbst erschien die Dienstwohnung als unerhörter Wohlstand. Er war eines von 13 Kindern eines armen Webers und unter den fünfen davon, die ihr erstes Jahr überlebten, der einzige Sohn. Die Familie bewohnte ein kleines Haus am Markt von Ernstthal. Sie teilte es mit einem Webstuhl, an dem der Vater zehn Stunden am Tag saß und nicht gestört werden durfte, mit einer alten Wäscherolle, die für zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet wurde, und mit Karls geliebter Großmutter. Die Hoffnung der gesamten Familie ruhte auf ihm. Ein Medizinstudium, wie von allen gewünscht, hatten die Eltern nicht bezahlen können, doch war Karl immerhin Lehrer geworden. Lang hatte er zwar eine leise Enttäuschung darüber in sich getragen – aber dass er nun schon in Lebensumstände gelangt war, in denen auf jeden Bewohner eines Heims durchschnittlich ein Zimmer kam, ließ ihn froh in die Zukunft blicken.

Scheunpflug dagegen beschwerte sich recht bald bei der Fabrikleitung über den Eindringling: Sich die Wohnung mit einem Proleten teilen zu müssen, das sei eine Zumutung, gerade für jemanden wie ihn, der nun immerhin in der Verwaltung der Fabrik arbeite und ja – das müsse er bei dieser Gelegenheit betonen – aus gutem Hause stamme; aus sehr gutem Hause sogar!

Die Fabrikleitung hörte ihn an und beschied ihm dann, dass an diesem Arrangement leider gar nichts zu ändern sei. Er könne sich

Von der Beschwerde bei der Fabrikleitung ahnte dieser nichts. Wohl aber sah Karl das Benehmen seines Zimmergenossen, aus dem er nicht recht schlau werden mochte. An manchen Tagen genügte schon ein Husten Karls, um Scheunpflug zu einem Zornesausbruch zu reizen, ein Rascheln von Papier oder ein früheres Heimkehren vom Dienst. An anderen Tagen, meist jenen, an denen Scheunpflug weniger Schnaps getrunken hatte, schien er sich um übergroße Freundlichkeit zu bemühen. So besaß Karl beispielsweise keine Uhr. In einer jener guten Stunden bot Scheunpflug ihm also mit an Herablassung grenzender Großzügigkeit an, seine alte Taschenuhr zu benutzen, damit Karl seinen Unterricht pünktlich enden lassen konnte. Auch bei seinen alten Tabakspfeifen, sagte Scheunpflug, dürfe er sich bedienen. Karl ließ sich gern auf dieses Friedensangebot ein, und so ging der November herum. Bald wurde es Weihnachten.

Am Morgen des 23. Dezembers erwachte Karl früh. Die Stube lag stockfinster, und Karl kauerte sich noch einmal unter der Decke zusammen, um Wärme zu sammeln, die er mit hinausnehmen konnte. Scheunpflug schlief noch, wie jeden Morgen, und bald fürchtete Karl, zu spät zu sein, also zwang er sich in die Kälte.

Im Ofen in der Küche war die Glut längst erloschen, und Karl paffte Dampfwolken, als er einheizte. Sein Frühstück bestand aus dünnem Malzkaffee, in den er Stücke trockenen Brotes schnitt, so hatte man es zu Hause stets gehalten. Während er aß und auf die Wärme des Ofens wartete, schaute er immer wieder zur Tür. Dort hing Scheunpflugs alte Uhr an einem Nagel neben dem Rahmen. Eilig hatte er es noch nicht.

Karl stand auf, nahm die Uhr ab und setzte sich wieder. Mit aufgestützten Ellenbogen ließ er sie an ihrer Kette über den Tisch pendeln. Er rechnete.

Es war der letzte Schultag. Am Abend würde er nach Hohenstein fahren, um Weihnachten bei seinen Eltern zu verbringen. Karls Abmachung mit Scheunpflug besagte, dass er die Uhr für den

Oder er müsste – nur einfach mal so daherüberlegt – die Uhr, welche er in den vergangenen Wochen auch einige Male außerhalb der Unterrichtszeit in seiner Tasche getragen hatte, ohne dass der Eigentümer dagegen Einwände erhob, über die Feiertage mit zu seinen Eltern nehmen.

Karl schlich an die Tür zur Stube und horchte, ob Scheunpflug schon wach war. Der aber schnarchte.

