Für meine Eltern
Letzte Nacht hat jemand Dads Hose in einem weihnachtlich beleuchteten Baum gefunden. Der Fremde rief an und sagte: »Ich hab hier eine Hose? Die einem Howard Young gehört?«
»Ah, Scheiße«, sagte ich. Ich legte auf, um nachzusehen, ob Dad zu Hause war und eine Hose anhatte. War er, hatte er.
Gestern hatte ich, auf Moms Bitte hin, seinen Namen und unsere Telefonnummer mit Permanentmarker auf die Schilder all seiner Kleider geschrieben.
Offenbar hatte er die beschrifteten Kleidungsstücke aus Protest in die Bäume geworfen. In der gesamten Euclid Avenue hängen jetzt seine Hosen und Hemden von den Ästen. Die Bäume in der Innenstadt sind mit weihnachtlichen Lichterketten behängt, und dem Mann, der uns anrief, waren beim Vorbeifahren die beleuchteten Kleider aufgefallen.
Als ich sie am Morgen einsammeln will, entfernen gerade Arbeiter die Lichterketten aus den Bäumen und die Schmuckbögen von den Laternenpfosten. Einer bindet die Bögen los und wirft sie seinem Kollegen am Boden zu. All die großen, hellen, goldenen Bögen stapeln sich auf der Ladefläche eines riesigen Pick-up-Trucks, der auf dem Platz steht.
Auf demselben Platz sagt ein frustrierter Mann zu seinem Hund: »Warum machst du das?« Ein Baby in einem Kinderwagen trägt eine Sonnenbrille.
»Dad, meine ganze Arbeit …«, sage ich, als ich wieder zu Hause bin. Ich habe eine Hose, zwei Hemden und ein paar verknotete Krawatten eingesammelt.
»Das ist total unnötig«, sagt er wütend, als ich sie ihm zurückgebe.
Ich bin an Heiligabend angekommen. Ich verbringe Weihnachten zu Hause, wie es sich gehört. Es ist das erste Mal seit Langem. Unter normalen Umständen – den Umständen, die normal geworden waren – wäre ich bei Joel gewesen. Seine Mutter hätte Girlanden aus Popcorn gemacht und sein Vater hätte einen Stollen gebacken. Sein Zwillingsbruder hätte mich angebaggert. Im Badezimmer hätte eine neue No-Name-Zahnbürste mit einem Geschenkanhänger gelegen, und darauf mein Name in der Handschrift seiner Mutter gestanden: RUTH.
In diesem Jahr konnte ich nirgendwohin – nicht zu Joel und nicht nach Charleston –, also bin ich runtergefahren. Ich war die letzten drei oder vier Weihnachten nicht zu Hause. Von San Francisco, wo ich lebe, sind es nur sechs Stunden Fahrt. »Du entscheidest«, sagte Joel jedes Mal, doch ich entschied mich immer für Charleston. »Frohe Weihnachten«, wünschten wir meinen Eltern dann durchs Telefon.
Abgesehen davon, dass Linus nicht mehr da war, war alles wie immer. Mom hatte ihren größten Benjamini mit Lametta und Lichtern und mit dem Baumschmuck behängt, den wir als Kinder gebastelt hatten – gefärbte Makkaroni, die unsere alten Schulfotos umrahmten, uralte Erdnüsse, die ich als Schneemänner mit teilnahmslosen Mienen bemalt hatte. Sie hatte unsere Strümpfe über den Kamin gehängt, sogar Linus’. Als ich fragte, ob ich einen der Schneemänner knacken dürfe – um zu sehen, wie eine zwanzig Jahre alte Erdnuss aussah –, sagte Mom streng: »Wage es ja nicht.«
Am Weihnachtsmorgen holte Dad ein kleines, abgewetztes rotes Notizbuch hervor. Er erklärte mir, dass er es hatte, seit ich klein war. Es enthält Briefe an mich. Er hatte auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, sie mir zu zeigen, doch er hatte es vergessen – wer hätte das gedacht –, bis jetzt. Er hielt mir eine Seite aus dem Notizbuch hin:
Heute fragtest du mich, woher Metall kommt. Du fragtest, wonach Bazillen schmecken. Du warst traurig, weil du deine Handschuhe verloren hattest. Als ich dich bat, sie zu beschreiben, sagtest du: sie haben ungefähr die Form meiner Hände.
