Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Droemer Knaur, München. Pressemitteilung 308/71, 20.04.1971.

Droemer Knaur, München. Pressemitteilung 310/71, 20.04.1971.

Tagebuch Remarques, Eintrag New York, 22.02.1949. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Marc Wilhelm Küster hat sich umfassend mit der Manuskriptlage zu dem Projekt beschäftigt in »Die Manuskriptlage zu Remarques Schatten im Paradies«. In Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 5 (1995), S. 88–108.

I.B. [d.i. Ingeborg Brandt]. »Remarques Erbe: Ein Manuskript«. In Welt am Sonntag (Hamburg), 27.09.1970.

Erich Maria Remarque in Rom an Hans Habe, 29.02.1968. Original Hans Habe-Collection, Boston University Library, Boston/MA.

Als Band 2 der Ausgabe Erich Maria Remarque. Das unbekannte Werk. Frühe Prosa, Werke aus dem Nachlaß, Briefe und Tagebücher. Herausgegeben von Thomas F. Schneider und Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998.

Erich Maria Remarque. Das gelobte Land. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010 (KiWi 1189), S. 413.

Siehe die Übersetzung von Die Traumbude im Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 1.2/001.

Siehe Thomas Fleischer. »Remarques Rückkehr auf den deutschen Buchmarkt nach 1945«. In Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque. Leben, Werk und weltweite Wirkung. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, 1998 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs 12), S. 267–276.

Kiepenheuer & Witsch, Köln, und Erich Maria Remarque, Vertrag, 01.07.1961. Original im Archiv des Verlages Kiepenheuer & Witsch, Köln.

Zuvor war der Text zur Sicherung des Copyrights hektografiert in einer Kleinstauflage in den USA publiziert worden. Siehe das Exemplar im Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 1.228/001.

Die Eingriffe sind dokumentiert über ein Typoskript des Textes mit eigenhändigen Korrekturen von Maria Pelikan im Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 1.226/001 + 1.227/001.

Zu den in dieser Fassung noch enthaltenen politischen Aspekten siehe Tilman Westphalen. »Ein Tornister voll mit Blei«. In Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 (KiWi 481), S. 495–514.

Siehe zur Konstruktion des Erzählers in Die Nacht von Lissabon Thomas F. Schneider. »Ein Käfig aus goldenen Tränen. Zu Erich Maria Remarques Die Nacht von Lissabon«. In Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1577), S. 361–382.

Zu Remarques Verhältnis zur Kunst und seiner eigenen umfangreichen Sammlung siehe den Band Remarques Impressionisten. Kunstsammeln und Kunsthandel im Exil. Art Collecting and Art Dealing in Exile. Herausgegeben von Inge Jaehner und Thomas F. Schneider unter Mitarbeit von Walter Feilchenfeldt und Suzanne S. Zuber. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. Darin S. 142–160: Thomas F. Schneider. »Fenster in die Unendlichkeit. Die Kunst im Werk Erich Maria Remarques«.

Silver ist ein kaum verhülltes Portrait von Remarques amerikanischem Kunsthändler Sam Salz, mit dem Remarque sich selbst in den 1940er Jahren aktiv am Kunsthandel beteiligte. Siehe dazu ausführlich den Band Remarques Impressionisten. Kunstsammeln und Kunsthandel im Exil. Art Collecting and Art Dealing in Exile, ebd.

So von Helga Schreckenberger. »Durchkommen ist alles. Physischer und psychischer Existenzkampf in Erich Maria Remarques Exil-Romanen«. In Text + Kritik (2001), 149: Erich Maria Remarque, S. 30–41.

Ich wohnte damals im fünfzehnten Stock eines Hauses in der 57. Straße in New York. In dieser Etage sollte sich vor vielen Jahren ein Puff befunden haben; jetzt war sie längst aufgeteilt in Ein- und Zweizimmerwohnungen. Über mir, auf dem Dach, befand sich noch eine Anzahl kleiner Penthaus-Apartments. Sie hatten Terrassen und waren sehr begehrt; aber sie waren fast alle in den Händen von Schwulen. Die Homos in New York wissen immer, wo die besten Unterkünfte zu finden sind. Man konnte sie leicht schon an ihren Hunden erkennen; um die Zeit, als ich dort lebte, waren es Zwergpudel. Auch da gab es Klassen und Unterschiede. Es war nicht gleichgültig, ob man einen weißen, grauen, schwarzen oder pfirsichfarbenen hatte; einige »kesse Väter« verstiegen sich sogar zu mächtigen Königspudeln, um ihre Männlichkeit zu betonen. Auch die Art, wie die Tiere getrimmt waren, spielte eine Rolle, – ob kraushaarig wie ein Malteser, langhaarig wie ein Kerry Blue-Terrier, oder mit Bäffchen und geschoren wie ein Zirkusvieh. Morgens früh und abends spät waren die Aufzüge voll von ihnen; dann wurden sie auf die Straße geführt zum Scheißen. Zu beiden Seiten der Fahrstraße sah man sie in den Abflußrinnen neben den Trottoirs hocken, von ihren stolzen Besitzern an der Leine gehalten, – in New York durften sie nicht frei herumlaufen

 

Ich lebte in dieser Zeit in einem sonderbaren Zustand in Amerika, – so, als ob ich gleichzeitig zehn und fünfunddreißig Jahre alt sei. Ich war vor einigen Monaten mit einem Frachtdampfer aus Lissabon angekommen und konnte nur wenig Englisch, – das war, als wäre ich halb stumm und halb taub und von einem anderen Planeten hier ausgesetzt worden. Es war auch ein anderer Planet, denn in Europa herrschte Krieg.

