Maxime Corton kommt aus Wien mit dem Zug in der Pariser Gare de l’Est an, findet ein Hotel und zieht bald wieder los für einen Gang durch die Stadt. Der Mann, Ende zwanzig, ist offensichtlich ohne Familie und auch ohne Job. In einer Brasserie lernt er die junge Madeleine kennen, eine Prostituierte. Sie nimmt ihn mit, doch mitten in der Nacht verlässt er sie, weil er allein sein will. Anderntags beschließt er, seinen alten Freund Andé Blutel zu treffen. Dieser hat ohnehin ein paar Freunde zu sich eingeladen. Maxime verspricht sich einiges von dem Treffen, will er doch seinem Leben einen neue Richtung geben.
»Ein Abend bei André Blutel« von 1927 ist, nach »Meine Freunde« und »Armand«, der dritte Roman Boves unter eigenem Namen und womöglich der auffälligste in seinem Gesamtwerk. Er sticht heraus aus seinem Werk, weil er sich partout in kein Schema pressen lassen will.
Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de
1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.
Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.
Thomas Laux ist Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen. Er lebt in Düsseldorf.
Roman
Aus dem Französischen
und mit einem Nachwort von Thomas Laux
Edition diá
Gegen zwanzig Uhr passierte der Schnellzug, der in Straßburg mittags um zwölf losgefahren war, Château-Thierry, wo Reisende in der Nähe des Güterbahnhofs auf einen Personenzug warteten. Maxime Corton belegte einen der acht Sitzplätze eines Abteils der dritten Klasse.
Zum ersten Mal probierte eine Polin das französische Brot, von dem sie schon 1916 gehört hatte. Durch Vermittlung eines Konsuls, den all seine Bekanntschaften wegen Domestiken aufsuchten, hatte sie einen Platz als Haushälterin in einer Familie erhalten. Sie erkundigte sich bei Maxime, wo sich die Avenue de La Bourdonnais befand. Sie unterschlug dabei die Adresse, versuchte gar, sie zu vergessen, um nicht lügen zu müssen, sollte er danach fragen. Wie alle einfachen Leute fürchtete sie, die Wahrheit zu verschweigen. Es schien ihr, dass, sollte sie aufgedeckt werden, ihre Verwandten oder ihre Vorgesetzten ihr nicht mehr das mindeste Vertrauen entgegenbrächten. Unaufhörlich hatte sie ein Auge auf sich, so wie diese Vorzeigeangestellten, die danach streben, niemals, und sei es auch nur ein einziges Mal, einen Diebstahl zu begehen, wären doch damit, genau wenn man sie erwischte, all ihre Bemühungen, all die Jahre der Aufopferung und der Treue, verloren gewesen. Sie hatte Angst, in flagranti bei einer Lüge ertappt zu werden. Wenn sie etwas verheimlichen wollte, gab sie sich treuherzig. Und so hielten ihre Freundinnen, die besser als irgendjemand sonst in der Position waren, sie zu kennen – schließlich ähnelten sie ihr –, sie für eine Heuchlerin. Als sie erfuhr, dass sich die Avenue de La Bourdonnais unweit des Eiffelturms befand, glaubte sie, dass sie bald mitten in Paris wohnen würde, in der Nähe der bedeutendsten Metrostation, dass die Busse und die Lichter sie am Schlafen hindern würden, und sie konnte vor Vorfreude kaum an sich halten.