Dann klappte er das Notizbuch zu, ganz abrupt, und sagte, als sei er wütend, »Das reicht«.
Jetzt fragt mich Mom, ob ich nicht ein wenig bleiben könne, um ein Auge auf die Dinge zu haben.
Mit Dinge meint sie Dad, dessen Kopf nicht mehr das ist, was er mal war.
Das überrascht mich. So schlimm ist es noch nicht – Dad wirkt nicht verändert –, und außerdem hasst meine Mutter es, um etwas zu bitten.
»Nur das eine Jahr«, wiederholt Mom, weil ich keine Antwort herausbringe. »Überleg’s dir mal.«
Auf dem Weg ins Badezimmer höre ich meine Mutter rufen: »Nein, nein, nein! Du bist teuer!«, und damit meint sie eine Vitamintablette, die ihr hingefallen ist. Gingko, glaube ich.
Die ersten Dinge ereigneten sich vor rund einem Jahr: Dad vergaß seine Geldbörse, vergaß Gesichter, vergaß, den Wasserhahn zuzudrehen. Dann knallte er plötzlich irgendwo gegen und fühlte sich sogar dann müde, wenn er die ganze Nacht geschlafen hatte. Dass er ein Trinker gewesen war, sagte Dr. Lung, machte die Sache nicht besser.
Es gibt derzeit keinen Test oder Scan, der Alzheimer mit absoluter Sicherheit diagnostizieren könnte. Erst nachdem der Mensch gestorben ist, kann man sein oder ihr Gehirn aufschneiden und nach verräterischen Belägen oder Knoten suchen. Bis dahin gilt das Ausschlussverfahren. Was wir haben, sind Tests, die andere mögliche Ursachen des Erinnerungsverlustes ausschließen. Um Alzheimer zu diagnostizieren, können die Ärzte nur all das aufzählen, was es nicht ist.
Was mein Vater alles nicht hat: Schilddrüsenüberfunktion, eine Nieren- oder Leberinsuffizienz, eine Infektion, irgendeine Form von Mangelernährung. Ein Mangel an Vitamin B12 und Folsäure kann zu Erinnerungsverlust führen, ist aber behandelbar.
»Ich bin einfach nur dement«, sagt Dad.
Heute Morgen: Ich packte eine Reisetasche, wünschte meinen Eltern einen guten Rutsch und machte mich auf den Weg nach Silver Lake, wo ich mit Bonnie Silvester feiern wollte. Sie ist die mit den Plänen. Das heißt, was den Abend betrifft. In letzter Zeit ist es schwer, überhaupt irgendwas zu planen.
Der Verkehr auf der 101 ist schlimmer als sonst, aber wenigstens festlich. Alle fahren mit heruntergelassenen Seitenfenstern. Rechts von mir hört ein braun gebrannter Mann in einem ebenso braunen Escapade ein Weihnachtslied. Es ist dieses Lied, das wie der Pachelbel-Kanon in D-Dur beginnt, und dann singen ein paar Kinder On this night! On this night! On this very Christmas night!
Er hat es voll aufgedreht, und klopft im Takt der Musik seine Zigarette durchs offene Fenster ab.
Auf der Schnellstraße fahre ich lange Zeit hinter einem Hühnertransporter her, aus dem weiße Federn auf meine Frontscheibe regnen. Ich versuche, sie wegzuwischern, was nur dazu führt, dass sie in den Scheibenwischern hängen bleiben und sich zauberhaft mitbewegen.
