Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Joachim Kaiser. »Remarques Zauberhügel«. In Süddeutsche Zeitung (München), 03.06.1961.

Marcel Reich-Ranicki. »Knalleffekte in Todesnähe. Erich Maria Remarque – von ›Im Westen nichts Neues‹ zu ›Der Himmel kennt keine Günstlinge‹«. In Die Zeit (Hamburg), 06.10.1961.

Im Brief Erich Maria Remarque in New York an Joachim Pierre Pabst in Hamburg, 22.05.1959. Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Osnabrück, Sigle L-O 36/88.

Im Brief Erich Maria Remarque in Rom an Reinhold Neven Du Mont in Köln, 27.05.1968. Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Osnabrück, Konvolut Kiepenheuer & Witsch, Sigle KIWI 539.

»The philosophy of a life based upon personal decisions by the isolated individual might be summed up in the words of Oscar Wilde, who noted in 1891 in his essay ›The Soul of Man Under Socialism‹ the shift from the older injunction to ›know thyself‹ to that of ›be thyself‹. They are not, of course, mutually exclusive. Remarque uses these themes throughout his works, and Der Himmel kennt keine Günstlinge might serve as a summary of Remarque’s work as a whole.« Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006, S. 196.

Zum gesamten Vorgang siehe Volkmar Hoffmann. »›Kristall‹ – nicht ganz kristallklar. Remarque in zweifelhafte Gesellschaft gebracht. Vier Redakteure revoltierten«. In Frankfurter Rundschau, 02.08.1959.

Erich Maria Remarque. »Das Rennen Vanderveldes«. In Sport im Bild (Berlin) 30 (1924), 12 (20.06.1924), S. 684 u. 712.

Die Skizze wurde ins Englische übersetzt, leicht überarbeitet und erhielt als Exposé den Titel The Other Love. Es ist publiziert als Die andere Liebe in Erich Maria Remarque. Herbstfahrt eines Phantasten. Erzählungen und Essays. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001 (KiWi 652), S. 132–147.

Siehe Olivia Pfeiffer. Erich Maria Remarques Tätigkeit als Autor von Synchronfassungen in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren. Osnabrück: Universität [Master-Arbeit], 2018.

[Erich Maria Remarque]. »Klausenpass-Rennen«. In Echo Continental (Hannover) 11 (1923), 8 (August), S. 109.

[Erich Maria Remarque]. »Die russische Zuverlässigkeitsfahrt«. In Echo Continental (Hannover) 11 (1923), 11/12 (November/Dezember), S. 149.

R. [d.i. Erich Maria Remarque]. »Das unheilvolle Automobilrennen«. In Berliner Lokal-Anzeiger, 12.07.1926.

Erich Maria Remarque. »Kleiner Auto-Roman«. In Sport im Bild (Berlin) 32 (1926), 11 (28.05.1926), S. 470–471.

Erich Maria Remarque. »Station am Horizont. Roman«. In Sport im Bild (Berlin) 33 (1927), 24 (25.11.1927) – 34 (1928), 4 (17.02.1928).

Siehe dazu Rolf Parr. »Tacho. km/h. Kurve. Unfall. Körper. Erich Maria Remarques journalistische und kunstliterarische Autofahrten«. In Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque. Leben, Werk und weltweite Wirkung. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, 1998 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs 12), S. 69–90.

Erich Maria Remarque. Drei Kameraden. Roman. In der Fassung der deutschsprachigen Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1366), S. 278–281. Zuvor geschildert in der Erzählung: Erich Maria Remarque. »Josefs Moment«. In Sport im Bild (Berlin) 33 (1927), 23 (11.11.1927), S. 1366–1368.

Tilman Westphalen hat sich intensiv diesem Aspekt gewidmet: Tilman Westphalen. »Von Brescia nach Brescia«. In Erich Maria Remarque. Der Himmel kennt keine Günstlinge. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 (KiWi 490), S. 319–336.

Siehe dazu Nikolaos Blachos. Die Darstellung von Krankheit in den Romanen von Erich Maria Remarque. Köln: Universität [Diss.], 2002.

Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies (New York Intermezzo). Roman. In der Originalfassung mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018 (KiWi 1634), S. 667–668.

François Sébastian Charles Joseph de Croix Graf von Clerfait und von Carbonne (1733–1798). Die »Clerfaytgasse« befindet sich im XVII. Wiener Bezirk.

Mit der »Targa Florio«, den »Mille Miglia« und dem Grand Prix von Monte Carlo schildert Remarque ausschließlich traditionelle Straßenrennen und keine Rennstrecken. Zumindest den Grand Prix hat Remarque auch selbst besucht.

Der Text spielt demnach von Mitte Februar bis Mitte Juli 1949. Die Rennen fanden im Rennkalender 1949 am 21. März (»Targa Florio«), 24. April (»Mille Miglia«) und 5. Juni (Grand Prix) statt, »sechs Wochen später« stirbt Lillian Dunkerque. Vgl. Revue Automobile (Paris), 24.10.1948, S. 3–4; Exemplar mit Anstreichungen im Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 1.157/002.

Cristóbal Balenciaga (1895–1972), Gründer des gleichnamigen, zuerst Pariser Modeunternehmens, war Remarque persönlich bekannt und tritt im Text in Kapitel VIII selbst auf.

Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006, S. 212–218.

Zum Film siehe Saskia Fares. »Filmanalyse Bobby Deerfield«. In Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque und der Film. Göttingen: V&R unipress, 2012 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 22), S. 51–95. Der Film löste Ende der 1970er Jahre eine kleine Renaissance des Romans aus, wobei einige Neuausgaben unter dem irreführenden Titel des Films, Bobby Deerfield, veröffentlicht wurden.

Erich Maria Remarque. »Geborgtes Leben«. In Kristall (Hamburg), 1959, Nr. 26, S. 75.

Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1368), S. 259.