In Commercy war nach einer Busfahrt nach Verdun ein Deutscher zugestiegen, der die drei wichtigsten Sprachen sprach, mit denen die ganze Welt bereist werden kann: Deutsch, Englisch, Französisch. Quer über seiner Mutter liegend, schlief ein Kind. Wenn sie sich bewegte oder das Kind zur anderen Seite legte, so schlief es weiter, obwohl sein Kopf hinabhing und seine Beine hin- und herbaumelten. Die Hitze war erdrückend. Die Frauen hatten den Männern erlaubt zu rauchen. Ab und zu erhob sich der Reisende, der den Temperaturreglern am nächsten saß, und justierte sie neu. Dann wartete er ein paar Minuten. Weil er die Regler mehrfach verschoben hatte, wusste er nicht mehr, ob die Heizung an- oder ausgestellt war. Dann taten es seine Nachbarn ihm nach. Sie stürzten sich auf alles, was irgendwie neu eingestellt werden konnte: den Lampenschirm, die Vorhänge, die Fensterscheiben, wobei deren dreilöchrige Gurte nur ein begrenztes Spiel zuließen. Manchmal trat ein Mann mit einem Handtuch über der Schulter – wie ein Soldat, der zur Dusche unterwegs ist – hinaus in den Gang, der vollgepfropft war mit Urlaubern und Reisenden, die in den Anschlussbahnhöfen zugestiegen waren und die mangels Sitzplätzen die Ecken an den Rändern des Faltenbalgs im Auge behielten. Einige von denen, die ein ganzes Abteil in Beschlag genommen hatten, waren mit Pantoffeln beschuht, andere hatten Mützen auf. Pakete, Koffer, mit Fahrradschlössern versehene Weideköfferchen verstopften die Netze oder waren den Beinen unter den Bänken im Weg. Ein für alle Mal hatten die Reisenden entschieden, den Bereich ihres Gepäcks nicht mehr einzeln festzulegen und es zu akzeptieren, wenn etwas durcheinandergeriet. Sie beschwerten sich nicht mehr, wenn man etwas umstellte. Sie hatten lediglich ein Auge darauf, dass keines der Gepäckstücke das Abteil verließ, mochte es einem selbst gar nicht gehören. Oftmals kam es vor, dass Gespräche stockten und die Leute vergaßen, dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersaßen. Sie kannten sich plötzlich nicht mehr. Sie fanden auf einmal zu unerwarteten Selbstbeschäftigungen zurück, verbesserten ihre Sitzposition. Durch ihr Schweigen sollte das Provisorische ihrer Beziehung unterstrichen werden, was bei der Ankunft einen leichten Abschied ermöglichte. Sie fürchteten diese Ankünfte in den Zielbahnhöfen in Begleitung neu gewonnener Freunde, die sich womöglich gar nicht als echte Freunde herausstellen sollten. Doch gab es andererseits auch solche, die sich auf der Stelle sympathisch waren, die, plötzlich einem monotonen Leben entrissen, undeutlich neue Horizonte aufscheinen sahen, womöglich neue berufliche Stellungen, ein finanzielles Vermögen, und das alles dank dieser Unbekannten, die die Reise ihnen an die Seite gesetzt hatte. Fragen zogen keine Antworten nach sich und erbrachten lediglich neue Fragen. »Sie sind wohl nach Paris unterwegs?« – »Sie vermutlich auch?« – »In Geschäftsdingen?« – »Ja und nein.« Und die offen dargelegten Berufe schufen entweder Hoffnungen oder Enttäuschungen. Man achtete darauf, von seinen Problemen nichts offen zu zeigen. Angesichts so vieler gelassen erscheinender Menschen fühlten sich Nichteingeweihte verloren. Sie hörten, ohne daran teilzunehmen, den einsetzenden Gesprächen zu, die sich etwa um den Arbeitsplatz eines Kontrolleurs drehten, den korpulente Männer nicht hätten besetzen können; um bestimmte Frauen, die dreimal pro Woche die Strecke abfuhren mit dem Ziel, auf einen wohlhabenden Mann zu stoßen, was dazu führte, dass andere sagten, es gäbe auch solche, die sich diesbezüglich auf Fahrten über den Atlantik spezialisiert hätten; dann ging es um Ratten im Zug; um das Risiko der Notbremse, die Mördern zugutekäme – denn ist ihre Tat einmal vollbracht, bräuchten sie nur an ihr zu ziehen und darauf zu warten, dass der Zug seine Fahrt verlangsamte, damit sie sich aus dem Staub machen könnten; dann um die Landstreicher, die sich unter den Waggons festkrallten; um die Verantwortung der Weichensteller; um die Anzahl der Kilos, auf die der Reisende ein Recht habe, ohne draufzahlen zu müssen. Vor einer Eisenbahngesellschaft einen Anspruch geltend zu machen wie vor der Armee ließ Leute auf den Plan treten, die sich in dieser Hinsicht in allen Details auskannten. Sie wussten, dass im Falle eines Unfalls, selbst wenn sie persönlich nicht in Mitleidenschaft gezogen worden waren, sie über innere Schmerzen klagen konnten, dass der Zug, wenn er an einer Bahnhofsgaststätte gehalten hatte und ganz ohne sie weitergefahren war, sie in das Büro des Bahnhofsvorstehers telegraphieren und den nachfolgenden Zug besteigen konnten, und dass sie in die zweite Klasse wechseln durften, wenn die Waggons der dritten ausgebucht waren.