Robert Kearns, der Erfinder des Intervallscheibenwischers, war auf einem Auge blind. Das hat mir Joel mal erzählt. Ein Sektkorken traf Kearns am Abend seiner Hochzeit ins Auge. Während er mit seinem Ford Galaxie durch leichten Regen fuhr, kam ihm die Idee, den Mechanismus der Scheibenwischer dem menschlichen Auge nachzuempfinden, das nicht permanent blinzelt, sondern nur alle paar Sekunden.
Ich erinnere mich, wie ich diese Geschichte Jahre später ohne Nachzudenken Joel erzählte, weil ich – in diesem Augenblick nur – vergessen hatte, dass ich sie ja von ihm hatte. Er sagte »Ach, echt?«, als hätte er noch nie davon gehört. Ich weiß immer noch nicht, ob er sich über mich lustig machte oder ob er es wirklich vergessen hatte.
Die Tür zu Bonnies Apartment ist nicht abgeschlossen, also trete ich ein. Es riecht nach Toast. In Erwartung meines Kommens hat sie ihren Teppich auf einer Seite des Wohnzimmers zusammengerollt und den Sportteil auf dem Fußboden ausgebreitet.
»Hey!«, ruft Bonnie aus dem Badezimmer, dann ist die Klospülung zu hören.
»Die Heizung ist kaputt, deshalb läuft der Ofen den ganzen Tag«, erklärt sie mir. »Hast du Lust auf Toast?«
Bonnie ist Malerin, aber in letzter Zeit verdient sie ihr Geld mit drei oder vier verschiedenen Jobs. Einer davon ist das Haareschneiden. Sie schneidet niemandem die Haare, der gerade eine Trennung hinter sich hat. Das ist ihre Regel. Warte mal, wie es dir in sechs Wochen geht, sagt sie, und wenn du dann immer noch den neuen Haarschnitt willst, dann macht sie’s. Der Grund, wieso sie für mich eine Ausnahme macht, ist, dass ich nach einer Trennung nichts anderes will, als mir einen Mantel aus Haaren wachsen zu lassen, um mich darin zu verstecken. Weil sie meine älteste, beste Freundin ist – wir haben uns als Kinder kennengelernt, im College, an dem unsere Väter unterrichteten – weiß sie das.
»Hinsetzen«, weist mich Bonnie an und zeigt auf den Küchenhocker, den sie ins Wohnzimmer gestellt hat. Sie schneidet ein ordentliches Loch in die Titelseite und zieht mir den Zeitungsumhang über den Kopf. Sie reicht mir ein Glas Eistee, was mehr ihrer Unterhaltung dient als meiner Erfrischung: ab und zu führe ich den Tee zum Gesicht, bemüht, mich so wenig wie möglich zu bewegen, und steche mich dabei mit dem Strohhalm.
Im Fernsehen läuft Divorce Court – Das Scheidungsgericht, während Bonnie meine Haare schneidet. Am Ende der Sendung, nachdem der Mann nicht den Vergleich erreicht hat, den er wollte, und keine der Parteien wirklich zufrieden ist, wird er gefragt, ob er noch etwas hinzuzufügen hat.
»Du zahlst immer noch für mich«, sagt er unheilvoll in die Kamera, an seine Ex-Frau gerichtet. »Du bist die Blöde.«
Was Joel sagte: dass sie nicht der Grund war. Aber wie soll man so etwas glauben, wenn die Fakten eine so eindeutige Sprache sprechen? Die Fakten sind: die beiden leben jetzt in South Carolina, nicht weit von seiner Familie entfernt, und sind wahrscheinlich glücklicher, als wir es je waren.
Letzten Juni in San Francisco, als all unsere Sachen in Kisten verpackt waren, karamellisierte ich Zwiebeln im einzigen sauberen Kochgeschirr, das ich finden konnte: einem Backblech. Ich vermischte sie mit Kartoffeln, die ich in der Mikrowelle gegart und zerquetscht hatte, und das war unser letztes Abendessen, auch wenn ich das damals noch nicht wusste.