In seinen Beutel hatte Karl bereits eine Tabakspfeife und eine Cigarrenspitze gesteckt, von denen er wusste, dass Scheunpflug sie niemals benutzte. Nun auch noch die Uhr über die Feiertage zu leihen, dachte er, würde zwar ihre Abmachung übertreten, aber es war doch Weihnachten. Und er beabsichtigte ja, sie nach den Feiertagen wieder an ihren Platz zu hängen. (Und, ja, vielleicht auch, vor seiner Familie damit zu renommieren, denn dass die Uhr nur geliehen wäre, sah man ihr nun nicht an.)

Als Karl jedoch die Tasse säuberte und das Brot wieder sorgfältig an seinem Platz verstaute, dachte er daran, wie merkwürdig und unberechenbar Scheunpflug doch oft war. Er hatte versucht, unsichtbar zu werden für seinen Vermieter – denn als nichts anderes dachte Karl von ihm. Aber je leiser die Sohlen wurden, auf denen Karl umherschlich, desto weniger genügte, um Scheunpflugs Zorn zu entzünden, und manchmal, so erschien es Karl, bereitete es Scheunpflug nachgerade Vergnügen, ihn herumzukommandieren und daran zu erinnern, wie glücklich er sich schätzen könne, dass er ihm generös Quartier und Zugriff auf seinen Besitz gewährte, und

Karl nahm die Uhr vom Tisch und hängte sie wieder an den Nagel neben der Tür.

Während er seinen Schal umlegte und einige Walnüsse einsteckte, die er für seine Schwestern und die Großmutter gekauft hatte, sagte er sich, dass es so das Beste sei. Kurz überlegte er noch, Scheunpflug zu wecken, um ihn um Erlaubnis zu bitten. Aber, dachte Karl, Scheunpflugs Laune war am Morgen am leichtesten zu erschüttern, weil das frühe Aufstehen, wie er einmal in einer langen Rede erklärt hatte, nur etwas für Bauern und Tagelöhner sei. Bei Scheunpflugs Monologen, die er meist betrunken hielt, verstand Karl nicht immer, was er meinte, aber er hatte gelernt, ihm nicht zu sehr im Weg zu sein. Er würde ihn also nicht wecken.

Beim Hinausgehen blieb Karl noch einmal an der Tür stehen.

Er wog die Uhr lange in der Hand.

Dann ließ er sie hängen. Hinter sich schloss er die Tür. Durch die leere Küche schwebten nur noch Scheunpflugs Schnarchen und das Poltern von Karls Stiefeln, die eilig die Treppe hinunterstapften.

Dann Stille.

Dann rannten Karls Stiefel die Treppe wieder hinauf.

Die Tür wurde aufgerissen, und als Karl Sekunden später unten auf den Hof trat, spürte er in seiner Westentasche das vornehme Gewicht der Taschenuhr.

 

Ohne Schwierigkeiten erreichte er am frühen Abend seinen Zug. Vom Bahnhof in Hohenstein marschierte er hinüber nach Ernstthal zum Haus der Eltern und erreichte es rechtzeitig zum Abendbrot. Mit großer Geste erzählte er beim Essen aus der Stadt, machte den Fabrikbesitzer nach, wie er schnaufend die Webstühle inspizierte, und die Chemnitzer Herren, wie sie stolz ihre Cigarren spazieren führten. Er berichtete vom Schuldirektor, der ihm schon nach wenigen Tagen ein äußerst günstiges Zeugnis ausgestellt hatte, von seinen Schülern, die ihn liebten und ihm folgten, und von seinem

Die Stube glühte vorweihnachtlich. Großmutter und die vier Schwestern freuten sich über die Nüsse. Laut lachte die Familie über Karls Schnurren. Die Mutter war glücklich, dass sich für die Familie doch noch alles so gut gefügt hatte, und der Vater nur mäßig betrunken. Zufrieden ging man zu Bett, und am nächsten Mittag wurde Karl auf dem Hohensteiner Christmarkt verhaftet.

Seine Mutter hatte ihn noch einmal geschickt. Dank Karls Lehrgehalt gab es in diesem Jahr zum ersten Mal wieder eine Bescherung, und auf dem Markt sollte Karl zu den Geschenken für die Schwestern noch etwas Honigkuchen kaufen. Die Liste, die seine Mutter ihm obendrein geschrieben hatte, war nicht lang, doch Karl beeilte sich. Aber schon am Stand des Kerzenziehers sprach ihn ein Gendarm an: ob er der Lehrer May sei?