Der Zug passierte Noisy-le-Sec. All diese Leute mit ihrem kurzzeitig gleich getakteten Schicksal, so als hätten sie sich auf Straßen mit Landengen befunden, die allesamt meinten, es sei eine gute Wahl gewesen, sich dieses eine Abteil auszusuchen, da sie ansonsten ja nicht die gleichen Nachbarn gehabt hätten, begriffen im selben Moment, dass sie bald ans Ziel gelangen würden. Einige erhoben sich. Andere nahmen ihr Gepäck in Augenschein. Maxime Corton zog seinen Mantel an, den er, um ihn auf das Netz zu legen, wie einen Soldatenmantel zusammengefaltet hatte. Was im Übrigen eine seiner Angewohnheiten war. Auch im Theater oder im Café faltete er seinen Mantel, bevor er ihn an der Garderobe abgab. Er trat nun hinaus in den Gang, von wo aus gerade die interessanteste Seite der Vorstadt sich zeigte. Während des Krieges hatte er diese Reise hundert Mal gemacht, selbst wenn er nur vierundzwanzig Stunden Zeit zur Verfügung gehabt hatte, und bei der Rückfahrt nahm er einen der drei Züge, die hintereinander um 21:45, 21:50 und 21:55 Uhr abfuhren. Ab dem Steuerungsbahnhof von Vaire-Torcy kannte er die Stationen auswendig. Er schaute nach den ersten Bussen auf der Place de la Villette. Die Trambahnen von Villemomble – was für ihn lange Zeit Villemonde hieß – gaben ihm einen Vorgeschmack auf die Bahnverbindungen in der Pariser Region. Gleise und Telegraphendrähte begannen sich zu kreuzen und verloren sich dann in unterschiedlichen Weiten. Die Kräne mit ihrem Neigungswinkel von 45 Grad sahen nicht mehr aus wie einfache Kräne. Sie bewegten sich auf Parallelschienen, rollten in alle Richtungen, und ähnlich jenen perfekt nachgebildeten Händen aus Holz, deren Finger allesamt über gelenkige Glieder verfügen, ähnelten sie weitestgehend der Bewegung eines Riesen. Ein besonderes Regelwerk lag über dem Gebiet um die Pariser Gasometer. Maxime dachte an den immensen Aufwand, den es bedeutete, all diese Eisengerippe zu warten, die Träger und die zahllosen Schrauben zu kontrollieren. Zementpfosten, ähnlich jenen, die ihm in Deutschland aufgefallen waren, festigten in ihm das Gefühl eines Patrioten, der dem Modernismus zugeneigt ist und es ständig bedauern muss, dass Frankreich sich gegenüber anderen Ländern im Rückstand befindet. Er erblickte die Fabrik von Amer Picon. Als Kind hatte er sich die berühmten Produkte nicht vorstellen können, die aus einigen ähnlich kleinen und tristen Fabriken kamen wie jene aus den Randgebieten seiner eigenen Stadt. Für ihn waren sie von einem schönen, heiteren Leben erfüllt, vergleichbar und genauso groß wie auf den Graphiken der Prospekte, wo sie abgebildet waren. Wie an jenem Kriegstag, an dem er in einem Hotel in Bar-le-Duc einem der Amieux-Brüder begegnet war, verspürte er beim Anblick dieser Fabrikgebäude jedes Mal dieselbe Enttäuschung. Der Werbung auf dem Lande, für die ein Gremium stritt, folgte derzeit die für die Pariser Region. Bislang waren es nur Schilder aus Weißblech, die zwar genauso wie Leuchtschilder aussahen, sich aber nur im Schein anderer Lichtquellen aufhellten, so wie die Wandschränke eines Hutmachers am Boulevard Sébastopol. Der Zug verlangsamte seine Fahrt. Auch die Warenlager des Kaufhauses Samaritaine waren kleiner, als Maxime gedacht hatte. Während anfangs lediglich die Kilometersteine zu lesen waren, konnte man der Zugfahrt derzeit in Hundert-Meter-Abständen folgen. Ein riesiges, namenloses Warenhaus war im Besitz dieser Gleise, was einen an den Vertrag denken ließ, der sie mit der Eisenbahngesellschaft Compagnie de l’Est verband. Sie waren mit der Fernstrecke verknüpft. Das wirkte so unüblich, als wenn eine Privatperson einen Kanal oder einen Boulevard gemietet hätte. Der untere Teil der senkrecht verlaufenden Reklame am Eiffelturm war verdeckt. Dieser erschien klein im Vergleich zu all diesen Eiffeltürmen, die auf den Stadtkarten auftauchen, wo die Pariser Monumente in ihrer natürlichen Größe wiedergegeben sind.