Wir würden das Viertel wechseln – dachte ich. Ich dachte, wir würden in eine Zweizimmerwohnung in Bernal Heights ziehen. Ich dachte, wir würden umziehen, weil dort mehr Platz und die Miete merkwürdig vertretbar war. Joel hatte sehr darauf geachtet, seine Sachen getrennt von meinen einzupacken, und ich dachte, dass das bloß eine von Joels Macken war, aber in Wirklichkeit bedeutete es, dass Joel nicht mit mir kommen würde.
Es gab wohl Anzeichen, die ich zu ignorieren entschieden hatte. Wenn er früher auf Partys mit einer anderen Frau sprach, berührte mich Joel immer ganz leicht, wenn ich vorbeikam, als wolle er sagen, Keine Sorge, dich mag ich immer noch am liebsten. Mir fiel es auf, als es nicht mehr passierte. Ich sagte mir, dass es nichts zu bedeuten hatte.
Der Punkt ist, dass ich nichts merkte, und was hätte ich auch anders machen können, wenn doch? Er sagte, Ruth, versteh mich nicht falsch, du bist mir sehr wichtig. Das hat er gesagt! Und ich dachte damals – und das denke ich immer noch: Das kann man doch nicht sagen. Das ist gar nichts.
»Vergiss es«, sagt Bonnie. »Er hat dich nicht verdient«, sagt sie streng, wie Freunde es voller Überzeugung tun, ohne es wirklich wissen zu können. Was, wenn wir einander ganz genau verdienten?
Die Party findet in Highland Park statt, in der Wohnung von Bonnies Freund Charles, den sie aus der Kunsthochschule kennt. Davor trinken wir in Bonnies Küche Wodka aus Wassergläsern und jagen in Zucker getunkte Babykarotten hinterher, so wie früher.
Als er uns an der Tür begrüßt, wirkt Charles nervös oder gestresst. Sein Gesicht ist komplett rosa. »Ist er in dich verknallt?«, frage ich Bonnie, als Charles weitere Gäste begrüßt. Aber sie sagt Nein, er habe bloß zu viele Cracker gegessen. Charles hat einen Niacin-Rausch, von dem ganzen angereicherten Mehl. Das ist schon häufiger passiert, erklärt mir Bonnie. Die beiden waren mal für kurze Zeit ein Paar, im College, und daher weiß sie so was. Er liebt diese Cracker einfach. Er kann sich immer noch nicht zurückhalten, wenn er welche sieht.
In der Wohnung ist eine Gruppe vor dem Fernseher versammelt und verfolgt die aufgezeichnete Übertragung vom Spektakel am Times Square. Viele der Gesichter kommen mir vertraut vor, aber ich habe Schwierigkeiten, sie zuzuordnen. Drei oder vier haben einen neuen Haarschnitt, das sieht man. Ich bin froh, dass ich nicht die Einzige bin.
»Ruth?«, sagt einer der vertraut aussehenden Menschen. Er hat einen dichten roten Bart und Ohren, die wie Büroklammern geformt sind – Jared, mein Laborpartner aus dem Biounterricht in der Highschool. Ich merke – an der großmäuligen Art, wie er redet –, dass er vergessen hat, was für ein schlechter Laborpartner er war. Er ist jetzt Sushi-Koch. Er hat vor Kurzem seinen Abschluss an einer speziellen Sushi-Akademie gemacht. Er hat ein Händchen dafür, Aale zu häuten.
Jared fragt, was ich so gemacht habe, und ob ich in L. A. lebe, und ich sage Nein, in San Francisco. Aber ich überlege, ein Jahr zu Hause zu bleiben, um auf meinen Vater aufzupassen, der »Gedächtnislücken« hat. Ich weiß nicht, wieso ich das sage – »Gedächtnislücken«. So hat es meine Mutter genannt, und ich plappere es ihr nach, weil ich es noch nie zuvor laut aussprechen musste.