Clerfayt hielt den Wagen an einer Tankstation, vor der der Schnee weggeschaufelt war, und hupte. Krähen lärmten um die Telefonmasten, und in der kleinen Werkstatt hinter der Tankstelle hämmerte jemand auf Blech. Das Hämmern hörte auf, und ein Junge von sechzehn Jahren kam heraus, der einen roten Sweater und eine Stahlbrille trug.

»Füll den Tank auf«, sagte Clerfayt und stieg aus.

»Mit Super?«

»Ja. Kann man irgendwo noch etwas zu essen kriegen?«

Der Junge deutete mit dem Daumen über die Straße. »Drüben. Die Spezialität war heute mittag Berner Platte. Soll ich die Ketten abnehmen?«

»Warum?«

»Die Straße ist weiter oben noch vereister als hier.«

»Den ganzen Pass rauf?«

»Über den Pass können Sie nicht fahren. Der ist seit gestern wieder geschlossen. Mit einem so niedrigen Sportwagen kommen Sie da schon gar nicht rüber.«

»Nein?« sagte Clerfayt. »Du machst mich neugierig.«

»Sie mich auch«, erwiderte der Junge.

 

Die Wirtsstube war ungelüftet und roch nach altem Bier und langem Winter. Clerfayt bestellte Bündner Fleisch,

»Soll ich die Kutsche mit dem Schlauch abspritzen?« fragte der Junge von der Tankstelle her. »Sie kann es verdammt gebrauchen.«

»Nein. Mach nur die Windschutzscheibe sauber.«

Der Wagen war lange nicht gewaschen worden und zeigte es. Ein Sturzregen hinter Aix hatte den roten Staub der Küste von St. Raphaël auf Kühlerhaube und Kotflügeln in ein Batikmuster verwandelt; dazu waren die Kalkspritzer aus den Pfützen der Straßen Mittelfrankreichs gekommen und der Dreck, den die Hinterräder zahlloser Lastwagen auf die Karosserie geschleudert hatten, wenn sie überholt wurden. Weshalb bin ich nur hierher gefahren? dachte Clerfayt. Zum Skilaufen ist es ohnehin fast zu spät. Und Mitleid? Mitleid ist ein schlechter Reisebegleiter – und ein noch schlechteres Reiseziel. Warum fahre ich nicht nach München? Oder nach Mailand? Aber was soll ich in München tun? Oder in Mailand? Oder irgendwo anders? Ich bin müde, dachte er. Müde des Bleibens und müde des Abschieds. Oder bin ich nur müde des Entscheidens? Aber was habe ich schon zu entscheiden? Er trank den Wein aus und ging in die Wirtsstube zurück.

 

Das Mädchen wusch Gläser hinter der Theke. Der ausgestopfte Kopf einer Gemse starrte aus gläsernen Augen über sie und Clerfayt hinweg auf die Reklame einer Züricher Brauerei an der Wand gegenüber. Clerfayt holte eine

»Courvoisier, Rémy-Martin, Martell?«

»Martell.«

Das Mädchen begann, den Kognak glasweise einzumessen. Eine Katze kam herein und strich um Clerfayts Beine. Er ließ sich noch zwei Pakete Zigaretten und Streichhölzer geben und bezahlte seine Rechnung.

»Sind das Kilometer?« fragte draußen der Junge im roten Sweater und zeigte auf den Geschwindigkeitsmesser.

»Nein, Meilen.«

Der Junge stieß einen Pfiff aus. »Was machen Sie denn hier in den Alpen? Warum sind Sie mit einer solchen Karre nicht auf der Autostrada?«

Clerfayt sah ihn an. Blinkende Brillengläser, eine aufgeworfene Nase, Pickel, abstehende Ohren – ein Wesen, das die Melancholie der Kindheit gerade gegen alle Fehler halben Erwachsenseins eingetauscht hatte. »Man tut nicht immer, was richtig ist, mein Sohn«, sagte er. »Selbst, wenn man es weiß. Darin kann manchmal der Charme des Lebens liegen. Kapiert?«

»Nein«, erwiderte der Junge und schnupfte. »Aber die SOS-Telefone finden Sie auf dem ganzen Pass. Anruf genügt, wenn Sie steckenbleiben. Wir holen Sie. Hier ist unsere Nummer.«

»Habt ihr keine Bernhardiner mehr mit Schnapsfläschchen um den Hals?«

»Nein. Der Kognak ist zu teuer, und die Hunde wurden zu schlau. Sie tranken den Schnaps selbst. Dafür haben wir jetzt Ochsen. Gesunde Ochsen zum Abschleppen.«

»Nein. Göring.«

»Was?«

»Göring.« Der Junge zeigte ein Gebiss, in dem ein Vorderzahn fehlte. »Aber Hubert mit Vornamen.«

»Verwandt mit dem –«

»Nein«, unterbrach Hubert. »Wir sind Basler Görings. Wenn ich zu den andern gehörte, brauchte ich hier nicht Benzin zu zapfen. Dann kriegten wir eine dicke Pension.«

Clerfayt schwieg einen Augenblick. »Ein sonderbarer Tag«, sagte er dann. »Wer hätte das erwartet? Alles Gute, mein Sohn, für dein weiteres Leben. Du warst eine Überraschung.«

»Sie nicht. Sie sind Rennfahrer, nicht wahr?«

»Warum?«

Hubert Göring zeigte auf eine fast abgewaschene Nummer unter dem Dreck auf der Kühlerhaube.

»Ein Detektiv bist du auch noch?« Clerfayt stieg in den Wagen. »Vielleicht sollte man dich doch lieber bald einsperren, um die Menschheit vor einem neuen Unglück zu bewahren. Wenn du erst Ministerpräsident bist, ist es zu spät.«

Er ließ den Motor an. »Sie haben vergessen zu bezahlen«, erklärte Hubert. »Zweiundvierzig Fränkli.«

Clerfayt gab ihm das Geld. »Fränkli!« sagte er. »Das beruhigt mich wieder, Hubert. Ein Land, in dem das Geld einen Kosenamen hat, wird nie eine Diktatur.«

 

Gott erschien nach einiger Zeit in Gestalt eines kleinen Schneepfluges. Clerfayt teilte den Rest seines Kognaks mit dem Führer. Dann fuhr der Mann vor und begann mit seiner Maschine den Schnee aufzuwirbeln und zur Seite zu werfen. Es sah aus, als zersäge er einen riesigen, weißen, gefallenen Baum zu einem strahlenden Zirkel von Spänen, die in der schrägen Sonne alle Farben des Regenbogens zeigten.