Der Zug fuhr an den Befestigungsanlagen vorbei, die die Bewohner von Belfort und Verdun eher zum Schmunzeln gebracht hätten. Obwohl man sich nunmehr mitten in der Stadt befand, gab es gleichwohl noch offenes Gelände, Böschungen, ein Haus in einem Garten. Zwischen zwei hohen, glatten und dunklen Mauern, die wie Deiche geneigt waren und auf denen sich drei- bis achtstöckige Mehrfamilienhäuser erhoben, musste Maxime an unmögliche Fluchten denken, an das Erklimmen von Wänden mit bloßen Fingern, an herabgelassene Seile, die sich nirgendwo verfangen konnten, an Gefängnisse, die er sich schon als Kind ausgedacht hatte und in denen alle Vorkehrungen getroffen worden waren, damit es zu keinem Ausbruch kommen konnte. Ein Stück weiter ließ ihn eine von einer Hecke verdeckte Öffnung an die geäußerten Erinnerungen einiger Soldaten zurückdenken. Das war der Ort, wo die nicht regulär beurlaubten Soldaten, also die, die keinen rosafarbenen Urlaubsschein aufweisen konnten und die sich eine Koppel hatten ausleihen müssen, um in die Provinz zu gelangen, hinaus auf den Schotter sprangen – und zwar bis ins Jahr 1917, dem Jahr, als für den Pariser Platz eine Angriffswarnung ausgegeben wurde. In einem Tunnel, an der Stelle der Katastrophe von 1921, stoppte der Zug, damit es nicht zum zweiten Mal an derselben Stelle zu einem Unfall kam. Bei Wiedereintritt ins Tageslicht, so als habe eine Minute Dunkelheit gereicht, begann eine andere Stadt, in der die Mechanik präziser, die Häuser bewohnt, die Cafés belebt waren. Die Weichensteller in ihren schwebenden Stellwerken dachten bereits an den folgenden Zug. Brücken ohne Stützpfeiler waren, so hieß es allgemein, Meisterwerke der Architektur. Ohne es sich zu erklären, warum, spürten alle, dass die ineinander gekreuzten Eisenträger umso solider waren, wie sie es zuwege brachten, ein größeres Gewicht zu halten.
Der Zug hatte momentan die letzten Leuchtsignale passiert, die einen in Erstaunen versetzten, schien das Funktionieren eines solchen Organismus sich doch nicht dem Spiel von Farben beugen zu wollen. Der Zug musste nun nur noch einen Meter vor dem letzten Prellbock zum Stehen kommen. Er rollte sanft aus. Auf dem Bahnsteig wartete eine Menge, in deren Mitte sich einige Polizisten in Zivilkleidung befanden.
Maxime Corton kehrte nach Paris zurück, um dort in Ruhe zu leben, um darauf zu warten, dass seine abenteuerliche und von bitteren Erinnerungen erfüllte Vergangenheit sich mit der Zeit änderte und ihm einen Grund lieferte, stolz zu sein. Bereits die Vorstadt war ihm vertraut erschienen. Er war mit einer einzigen Zugverbindung angekommen, eine, die parallel zu so vielen anderen verlief, während er, seiner Phantasie zufolge, wie ein Fluss nach Paris hätte hineinfließen müssen. Die einzelnen Bahnhöfe waren reihenweise aufeinandergefolgt, er hatte sie sich nicht merken können. Einen von ihnen hatte er gar so vollständig vergessen, dass er spürte, dass, würde er ihn nicht mehr wiedersehen und erschiene sein Name nie wieder vor seinen Augen, er auch für immer fort wäre. Schon waren Straßen wieder aufgetaucht, die vormals auch in seiner Erinnerung existiert hatten. Sie waren zwar nicht kleiner als die seiner Kindheit, aber anders. Trambahnen fuhren dort, wo Straßen sich menschenleer zeigten. Die Brücken besaßen längst vergessene Resonanzen. Alles war durch Farben und Geräusche aufgehellt, während in seiner Erinnerung es immer derselbe Passant war, der demselben Gehsteig folgte, derselbe Kutscher, der demselben Wagen entstieg und den man allmählich aus dem Auge verlor. Schon waren die ersten wahrgenommenen Personen nicht mehr dieselben. Sie waren nunmehr bestimmt durch ihre Berufe, ihre sozialen Klassen. Es war ein Maurer, der auf der Terrasse eines Restaurants zu Abend gegessen hatte. Es war ein Bäcker, der seinen Laden abgeschlossen, ein Autofahrer, der angehalten hatte.