»Nur das eine Jahr«, sage ich dann auch noch.
Er hebt ein mit etwas Hellblauem gefülltes Punschglas und stößt es gegen meinen Sekt. »Cheers«, sagt Jared, voller Bewunderung. Das ist zu viel. Ich entschuldige mich. Ich sage Jared, dass ich etwas im Auto vergessen habe.
Im Auto strecke ich auf der Rückbank die Beine aus. Ich greife vorsichtig in meine Handtasche, um mein Telefon herauszuholen. Vorsichtig, weil meine Handtasche voller Müll ist – so vielen Quittungen und Broschüren und entwerteten Eintrittskarten, dass ich Angst habe, mich an dem Papier zu schneiden.
Joels Mutter hat eine Sprachnachricht hinterlassen. Sie hat angerufen, weil sie mir ein Frohes Neues Jahr wünschen wollte. Sie wollte hören, ob es mir gut geht. Ich frage mich, ob sie angerufen hat, weil sie betrunken ist. Sie hat mich immer gemocht – manchmal kam es mir vor, als ob sie mich mehr mochte als ihren Sohn – und ich frage mich, was sie von Kristin hält. Ich erlaube mir die Vorstellung, dass sie sie so wenig leiden kann, dass sie mich anrufen musste, um es mir zu sagen.
Unerklärlicherweise ist eine Zigarette in meiner Tasche, wo sie jemand hineingesteckt haben muss. Sie ist krumm, und ich biege sie gerade und kurbele das Fenster herunter, um sie zu rauchen – es ist eine Mentholzigarette –, während die Leute den Countdown mitbrüllen und das alte Jahr zum neuen wird.
Joel konnte auf eine Art unentschlossen sein, die seine Mutter zur Verzweiflung trieb. Wenn ich dabei war, konnte ich die entgegengesetzte Position einnehmen. Ich glaube, das mochte sie an mir. Sein Gelaber gab mir die Kraft, Entschlossenheit zu zeigen: Wir machen das jetzt so, und Wir gehen da hin, und Bist du sicher? Ich nämlich schon.
Jetzt denke ich: Das hab ich getan?
Mein Telefon klingelt, eine Minute nach Mitternacht. Es ist mein Bruder.
»Ich hab ein Lied über dich gesungen«, sage ich und singe. »Christmas minus Linus.«
»Ein richtiger Ohrwurm«, sagt Linus. »Du hast Talent.«
Das Problem ist, dass ich mich über seinen Katalog an Ausreden nicht beschweren darf – weil so viele davon meinen eigenen so ähnlich sind.
Mir fällt auf, dass ich den Mantel von jemand anderem anhabe. Ich weiß nicht, wem der Mantel gehört – ich erinnere mich nicht, jemanden mit genau diesem Mantel gesehen zu haben –, aber es ist kein besonders effektiver Mantel. Die Besitzerin ist vermutlich drinnen, in irgendeinem unpraktischen Outfit. Sie wird zu betrunken sein, um sich Gedanken über das Wetter zu machen, wenn die Party vorbei ist. Ich bin nicht nüchtern, aber auch nicht betrunken genug, um nicht zu bemerken, dass ich friere.
Ich mochte Neujahr noch nie. Das Problem mit Anfängen ist, dass es so etwas gar nicht gibt. Was ist schon ein Anfang, außer einem willkürlichen Einstiegspunkt? Mit der eigenen Geburt fängt es wohl an, aber es ist ja nicht so, als wüsste man irgendetwas darüber.
Ein paar Wochen nach der Verlobung fragte mich jemand, worauf ich mich in der Ehe mit Joel freue, und ich dachte: die Klarheit. Aber die wurde mir unter den Füßen weggezogen.
Außerdem liebte ich es, das Wort fiancé auszusprechen, mein Verlobter. Und das – egal. Ach, ich Ärmste.