Zweihundert Meter weiter war die Straße wieder frei. Der Schneepflug wich zur Seite, und der Wagen Clerfayts glitt an ihm vorbei. Der Führer winkte ihm nach. Er trug, ebenso wie Hubert, einen roten Sweater und eine Brille. Clerfayt hatte sich deshalb mit ihm in keine andere Unterhaltung eingelassen als in die sichere über Schnee und Schnaps; ein zweiter Göring am selben Tage wäre etwas zuviel gewesen.

Hubert hatte geschwindelt; der Pass war oben nicht gesperrt. Der Wagen zog jetzt rasch der Höhe zu, und plötzlich lag tief unten das Tal vor Clerfayt, blau und weich in der frühen Dämmerung, und darin verstreut, wie in einer Spielzeugschachtel, das Dorf mit weißen Dächern, einem schiefen Kirchturm, Eisplätzen, ein paar Hotels, und den ersten

Der Motor begann plötzlich zu spucken. Die Kerzen, dachte Clerfayt; wieder einmal! Das kam davon, wenn man beim Fahren nicht ans Fahren dachte! Er ließ den Wagen das letzte Stück der Steigung ausgekuppelt hinabrollen, bis er auf der ebenen Straße hielt, und öffnete die Motorhaube.

Es waren, wie immer, die Kerzen des zweiten und vierten Zylinders, die verölt waren. Er schraubte sie heraus, putzte sie, setzte sie aufs neue ein und ließ die Maschine wieder an. Der Motor funktionierte jetzt, und Clerfayt schob mit der Hand den Gashebel ein paar Mal hin und

Nach ein paar Sprüngen blieben die Tiere stehen. Sie zitterten, und der Dampf ihres Atems wehte um ihre Köpfe. Ihre erschreckten, irren Augen wirkten, als gehörten sie vorzeitlichen Kreaturen. Clerfayt ließ die Riemen vorsichtig los. Die Pferde blieben stehen, schnaubend und mit den Schellen klirrend. Er sah, daß es keine gewöhnlichen Schlittengäule waren.

Ein großer Mann, der eine randlose Kappe aus schwarzem Pelz trug, stand im Schlitten auf und redete beruhigend auf die Tiere ein. Neben ihm saß eine junge Frau, die sich an den Lehnen ihres Sitzes festhielt. Sie hatte ein braunes Gesicht und sehr helle Augen.

»Es tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe«, sagte Clerfayt. »Ich habe nicht daran gedacht, daß Pferde hier nicht an Autos gewöhnt sind.«

Der Mann beschäftigte sich noch eine Weile weiter mit den Tieren; dann ließ er die Zügel locker und wandte sich halb um. »Nicht an Autos, die solchen Lärm machen«, erklärte er abweisend. »Immerhin, ich hätte den Schlitten schon halten können. Vielen Dank, daß Sie uns retten wollten.«

Clerfayt blickte auf. Er sah in ein hochmütiges Gesicht, in dem eine Spur von Spott glimmte, als mache der Mann

»Ich hoffe, Sie haben sich dabei nicht unnötig beschmutzt.«

Der Mann wandte sich wieder den Pferden zu. Clerfayt sah die Frau an. Wohl deshalb, dachte er. Will selbst der Held bleiben. »Nein, ich habe mich nicht beschmutzt«, erwiderte er langsam. »Dazu gehört schon etwas mehr.«

 

Das Sanatorium Bella Vista lag auf einer kleinen Anhöhe über dem Dorfe. Clerfayt parkte den Wagen auf einem flachen Platz neben dem Eingang, auf dem ein paar Schlitten standen. Er stellte den Motor ab und legte eine Decke über die Haube, um ihn warm zu halten. »Clerfayt!« rief jemand vom Eingang her.

Er drehte sich um und sah zu seinem Erstaunen Hollmann auf sich zugelaufen kommen. Er hatte geglaubt, er läge zu Bett.

»Clerfayt!« rief Hollmann. »Bist du es wirklich?«

»So wirklich, wie man es sein kann. Und du! Du läufst herum? Ich dachte, du lägest im Bett.«

Hollmann lachte. »Das ist hier altmodisch.« Er klopfte Clerfayt auf den Rücken und starrte auf den Wagen. »Ich glaubte, von unten Giuseppes Gebrüll zu hören, und dachte schon, es wäre eine Halluzination. Dann sah ich euch die Steigung heraufkommen. So eine Überraschung! Wo kommst du her?«

»So etwas!« Hollmann konnte sich nicht beruhigen. »Und mit Giuseppe, dem alten Löwen! Ich dachte schon, ihr hättet mich vergessen!«

Er tätschelte die Karosserie des Wagens. Er hatte ein halbes Dutzend Rennen in ihm mitgefahren. Er hatte in ihm auch seine erste schwere Blutung gehabt.