 

In Ellis Island hatte ich einen Türken getroffen, der vor zehn Jahren schon einmal in Amerika gewesen war. Ich wußte nicht, weshalb man ihn jetzt nicht wieder einreisen ließ; ich fragte auch nicht danach. Ich hatte zu oft erlebt, daß man Leute auswies, einfach weil sie lebten. Der Türke gab mir die Adresse eines Russen, der in New York wohnte und dem sein Vater einmal auf der Flucht

Der Russe lebte in einem kleinen, sehr heruntergekommenen Hotel in der Nähe vom Broadway. Er nannte sich Meukow und nahm mich sofort auf. Als alter Emigrant hatte er einen Blick für das, was mir fehlte: ein Unterkommen und Arbeit. Das Unterkommen war leicht gefunden; er hatte eine zweite Bettstelle, die er in seinem Zimmer unterbrachte. Zu arbeiten war mir mit einem Touristenvisum verboten, ich hätte dafür ein anderes haben müssen: ein Einreisevisum mit einer Quotanummer. Ich mußte also heimlich arbeiten. Ich kannte das aus Europa, und es störte mich nicht besonders; ich hatte auch noch etwas Geld.

»Haben Sie eine Ahnung, wovon Sie leben könnten?« fragte mich Meukow.

»Ich habe in Frankreich zuletzt als Schlepper für Händler mit zweifelhaften Bildern und falschen Antiquitäten gelebt.«

»Verstehen Sie etwas davon?«

»Nicht viel, aber einiges von den üblichen Praktiken.«

»Wo haben Sie es gelernt?«

»Angestellt?« fragte Meukow überrascht.

»Versteckt«, antwortete ich.

»Vor den Deutschen?«

»Vor den Deutschen, die Belgien eingenommen hatten.«

»Zwei Jahre?« sagte Meukow. »Und man hat Sie nicht gefunden?«

»Mich nicht. Aber nach zwei Jahren den, der mich versteckt hat.«

Meukow sah mich an. »Sie sind entkommen?«

»Ja.«

»Haben Sie von dem anderen noch etwas gehört?«

»Das Übliche. Man hat ihn in ein Lager gebracht.«

»War er Deutscher?«

»Belgier. Direktor des Museums.«

Meukow nickte. »Wie konnten Sie so lange unentdeckt bleiben?« fragte er dann. »Kamen keine Besucher in das Museum?«

»Doch. Tagsüber war ich im Keller in einem Abstellraum eingeschlossen. Abends kam der Direktor, brachte mir Essen und ließ mich über Nacht heraus. Ich blieb im Museum; aber ich konnte aus dem Keller heraus. Licht durfte ich natürlich nicht machen.«

»Wußten andere Angestellte davon?«

»Nein. Der Abstellraum hatte keine Fenster. Ich mußte still sein, wenn jemand in den Keller kam. Am meisten Sorge hatte ich davor, zur falschen Zeit niesen zu müssen.«

»Hat man Sie so entdeckt?«

»Nein. Es war jemand aufgefallen, daß der Direktor so

»Ich verstehe«, sagte Meukow. »Konnten Sie lesen?«

»Nur nachts, im Sommer und wenn der Mond schien.«

»Aber Sie konnten nachts im Museum umhergehen und die Bilder ansehen?«

»Solange man sie sehen konnte.«

Meukow lächelte plötzlich. »Ich mußte auf der Flucht aus Rußland einmal sechs Tage an der finnischen Grenze unter dem Holzstapel eines Blockhauses liegen. Als ich herauskam, dachte ich, es wäre viel länger gewesen. Mindestens vierzehn Tage. Aber ich war jung damals; dann vergeht die Zeit ohnehin langsamer. Sind Sie hungrig?« fügte er ohne Übergang hinzu.

»Ja«, sagte ich erstaunt, »sehr sogar.«

»Das dachte ich. Man ist immer hungrig, wenn man freigelassen wird. Gehen wir zur Apotheke, essen.«

»Zur Apotheke?«

»Zu einem Drugstore. Das ist eine der Eigentümlichkeiten des Landes. Man kann dort Aspirin kaufen und essen.«

 

»Was haben Sie tagsüber im Museum getan«, fragte Meukow, »um nicht irrsinnig zu werden?«

Ich blickte die Reihe der Leute entlang, die eilig an der langen Theke aßen, Reklameschilder und Medizinflaschen vor sich. »Was essen wir hier?« fragte ich zurück.