Beim Gehen erinnerte sich Maxime, dass er während des Krieges rechts zur Seite abbog, um entweder über die Bahnhofsgaststätte oder, aus Wichtigtuerei, über den Haupteingang hinauszugelangen. Die Halle war voller Lärm. Mattes Licht schien auf ihre einsamsten Stellen, weil die Architekten bei ihrer Planung nicht mitbedacht hatten, wo die Menschen sich ansammeln würden. Dementsprechend gibt es mechanische Konstruktionen, Hotels, Metrolinien, bei denen, obwohl sie jahrelang überprüft werden, bereits nach sechs Monaten Nutzung Fehler auftauchen, Nachlässigkeiten, die, wenn sie der Erfahrung dienlich sind, in künftigen Vorhaben anderswo sich nicht mehr wiederholen. Man wusste bereits nicht mehr, wer hier Reisender gewesen war. Maxime trug einen Koffer aus verchromter Pappe, der beim Anfassen sich wie Leder anfühlte. Er ging an den Zollbeamten vorbei, die, um ein Exempel zu statuieren, sich gerade einen Reisenden vorgeknöpft hatten. In den Automaten gab es bereits wieder Schokolade. Die innere Mechanik war jetzt allerdings eine andere. Nun musste man drei Nickelmünzen einwerfen, bevor man die Lade ziehen konnte. So waren die Automaten, obwohl neu angestrichen, schon nicht mehr auf der Höhe der Zeit, denn ein einziges Geldstück hätte dank einer neuen Währung ausreichen müssen, um sie zu aktivieren. Nur die Personenwaagen mit ihrem Schlitz für die 10-Centime-Stücke, zu hoch angebracht, als dass Kinder – wegen der unterschwelligen Angst vor ihren Streichen – sich ganz allein wiegen konnten (sodass eigentlich alles, was durch einfaches Drücken dazu dient, etwas aufzurufen oder anzuzeigen oder gewarnt zu werden, auf Erwachsenenhöhe angebracht ist), nur diese Waagen funktionierten weiterhin so wie vor dem Krieg, auf denen jeder sein Gewicht ablesen konnte und sich wog, um sich abzulenken, und das sogar nach den Mahlzeiten. Gespänne von Gepäckkarren schlängelten sich quer über die Bahnsteige. Ein Dutzend Personen begleitete einen Freund bei seiner Abreise. Inmitten der Menschenmenge fürchteten sie, sich zu verlieren. Sich bei den Händen zu halten hätte den Bewegungsfluss allerdings gestört. Sie erkannten sich am jeweiligen Hut, warteten aufeinander, riefen sich beim Namen. Die Menge antwortete darauf mit irgendetwas. Sie hinderte sie daran, voranzukommen, legte es anscheinend darauf an, sie zu trennen. »Das kann nur ein freudiger Aufbruch sein nach irgendeinem Fest, nach irgendeinem Sieg« war wohl der Gedanke. Und dann waren da sogar zwei Spaßvögel, die versuchten, die Gruppe zu umarmen und rührende Abschiedsszenen vorzuspielen. Maxime blickte sich nach der Mädchenaufseherin um. Die Büros der Eisenbahngesellschaft mit ihren leeren Schlafsälen sollten im Dachgeschoss liegen, das noch ein Stock höher war als jenes, in dem das Modell zum Ausbau der Gare de l'Est in aller Ruhe Gestalt annahm, gleich neben anderen Schutzeinrichtungen, wo man sich um jene Kinder kümmerte, die ihre Eltern auf der Reise verloren hatten, oder wohin man mittellose Menschen brachte, gleich neben dem Speicher, wo nach offiziellen Empfängen die roten Teppiche und die Grünpflanzen untergebracht wurden. Irgendwo hier musste es auch einen schmucklosen Saal geben, in dem so etwas wie ein Musterungsausschuss für jene Eisenbahnanwärter tagte, die ihren Militärdienst geleistet hatten und in dessen Verlauf sie bereits für ihre spätere Tätigkeit auserkoren worden waren. Die schönen Tage des Sonderkommissariats waren vorbei. Händlern in der Nachbarschaft des Bahnhofs wurde es erlaubt, ein Emailleschild auf einer Mauer anzubringen, deren Platz sie sich gerechter aufteilten als einen Theatervorhang, ein jeder besaß ein Viereck derselben Größe. So wie die großen Geschäfte den kleinen Erfindern den Auftrag als Erste erteilen, genauso testete die Stadt Paris oder die Präfektur Innovationen in Bahnhöfen, auf Rennbahnen oder an der Kreuzung der Oper. So stand mitten in der Bahnhofshalle ein perfektionierter Brandmelder, einer ohne einzuschlagendes Schutzglas, der bald jene alten Straßenmelder nach deren letzten Gebrauch ersetzen sollte.