»Es ist doch noch Giuseppe, was? Nicht schon ein jüngerer Bruder?«

»Es ist Giuseppe. Aber er fährt keine Rennen mehr. Ich habe ihn von der Fabrik gekauft. Er ist jetzt im Ruhestand.«

»So wie ich.«

Clerfayt sah auf. »Du bist nicht im Ruhestand. Du bist auf Urlaub.«

»Ein Jahr! Das ist kein Urlaub mehr. Aber komm herein! Wir müssen das Wiedersehn feiern! Was trinkst du jetzt? Immer noch Wodka?«

Clerfayt nickte. »Gibt es bei euch denn Wodka?«

»Für Gäste gibt es hier alles. Dies ist ein modernes Sanatorium.«

»Das scheint so. Es sieht aus wie ein Hotel.«

»Das gehört zur Behandlung. Moderne Therapie. Wir sind Kurgäste; nicht mehr Patienten. Die Worte Krankheit und Tod sind tabu. Man ignoriert sie. Angewandte Psychologie. Sehr praktisch für die Moral; aber man stirbt trotzdem. Was hast du in Monte Carlo gemacht? Das Rallye mitgefahren?«

»Ja. Liest du keine Sportnachrichten mehr?«

Hollmann war einen Moment verlegen. »Anfangs habe ich es getan. Dann nicht mehr. Idiotisch, was?«

»Ja«, sagte Hollmann. »Wenn ich wieder fahre. Und wenn ich in der Lotterie das Große Los gewinne. Mit wem hast du das Rallye gefahren?«

»Mit Torriani.«

Sie gingen dem Eingang zu. Die Hänge waren rot von der untergehenden Sonne. Skiläufer schossen wie schwarze Kommas durch den Glanz. »Schön hier«, sagte Clerfayt.

»Ja, ein schönes Gefängnis.«

Clerfayt erwiderte nichts. Er kannte andere Gefängnisse. »Fährst du jetzt immer mit Torriani?« fragte Hollmann.

»Nein. Mal mit dem einen, mal mit dem anderen. Ich warte auf dich.«

Es war nicht wahr. Clerfayt fuhr seit einem halben Jahr die Sportwagen-Rennen mit Torriani. Aber da Hollmann keine Sportnachrichten mehr las, war es eine bequeme Lüge.

Sie wirkte auf Hollmann wie Wein. Ein feiner Streifen von Schweißtropfen bildete sich plötzlich auf seiner Stirn. »Hast du etwas im Rallye gemacht?« fragte er.

»Nichts. Wir waren zu spät.«

»Von wo seid ihr gefahren?«

»Von Wien. Es war eine Kateridee. Jede Sowjetpatrouille hat uns aufgehalten. Glaubten alle, wir wollten Stalin entführen oder hätten Dynamit geladen. Ich wollte auch gar nicht gewinnen, – nur den neuen Wagen ausprobieren. Straßen haben die da in der Russischen Zone! Wie aus der Eiszeit!«

Hollmann lachte. »Das war Giuseppes Rache! Wo bist du vorher gefahren?«

»Aber Clerfayt! Worüber sonst?«

»Nur für ein paar Tage.«

»Was ist los? Ist etwas passiert?«

»Nichts. Ich bin müde. Möchte mich ausruhen und einmal ein paar Tage nichts von diesem verdammten Unfug hören, Menschen auf zu schnellen Maschinen herumrasen zu lassen. Das verstehst du doch.«

»Natürlich«, sagte Hollmann. »Aber was ist los? Was ist passiert?«

»Nichts«, erwiderte Clerfayt ungeduldig. »Ich bin nur abergläubisch, wie jeder andere. Mein Kontrakt läuft ab und ist noch nicht erneuert. Ich will nichts berufen. Das ist alles.«

»Clerfayt«, sagte Hollmann, »wer ist gestürzt?«

»Ferrer. In einem albernen, kleinen Mistrennen an der Küste.«

»Tot?«

»Noch nicht. Aber man hat ihm ein Bein amputiert. Und das verrückte Weib, das mit ihm herumgezogen ist, die falsche Baronin, weigert sich, ihn zu sehen. Sie sitzt im Spielsaal und heult. Sie will keinen Krüppel. Komm jetzt und gib mir einen Schnaps. Mein letzter Kognak ist im Rachen eines Schneepflugführers verschwunden, der vernünftiger ist als wir; sein Wagen fährt nicht über fünf Kilometer die Stunde.«

 

»Nein. Auch Gesunde, die die Kranken besuchen.«

»Natürlich! Und die mit den blassen Gesichtern sind die Kranken?«

Hollmann lachte. »Das sind die Gesunden. Sie sind blaß, weil sie erst vor kurzem heraufgekommen sind. Die andern, die braun wie Sportsleute sind, sind die Kranken, die schon lange hier sind.«

Ein Mädchen brachte ein Glas Orangensaft für Hollmann und eine kleine Karaffe Wodka für Clerfayt. »Wie lange willst du bleiben?« fragte Hollmann.

»Ein paar Tage. Wo kann ich wohnen?«

»Am besten im Palace Hotel. Da ist eine gute Bar.«

Clerfayt blickte auf den Orangensaft. »Woher weißt du das?«

»Wir gehen dahin, wenn wir hier mal ausreißen.«

»Ausreißen?«

»Ja, manchmal nachts, wenn wir uns als Gesunde fühlen wollen. Es ist verboten, aber wenn der Cafard einen erwischt, ist es besser, als eine erfolglose Diskussion mit Gott darüber zu führen, warum man krank sei.« Hollmann holte eine flache Flasche aus der Brusttasche und goß einen Schluck in sein Glas. »Gin«, sagte er. »Hilft auch.«

»Dürft ihr nicht trinken?« fragte Clerfayt.

»Es ist nicht ganz verboten; aber so ist es einfacher.« Hollmann schob die Flasche zurück in die Tasche. »Man wird ziemlich kindisch hier oben.«

Ein Schlitten hielt vor dem Eingang. Clerfayt sah, daß es derselbe war, dem er auf der Straße begegnet war. Der

»Die Frau?«

»Nein, der Mann.«

»Ein Russe. Er heißt Boris Wolkow.«

»Weißrusse?«

»Ja. Aber zur Abwechslung kein früherer Großfürst und nicht arm. Sein Vater soll zur rechten Zeit ein Konto in London eröffnet haben und zur falschen Zeit in Moskau gewesen sein; er wurde erschossen. Die Frau und der Sohn kamen heraus. Die Frau soll nußgroße Smaragde in ihr Korsett eingenäht gehabt haben. 1917 trug man noch Korsetts.«

Clerfayt lachte. »Du bist ja ein wahres Detektivbüro! Woher weißt du das alles?«

»Hier weiß man bald alles über einander«, erwiderte Hollmann mit einer Spur von Bitterkeit. »In zwei Wochen, wenn der Sportbetrieb vorbei ist, ist dies Dorf nichts anderes mehr als ein kleines Klatschnest für den Rest des Jahres.«

Eine Gruppe schwarzgekleideter kleiner Leute drängte sich hinter ihnen vorbei. Sie unterhielten sich lebhaft auf spanisch. »Für ein kleines Dorf scheint ihr ziemlich international zu sein«, sagte Clerfayt.

