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Deutschbuch

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Der gebrauchte Jude

Kanalratten

Im Kopf von Bruno Schulz

Biografie

Hundert Zeilen Hass

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Vor der Flucht

An einem heißen, viel zu heißen Tag im Mai 1965 stand mein Vater noch früher auf als sonst. Er hatte bis nachts um vier gearbeitet – Schwejk, jetzt schon der letzte Teil, der ihm nicht mehr so gut gefiel wie die ersten drei –, dann hatte er zwei Acylpyrin genommen und sich mit schrecklichen Kopfschmerzen auf die schöne neue West-Couch im Arbeitszimmer gelegt, um uns drei im anderen Zimmer nicht zu wecken. Als er zwei Stunden später aufwachte, dachte er, er hätte nur für ein paar Sekunden die Augen zugemacht. Das Licht draußen war anders als sonst, gelb, fast orange. Es hatte für ein paar Minuten kurz und heftig geregnet, aber der Himmel wurde trotzdem nicht dunkel, und hinterher leuchtete die sonderbare Morgensonne fast rot ins Zimmer hinein und überzog den Schreibtisch und die Schreibmaschine, die Manuskriptblätter und die beiden aufgeschlagenen Bände seines tschechisch-russischen Wörterbuchs mit einem zarten, blutigen Schimmer.

Während mein Vater überlegte, ob er noch schnell den Rest des Kapitels zu Ende übersetzen sollte, bevor meine Mutter, meine Schwester und ich aufstehen würden, fuhr er mit den Fingerspitzen zufrieden über den rauen und leicht kratzenden dänischen Stoff, mit

Erst als mein Vater – von seinem kurzen Schlaf noch völlig benommen – sich wieder an den Schreibtisch setzte, merkte er, dass die Kopfschmerzen nicht weg waren. Er tippte einen Satz, dann noch einen, dann zog er das Blatt aus der Schreibmaschine, warf es in den Papierkorb und spannte langsam ein neues ein. Er kriegte fast immer Kopfschmerzen, wenn er zu

Als er dann um Mitternacht nach Hause gekommen war, hatten wir alle zum Glück schon geschlafen, und er konnte gleich wieder im Arbeitszimmer verschwinden. Meine Schwester und ich lagen in unserem Bett Kopf an Fuß, Fuß an Kopf wie Dame und Bube auf einer Spielkarte, und wir atmeten noch leiser als meine Mutter, die schräg auf der für die Nacht ausgeklappten Wohnzimmercouch mit offenen Augen lag, aber auch fest schlief.

 

Die roten Morgenstrahlen krochen jetzt immer schneller über den Schreibtisch und das kaputte, unebene Vorkriegsparkett, und nachdem mein Vater ihnen eine Weile hinterhergeschaut hatte, versuchte er wieder ein paar Sätze zu schreiben, aber er kam wieder nicht weiter. Wie sagte man auf Russisch »fauliger Geruch« – aber so, dass es komisch klang? Der »faulige Geruch«, über den sich Schwejk lustig machte, stammte von

»Papa, bringst du mich heute in die Schule? Oder Jelena? Ich will nicht, dass sie mich bringt. Ich muss immer ihre Hand nehmen. Als wäre ich noch ganz klein.«

Er drehte sich um, und hinter ihm, in der nur einen Spalt weit geöffneten Tür, stand ich in meinem neuen, noch viel zu großen, blau gestreiften Pyjama, den mir Onkel Wladimir aus Brasilien geschickt hatte. Ich sah für meine sechs Jahre oft viel zu erwachsen aus, so wie jetzt auch. Ich hatte dieses ernste, dunkle, fast orientalische Gesicht, das sie alle in der Familie hatten – sein Vater, den sie immer auf Jiddisch Tate genannt hatten, aber auch er selbst und seine drei Brüder Dima, Wladimir und Lev. Die Kinder im Riegerpark und auf der Straße sagten oft zu mir, ich sei ein Zigeunerkind, und das erzählte ich immer sehr ernst zu Hause weiter, und angeblich machte es mir nichts aus, aber keiner glaubte mir.