»Ein Hamburger. Neben Wiener Würstchen die Hauptnahrung des Volkes. Steaks sind zu teuer für den einfachen Mann.«

»Sie blieben in Bewegung«, sagte Meukow. »Und Sie hatten ein Ziel. Das schützte Sie.«

»Ich lebte einen Sommer lang mit Cézanne und einigen Degas. Es waren natürlich Phantasiebilder und Phantasie-Vergleiche. Aber es waren trotzdem Vergleiche, und dadurch wurden sie eine Herausforderung. Ich memorierte die Farben und die Kompositionen; dabei hatte ich

»War das Museum nicht bewacht?«

»Nur am Tage. Abends wurde es abgeschlossen. Das war mein Glück.«

»Und das Unglück des Mannes, der Ihnen Essen brachte.«

Ich blickte Meukow an. »Und das Unglück des Mannes, der mich versteckt hatte«, erwiderte ich ruhig. Ich sah, daß er es richtig gemeint hatte; er wollte mir keine Rüge erteilen. Er sprach über Tatsachen, weiter nichts.

»Sie können nicht anfangen, als illegaler Tellerwäscher Ihren Unterhalt zu verdienen«, sagte er. »Das ist romantischer Unfug, vorbei mit den Gewerkschaften. Wie lange können Sie leben, ohne verhungern zu müssen?«

»Was kostet diese Mahlzeit?«

»Eineinhalb Dollar. Alles ist seit dem Krieg teurer geworden.«

»Krieg?« sagte ich. »Hier ist doch kein Krieg!«

»Doch!« erwiderte Meukow. »Wieder einmal zu Ihrem Glück. Man braucht Leute. Es gibt keine Arbeitslosen mehr. Sie werden leichter etwas finden.«

»Ich muß in zwei Monaten hier wieder heraus.«

Meukow lachte und schloß seine kleinen Augen. »Amerika ist sehr groß. Und es ist Krieg. Wieder zu Ihrem Glück. Wo sind Sie geboren?«

»Man wird Sie weder nach dem einen noch nach dem andern ausweisen können. Aber Sie könnten in ein Internierungslager kommen.«

Ich hob die Schultern. »Ich war in einem in Frankreich.«

»Geflohen?«

»Eher eines Tages weggegangen. In der allgemeinen Konfusion der Niederlage.«

Meukow nickte. »Ich war auch in Frankreich. In der allgemeinen Konfusion eines Sieges, der nur theoretisch war. Neunzehnhundertachtzehn. Ich kam aus Rußland über Finnland und Deutschland. Auf der ersten Welle der kleinen Völkerwanderung.«

Ich blickte auf. Einen Augenblick war alles außer Zusammenhang; das, was ich vor mir sah, die Lichter, die Leute, Wesen, die sich bewegten und unverständliche Geräusche ausstießen, schwankende Eiscrèmereklamen. Ich und die unverständliche Folge von Geschehnissen, die sich mein Dasein nannte, – es kreiste nicht, aber es hatte eine Sekunde lang keinen Namen mehr, entsetzlich fremd und unbeteiligt starrte es herauf, wachsam, finster und gefährlich, sehr nahe und sehr entfernt, in allen Lauten gedämpft, als wäre ich unter Wasser.

Es schien ziemlich lange zu dauern, bis ich Meukow wieder verstand. »Wissen Sie, was das Schlimmste ist?« sagte ich, noch nicht ganz wieder zurück. »Einem unerbittlichen Feinde völlig hilflos ausgeliefert zu sein, – nicht einmal einem persönlichen Feind.«

»Nein«, erwiderte ich etwas ungeduldig. Ich kannte diese Phrasen zu gut; sie stimmten nicht.

Meukow betrachtete mich amüsiert. »Sie waren noch nicht ganz unten«, erklärte er dann. »Glauben Sie nicht, daß wir jetzt etwas Wodka gebrauchen könnten?«

»Ich habe gelernt, dem Schnaps zu mißtrauen«, erklärte ich. »Er hat mich einige Male dazu gebracht, mir selbst zuviel zu vertrauen. Zweimal mit scheußlichen Resultaten; Gefängnisse mit Ungeziefer.«

»Spanien?«

»Nordafrika.«

»Versuchen wir es das dritte Mal. Die Gefängnisse hier sind sauber. Ich habe Wodka im Hotel. Hier bekommt man nichts.«

 

»Das nennen Sie Krieg?« sagte ich und starrte in die Lichtkaskaden von Broadway. »Das letzte Licht, das ich so in Europa gesehen habe, war in Portugal; und das war ein neutrales Land. Sonst war Europa dunkel wie ein Kohlenschacht. Das Licht verkroch sich hinter schwarze Vorhänge und in die Erde.«

Das viele Licht machte mich fast schwindlig und in einer schwebenden Weise betrunken. Ich begriff, daß die ersten Feuer so gewirkt haben mußten in den Anfängen des Ichbewußtseins. Das Licht veränderte das Gewicht des Körpers; es machte ihn leichter, als schwimme er in einem sanften, durchsichtigen, goldenen Öl. Mir schien, als könnte man nie sehr traurig sein in soviel Licht, in

Ich konnte nicht genug bekommen! Ich starrte in die funkelnden Kinos und die Neonreklamen über den Dächern, in die Spielsäle mit den grell beleuchteten Automaten, in die Läden, die auch nachts noch offen waren und voll von elektrischem Licht, in die Restaurants mit ihren Kronleuchtern und den zahllosen Appliken aus Seide, Pergament und flüssigem Gold, – ich hatte zu lange bei Kerzen, Taschenlampen und dürftigem, abgeschirmtem und gefangenem rötlichen Licht gelebt, um nicht aus der Gewohnheit des Schauens herausgeworfen zu werden in ein leichtes Delirium durch dieses sorglose, verschwenderische Licht, das überall sprühte in Fontänen von gewichtslosem, buntem Wasser, hochgeschleudert zum schwarzen Himmel aus einer hellen Stadt mit den riesigen Bienenkörben der Wolkenkratzer, in denen der Lichtschaum wie Honig schimmerte.