Karl wurde zur Polizeiwache am Rathaus geführt, ohne dass man ihm erklärte, worum es ging. Wachtmeister Uhlig war nicht da. Der Gendarm zögerte, dann führte er Karl in den ersten Stock, in Uhligs Privatwohnung. Dessen Frau saß in der Stube, nähte und erschrak fürchterlich, als sie Karl sah. Der Gendarm gebot ihm, dort zu warten, und verließ sie dann, um den Wachtmeister zu suchen.

Kaum war er aus der Tür, sprang Uhligs Ehefrau auf.

»Karl, hast du eine Uhr bei dir, die dir nicht gehört?«

Sie war mit Karls Mutter zur Schule gegangen und kannte ihn, seitdem er laufen konnte. Besorgt stand sie vor ihm.

»Weshalb?«, fragte er.

»Du sollst arretiert werden, weil du deinem Mietkameraden eine Uhr gestohlen hast.«

Karl zog die Uhr aus seiner Jackentasche.

»Aber sie ist nicht gestohlen. Er hat mir erlaubt, sie zu leihen.«

»Und nun hat er dich angezeigt.«

»Aber ich durfte sie nehmen.«

»Das glaubt man dir nicht!«

Schon hörten sie draußen jemanden die Treppe wieder emporsteigen. Die Wachtmeistersfrau flüsterte: »Weg damit, schnell!«

Hektisch hielt Karl ihr die Uhr hin: als Frage, ob sie sie einstecken könnte. Aber sie legte verschreckt eine Hand vor die Brust und schüttelte den Kopf. Karl flehte sie mit betenden Händen an. »Verstecken!«, flüsterte sie.

Die Schritte hatten schon die halbe Treppe erklommen.

Panisch sah Karl sich im Zimmer um. Frau Uhlig flüsterte: »Nicht hier!«

Dann fiel Karl der einzige Platz ein, den man bei einer Durchsuchung hoffentlich auslassen würde. Er steckte die Uhr vorn in seine Unterwäsche.

Frau Uhlig huschte zurück auf ihren Platz.

Als der Wachtmeister mit dem Gendarm eintrat, nähte sie, als sei nie etwas gewesen.

Weihnachten verbrachte Karl im Gefängnis.

 

»Sie beharren also weiter darauf, dass die Uhr nur geliehen war?«, fragte der Richter.

Karl nickte.

»Warum aber haben Sie dann bei Ihrer Verhaftung geleugnet, in ihrem Besitz zu sein?«

»Es war … ein Missverständnis«, sagte Karl.

»Und warum ist die Uhr bei der Durchsuchung in Ihrer Unterwäsche gefunden worden?«

Karl schwieg. Seine Mutter hatte ihm mehrmals eingeschärft, dass der Wachtmeister und seine Frau in größte Schwierigkeiten geraten würden, wenn man erführe, dass sie Karl gewarnt hatte. Und Schwierigkeiten – mehr Schwierigkeiten dürfe Karl auf gar keinen Fall verursachen.

»Möglicherweise ist sie durch ein Loch in meiner Hosentasche hineingerutscht«, sagte Karl.

Der Richter und der Staatsanwalt starrten für einen Augenblick in die Luft, als versuchten sie, sich die Beschaffenheit einer Hose vorzustellen, aus deren Taschen etwas in die Unterwäsche hineingleiten konnte. So recht schien es ihnen nicht zu gelingen.

»Stülpen Sie einmal Ihre Taschen nach außen«, wies der Richter ihn an.

Karl stand auf und krempelte die Hosentaschen um. Es war kein Loch zu sehen.

»Oder besitzen Sie noch eine zweite Hose?«, fragte der Richter.

Karl schüttelte den Kopf.

»Man könnte möglicherweise versuchen«, erklärte der Richter, »Ihre Version der Geschichte zu glauben. Aber einen Gegenstand, welcher nur geliehen ist, verbirgt kein Mensch in seiner Wäsche.«

»Wenn Sie mit einer Lüge davonkommen wollen«, sagte der Staatsanwalt, »müssen Sie sich schon eine bessere ausdenken.«

Der Richter wartete, ob noch eine Verteidigung aus Karl herauskam, doch der Angeklagte setzte sich wieder und sah jämmerlicher aus als zuvor.