Zurück in der Wohnung küssen Leute einander wahllos, und Bonnie telefoniert, vermutlich mit Vince, ihrem Freund, den sie schon seit Ewigkeiten verlassen will, und Charles ist immer noch rosa, und jetzt hat er noch dazu keine Hose mehr an und wischt verschütteten Sekt mit Papierhandtüchern weg. Seine Hose liegt auf der anderen Seite des Zimmers und saugt eine andere Pfütze auf. Eine Gruppe streitet darüber, ob Meerschweinchen oder Rennmäuse die besseren Haustiere abgeben, und Jared halbiert eine Valium.
Endlich finde ich meinen Plastikbecher, auf den ich mit einem Filzstift einen Stern gemalt habe und der in einem Stapel von Bechern steckt. Ursprünglich war darin Sekt, jetzt ist es Sekt mit Bourbon, denn ich sage mir immer, wenn ich mich schon vergifte, dann richtig.
Vorhin sagte Jared, wir seien jung – noch jung – und ein Jahr sei eine sehr lange Zeit, um nicht das zu tun, was man tun will.
Er sei Sushi-Koch, hatte er gesagt, aber jemand anderes, mit dem ich später sprach, lachte nur und sagte fies: »Koch kann man’s natürlich auch nennen.« Er war einmal in Jareds Restaurant gewesen. Jared filetierte den Fisch und entfernte die Gräten aus dem Lachs. Die richtigen Köche schnitten den Fisch dann in Scheiben. Jared trug ein Haarnetz über dem Bart.
Und jetzt, noch später, zurück in Bonnies Wohnung, sitzen Bonnie und ich auf ihrem Balkon, essen mit dem Löffel Erdnüsse mit Ranch-Dressing aus einer großen Schüssel und teilen uns ihre Decke. Wir hören die Partys um uns herum, die erst lauter und dann leiser werden. Wir sehen das Blinken der Lichter über den Hügeln hinter der Stadt.
»Weißt du, was gestern passiert ist?«, sagt Bonnie. »Gestern kam jemand in den Salon und fragte, was einmal Waschen und Blasen kostet.«
»Und hast du’s ihm gemacht?«, frage ich.
»Sie hat ja bezahlt«, sagt Bonnie.
Ich stelle erschrocken fest, dass ich Joels Ring trage. Ich hatte ihn in einem Fach meiner Handtasche aufbewahrt. Ich kann mich nicht erinnern, ihn angesteckt zu haben. Ich ziehe den Ring ab und werfe ihn zurück in meine Handtasche, wo ihn das Meer aus Müll sofort verschluckt.
Bonnie sieht mich, so kommt es mir vor, liebevoll an.
Dann begreife ich. »Bewunderst du gerade deinen eigenen Haarschnitt?«
Und dann ist es plötzlich drei Uhr in der Nacht und wir sind wieder beim Wodka und den Karotten angekommen.
»Auf das Neue Jahr.« Ich hebe mein Glas. »Auf den Neuanfang.«
»Ich werde in diesem Jahr netter sein«, sagt Bonnie, »aber gemeiner zu Vincent.«
»Ich werde meine Handtasche ordentlich halten.«
»Du wirst sehen, du hast das Zeug dazu«, sagt sie ernst, »dich okay zu fühlen.«
»Auf’s sich okay fühlen!«, brülle ich.
»Neues Jahr! Neues Kapitel!«
»Neues Kapitel«, wiederhole ich, und dann trinken wir.
Manchmal mag ich den Kater, weil man dann was zu tun hat.
Der von heute ist lästig, aber nicht so schlimm. Die Allergie gegen Ibuprofen habe ich von meiner Mutter. Von ihr habe ich auch die Neigung zu Kopfschmerzen und Fieber geerbt, die auf nichts reagieren, was man in Einzeldosis nimmt. Erster Punkt der Tagesordnung sind daher zwei Aspirin und ein Glas Wasser.
Im Traum wurde ich vom Regen überrascht. Joel hatte einen Schirm, aber er ließ mich stehen. Er ging davon und lief einem Hund hinterher, der eine Hose anhatte.