»Zu dieser Stadt habe ich zwei Monate herübergestarrt«, sagte ich zu Meukow. »Jeden Tag und jede Nacht von Ellis Island aus.«

»Zu diesem Land«, erwiderte er.

»Zu dieser Stadt und zu diesem Land. Ist das nicht dasselbe?«

»Wir saßen in Ellis Island wie in einer gestrandeten Arche. Weshalb hat man den Türken nicht hereingelassen?«

»Wahrscheinlich wegen Schmuggelverdacht. Er war schon einmal hier. Heroin. Man hat ihn später einmal vernommen, als man es herausgekriegt hat. Ich dachte, er würde nicht wieder kommen. Aber zehn Jahre ist eine lange Zeit; er hat wohl gelaubt, alles sei längst vergessen. Das mag so sein bei Morden, – nicht bei Heroin.«

Wir blieben vor der Auslage eines Restaurants stehen. Es war lange her, daß ich so viele Speisen zusammen gesehen hatte, und ich hätte geglaubt, daß dieser Überfluß der erste wäre, was den größten Eindruck auf mich machen würde. Aber es war das Licht, – nicht diese Sammlung von geschlachteten Tieren, Schinken, Hühnern und Torten.

»Sind Sie ein Romantiker?« fragte Meukow.

»Nicht sehr oft. Die Polizei faßt Romantiker leichter als andere.«

»Daran brauchen Sie doch für zwei Monate nicht zu denken.«

»Das ist wahr. Ich bin noch nicht daran gewöhnt.«

Wir gingen zum Hotel Meukows zurück, aber ich hielt es nicht lange da aus. Ich wollte nicht trinken, ich wollte auch nicht in dem verbrauchten Plüsch dort sitzen; und Meukows Zimmer war zu klein. Ich wollte noch einmal hinaus; man hatte mich lange genug eingesperrt. Selbst Ellis Island war ein komfortables, Gefängnis gewesen. Meukows Bemerkung saß mir noch im Kopf; ich hätte für die nächsten zwei Monate nichts von der Polizei zu

»Solange Sie wollen.«

»Wann gehen Sie schlafen?«

Meukow machte eine wegwischende Bewegung. »Nicht vor morgen früh. Ich habe jetzt zu tun. Wollen Sie eine Frau suchen? Das ist in New York nicht so einfach wie in Paris. Und etwas gefährlicher.«

»Nein. Ich will noch etwas herumlaufen.«

»Eine Frau finden Sie leichter hier im Hotel.«

»Ich brauche keine.«

»Man braucht immer eine.«

»Nicht heute.«

»Sie sind also doch ein Romantiker«, sagte Meukow. »Merken Sie sich die Nummer der Straße hier und den Namen des Hotels: Hotel Reuben. Man findet sich in New York leicht zurecht; fast alle Straßen haben hier Nummern, – wenige haben Namen.«

So wie ich, dachte ich, – eine Nummer mit irgendeinem Namen. Es war eine wohltuende Anonymität; ich hatte unter Namen genug Schwierigkeiten gehabt.

 

Ich ließ mich durch die anonyme Stadt treiben, deren heller Rauch zum Himmel stieg. Eine Feuersäule bei Nacht und eine Wolkensäule bei Tag, – war das nicht, wie Gott dem ersten Volk der Emigranten in der Wüste den Weg wies? Ich ging durch einen Regen von Worten, Lärm, Gelächter und Schreien, der blind auf meine Ohren schlug, – ich verstand nur den Lärm, nicht den Sinn, so wie ich das Licht verstand, aber schon nicht mehr immer, was es

Ich wußte plötzlich, daß jetzt, wo ich an dieser fremden Küste angelangt war, die Gefahr vorbei zu sein schien, sie erst wirklich begann. Nicht die äußere, – die von innen. Ich war so lange mit einfachem Überleben beschäftigt gewesen, daß darin gleichzeitig meine Protektion gelegen hatte. Es war primitives Überleben gewesen, wie das kurz vor der Panik beim Schiffsuntergang, mit keinem andern Ziel als dem zu überleben. Jetzt, schon von morgen an, sogar von dieser sonderbaren Stunde an, würde sich das Leben wieder fächerförmig vor mir ausbreiten, es würde wieder eine Zukunft haben, aber auch eine Vergangenheit, eine Vergangenheit, die mich leicht erschlagen konnte, wenn ich sie nicht vergaß oder sie bewältigen konnte. Ich wußte plötzlich, daß das Eis, das sich gebildet hatte, noch für lange Zeit zu dünn sein würde, um darauf zu gehen. Ich würde einbrechen. Ich mußte es vermeiden. Aber ich spürte auch, daß aus diesem anonymen Lärm aus Gier, herrlichem Licht, Schweiß und Gestank, der mich wie einen illegitimen Wanderer in einer geschäftigen Wüste anwehte, aus diesem Stummfilm mit nicht dazu passendem Tonband, mehr hervorbrach als nur eine überraschende Verzauberung durch Licht, Farbe, Nichtverstehen und der kindischen Sicherheit trügerischen Nichtverstehens: es war das Leben selbst, das sich aus der Abkapselung nußharter Notwendigkeit wieder öffnen wollte, zu Ruf und Frage, zu Blick und Einblick, mit dem weichen Morast der Erinnerung und der Verführung einer noch unfaßlichen,