Der Richter überflog weiter Karls Akte. »Sie sind vor zwei Jahren

Karl erschrak so sehr, dass sein Bein aufhörte zu wippen.

»Nun?«, fragte der Richter.

»Ich habe sechs Wachskerzen eingesteckt«, sagte Karl schnell, »aber sie waren bereits benutzt, fast nur noch Stumpen, und meine Familie besaß zu dieser Zeit keinerlei Geld, um noch die einfachsten Dinge …«

»Armut rechtfertigt kein Verbrechen!«, rasselte der Richter dazwischen.

»Aber …«

»Schweigen Sie!«

Also schwieg Karl.

Der Richter las weiter. »Nach einem Gnadengesuch hat man Sie dennoch die Lehrerausbildung beenden lassen«, sagte er, mehr zu sich selbst. »Aber dann sind Sie im vergangenen Oktober nach nur 15 Tagen schon wieder aus dem Schuldienst entlassen worden. Aus welchem Grund?«

Karl sank vollends zusammen.

Henriette, dachte er.

»Aus was für einem Grund, Herr May?«

Seine erste Stelle im sächsischen Schuldienst hatte Karl kaum zwei Monate vor seiner zweiten angetreten. Dem Examen im Herbst war sein Dienst an der Armenschule in Glauchau gefolgt, und in der Stadt hatte Karl ein Zimmer zur Untermiete bezogen. Sein Vermieter war ein grober Kaufmann, bei dem selbst das Lachen wie ein Befehl klang. Die Frau des Kaufmanns war so alt wie Karl und erst im Jahr davor mit ihm verheiratet worden. Karl gab ihr Klavierunterricht. Henriettes Spiel war so schön wie ihre Hände und ihre Hände so schön wie ihr Gesicht und das Gesicht so schön wie die Augen, die sie Karl machte. Die Heirat war gegen ihren Willen geschehen. Es dauerte keine Woche, bis Karl und sie sich über den Tasten das erste Mal scheu küssten, und nur zwei weitere Tage, bis ihr Mann das Verhältnis entdeckte. Er warf Karl hinaus und zeigte ihn bei der

»Wegen sittlicher Unwürdigkeit«, sagte Karl leise.

»Bitte?«, fragte der Richter.

»Die Entlassung erfolgte wegen sittlicher Unwürdigkeit«, sagte Karl.

Sein Bein hämmerte wieder auf und ab, dem Kolben einer Dampfmaschine gleich. Er rang mit sich.

Er könnte immer noch eine Verteidigung versuchen, indem er den wirklichen Weg nannte, den die Uhr in seine Unterwäsche genommen hatte. Aber wäre es richtig, diejenige zu denunzieren, die es als Einzige gut mit ihm gemeint hatte?

Der Staatsanwalt las noch einmal Scheunpflugs Aussage vor. Man hatte es nicht für nötig befunden, ihn vorzuladen, der Fall war eindeutig: Die Uhr war fort, die Anzeige kam, man fand die Uhr beim Angeklagten. Was hätte es da noch nachzufragen gegeben?

Karl selbst war, nachdem man ihn Anfang Januar aus der Untersuchungshaft entlassen hatte, noch einmal bei Scheunpflug gewesen, um ihn zu bitten, die Anzeige fallen zu lassen. Scheunpflug saß in der Küche, aß Pralinen und hatte wohl auch ein schlechtes Gewissen, denn er bot Karl eine an. Er bedauerte die ganze Angelegenheit außerordentlich. Ein Missverständnis, sagte er, ja – aber leider, leider, könne er in dieser Sache nun so gar nichts mehr unternehmen. Wenn die Mühlräder des Gesetzes erst einmal das Mahlen begonnen hatten, dürfe man nicht mehr hineingreifen, sonst würde man sich bös verletzen. Wie stünde er denn da, wenn er nun seine Anzeige plötzlich zurückzöge? Er würde sich selbst ärgste Scherereien holen. Keinesfalls sollte man diese leichtfertig riskieren, und überhaupt würde es schon nicht so schlimm werden. Nach der überstandenen Affäre würde er ihm gerne die Uhr überlassen, als Wiedergutmachung, und mit diesem Versprechen schob er Karl aus der Tür.