Maxime überquerte den Vorplatz. Schilder zeigten an, durch welche Türen die in der Vorwoche Einberufenen einzutreten hatten. Die große Bahnhofsuhr ging eine Minute vor, um denen, die zu spät kamen, es zu ermöglichen, ihren Zug noch zu erreichen. Maxime sah sich nach einem Hotel um. Die Hotels auf dem Platz lagen eng nebeneinander und lockten die Reisenden, indem sie sie an durchquerte Städte erinnerten: Hotel Strasbourg, Hotel Nancy, was die Straßburger glauben ließ, dass sie den Hotelbesitzer eventuell kannten, oder auch durch einen Hinweis auf irgendeine Erholung: Est-Hotel, Hotel de la Gare de l’Est, Hotel des 2-Gares, die 2 als Ziffer aufgrund eines vagen Geschmacks für Modernität. Genau letzteres betrat Maxime. Das Schild des Touring-Clubs war dort auf einer Wand angebracht, ebenso, und zwar ausnahmslos, alle erdenklichen Vorschriften. Im Eingang standen Schaukelstühle und Pflanzen, ein Reisender aus der vorderen Zugklasse bat bereits um ein Zimmer.
Maxime füllte den Anmeldezettel aus, ließ seinen Koffer im Hotelbüro stehen und ging wieder hinaus, um etwas zu sich zu nehmen. Er ging den Boulevard de Strasbourg hinunter, wo Straßenmädchen, denen es untersagt war, sich im Umkreis des Bahnhofs aufzuhalten, mittlerweile dazu übergingen, die Passanten anzureden. Sie standen in einem Abstand von zwanzig Metern voneinander entfernt, direkt vor dem Gehsteig, so wie Bettler oder Straßenverkäufer. Ehegatten wiesen ihre Frauen auf sie hin.
– Da, siehst du die da? Wäre ich allein hier, würde die mich ansprechen.
– Und was würdest du ihr sagen?
– Ich würde gar nichts sagen. Ich würde wortlos weitergehen.
– Und bist du noch nie stehen geblieben?
– Einmal vielleicht.
Einige Geschäfte hatten geöffnet: eine Metzgerei, eine Bäckerei, wo ein und dieselben Leute in dem einen Laden Schinken, im anderen Brötchen kauften. Ein Geschäft für Herrenwäsche, bereits geschlossen, war hell erleuchtet, so als ob es noch auf wäre. An der Ecke der Rue du Château-d’Eau war kein Eisengitter vor dem Schaufenster eines Geschäfts für Fahrräder und Autoteile. Im Halbdunkel erkannte man auf einem Podium, im flüchtigen Lichtflimmern der Straße, nagelneue Fahrräder, die ganz von alleine standen.