Ich drehte mich rasch um und ging zurück, verwirrt und tief aufgerührt, ich blickte nicht mehr umher, und ich war fast atemlos, als ich die kleine Leuchtschrift des Hotels vor mir sah, – nicht breit und waagrecht und siegreich wie andere, sondern schmal und trübe, gerade ein paar Buchstaben, nicht mehr.

Ich trat durch die Tür, die mit falschen Marmorleisten verunziert war, von denen zwei fehlten, und sah Meukow hinter der Theke in einem Schaukelstuhl dösen. Er öffnete die Augen, die für einen Augenblick liderlos wie die eines alten Papageien wirkten, dann wurden sie blau und hell. »Spielen Sie Schach?« sagte er und erhob sich.

»Wie jeder Emigrant.«

»Gut. Ich hole den Wodka.«

Er ging die Treppe hinauf. Ich sah mich um. Mir war schon, als wäre ich nach Hause gekommen. Wer nirgendwo zu Hause war, spürte das leicht.

In den nächsten Wochen verschob sich das Verhältnis meines doppelten Alters rasch. Von 10 zu 35 Jahren stand es nach zwei Wochen auf 12 zu 35. Weitere vierzehn Tage später hatte ich bereits die oberflächlichen Kenntnisse im Englischen eines Fünfzehnjährigen. Ich saß morgens mit einer Grammatik für einige Stunden im roten Plüsch des Hotels Reuben herum und suchte nachmittags jede sich bietende Gelegenheit zu englischer Konversation. Ich ging dabei ohne Scham und Scheu vor. Als ich merkte, daß ich nach zehn Tagen mit Meukow einen russischen Akzent bekam, wandte ich mich an Gäste und Angestellte des Hotels. Ich bekam nacheinander einen deutschen, jüdischen, französischen und zum Schluß, als ich ganz sicher bei den Aufwartefrauen und Stubenmädchen auf waschechte Amerikanerinnen gestoßen zu sein glaubte, einen schweren Brooklyn-Akzent.

»Du mußt ein Verhältnis mit einer jungen Amerikanerin anfangen«, sagte Meukow, mit dem ich mich inzwischen duzte.

»Aus Brooklyn?« fragte ich.

»Lieber aus Boston. Dort spricht man am besten.«

»Warum nicht mit einer Lehrerin aus Boston? Das wäre noch ökonomischer.«

»Wladimir«, sagte ich. »Die Welt verändert sich mir ohnehin schon rapide genug. Alle paar Tage wird mein englisches Ich ein Jahr älter, zu meinem Bedauern entzaubert sich dabei auch seine Welt. Je mehr ich verstehe, desto mehr schwindet das Geheimnis. Noch ein paar Wochen und meine beiden Ichs halten sich die Waage. Das amerikanische ist dann ebenso ernüchtert wie das europäische. Laß mir deshalb Zeit! Auch mit den Akzenten. Ich möchte meine zweite Kindheit nicht zu schnell verlieren.«

»Das wirst du nicht. Vorläufig hast du erst den geistigen Horizont eines melancholischen Gemüsehändlers. Des Gemüsehändlers an der Ecke, Annibale Balbo. Du gebrauchst sogar schon seine italienischen Sprachbrocken; sie schwimmen wie Fleischstücke in deiner englischen Minestrone herum.«

»Gibt es auch normale, echte Amerikaner?«

»Natürlich. Aber New York ist der große Einfallshafen der Emigranten, – der irischen, italienischen, deutschen, jüdischen, armenischen, russischen und noch einem Dutzend anderer. Wie sagt man bei euch: Hier bist du Mensch, hier darfst du’s sein? Hier bist du Emigrant, hier darfst du’s sein. Dieses Land ist von Emigranten gegründet worden. Wirf also deine europäischen Minderwertigkeitskomplexe ab. Hier bist du wieder Mensch. Nicht mehr ein wundes Stück Fleisch, das an einem Paß klebt.«

»Glaubst du nicht, daß es dauert?«

»Wie könnte ich?«

»Was glaubst du eigentlich?«

»Daß alles immer schlimmer wird«, sagte ich.

 

Jemand hinkte in den Vorraum. Wir saßen im Halbdunkel, und ich konnte den Mann nur ungenau sehen; aber sein merkwürdiges Hinken, in einer Art von Dreivierteltakt, fiel mir auf und erinnerte mich vage an einen Bekannten. »Lachmann«, sagte ich halblaut.