»Es dürfte klar geworden sein«, schloss der Staatsanwalt sein Plädoyer, »dass wir es mit einem zutiefst sittenlosen Individuum zu tun haben. Ein Mann, der trotz seines jungen Alters aus Gewohnheit lügt

»Hat der Angeklagte noch etwas zu seiner Verteidigung zu sagen?«, fragte der Richter.

»Es war ein Missverständnis«, wiederholte Karl leise.

»Das behaupteten Sie bereits mehrmals, ohne irgendeinen Beweis dafür vorlegen zu können. Oder hat sich das geändert?«

Karl sah zum Wachtmeister, der ihn mit zufriedener Härte betrachtete. Er sah das verschreckte Gesicht vor sich, mit dem dessen Frau die Uhr von sich gewiesen hatte.

Karl schwieg.

Er bekam sechs Wochen.

Die sächsische Schulbehörde strich ihn aus der Liste der Schulamtskandidaten, bevor er seine Strafe angetreten hatte. Die Erteilung von Privatunterricht wurde ihm ausdrücklich untersagt.

Noch ehe er 21 Jahre zählte, war Karl Mays Leben vorüber,

Bayerische Zeitung, München

Besuch eines Weltreisenden

Am Montagnachmittag versammelte sich von drei Uhr ab eine große, im Ganzen mehrere Hundert Personen zählende Menge von Verehrern des rasch zu Berühmtheit emporgestiegenen Weltreisenden und Schriftstellers Dr. Karl May im Speisesaal des Hotels Trefler, um ihm ihre Huldigungen darzubringen. Nicht etwa bloß die studierende Jugend, nein, sondern viele gereifte Männer und auch zahlreiche Damen waren im Auditorium zu bemerken, um den Mann, den man in Nordamerika nur als Old Shatterhand kennt, persönlich reden zu hören. Nochmals Hunderte, die nicht mehr hineingedurft hatten, versperrten derweil vor dem Hotel die Straße dergestalt, dass die Polizei sich schließlich nicht mehr anders zu helfen wusste, als die Menge mit Wasser auseinanderzuspritzen.

Dr. May schilderte nachmittags ausführlich einzelne Episoden aus seinen Reisen und stand Rede und Antwort auf alle Fragen, die man an ihn stellte. Bezüglich seiner Lebensgewohnheiten etwa teilte der Redner mit, er sei es gewöhnt, nachts um ein Uhr zu Abend zu speisen, da er auf seinen Reisen stets, bevor er einen Platz für das Nachtlager wähle, sich gewöhnt habe, dessen Umgebung in weitem Umkreise zu durchforschen und erst dann zu Abend zu essen.

Im Herbste dieses Jahres gedenkt Karl May wieder den Atlantik zu durchqueren, um Winnetous einsames Grab zu besuchen, sich in den Rocky Mountains einen Grizzly-Bären zu holen und bei den Apachen

Wohl allen, die an diesem Tag mit Dr. Karl May zusammentrafen, war es eine große Freude und wird es eine bleibende Erinnerung sein, den Mann, der die ganze Welt bereist hat, der über 1.200 Sprachen und Dialekte versteht, den letzten Vertreter der Romantik des Wilden Westens von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben.


Genua, Königreich Italien

Es muss unsere Erzählung mit einem Abschied beginnen. Und wenn manch Leser später behauptet, dass die Chronik der vorliegenden Affäre überhaupt die Geschichte eines einzigen langen Abschiedes sei, so wollen wir dem nicht widersprechen. Die Ereignisse jedenfalls, welche Karl May in der jüngsten Zeit widerfahren sind, haben viele brave Bürger des Landes zu Recht erregt. Sie erscheinen uns jedoch nicht allein deshalb unbedingt berichtenswert. Vielmehr haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, ein genaues Zeugnis dieser vergangenen Jahre anzufertigen, weil auch der voreingenommenste Betrachter einsehen muss, dass sich am Beispiel des Karl May einige fragwürdige Strömungen zeigen lassen, welche auch an anderer Stelle die Moral unserer schönen Nation unterspülen.

Endgültig über unseren Zeitgenossen zu urteilen, steht uns nicht zu. Jedoch begreifen wir es als unsere Bürgerpflicht, die in Teilen doch sehr privaten Angelegenheiten des Karl May für die Öffentlichkeit dergestalt aufzudecken, dass ein jeder aus ihnen eigene Lehren zu ziehen vermag. Wenn dabei auch von Einzelheiten die Rede sein wird, die manchem als heikel, ja sogar bedenklich erscheinen, so ist dies leider nicht zu vermeiden; wir möchten unsere Leser allerdings im Interesse Karl Mays ersuchen, diese später taktvoll wieder zu vergessen.