»Jelena sagt, Onkel Dima hat den Taten umgebracht«, sagte ich. »Stimmt das?«

Er schwieg. Dann sagte er: »Natürlich nicht. Hat sie das wirklich gesagt?«

»Nein«, sagte ich. »Das habe ich erfunden.«

»Warum hast du das erfunden?«

»Weil ich das glaube.«

»Und wieso glaubst du das?«

»Weil Onkel Dima im Gefängnis sitzt. Und weil ich sonst kein Kind kenne, dessen Onkel im Gefängnis sitzt. Und weil man doch immer nur ins Gefängnis kommt, wenn man jemanden tot gemacht hat. Oder nicht?«

Mein Vater schwieg und dachte darüber nach, was ich gerade gesagt hatte. Was, fragte er sich, soll aus diesem Kind werden, wenn es erwachsen ist? Warum stellt sich der Junge die Welt immer so dunkel und hässlich vor?

»Holst du Onkel Dima im Gefängnis ab?«, sagte ich. »Was macht ihr zusammen? Müsst ihr arbeiten? Oder geht ihr in der Stromovka spazieren? Papa …«

»Ja?«

»Können wir ihn dann auch sehen – oder muss er wieder ins Gefängnis zurück?«

»Hast du schon mal jemanden umgebracht, Papa? Onkel Lev und Onkel Wladimir haben bestimmt jemanden umgebracht, sie waren doch in der Roten Armee.«

»So, genug, es reicht«, sagte mein Vater. »Geh sofort wieder ins Bett zurück. Ich will in den nächsten zwei Stunden nichts mehr von dir hören.« Er beugte sich müde über das Manuskript und begann noch einmal über die Sache mit dem »fauligen Geruch« nachzudenken, und als er sich kurz wieder umdrehte und ich immer noch hinter ihm in der Tür stand, schrie er plötzlich wie von Sinnen: »Raus! Raus!«, und ich verschwand endlich.

 

Dima hatte über Čedok einen Urlaub in Albanien gebucht, aber er wollte bei der Zwischenlandung in Belgrad die Reisegruppe heimlich verlassen und, statt nach Tirana, illegal nach Westberlin weiterfliegen, wo ihr gemeinsamer Bruder Lev seit Jahren lebte. Das wusste aber leider nicht nur Dima, das wusste von ihm selbst halb Prag, weil er schon Monate vorher anfing, seinen Freunden und Bekannten alles zu verkaufen, was er nicht mitnehmen konnte: seine russische Bibliothek, die ihm der Tate – genauso wie meinem Vater – jahrelang Buch für Buch mit der Post aus

Draußen fing es plötzlich wieder an zu regnen. Es wurde innerhalb weniger Augenblicke dunkel, das verrückte rote Licht verschwand aus dem Zimmer und aus den Winkeln der riesigen, alten Kastenfenster, und die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser in der Laubova färbten sich jäh grau, fast schwarz. Mein

War er auch böse auf ihn? Manchmal ja – aber meistens nicht. Als er noch selbst mit Natalia zusammen war, in Leningrad, wo sie gemeinsam an der Schdanow-Universität studiert hatten, da wollten sie beide auch in den Westen fliehen, aber sie hatten natürlich nie zu jemand anderem ein Wort darüber gesagt. Später in Prag wollten sie es immer noch, aber dort hatten sie sich schon bald getrennt. Und als dann Natalia Dima geheiratet hatte, standen mein Vater und sie kurz allein nebeneinander auf der Treppe vor dem großen, alten Standesamt in Smíchov, sie rauchten und schwiegen, und irgendwann sagte mein Vater zu ihr: »Vielleicht schaffst du es ja mit ihm.« Sie sagte: »Ja, vielleicht. Du darfst ihm aber nie sagen, was wir vorhatten. Das wäre traurig für ihn.« Und mein Vater sagte: »Du aber auch nicht.« Danach hatten sie nie wieder miteinander über ihren großen West-Traum geredet.