Maxime betrat eine Brasserie, in die in den Pausen die Zuschauer der benachbarten Theater einkehrten und in deren Hinterraum sich sechs Billardtische befanden. Ein armer Schlucker verkaufte ihm eine Abendzeitung, die er wohl vom Boden aufgelesen und wieder zusammengefaltet hatte. Vermischte Nachrichten, Politik, Sportmeldungen fanden da ihren Platz. Doch nirgendwo konnte Maxime auf eine Information stoßen, die etwas mit seiner Reise zu tun gehabt hätte, eine, die auf die durchquerten Städte Bezug nahm oder auf die Gare de l’Est. Niemand in diesen ganzen Landstrichen hatte irgendetwas gestohlen, niemand hatte in all diesen Städten, die er durch das Waggonfenster gesehen hatte, irgendjemanden getötet. Kein schweres Unglück war geschehen. Die Zwischenfälle in den Bahnhöfen, über deren Ausgang er aufgrund der Weiterfahrt des Zuges nichts wissen konnte, waren also letztlich ohne Bedeutung gewesen. Maxime verspürte dasselbe Befremden, wie wenn Zeitungen kein Wort über die ländlichen Festveranstaltungen verlieren, über ausbrechende Brände, über Kollisionen, bei denen er dabei gewesen war. Und die Stadt erschien ihm größer, wimmelnder vor lauter Leben, so als ob die Welt, die er gerade noch durchfahren hatte, gar nicht mehr existiert hätte. Aus einem Untergeschoss, das in einen Wintergarten verwandelt worden war, erhob sich Gelächter. Die Kellner trugen, anders als in den ländlichen Ausschänken, keine blauen Schürzen und sägten auch kein Holz mehr. Sie gehörten jetzt einer Zunft an. Sie bildeten eine von tausend Gruppierungen einer Stadt. Jeder war Teil einer Gruppe, selbst die Kassiererin, die ganz allein da saß. Durch gläserne Spione konnte man in das Innere dreier Telefonkabinen blicken, die es beim Auf- und Zugehen der Türen mitunter ungünstig erhellten. Binnen einer Minute hinterließen Männer dort eine Wolke aus Rauch und angewärmte Telefonhörer, Frauen hingegen den Geruch von Parfum sowie offene Telefonbücher, die zu schwer für sie waren. Die Frauen waren zahlreich im Raum, saßen so, dass sie möglichst weit voneinander entfernt waren, denn auf diese Weise konnte jede von ihnen ja bloß eine Passantin sein. Eine von ihnen saß an Maximes Nachbartisch. Sie hatte ihren Hut abgelegt. Ab und zu wandte sie sich um, um sich im Spiegel hinter ihr zu betrachten. Als wäre sie allein gewesen, überprüfte sie einige Augenblicke lang einen kleinen Flecken auf ihrem Gesicht, berührte ihn, drückte ihn, damit er seine Farbe wechselte, und tat das mit einer solchen Hingabe, dass man eine gewisse Verunsicherung bei dem Gedanken verspürte, sie würde dieselbe Aufmerksamkeit wohl nicht auf die Männer verwenden, die sie mit auf ihr Zimmer nahm. Je mehr sie sich übergelaufene Kaffees bringen ließ, desto mehr trank sie sie nach vorn gebeugt, obschon ihre eigene Untertasse ganz trocken blieb. Ständig zog sie sich die Lippen rot nach, so als ob sie das Gefühl gehabt hätte, auf ihrem Mund noch Spuren des letztes Kusses zu tragen, und puderte sich mit einer Sorgfalt, die diese Straßenmädchen in dem Moment aufbringen, wenn sie zugleich vergessen und aufs Neue begehrenswert sein wollen. Diese inmitten allgemeiner Gleichgültigkeit jederzeit anzusprechende Frau verschaffte Maxime den Eindruck, dass die Stadt sich um ihn herum gerade maßlos ausbreitete, dass er sich genau an jenem Ort befand, wo es Männer eben nicht nach Frauen gelüstete, dass sie sie umgekehrt anderswo womöglich heftig begehrten. Er fühlte sich verloren. Es gab zu viele Männer, zu viele Frauen, um sie alle einzeln im Auge zu behalten.
Sie begannen ein Gespräch ohne einen Scheingrund, mit einer Frage, auf die sie so natürlich antwortete, dass Maxime einen Moment lang verdutzt war. Er wollte ihren Charakter so schnell wie möglich kennenlernen. Er fragte sie, ob sie ein sanfter Mensch sei. Ihm genügte eine grobe Skizze. Besonders wichtig war ihm, dass sie keinen Makel hatte. Wenig hingegen bedeutete ihm, ob sie intelligent oder dumm war. Er wollte nur sicherstellen, dass sie so war wie alle anderen, dass sie sich mehr oder weniger den allgemeinen Gepflogenheiten unterwarf, dass für sie ein Verbrechen ein Verbrechen war, und dass er nun nicht auf eine Frau stoßen würde, die gerade an diesem Abend dazu entschlossen war, sich an den Männern zu rächen.
– Ich komme, so wie Sie mich hier sehen, gerade aus Wien.