»Das sind wir. Der Tod ist immer noch nicht chauvinistisch.«

»Dessen bin ich nicht mehr so ganz sicher.« Clerfayt blickte zur Tür. »Ist das da die Frau des Russen?«

Hollmann sah sich um. »Nein.«

Der Russe und die Frau kamen herein. »Sind die beiden etwa auch krank?« fragte Clerfayt.

»Nein.«

»Das ist oft so. Eine Zeitlang sieht man aus wie das blühende Leben. Dann nicht mehr; aber dann läuft man auch nicht mehr herum.«

Der Russe und die Frau blieben neben der Tür stehen. Der Mann redete eindringlich auf die Frau ein. Sie hörte ihm zu, schüttelte dann heftig den Kopf und ging rasch nach hinten in die Halle. Der Mann sah ihr nach und wartete einen Augenblick; dann ging er nach draußen und stieg in den Schlitten.

»Sie scheinen Streit zu haben«, sagte Clerfayt, nicht ohne Genugtuung.

»So etwas passiert alle Augenblicke. Jeder wird hier nach einiger Zeit etwas verrückt. Gefangenenlager-Psychose. Die Proportionen verschieben sich; Kleinigkeiten werden wichtig, und Wichtiges wird nebensächlich.«

Clerfayt sah Hollmann aufmerksam an. »Bei dir auch?«

»Bei mir auch. Man kann nicht immer auf denselben Punkt starren.«

»Wohnen die beiden auch hier?«

»Die Frau; der Mann wohnt außerhalb.«

Clerfayt stand auf. »Ich fahre jetzt ins Hotel. Wo können wir zusammen zu Abend essen?«

»Hier. Wir haben ein Esszimmer, in dem Gäste erlaubt sind.«

»Gut. Wann?«

»Um sieben. Ich muß um neun zu Bett. Wie in der Schule.«

Hollmanns Gesicht hellte sich auf. »Gabrielli? Ist er noch da?«

»Natürlich. Was kann ihm schon passieren? Rennleiter sterben im Bett – so wie Generäle.«

Die Frau, die mit dem Russen hereingekommen war, kam zurück. Sie wurde am Ausgang von einer grauhaarigen Frau aufgehalten, die leise und scharf etwas zu ihr sagte. Sie erwiderte nichts und drehte sich um. Unschlüssig blieb sie stehen, dann sah sie Hollmann und kam zu ihm herüber. »Das Krokodil will mich nicht mehr herauslassen«, flüsterte sie. »Es behauptet, ich hätte nicht ausfahren dürfen. Es müsse mich dem Dalai Lama melden, wenn ich es noch einmal versuche –«

Sie hielt inne. »Dies ist Clerfayt, Lillian«, sagte Hollmann. »Ich habe Ihnen von ihm erzählt. Er ist überraschend gekommen.«

Die Frau nickte. Sie schien Clerfayt nicht wiederzuerkennen und wandte sich aufs neue Hollmann zu. »Sie behauptet, ich müsse ins Bett«, sagte sie ärgerlich. »Nur, weil ich vor ein paar Tagen etwas Fieber gehabt habe. Aber ich lasse mich nicht einsperren. Nicht heute abend! Bleiben Sie auf?«

»Ja. Wir essen in der Vorhölle.«

»Ich komme auch.«

Sie nickte Clerfayt und Hollmann zu und ging zurück. »Das alles muß dir tibetanisch vorkommen«, sagte Hollmann. »Die Vorhölle heißt hier der Raum, in dem Gäste

»Und die Frau?«

»Sie heißt Lillian Dunkerque, Belgierin mit einer russischen Mutter. Die Eltern sind tot.«

»Warum ist sie wegen solcher Lappalien so aufgeregt?«

Hollmann hob die Schultern. Er wirkte plötzlich müde. »Ich habe dir schon gesagt, daß alle hier etwas verrückt werden. Besonders, wenn jemand gestorben ist.«

»Ist jemand gestorben?«

»Ja, eine Freundin von ihr. Gestern, hier im Sanatorium. Es geht einen nichts an, aber irgendetwas stirbt doch immer mit. Etwas Hoffnung wahrscheinlich.«

»Ja«, sagte Clerfayt. »Aber das ist überall so.«

Hollmann nickte. »Sie fangen hier an zu sterben, wenn es Frühling wird. Mehr als im Winter. Merkwürdig, was?«

Die oberen Stockwerke des Sanatoriums sahen nicht mehr aus wie ein Hotel; sie waren ein Krankenhaus. Lillian Dunkerque blieb vor dem Zimmer stehen, in dem Agnes Somerville gestorben war. Sie hörte Stimmen und Lärm und öffnete die Tür.

Der Sarg war nicht mehr da. Die Fenster standen offen, und zwei Putzfrauen waren dabei, das Zimmer zu scheuern. Wasser planschte am Boden, es roch nach Lysol und Seife, die Möbel waren umgekehrt, und das elektrische Licht stach grell in jeden Winkel des Raumes.

Lillian glaubte einen Augenblick in ein falsches Zimmer gekommen zu sein. Dann sah sie, hoch auf einen Schrank geworfen, den kleinen Plüschbären, der die Maskotte der Toten gewesen war. »Hat man sie schon abgeholt?« fragte sie.

Eine der Putzfrauen richtete sich auf. »Sie ist auf Nummer sieben gebracht worden. Wir müssen hier saubermachen. Morgen früh kommt schon eine Neue.«

»Danke.«

Lillian schloß die Tür. Sie kannte Nummer sieben; es war ein kleines Zimmer neben dem Gepäckaufzug. Die Toten wurden dahin gebracht, weil sie von da leicht nachts mit dem Aufzug nach unten zu schaffen waren. Wie Koffer, dachte Lillian. Und hinter ihnen wusch man mit Seife und Lysol ihre letzten Spuren fort.