»Arbeitest du immer noch? Oder arbeitest du schon wieder?«

Jetzt war es meine Mutter, die hinter meinem Vater in der Tür seines Arbeitszimmers stand. Sie war bereits angezogen – kurzes rotes Kleid, grüner Plastikgürtel mit einer riesigen Schnalle, die schwarzen Haare nach

»Warum machst du die Lampe nicht an? Reichen dir sieben Dioptrien nicht?«, sagte sie.

»Wie würdest du auf Russisch ›fauliger Geruch‹ sagen?«, sagte mein Vater. »Aber so, dass man lachen muss.«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ich bin noch müde. Ich habe Jelena ihre Zöpfe geflochten, aber sie schläft noch. Das Frühstück steht auf dem Tisch, und die Kleider für die beiden habe ich auch rausgelegt. Ich muss heute schon um halb acht im Institut sein. Kommt ihr mit Dima zuerst zu uns?«

Mein Vater nickte.

Sie machte die Tür von draußen leise und vorsichtig zu, dann machte sie sie aber wieder auf und sagte: »Du weißt, wie du bist. Also hör auf, darüber nachzudenken, sonst bist du noch in drei Tagen mit der Stelle beschäftigt. Vielleicht habe ich heute Abend eine Idee. Oder ist es dann zu spät?« Die Tür ging zu, ging wieder auf, und meine Mutter sagte: »Oder frag nachher deinen lächerlichen Bruder. Ihr habt doch früher zusammen übersetzt.« Mein Vater schwieg. »Du musst keine Angst haben. Ich werde nett zu ihm sein.« Er schwieg

Wahrscheinlich, dachte mein Vater, während er wie ein trotziges Kind ein paar Mal die Schreibtischlampe an- und wieder ausmachte, haben sie Dima in Pankrác etwas unterschreiben lassen. Nein, ganz bestimmt sogar, und bestimmt hatte er ihnen alles erzählt, was sie wissen wollten. Die Frage war nur, ob sie schon vorher von den Geschäften des Taten gewusst hatten, und wenn ja, von wem. Es konnte ihn schließlich jeder verraten haben, dem der Tate alte amerikanische Nähmaschinen oder französisches Parfum besorgt hatte, jeder, der ihm noch Geld schuldete oder der einfach nur wütend war auf diesen freundlichen, stillen Juden aus Ruthenien, weil der es schaffte, für seine Familie besser zu sorgen als die meisten Russen. Nein, als der Tate in Moskau verhaftet wurde, war Dima selbst noch frei und mit seinen unmöglichen Fluchtplänen beschäftigt, und darum konnte er es gar nicht gewesen sein! Aber dass meine Mutter das dachte – obwohl sie es natürlich nie aussprach –, machte meinen Vater trotzdem sehr wütend. Noch wütender machte ihn, dass Dima und er und wir in einer Welt leben mussten, in der jemand wegen ein paar schwarz verdienter Dollars gehängt wurde.

»Papa, ich will fünf Löffel Zucker in den Tee, aber Jelena sagt, ich darf nur drei.«

»Fünf Löffel Zucker? Da kann er ja gleich Bonbons zum Frühstück essen!«

»Weil dir dann schon mit zehn Jahren wie einem alten Mann die Zähne ausfallen würden.«

»So wie dir gestern die beiden Schneidezähne auf einmal?«

»Das ist etwas anderes, du kleiner Idiot!«

Wir standen nebeneinander in der Tür, meine Schwester und ich, wir hatten uns selbst angezogen und sahen so niedlich und hübsch aus wie die tschechischen Filmkinder aus den Barrandov-Studios. Meine Mutter hatte letztes Jahr sogar überlegt, ob sie uns nicht zu den Probeaufnahmen von Ferne Welten, ferne Länder schicken sollte, aber dann hatte mein Vater zu ihr gesagt, nein, auf keinen Fall, er wolle keine eingebildeten Kinder, die schlecht in der Schule sind, und das war es gewesen. Insgeheim waren sie aber beide sicher, dass wir sofort die beiden Hauptrollen bekommen hätten, wenn wir es nur gewollt hätten.