Der Mann blieb stehen und blickte zu mir herüber. »Lachmann!« wiederholte ich.

»Ich heiße Merton«, sagte der Mann.

Ich knipste das Licht an, das trostlos gelb und blau aus einem bescheidenen Lüster des schlechtesten Jugendstils an der Decke tropfte. »Mein Gott, Robert«, sagte der Mann. »Du lebst? Ich dachte, du wärest längst tot!«

»Das dachte ich auch von dir! Ich habe dich an deinem Schritt wiedererkannt.«

»An meinem Trochäen-Gehinke?«

»An deinem Walzerschritt, Kurt. Kennst du Meukow?«

»Natürlich kenne ich ihn.«

»Wohnst du etwa hier?«

»Nein. Aber ich komme manchmal her.«

»Und du heißt jetzt Merton?«

»Ja. Und du?«

»Ross. Der Vorname stimmt noch.«

Wir schwiegen beide. Es war die alte Verlegenheitspause zwischen Emigranten. Man wußte nicht, wer tot war.

»Hast du noch etwas von Cohn gehört?« sagte ich dann.

Auch das war die alte Technik. Man fragte zuerst vorsichtig nach Leuten, die einem nicht sehr nahe gewesen waren. »Er ist in New York«, erwiderte Lachmann.

»Er auch? Wie ist er herübergekommen?«

»Wie sind wir alle herübergekommen? Durch hundert Zufälle. Keiner von uns war auf der Liste der Intelligenz, die von Amerika zur Rettung markiert wurde.«

Meukow drehte das Licht wieder ab und holte eine Flasche unter der Theke hervor. »Amerikanischer Wodka«, sagte er. »Ähnlich wie kalifornischer Bordeaux und Burgunder aus San Francisco. Oder Rheinwein aus Chile. Salut. Einer der Vorteile der Emigration ist, daß man so oft Abschied nehmen muß und dann ein Wiedersehen feiern kann. Gibt einem die Illusion eines langen Lebens.«

Weder Lachmann noch ich antworteten. Meukow kam von einer anderen Generation, – der von 1917. Was für uns noch brannte, war für ihn schon Erinnerung geworden. »Salut, Wladimir«, sagte ich schließlich. »Warum sind wir nicht alle als Jogis geboren worden?«

»Ich wäre schon zufrieden gewesen, nicht in Deutschland als Jude auf die Welt zu kommen«, erklärte Lachmann-Merton.

»Ihr seid die Vorhut der Weltbürger«, erwiderte Meukow ungerührt. »Benehmt euch zumindest wie Pioniere. Man wird euch einmal Denkmäler setzen.«

»Wo?« fragte ich. »In Rußland?«

»Auf dem Mond«, erklärte Meukow und ging zur Registriertheke, um einen Schlüssel herauszugeben.

»Ein Witzbold«, sagte Lachmann und sah hinter ihm her. »Arbeitest du für ihn?«

»Was?«

»Mädchen. Gelegentlich etwas Morphium und dergleichen. Wetten auch, glaube ich.«

»Bist du deswegen hier?«

»Nein. Ich bin verrückt nach einer Frau. Stell dir das vor, – sie ist fünfzig, aus Puerto Rico, katholisch und hat nur einen Fuß. Der andere ist ihr abgefahren worden. Sie hat ein Verhältnis mit einem Mexikaner. Der Mexikaner ist ein Pimp. Für fünf Dollar würde er sogar das Bett für uns machen. Aber sie will nicht. Absolut nicht. Sie glaubt, daß Gott aus einer Wolke zuschaue. Auch nachts. Ich habe ihr gesagt, Gott sei kurzsichtig; seit langem. Nichts zu machen. Aber sie nimmt Geld. Und verspricht. Und lacht dann. Und verspricht wieder. Was sagst du dazu? Bin ich deswegen nach Amerika gekommen? Es ist trostlos!«

Lachmann hatte einen Komplex, weil er hinkte. Nach seinen Erzählungen war er früher ein mächtiger Frauenjäger gewesen. Ein SS-Sturm, der davon gehört hatte, hatte ihn in Wilmersdorf in sein Sturmlokal geschleppt, um ihn zu kastrieren, war aber dabei von der Polizei – es war 1934 – gestört worden. Lachmann hatte nur ein paar Narben und ein viermal gebrochenes Bein davongetragen, das schlecht verheilt war. Seitdem hinkte er und bekam

»Du hast dich aber nicht geändert, Kurt«, sagte ich.