Mit dieser kurzen Ermahnung, alles Kommende verantwortungsvoll zu behandeln, wollen wir uns nun dem angekündigten Abschied

Jener Frühlingstag war ein warmer gewesen, und am Abend hatten sie draußen speisen können, die Eheleute May und die Eheleute Plöhn. Von der Terrasse ihres Hotels, das sich 50 Meter oberhalb des Hafens an den steilen Fels klammerte, konnten sie nun zusehen, wie im abnehmenden Licht des Tages die Laternen unter ihnen entfacht wurden. Längst hatte die Sonne sich hinter Genuas Berge zurückgezogen und mit ihrem Verschwinden dem Meer alle Farbe geraubt. Jetzt lag es da, als grauer Teppich unter einem Himmel, in dem sich tapfer ein Rest Helligkeit hielt. Ein erster Stern blinkte zwischen aufziehenden Wolken, und vom Strand kündigte das laute Brechen der Wellen einen Sturm an. Es frischte auf. Die Damen fröstelten. Also erhob man sich, um zur Geisterbeschwörung hineinzugehen.

Die beiden Paare traten in das warme Funkeln des großen Salons, in dem unter den elektrischen Kronleuchtern nur wenige Herrschaften mit dem Silberbesteck klapperten; auch die Kristallgläser schwiegen, es war noch nicht Saison. Sie gingen zur Bar, die Damen jeweils bei den Herren eingehakt, um für die Séance noch Getränke auf das Zimmer zu bestellen.

Ein Kellner im Frack eilte zu ihnen.

»Ich …«, begann Karl, doch er wurde von seiner Frau unterbrochen.

»Wir würden gern einen günstigen Wein bestellen«, sagte Emma.

Karl schickte ihr einen mahnenden Blick herüber und schenkte dann dem Kellner sein großzügigstes Lächeln.

»Wir hätten gern Ihren besten Wein«, sagte er.

Der Kellner, wohl unsicher, welches Getränk er bringen sollte, blickte zwischen Emma, deren Mund ein strenges Minuszeichen formte, und dem aufmunternd nickenden Karl hin und her. Er entschied sich für jene Bestellung, die auch für das Haus die beste war, und machte eine kleine Verbeugung in Richtung Karl, der ihm dafür ein generöses Trinkgeld in die Hand drückte.

»Muss das sein?«, fragte sie auf den Stufen und begann, Karl seine überflüssigen Ausgaben des Tages vorzurechnen: »Heute schon wieder ein Goldstück Trinkgeld für den Kutscher, vier Silberstücke für Bettler und dann die Reiseapotheke. Vom Preis der Reiseapotheke allein könnte man …«

»Der kluge Reisende muss vorsorgen«, sagte Karl auf dem ersten Treppenabsatz.

»Aber doch nicht mit einer Reiseapotheke in einer Kiste aus Mahagoni für 100 Lira!«

Von den Wänden blickten streng tote Könige in Öl herab, und noch immer hoffte Emma, dass die Geister Karl dieses ganze irrsinnige Vorhaben gleich ausreden würden. Monate unterwegs, dachte sie, ausgerechnet er, und dann in seinem Alter. Sie hatte versucht, Karl von dieser Reise abzuhalten. Aber sie waren gemeinsam aus Radebeul aufgebrochen, über die Alpen gefahren und hatten Karls Schiffspassage gekauft, ohne dass er einmal auf ihre Einwände eingegangen wäre. Nun würden es also die Geister richten müssen. Und wenn nicht einmal diese ihn gleich zur Umkehr überreden könnten, dachte Emma, dann sollten sie ihn doch wenigstens zu Vorsicht mahnen, und wenn sie auch das nicht taten, dann mussten sie ihm wenigstens noch einmal einschärfen, nicht so mit dem Geld um sich zu werfen, denn auf Emmas Rat hörte er ja sowieso nie.

»Mietz, lass gut sein«, sagte Karl und tätschelte ihre Hand.