»Wisst ihr eigentlich, wie sehr ihr mir manchmal auf die Nerven geht?«, sagte mein Vater ernst, fast so, als wolle er uns nicht ausschimpfen, sondern uns nur etwas sehr Wichtiges erklären. »Wisst ihr, wie schwer es ist, in diesem Haus zu arbeiten und Geld für euch alle zu verdienen?«

Wir machten beide erschrocken einen Schritt zurück, denn wir rechneten damit, dass er gleich wieder losschreien würde. Aber er blieb ruhig und sagte: »Jelena, du bringst heute deinen Bruder in die Vlkova! Ich kann nicht, ich muss noch arbeiten. Und wenn

»Ja, Papa«, sagte Jelena grinsend.

»Ja, Papa«, sagte ich traurig.

»Wir sehen uns heute Nachmittag«, sagte mein Vater. »Onkel Dima kommt heute von seiner großen Reise zurück.«

Jetzt grinsten wir beide, dann knallten wir die Tür des Arbeitszimmers viel zu laut zu und rannten laut lachend in die Küche.

Als Dima im Sommer 1960 am Flughafen in Ruzyně verhaftet wurde, fanden die StB-Leute sieben Hundert-Dollar-Scheine bei ihm, die er in zwei leeren Orwo-Filmdosen versteckt hatte. Das wusste mein Vater von Natalia, und die wusste es von Dima, den sie in den letzten fünf Jahren fast jede Woche besucht hatte, so oft wie niemand sonst. Jedenfalls hatte mein Vater immer gedacht, dass Dima ihr die Geschichte mit den Dollars bei einer ihrer vielen kurzen, traurigen Begegnungen in dem grell erleuchteten, immer zu kalten Besucherraum in Pankrác erzählt haben musste. Dann legte sie aber gestern Abend im Café Slavia nach dem vierten oder fünften Cognac die Hand auf seine Hand und sagte: »Die verdammten Dollars eures Vaters! Ich hab nie verstanden, warum er sie jahrelang aus Moskau nach Prag zu euch rausschmuggeln durfte, warum der StB nie etwas dagegen gemacht hat. Ohne seine Dollars hätten sie Dima vielleicht gar nicht einsperren

Mein Vater machte wieder ein paar Mal ganz schnell und nervös die Schreibtischlampe an und aus, bis es plötzlich einen lauten, scharfen Knall gab und die Glühbirne durchbrannte. »Scheiße«, sagte er leise. »Ach, Scheiße …« Er überlegte kurz, ob er aufstehen und in der Küche eine neue Glühbirne holen sollte, aber dann hätte er uns noch mal gesehen, und das wollte er nicht, denn er wusste genau, dass er uns sofort wegen irgendeiner Kleinigkeit angebrüllt hätte, so wie er uns oder unsere Mutter immer anbrüllen musste, wenn er an den Tod seines Vaters dachte.

Warum war er nicht schon gestern darauf gekommen? Und warum hatte er nicht Natalia ihren Cognac ins Gesicht gekippt, als sie ihn so unverschämt und schlecht angelogen hatte? Wieso hatte er sie stattdessen zum Abschied auch noch wie früher geküsst? Wirklich, Natalia, wissen »die« alles? Oder wissen sie es nur, weil es ihnen einer von uns erzählt hat? Ja, natürlich, sie war es gewesen, die den StB-Leuten seit Jahren alles über die verbotenen Geschäfte des Taten erzählte, nicht Dima, und bestimmt traf sie sich regelmäßig mit einem von ihnen in der Bartolomějská oder in einer von ihren vielen Geheimwohnungen! Denn wie sonst hätte sie, obwohl sie nicht einmal in der Partei war, so