»Man ändert sich nie. Man schwört es sich tausendmal. Man tut es sorgsam manchmal, wenn man am Boden liegt. Aber kaum kann man wieder schnaufen, vergißt man es.« Lachmann schnaufte selbst. »Ist das eigentlich heldenhaft oder idiotisch?«

Ich bemerkte, daß dicke Schweißtropfen auf seiner faltigen, grauen Stirn standen. »Heldenhaft«, sagte ich. »In unserer Situation soll man sich nur mit den besten Adjektiven schmücken. Wer seine Seele zu sehr erforscht, stößt

»Du bist auch derselbe geblieben.« Lachmann-Merton wischte den Schweiß mit einem zerknüllten Taschentuch fort. »Immer noch die Lust an populärer Philosophie, was?«

»Ich kann’s nicht lassen. Es beruhigt mich.«

Lachmann grinste unvermittelt. »Es gibt dir ein Gefühl billiger Überlegenheit, das ist es.«

»Überlegenheit kann gar nicht billig genug sein.«

Lachmann klappte den Mund zu. »Ich soll reden«, seufzte er dann und holte aus der Seitentasche seiner Jacke ein in Seidenpapier eingewickeltes Päckchen hervor. »Ein Rosenkranz«, sagte er. »Vom Papst persönlich geweiht. Echt Silber und Elfenbein. Glaubst du, das könnte sie weich machen?«

»Von welchem Papst?«

»Pius! Von wem sonst?«

»Benedikt XV. wäre besser gewesen.«

»Was?« Er sah mich irritiert an. »Der ist doch tot. Warum?«

»Er hätte mehr Überlegenheit gehabt. Tote haben mehr. Und nicht so billige.«

»Ach so! Auch ein Witzbold! Ich hatte das vergessen. Das letztemal, als ich dich –«

»Halt!« sagte ich.

»Was?«

»Halt, Kurt. Weiter nichts!«

»Na schön.« Lachmann zögerte einen Augenblick. Dann siegte sein Mitteilungsbedürfnis. Er wickelte ein hellblaues Seidenpapier aus. »Ein kleines Stück aus Gethsemane; von

»Sicher. Hast du keine Flasche Jordanwasser?«

»Nein, habe ich nicht.«

»Füll eine ab.«

»Was?«

»Füll eine ab. Draußen ist ein Hahn. Tu etwas Staub hinein, damit es echter aussieht. Niemand kann es kontrollieren. Du hast schon beglaubigte Rosenkränze und Ölbaumzweige, – da darf Jordanwasser nicht fehlen.«

»Aber doch nicht in einer Wodkaflasche!«

»Warum nicht? Wasch das Etikett ab. Die Flasche sieht sehr orientalisch aus. Deine Puertoricanerin trinkt sicher keinen Wodka. Höchstens Rum.«

»Whisky. Da staunt man, was?«

»Nein.«

Lachmann dachte nach. »Man müßte die Flasche versiegeln; dann sähe sie echter aus. Hast du Siegellack?«

»Was sonst noch? Visa und Pässe? Woher soll ich Siegellack haben?«

»Man hat manchmal die sonderbarsten Sachen bei sich. Ich habe jahrelang eine Kaninchenpfote –«

»Vielleicht hat Meukow welchen.«

»Klar. Er versiegelt doch andauernd Päckchen. Daß ich nicht daran gedacht habe!«

Lachmann hinkte hinaus.

 

Ich lehnte mich zurück. Es war ganz dunkel geworden. Schatten und Gespenster stürzten durch die helle Tür nach

Ich drehte mich um und knipste das Licht an. Es hatte Jahre gedauert, bevor ich ohne Licht schlafen konnte; und wenn ich es mußte, war ich aus scheußlichen Träumen aufgeschreckt. Noch jetzt tat ich es ungern und ich schlief auch nicht gerne allein.

Ich stand auf und ging hinaus. Lachmann stand mit Meukow an der kleinen Theke am Eingang. »Es klappt«, sagte er triumphierend. »Schau es dir an! Wladimir hat eine russische Münze, damit siegeln wir den Korken zu. Kyrillische Schriftzeichen! Wenn das nicht aussieht, als hätten es die griechischen Väter in einem Kloster am Jordan abgefüllt!«

Ich sah den Siegellack auf den Korken tropfen, hellrot im Licht der Kerze, die auf dem Holz daneben stand. Was ist mit mir los? dachte ich. Es ist doch alles vorbei! Ich bin

»Ich gehe noch etwas raus«, sagte ich, »habe den Kopf zu voll von Vokabeln! Muß ihn mir leer schütteln. Servus!«

 

Die Straße empfing mich mit dem tröstlichen Lärm des Abends. Ein paar Schritte vom Hotel entfernt waren zwei Autos miteinander verhakt, ein Taxi und ein Privatwagen. Der Taxichauffeur stand vor seinem Wagen und kratzte sich den Kopf. »Listen, Lady«, sagte er.

Er kam nicht weiter. »Sie Holzkopf!« sagte eine sehr mütterliche und freundlich aussehende ältere Frau leise aus ihrem Fenster heraus. »Schlafen Sie am hellen Tag? Lassen Sie sich Ihr Lehrgeld wiedergeben, Sie verkümmerter Hummer! Rast mit seiner Ruine in meinen neuen Chevrolet rein! Sie –«

»Listen, Lady, Sie haben –«

»Widersprechen Sie mir nicht, Sie Lügner! Jeder hat es gesehen! Sie sind schuld! Sie allein! Sie –«

»Aber meine Dame –«

»Seht ihr! Schon lügt er! Typisch! Sie –«

»Aber meine Dame –«

»Den Kotflügel hat er mir eingebeult, der Esel! Blind wie eine Fledermaus, wahrscheinlich schon betrun–«