 

Lillian war gekommen, um die Tote noch einmal zu sehen. Es war zu spät. Niemand würde das blasse Gesicht und das leuchtende Haar, das einmal Agnes Somerville gewesen war, jemals wieder sehen. Man würde den Sarg diese Nacht heimlich hinunterbringen und ihn auf einem Schlitten zum Krematorium transportieren. Dort würde er unter dem plötzlichen Ansturm des Feuers zu brennen beginnen, das rote Haar würde noch einmal knistern und Funken sprühen, der starre Körper würde sich in den Flammen noch einmal aufbäumen, als wäre er wieder lebendig geworden – und dann würde alles zusammensinken zu Asche und Nichts und ein bißchen fahler Erinnerung.

Lillian blickte auf den Sarg. Wenn sie noch lebte! dachte sie plötzlich. Konnte es nicht sein, daß sie noch einmal zu sich gekommen war in diesem unerbittlichen Kasten? Gab es das nicht manchmal? Wer wußte denn,

Ich bin verrückt, dachte Lillian; was denke ich da? Ich hätte nicht hierhergehen sollen! Warum habe ich es getan? Aus Sentimentalität? Aus Verwirrung? Oder aus dieser entsetzlichen Neugier heraus, noch einmal in ein totes Gesicht zu starren wie in einen Abgrund, dem man vielleicht doch noch eine Antwort entreißen kann? Licht, dachte sie, ich muß Licht machen!

Sie ging zur Tür zurück; aber plötzlich blieb sie stehen und lauschte. Sie glaubte ein Knistern gehört zu haben, sehr leise, aber deutlich, als kratzten Nägel auf Seide. Rasch drehte sie den Schalter an. Das scharfe Licht der ungeschützten Lampe an der Decke trieb die Nacht, den Mond und das Entsetzen zurück. Ich höre Gespenster, dachte sie. Es war mein eigenes Kleid. Es waren meine eigenen Nägel. Es war nicht ein müder, letzter Rest von Leben, der sich noch einmal geregt hat.

Sie starrte wieder auf den Sarg, der jetzt im grellen Licht stand. Nein – dieser schwarze, polierte Kasten mit den Bronzegriffen enthielt kein Leben mehr. Im Gegenteil – in ihm war die finsterste Drohung eingeschlossen, die die Menschheit kannte. Es war nicht mehr Agnes Somerville, ihre Freundin, die in ihrem goldenen Kleide regungslos, mit gestocktem Blut und zerfallenden Lungen

Sie griff hinter sich nach der Türklinke. Im Augenblick, als sie sie berührte, drehte sich die Klinke scharf in ihrer Hand. Sie unterdrückte einen Schrei. Die Tür öffnete sich. Vor Lillian stand ein überraschter Hausknecht und starrte sie an. »Was ist los?« stotterte er. »Wo kommen Sie her?« Er blickte an ihr vorbei ins Zimmer, in dem die Vorhänge im Zugwind flatterten. »Es war doch abgeschlossen! Wie sind Sie hereingekommen? Wo ist der Schlüssel?«

»Es war nicht abgeschlossen.«

»Dann muß jemand –« Der Hausknecht sah auf die Tür. »Da steckt er ja!« Er wischte sich über das Gesicht. »Wissen Sie, einen Moment dachte ich –«

»Was?«

Er deutete auf den Sarg. »Ich dachte, Sie wären es und –«

»Ich bin es ja«, flüsterte Lillian.

»Was?«

»Nichts.«

Der Mann trat einen Schritt in das Zimmer. »Sie verstehen mich nicht. Ich dachte, Sie wären die Tote. So

»Wer?«

»Nummer achtzehn. Ich weiß den Namen nicht. Ist ja auch nicht nötig. Wenn’s soweit ist, nützt der schönste Name nichts mehr.« Der Hausknecht drehte das Licht ab und schloß die Tür. »Freuen Sie sich, daß Sie es nicht sind, Fräulein«, sagte er gutmütig.

Lillian kramte Geld aus ihrer Tasche hervor. »Hier ist etwas für den Schreck, den ich Ihnen bereitet habe.«

Der Hausknecht salutierte und rieb sich die Bartstoppeln. »Herzlichen Dank! Ich werde es mit meinem Kollegen Josef teilen. Nach einem so traurigen Geschäft schmeckt ein Bier mit Korn immer besonders gut. Nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen, Fräulein. Einmal müssen wir alle dran glauben.«

»Ja«, erwiderte Lillian. »Das ist ein Trost. Ein wirklich wunderbarer Trost ist das, nicht wahr?«

 

Sie stand in ihrem Zimmer. Die Zentralheizung summte. Alle Lichter brannten. Ich bin verrückt, dachte sie. Ich habe Angst vor der Nacht. Ich habe Angst vor mir selbst. Was soll ich tun? Ich kann ein Schlafmittel nehmen und das Licht brennen lassen. Ich kann Boris anrufen und mit ihm sprechen. Sie hob die Hand nach dem Telefon, aber sie nahm den Hörer nicht ab. Sie wußte, was er ihr sagen würde. Sie wußte auch, daß er recht haben würde; aber was nützte es, wenn man wußte, daß man recht hatte? Der