Zum Glück trug ich einen Mantel aus Salami. Die Regentropfen perlten daran ab.
Ich stöbere durch Bonnies Gemälde, die gegen die Wand ihres Wohnzimmers gelehnt stehen. Sie haben Staub und Spinnweben angesetzt, die ich mit dem Ärmel wegwische.
Sie schlurft ins Zimmer, reibt sich die Augen.
»Die sind gut«, sage ich.
»Die sind Schrott.«
»Das ist schön«, sage ich und halte ein Bild hoch: es könnte ein Selbstporträt sein; ganz klar ist es aber nicht. Die Porträtierte hat dieselbe Haar- und Haut- und Augenfarbe wie Bonnie.
»Nimm’s mit«, sagt sie mit einem Wink, als sei es ein Paar zu kleiner Schuhe, für das sie keine Verwendung mehr hat.
Bonnie hat lustige Dellen in ihrem Gesicht, dort, wo ihre Brille saß; sie ist mit Brille eingeschlafen. Als sie mein Haar sieht, versucht sie sofort, es mit den Händen zu glätten.
»Danke für’s Haareschneiden«, sage ich.
»Willkommen zu Hause«, sagt sie und sieht mein Haar ein letztes Mal bewundernd an.
Zu Hause sitzen meine Eltern auf dem Sofa und halten sich an großen, mit einer rosa-orangefarbenen Flüssigkeit gefüllten Gläsern fest. Im Fernsehen läuft die Rose Parade. Moms Füße stecken unten in Dads Hosenbeinen – so hält sie sie warm.
»Schön«, sagt Mom, als sie Bonnies Gemälde sieht.
Das rosa Zeug, erklärt man mir, ist Cantaloupe-Saft. »Ich nenne es ›Melonade‹«, sagt Mom.
Mom hat das Kochen aufgegeben, so wie jemand das Rauchen oder das Glücksspiel aufgeben würde. Der Grund dafür ist Dad. Sie glaubt, dass das jahrelange Kochen in Aluminiumtöpfen, das Kochen mit Konserven zu seiner Alzheimererkrankung geführt haben. Sie hat die Aluminiumtöpfe und -pfannen und die Alufolie weggeworfen. Sie hat gelesen, was sich im Internet über Alzheimer finden lässt.
Was sie gelesen hat, ist: Das Gehirn braucht, um zu funktionieren, Mineralien, und wenn kein Magnesium da ist, nimmt es das nächstbeste Mineral: Aluminium. In größeren Mengen kann dies das Nervengewebe schädigen. Obwohl sich die Studien da nicht hundertprozentig sicher sind.
Meine Mutter, die Frau, die einmal sämtliche Mahlzeiten komplett selbst zubereitete: unser Sushi, unseren Ketchup, unsere englischen Muffins. Sie schmuggelte ihr eigenes Popcorn ins Kino, weil sie die flüssige Butter aus dem Spender nicht wollte.
Meine Mutter, die jeden Abend kochte und es – noch in der Highschool – nie versäumte, mir ein Essenspaket für die Schule mitzugeben.
Meine Mutter, die jetzt allem misstraut – die zu glauben scheint, dass Säfte und Vitamine noch den wenigsten Schaden anrichten.
Joel mochte Kalifornien nie. Er sprach immer davon, wegzugehen. Nach außen hin stimmte ich ihm zu, aber insgeheim gab ich die Hoffnung nie auf, dass er seine Meinung ändern könnte – dass ich ihn überzeugen könnte. Wir sind schon seit Ewigkeiten hier – die Familie meines Vaters, meine ich: von Irland und Deutschland aus kamen die Ururgroßeltern meines Vaters über New York und Pennsylvania nach San Francisco und Santa Barbara und Pasadena und Palm Springs.