»Aber meine Dame, Sie –«

»Reden Sie nicht! Versuchen Sie nicht –«

Das mütterliche und freundliche Gesicht veränderte sich kaum. Hätte ich die Szene vor vier Wochen beobachtet, so hätte ich geglaubt, es handle sich um ein harm

»Aber Lady«, kam der Chauffeur endlich durch. »Sie sind ja auf der linken Seite! Ganz links!«

»Und? Was hat das damit zu tun, daß Sie nicht fahren können! Heißt das, daß Sie nicht aufpassen müssen? Fangen Sie nicht mit diesen sinnlosen Beschuldigungen an! Sehen Sie lieber an, was Sie angestellt haben! Den ganzen Kotflügel eingedrückt haben Sie mir!«

»Sie sind doch versichert«, sagte jemand von der Seite her. »Die Versicherung zahlt doch!«

»Und meine Tochter? Das ist der Wagen meiner Tochter!«

Ich ging weiter. Die mütterliche Frau war im Unrecht, das konnte jeder sehen. Plötzlich lösten sich die Wagen voneinander. Ein paar Chauffeure hatten sie angehoben und die Stoßstangen getrennt. Der Taxichauffeur holte einen Block Papier von seinem Wagen. Die Frau hielt inne, neigte leicht den Kopf, zwitscherte »Vielen Dank!« und fuhr rasch an.

»He, Lady«, rief der Taxichauffeur. »Ihre Nummer –«

Er kam zu spät. Der Chevrolet war bereits verschwunden. »Hat sich jemand die Nummer gemerkt?« fragte er, einen Bleistiftstummel in der Hand. »Jemand muß sich doch die Nummer gemerkt haben. Ich muß es sonst selbst bezahlen!«

 

Meukow hatte seinen Dienst angetreten, als ich zurückkam. Er war alles mögliche zu gleicher Zeit; manchmal Tagesportier, manchmal Nachtportier und zwischendurch auch noch Vertreter für kleinere Aushilfsstellungen. Im Augenblick war er für eine Woche Nachtportier.

»Wo ist Lachmann?« fragte ich.

»Oben bei seiner Angebeteten.«

»Glaubst du, daß er heute Glück haben wird?«

»Nein. Sie wird ihn mit dem Mexikaner zum Essen nehmen. Er darf bezahlen. War er immer so?«

»Ja. Er hatte nur mehr Glück. Seine Vorliebe für Krüppel und Mißgestaltete hat er erst, seitdem er hinkt, behauptet er. Früher sei er normal gewesen. Vielleicht stimmt es, vielleicht hat er eine so zarte Seele, daß er sich vor schönen Frauen schämen würde. Wer weiß das! Wir haben gewisse Schablonenbegriffe, die wir übernehmen, ohne sie je zu kontrollieren. Zum Beispiel, daß eine empfindsame Seele sich nicht mit einem robusten Sex verträgt.«

Meukows Gesicht hatte plötzlich eine Menge Falten; wenn er vergnügt war, wurden seine Augen kleiner und seine Ohren größer und spitzer. »Es gibt schlimmere Kombinationen.«

»Ich weiß. Die von Himmler, der Angorakaninchen

»Oder die vom heimatlosen Russen, der Kellner oder Taxichauffeur ist und abends zur Balalaika mit Wodka sein elendes Leben verflucht.«

Ich lachte. »Sind die Russen der Emigration eigentlich oft erfolgreiche Geschäftsleute geworden?«

»Nein. Sie hatten es auch nicht gelernt. Eine Anzahl hat erfolgreich geheiratet, – die mit Titeln und andere, die vorgaben, welche zu haben. Einige sind Hotel-Manager geworden, nicht viele. Die meisten schlagen sich schlecht und recht durch und werden alt. Viele sind tot.«

»Das spricht eigentlich für die Russen.«

»Was? Daß sie gestorben sind?«

»Daß sie keine Geschäftsleute sind.«

Meukow stellte die Figuren auf. »Es ist gleichgültig«, sagte er. »Du glaubst nicht, wie gleichgültig vieles ist, wenn man alt wird.«

»Wie lange bist du schon hier?«

»Zwanzig Jahre.«

Ich sah einen Schatten durch die Tür kommen. Es war eine schmale, ziemlich große Frau mit einem kleinen Gesicht. Sie war blaß, hatte dunkelblonde Haare, die wirkten, als wären sie gefärbt, und graue Augen. Meukow stand auf. »Natascha Petrowna«, sagte er, »seit wann sind Sie zurück?«

»Seit zwei Wochen.«

Ich war aufgestanden. Die Frau war fast so groß wie ich. Sie trug ein enganliegendes Kostüm und schien sehr

»Einen Wodka. Aber nur einen Zentimeter. Ich muß weiter. Photographieren.«

»So spät noch?«

»Den ganzen Abend. Der Photograph ist nur abends frei. Kleider und Hüte. Kleine Hüte. Winzige.«

Ich sah erst jetzt, daß Natascha Petrowna selbst einen Hut trug; es war eher eine Kappe, ein schwarzes Nichts, das schief in ihrem Haar saß.

Meukow ging die Flasche holen. »Sie sind kein Amerikaner?« fragte das Mädchen.

»Nein. Deutscher.«

»Ich hasse die Deutschen!«

»Ich auch«, erwiderte ich.