Sie hockte sich in einen Sessel am Fenster. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt, dachte sie, ebenso alt wie Agnes. Vier Jahre bin ich hier oben. Davor war fast sechs Jahre lang Krieg. Was kenne ich vom Leben? Zerstörung, die Flucht aus Belgien, Tränen, Angst, den Tod meiner Eltern, Hunger, und dann die Krankheit durch den Hunger und die Flucht. Davor war ich ein Kind. Ich erinnere mich kaum noch daran, wie Städte im Frieden nachts einmal ausgesehen haben müssen. Die tausend Lichter und die strahlende Welt der Straßen – was weiß ich noch davon? Ich kenne nur noch Verdunkelungen und den Bombenregen aus dem lichtlosen Dunkel, und dann Okkupationen und Furcht und Verstecken und Kälte. Glück? Wie war dieses endlose Wort, das einst in Träumen so geglänzt hatte, zusammengeschrumpft! Ein Zimmer ohne Heizung war bereits Glück gewesen, ein Brot, ein Keller, ein Platz, der nicht beschossen wurde. Dann war das Sanatorium gekommen. Sie starrte aus dem Fenster. Unten stand ein Schlitten neben dem Eingang für Lieferanten und Dienstboten. Vielleicht war es schon der Schlitten für Agnes Somerville. Vor einem Jahr war sie lachend mit Pelzen und Blumen am Haupteingang des Sanatoriums angekommen; jetzt verließ sie das Haus heimlich durch den Dienstboteneingang, als hätte sie ihre Rechnung nicht bezahlt. Vor sechs Wochen hatte sie mit Lillian noch Pläne gemacht für die Abreise. Die Abreise, das Phantom, die Fata Morgana, die nie kam.

Sie legte den Hörer auf. »Vernünftig«, flüsterte sie und starrte in den Spiegel, aus dem ihr Gesicht zurückstarrte, fremd, mit fremden Augen – »vernünftig!« Mein Gott, dachte sie, ich bin viel zu lange vernünftig gewesen! Wozu? Um Nummer zwanzig oder dreißig in Zimmer sieben neben dem Gepäckaufzug zu werden? Etwas in einem schwarzen Kasten, vor dem einem graute?

Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Die Nacht lag dunkel und endlos vor ihr, voll mit Panik und Langeweile, dieser entsetzlichen Mischung, die das Kennzeichen der Sanatorien war, – der Panik vor der Krankheit und der Langeweile des reglementierten Daseins, die zusammen unerträglich wurden, weil der Kontrast zu nichts anderem führte als zu einem intensiven Gefühl völliger Hilflosigkeit.

Lillian stand auf. Nur jetzt nicht allein bleiben! Es mußten noch ein paar Leute unten sein, – Hollmann zumindest und sein Besuch.

 

Im Speisezimmer saßen außer Hollman und Clerfayt noch drei Südamerikaner, zwei Männer und eine ziemlich dicke, kleine Frau. Alle drei waren schwarzgekleidet; alle drei

»Sie kommen aus Bogotá«, sagte Hollmann. »Man hat ihnen telegrafiert. Die Tochter des Mannes mit der Hornbrille lag im Sterben. Aber seit sie hier sind, geht es dem Mädchen plötzlich besser. Jetzt wissen sie nicht, was sie tun sollen – zurückfliegen oder hierbleiben.«

»Warum bleibt die Mutter nicht hier, und die andern fliegen zurück?«

»Die dicke Frau ist nicht die Mutter. Sie ist die Stiefmutter; sie hat das Geld, von dem Manuela hier lebt. Keiner will eigentlich hier bleiben; auch nicht der Vater. Sie hatten drüben Manuela fast vergessen. Sie schickten regelmäßig den Scheck und lebten in Bogotá, und Manuela lebte hier – seit fünf Jahren – und schrieb monatlich einen Brief. Der Vater und die Stiefmutter haben längst Kinder, die Manuela nicht kennt. Alles war gut, – bis sie so lästig wurde zu sterben. Da mußte man natürlich kommen, der Reputation wegen. Die Frau wollte den Mann nicht allein fliegen lassen. Sie ist älter als er und eifersüchtig, und sie weiß, daß sie zu dick ist. Zur Verstärkung nahm sie deshalb ihren Bruder mit. Man hatte in Bogotá ohnehin schon darüber geredet, daß sie Manuela aus dem Hause gedrängt habe; jetzt will sie zeigen, daß sie sie liebt. Es ist also nicht nur eine Sache der Eifersucht, sondern auch eine des Prestiges. Wenn sie allein zurückflöge, würde das Gerede wieder beginnen. So sitzen sie da und warten.«

»Und Manuela?«

»Der Vater und die Stiefmutter liebten sie heiß, als sie ankamen, weil sie ja jede Stunde sterben sollte. Die arme

»Oder sie werden sich an das Dorf gewöhnen, das Konfektgeschäft kaufen und sich hier niederlassen«, sagte Clerfayt.

Hollmann lachte. »Du hast eine makabre Phantasie.«

»Im Gegenteil. Nur makabre Erfahrungen. Aber woher weißt du all das?«

»Ich habe dir doch schon gesagt, daß es hier keine Geheimnisse gibt. Schwester Cornelia Wehrli spricht Spanisch und ist die Vertraute der Stiefmutter.«

Die drei schwarzen Gestalten standen auf. Sie hatten kein Wort miteinander gesprochen. Mit feierlicher Würde schritten sie hintereinander zur Tür.

 

Sie stießen fast mit Lillian Dunkerque zusammen, die so rasch hereinkam, daß die dicke Frau erschrak und mit einem hohen Vogelschrei zur Seite wich. Lillian ging eilig an den Tisch zu Hollmann und Clerfayt und sah sich dann nach der Frau um. »Was schreit sie denn?« flüsterte sie. »Ich bin doch kein Gespenst! Oder doch? Schon?« Sie suchte nach ihrem Spiegel. »Ich scheine heute abend jeden Menschen zu erschrecken.«

»Wen sonst?« fragte Hollmann.