Seine Augen fielen plötzlich wie von selbst zu, und als er merkte, dass er bald wieder einschlafen würde, öffnete er sie schnell und sah sich in seinem geliebten Arbeitszimmer um. Es lag wegen des Regens und der vielen Wolken draußen immer noch halb im Dunkeln, aber er konnte trotzdem alles genau erkennen. Hier, zwischen den unzähligen Wörterbüchern, Manuskriptstapeln, den beiden großen Frauenporträts von Fremund und seiner kleinen Menorasammlung auf dem alten dunkelgrünen Kachelofen, verbrachte er immer mindestens zwölf, vierzehn Stunden am Tag – also den größten und wahrscheinlich auch interessantesten Teil seines Lebens. Wer hätte gedacht, dass er jemals so ein schönes, großes Arbeitszimmer im besten Viertel der wunderbarsten Stadt Europas haben würde? Wieso war ihm das nie vorher klar geworden? Und warum machte es ihn trotzdem nicht besonders glücklich?

Als nach dem Krieg Lev und Wladimir aus Moskau nach Prag gingen – alle vier Brüder wuchsen in

Verflucht, wie sagte man auf Russisch »fauliger Gestank« – aber so, dass es witzig klang? Und warum fiel ihm noch immer nichts Gutes ein? Meine Mutter hatte recht: Er musste endlich aufhören, sich darüber

Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber er schaffte es nur ganz kurz, für wenige Sekunden. Er machte sie noch mal auf, doch sie klappten gleich wieder zu, und bevor er endgültig einschlief, dachte mein müder, trauriger Vater: Komisch, eben war es noch so dunkel in meinem tollen Arbeitszimmer, und jetzt versinkt hier alles in einer Fontäne aus hellem, grellrot schimmerndem Blut.

 

Meine Eltern sprachen schon immer Russisch miteinander – und mit meiner Schwester und mir auch.

Als wir an dem heißen, viel zu heißen Maitag 1965, an dem es immer wieder kurz und heftig regnete, von der Schule nach Hause kamen, sangen Jelena und ich sehr laut und sehr schön ein berühmtes tschechisches Lagerfeuer-Lied. Es ging um Apachen und Manitu und ihren Kampf gegen die Weißen, und natürlich starben sie am Ende alle, aber sie starben als Helden und stolze Indianer. Jelena hatte das Lied im Sommer davor im Zeltlager in Česká Lípa gelernt, und sie hatte es mir beigebracht. Wir können beide das Lied bis heute, und manchmal, wenn wir telefonieren – sie ist in London, ich bin in Berlin –, singen wir zusammen die ersten ein, zwei Strophen und lachen, und ich muss dann immer an diesen Nachmittag denken, an dem Dima nach Hause kam.

Kaum hatte Jelena mit ihrem Schlüssel die Wohnungstür aufgeschlossen, hörten wir auch schon die Stimmen der Erwachsenen aus dem Wohnzimmer.

Meine Schwester und ich schauten uns ernst und viel zu erwachsen an. Wir verzogen beide erstaunt das Gesicht und legten langsam unsere Schultaschen auf den Boden, direkt unter die Garderobe, wo ein heller Trenchcoat und ein kleiner karierter Hut hingen, die wir noch nie vorher gesehen hatten. Und bevor wir dann endlich ins Wohnzimmer liefen, sagte ich auf Tschechisch leise zu ihr: »Ich glaube, Jelenka, Onkel Dima hat doch den Taten umgebracht. Glaubst du das auch?«

Prager Depressionen

Am Abend, bevor Onkel Dima nach fast fünf Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, ging mein Vater mit Natalia Gelernter ins Café Slavia. Sie waren seit ihrer Trennung noch nie wirklich allein gewesen – das kurze, freundliche Gespräch auf der Treppe des Standesamtes in Smíchov, das sie im Winter 1958 bei Natalias und Dimas Hochzeit geführt hatten, hatte niemand mitbekommen –, und meine Mutter hatte es meinem Vater nur deshalb erlaubt, weil er ihr versprochen hatte, höchstens eine Stunde im Slavia zu bleiben.