Emma drehte sich zu Klara, die hinter ihnen ging: »Sag doch auch einmal etwas dazu.«

Die Plöhns hatten die Auseinandersetzung der Mays in bewährter Weise zu übergehen versucht, indem sie eingehend die dicken Läufer und das Rot der fein gearbeiteten Tapeten des Treppenhauses betrachteten.

»Richard, hilf mir!« Auch Karl wandte sich um, in scherzhafter Hilflosigkeit.

Richard, der mit seinem runden Glatzkopf und dem ebenso

»Den Wein hat Karl sich doch verdient«, erklärte Klara, die – obwohl selbst nicht groß und von einer Körperhaltung, als würde die Last eines zu schweren Kopfes sie beugen – ihren Mann doch überragte.

»Genau«, sagte Richard.

Emma presste die Lippen noch fester zusammen und wollte Klara gerade vorhalten, dass sie unter vier Augen, wenn es um Karls übermäßige Ausgaben ging, ganz anders sprach; aber da ergriff Klara schon zärtlich Emmas Hand: »Kinder, wir wollen doch heute nicht streiten.«

»Genau«, sagte Karl.

Emma drückte Klaras Finger. Und weil sie innen an ihrem Mieder die beruhigende Nähe des Briefes spürte, den sie seit Tagen an genau dieser Stelle vor Karl versteckte, ohne zu wissen, ob sie ihn vor seiner Abreise noch hervorholen würde oder nicht, fügte sie sich, und man ging weiter zum Zimmer der Plöhns.

Dort nahmen sie an dem kleinen Tisch unter dem Fenster Platz, Herren und Damen jeweils gegenüber. Bald brachte der Kellner den Wein, und als die Gläser gefüllt waren, erhob Karl das seinige und bedankte sich noch einmal, dass Richard und Klara sie über die Alpen begleitet hatten: »Auch für die besten Freunde ist eine solche Reise nicht selbstverständlich.«

»Auch für die besten Freunde ist eine solche Einladung nicht selbstverständlich. Wir haben doch zu danken!«, rief Richard.

»Auf das Verabschiedungskomitee!«, sagte Karl.

»Auf den Weltreisenden!«, sagten die anderen, und herzlich prosteten sie sich zu.

Unten im Hafen lag der Reichspostdampfer »Preussen« schon vor Anker, und wenn die vier aus dem Fenster schauten, sahen sie, wie er die Schornsteine über die Dächer reckte. Karls sieben Koffer standen gepackt im Zimmer nebenan, auch die Reiseapotheke war

Sie leerten die Gläser. Dann baute Klara zwei Kerzen auf dem Tisch auf. Karl zog aus der Anzugtasche einen Bleistift und einige unbeschriebene, gefaltete Blätter hervor, und Emma bat darum, an diesem Abend das Medium sein zu dürfen.

»Bist du sicher?«, fragte Klara.

»Es ist doch ein so besonderer Tag«, sagte Emma.

Es lag ihr tatsächlich sehr daran, heute persönlich die Geister um Rat zu bitten, obwohl sich bei den gemeinsamen Séancen nicht sie, sondern Klara als das begnadetste Medium erwiesen hatte. Nachdem ein alter Schulfreund Karls sie einige Jahre zuvor tiefer in die spiritistische Wissenschaft eingeweiht hatte, waren die Ehepaare davon abgerückt, von den Geistern nur Klopfzeichen oder ein Wackeln des Tisches zu erbitten. Denn wer sich aus dem Jenseits genauere Auskunft betreffs der Zukunft oder des eigenen Schicksals erhoffte, geriet mit dem Klopfen schnell in Not: Bis man mithilfe sehr genauer Fragen, die man den Geistern stellte, und ihrer geklopften Antworten – einmal für »ja«, zweimal für »nein«, dreimal für »vielleicht« – zum Ziel gelangt war, verging einige Zeit. Auch wenn – was ein anderes Verfahren war – die Teilnehmer am Tisch laut das Alphabet aufsagten und die Geister durch Klopfen einzelne Buchstaben auswählten, die hintereinandergereiht eine Antwort ergaben, benötigten erschöpfende Vorhersagen eine Weile. Schnell hatte man so einen ganzen Abend ohne Ergebnis verklopft, denn auch die Geister wollten einmal heim.