»Den Hausknecht.«

»Nein, den andern, der Josef hilft. Sie wissen schon –«

Hollmann nickte. »Uns erschrecken Sie nicht, Lillian.«

Sie steckte den Spiegel weg. »War das Krokodil schon hier?«

»Nein. Es muß aber jeden Augenblick kommen und uns rauswerfen. Es ist pünktlich wie ein preußischer Feldwebel.«

»Josef ist an der Tür heute nacht. Ich habe mich erkundigt. Wir können raus. Kommen Sie mit?«

»Wohin? In die Palace Bar?«

»Wohin sonst?«

»In der Palace Bar ist nichts los«, sagte Clerfayt. »Ich komme gerade daher.«

Hollmann lachte. »Für uns ist immer genug los. Selbst wenn kein Mensch da ist. Alles außerhalb des Sanatoriums ist für uns bereits aufregend. Man wird hier bescheiden.«

»Wir können jetzt durchschlüpfen«, sagte Lillian Dunkerque. »Außer Josef paßt niemand auf. Der andere Hausknecht ist noch beschäftigt.«

Hollmann hob die Schultern. »Ich habe etwas Temperatur, Lillian. Plötzlich, heute abend – weiß der Teufel, warum! Vielleicht, weil ich den schmutzigen Sportwagen Clerfayts wieder gesehen habe.«

Eine Putzfrau kam herein und begann, die Stühle auf die Tische zu stellen, um aufzuwischen. »Wir sind auch schon mit Fieber ausgerissen«, sagte Lillian.

Hollmann sah sie verlegen an. »Ich weiß. Aber heute nicht, Lillian.«

»Vielleicht. Wie ist es mit Boris? Will er nicht mit?«

»Boris glaubt, ich schliefe. Ich habe ihn schon heute nachmittag gezwungen, mit mir auszufahren. Er würde es nicht noch einmal tun.«

Die Putzfrau zog die Vorhänge auf. Gewaltig und feindlich stand die Landschaft auf einmal vor dem Fenster, – die mondbeschienenen Hänge, der schwarze Wald, der Schnee. Die drei Menschen wirkten verloren dagegen. Die Putzfrau begann, die Lichter an den Wänden auszulöschen. Mit jedem gelöschten Licht schien die Landschaft einen Schritt weiter gegen die Menschen im Zimmer vorzurücken. »Da ist das Krokodil«, sagte Hollmann.

Die Oberschwester stand in der Tür. Sie lächelte mit starkem Gebiss und kalten Augen. »Die Nachtschwärmer, wie immer! Feierabend, meine Herrschaften!« Sie sagte nichts darüber, daß Lillian Dunkerque noch auf war. »Feierabend«, wiederholte sie. »Zu Bett! Zu Bett! Morgen ist auch noch ein Tag!«

Lillian stand auf. »Sind Sie dessen so sicher?«

»Ganz sicher«, erwiderte die Oberschwester mit deprimierender Fröhlichkeit. »Für Sie liegt ein Schlafmittel auf Ihrem Nachttisch, Miss Dunkerque. Sie werden ruhen wie in Morpheus’ Armen!«

 

»Wie in Morpheus’ Armen!« wiederholte Hollmann mit Abscheu, als sie gegangen war. »Das Krokodil ist die Königin der Klischees. Heute abend war sie noch gnädig. Warum müssen diese Polizistinnen der Gesundheit jeden Menschen, wenn er in ein Hospital kommt, mit dieser ent

»Es ist die Rache für ihren Beruf«, erwiderte Lillian böse. »Wenn Kellner und Krankenschwestern das nicht hätten, stürben sie an Minderwertigkeitskomplexen.«

Sie standen in der Halle vor dem Aufzug. »Wohin gehen Sie jetzt?« fragte Lillian Clerfayt.

Er sah sie an. »Zur Palace Bar.«

»Nehmen Sie mich mit?«

Er zögerte einen Augenblick. Er hatte gewisse Erfahrungen mit überspannten Russinnen. Auch mit Halbrussinnen. Aber dann erinnerte er sich an die Szene mit dem Schlitten und an das hochmütige Gesicht Wolkows. »Warum nicht?« sagte er.

Sie lächelte ein hilfloses Lächeln. »Ist es nicht trostlos? Man bittet um ein bißchen Freiheit wie ein Trunkenbold einen abweisenden Barmixer um ein letztes Glas. Ist das nicht erbärmlich?«

Clerfayt schüttelte den Kopf. »Ich habe das oft genug selbst getan.«

Sie sah ihn zum ersten Male voll an. »Sie?« fragte sie. »Warum Sie?«

»Jeder hat Gründe. Sogar ein Stein. Wo soll ich Sie abholen? Oder wollen Sie gleich mitkommen?«

»Nein. Sie müssen durch den Haupteingang hinausgehen. Das Krokodil paßt dort auf. Gehen Sie dann die erste Serpentine herunter, nehmen Sie dort einen Schlitten, und fahren Sie rechts hinter das Sanatorium zum Eingang für Lieferanten und Dienstboten. Ich komme da heraus.«

»Gut.«

»Natürlich nicht. Ich fahre ja morgen noch nicht weg.«

Hollmann blickte ihn forschend an. »Und Lillian? Wärst du lieber allein geblieben?«

»Auf keinen Fall. Wer will schon allein bleiben?«

Clerfayt ging durch die leere Halle hinaus. Nur ein kleines Licht brannte noch neben der Tür. Durch die großen Fenster fiel das Mondlicht in breiten Rhomben auf den Fußboden. Neben der Tür stand das Krokodil. »Gute Nacht«, sagte Clerfayt.

»Good night«, erwiderte sie, und er konnte sich nicht vorstellen, warum sie auf einmal Englisch sprach.

 

Er ging die Serpentinen hinunter, bis er einen Schlitten fand. »Können Sie das Verdeck schließen?« fragte er den Kutscher.

»Heute nacht? Es ist doch nicht mehr so kalt!«

Clerfayt wollte Lillian nicht in einen offenen Schlitten setzen, aber er hatte auch keine Lust zu Argumenten. »Für Sie nicht, für mich schon. Ich komme aus Afrika«, erwiderte er. »Können Sie also den Schlitten schließen?«

»Das ist was anderes.« Der Kutscher kletterte umständlich von seinem Bock und klappte das Verdeck hoch. »Geht es so?«

»Ja. Fahren Sie jetzt bitte zum Sanatorium Bella Vista zurück; – zum Hintereingang.«

Lillian Dunkerque wartete bereits. Sie hatte einen dünnen, schwarzen Pelz aus Breitschwanz um sich gezogen.