Wieso also nicht hier sein, in diesem Haus, in dem ich aufgewachsen bin und in dem meine Eltern noch immer leben? Ich wurde in Fontana geboren, an einem Julinachmittag vor dreißig Jahren. Meine Mom war fünfundzwanzig und hatte gerade ihre Eltern verloren – erneut verloren –, als sie mich bekam.
In diesem Jahr waren ihre Adoptiveltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen; ihre biologischen Eltern lebten höchstwahrscheinlich noch in China – sie wusste nichts über sie. Vielleicht dachten sie immerzu an sie. Vielleicht dachten sie nie an sie. Vielleicht dachten sie manchmal an sie, oder zu besonderen Anlässen, etwa, wenn sie die Großeltern von Kindern wurden, die nicht ich waren. Jedenfalls hatte meine Mutter keine Familie mehr. Keine Familie außer uns, meine ich.
Im Wohnzimmer hängt ein Foto über dem Klavier. Es wurde im Krankenhaus gemacht, in den Stunden nach meiner Geburt. Dad sieht darauf wie ein behaarter, muskulöserer Linus aus, mit seinem zotteligen braunen Bart und der riesigen Kunststoffbrille. Er trägt ein schwarz-weiß-gemustertes T-Shirt. Darunter sieht man die Oberkante seiner engen roten Hose. Bei einem der letzten Arzttermine hatte Dad eine Broschüre eingesteckt, mit dem Titel »Was kann mein Neugeborenes sehen?« In der Broschüre stand, dass Neugeborene nicht scharf sehen können. Es lässt sich nicht genau sagen, ob sie überhaupt Farben wahrnehmen. Doch in Studien reagieren sie auf die Farbe Rot, und auf Muster mit starken Kontrasten.
Neben ihm steht mein Onkel John mit freiem Oberkörper da. Weil nur der obere Teil von ihm zu sehen ist, scheint er überhaupt nichts anzuhaben. Als John in einem roten Hemd im Krankenhaus ankam, war mein Vater stinksauer auf seinen Bruder.
»Was soll das?«, sagte mein Dad, aber John hatte sich natürlich nichts dabei gedacht. Es war kein hinterlistiger Plan. Er ist oft bunt angezogen, weil knallige Farben immer billig zu haben sind. Er trug seine ganz normalen Sachen. Dad war außer sich vor Wut. Er weigerte sich, John in diesem Hemd in den Raum zu lassen. Auf dem Foto sieht man meine Mutter, umwerfend trotz Achtziger-Dauerwelle, mit diesem müden, aber amüsierten Gesichtsausdruck, meinen finster blickenden Vater und Onkel John, ohne Hemd, der mich hält und nervös in die Kamera lächelt.
Einer der Motivwagen im Fernsehen ist eine mechanische Schildkröte, aus Moos und Sonnenblumenkernen. »Das ist nicht die Saat-Parade«, sagt Dad schlecht gelaunt. Mom schält mit flinken Fingern eine Orange. Sie öffnet die Faust meines Vaters und legt die Stücke in seine aufgeklappte Hand.
Die schlechte Laune kommt daher, dass Dekan Levin letzte Woche angerufen und ihn gebeten hat, im nächsten Semester nicht zu unterrichten. In den vergangenen Monaten hat Dad mehrere Seminare vergessen, auf den Parkplatz eines anderen Professors bestanden und ist ohne erkennbaren Grund im Vorlesungssaal in Tränen ausgebrochen. Es habe, sagte Levin, Beschwerden gegeben.
Weitere »Unstimmigkeiten«, so drückte er es aus, könne man nicht riskieren. Mein Vater könne seinen Job zurückhaben, wenn es ihm wieder besser gehe, wenn er wieder ganz er selbst sei. Levin sagte wenn, aber was er wirklich meinte – wir wussten alle, dass er das meinte –, war falls.
Die Motivwagen müssen ausschließlich mit natürlichen Materialien geschmückt sein, erklärt der Kommentator. Mit Blumen, ja, aber auch Tapiokakügelchen oder Preiselbeeren sind erlaubt.