Wie sich aber herausgestellt hatte, besaß Klara eine ganz außergewöhnliche Begabung für das automatisierte Schreiben, bei dem die Toten Besitz vom Körper des Mediums ergriffen. Sie führten ihm die Hand, und wo andere Medien, wie Emma, nur einzelne Wörter und manchmal einen schwer zu entschlüsselnden Satz aus dem Totenreich empfingen, diktierten die Geister Klara seitenlange Briefe.

»Aber hätte Karl zum Abschied nicht einige besonders ausführliche Antworten verdient?«, fragte Klara.

»Bei einem so wichtigen Anlass ist es doch besser, ein Medium zu wählen, das dem Betreffenden nahesteht«, sagte Emma und dachte, dass schließlich niemand einem Mann näher stehe als seine eigene Frau.

Es klopfte zweimal – doch nur an der Tür. Karl hatte noch eine weitere Flasche Wein bestellt und öffnete dem Kellner.

Klara gab nach und reichte Emma Stift und Papier.

Nachdem noch einmal eingeschenkt war, löschten sie das elektrische Licht, und nur die beiden Kerzen bewahrten den Raum vor völliger Dunkelheit. Draußen kratzte der Wind an den Fenstern. Die vier fassten sich an den Händen, bloß Emma hielt in ihrer Rechten den Stift.

Wie ein jeder Kenner der spiritistischen Künste weiß, bringen Beschwörungsformeln, Gesänge oder Zaubersprüche die Geister nicht schneller herbei. Die beste Einladung ist ihnen völlige Stille und große Andacht, und so saßen die vier um den Tisch, schwiegen versunken, konzentriert auf das Totenreich, und nur die Wellen schickten vom Strand ihr Klagen den Berg hinauf.

Es verging eine Viertelstunde. Unruhig aber brauchte man nicht zu werden, oft nahmen die Geister sich Zeit.

Die Kerzen flackerten, doch das mochte Zufall sein, als Emmas

»Wer ist da?«, fragte Klara laut.

»Seien Sie uns willkommen!«, sagte Karl.

Klara, Karl und Richard tauschten Blicke, wer dem Toten die erste Frage stellen sollte. Die Wahl fiel auf Klara.

Wieder begann Emma, einen Buchstaben zu zeichnen. Es war ein T. Sie hielt die Augen geschlossen und gab ein tiefes Seufzen von sich, wie es in dieser Runde eigentlich nur Karl schon einmal gehört haben sollte, und ihre Hand beschrieb den Kreis eines O. Dann fuhr der Stift eine Gerade hinab. Die drei Zuschauer dachten, es würde ein I daraus, doch der Stift schlug einen Haken nach rechts. Kurz durfte man auf ein L hoffen, dann aber nahm der Stift einen Bogen zurück nach links oben, und als auf dem Papier klar und deutlich ein D zu lesen war, schrie Klara auf und riss Emma damit aus ihrer Trance.

»Bei Gott«, rief Emma, als sie sah, was ihre Hand geschrieben hatte.

Sofort fassten sie einander wieder bei den Händen. Emma schloss die Augen und versuchte, wieder Kontakt aufzunehmen. Schnell zitterten ihre Finger.

»Herr Fehsenfeld?«, fragte Klara.

»Herr Fehsenfeld!«, bangte Klara.

»Ist jemand anders zugegen?«, fragte Karl schließlich.

Immer wieder zwar zitterte Emmas Hand, doch es waren nicht die Toten, die den Stift zum Schwingen brachten, es war nur die Angst. Emma konnte sich kaum mehr länger als eine Minute sammeln, dann rasten ihre Gedanken wieder davon, und je weniger sie sich sammeln konnte, desto hektischer wurde sie, und kein Geist der Welt ließ sich mit Unruhe im Herzen locken.

Karl rang nach einer Erklärung.

Gemeinsam überlegten sie, welcher harmlose Begriff mit diesen Buchstaben beginnen konnte.

»Todesverachtung«, sagte Klara.

»Du darfst auf keinen Fall abreisen!«, sagte Emma, der die Warnung der Geister ja nun eigentlich sehr entgegenkam.

Karl stimmte ihm zu. Das hatten sie noch gar nicht bedacht.

Karl hatte den Zettel immer wieder besorgt zur Hand genommen, ihn gedreht und wieder weggelegt. Nun hielt er ihn erneut.

»Und einem Mann wie unserem Old Shatterhand kann doch überhaupt gar nichts zustoßen!«, beruhigte Richard.

Einem wie Karl aber, fürchtete sie, schon.