Auf einigen Seiten der nachfolgenden Geschichte finden Sie als handschriftliche Marginalien sprichwörtlich gewordene Redewendungen aus Rustawelis Originaltext. Sie alle folgen der im Manesse Verlag erschienenen Übersetzung von Rustawelis Epos durch Ruth Neukomm.
Als Awtandil der Residenz so nahe gekommen war, dass er die Zinnen der Lehmmauer unterscheiden konnte, spürte er, dass etwas anders war. Die Stadt sah aus wie immer, die Türme und Kuppeln ragten über die gewaltige Mauer hinweg, und ihre goldenen Dächer blitzten in der Abendsonne. Die Wächter waren gerade dabei, die Tore zu schließen, wie jeden Abend, dachte Awtandil. Und auch die Menschen, die müde von der Arbeit auf den Feldern, im Wald oder auf den Weiden langsam in die Stadt strömten, zeigten dabei dieselbe erschöpfte Ruhe wie an jedem Tag. Nur dass sie heute immer wieder zur Seite treten mussten, weil aus den Toren Reiter kamen. Sie waren leicht bewaffnet, mit ihrer Lanze konnten sie Strauchdiebe abwehren, wenn es nicht zu viele waren. Aber kaum ein Wegelagerer wagte es, diese Reiter anzugreifen. Jeder von ihnen trug die weiße Schärpe, die den Gesandten des Königs vorbehalten war.
Bote um Bote kam aus der Stadt geritten. Einen Moment lang befürchtete Awtandil das Schlimmste. Er hatte es nicht wahrhaben wollen, er so wenig wie die anderen, die König Rostewan nahestanden, aber vielleicht war er zu sorglos gewesen. Anzeichen hatte es schon seit einiger Zeit gegeben: Manchmal, wenn die Tage lang und die Feiern am Abend noch länger geworden waren, schien die Hand des Königs zu zittern, wenn er den Pokal hob und der Reihe nach jedem zutrank und für jeden einen eigenen Trinkspruch hatte. Aus seinem immer noch dichten Haar war die letzte braune Strähne verschwunden, und auch der Bart war weiß durchwirkt. Aber wenn etwas so Schlimmes geschehen wäre, dass man deshalb die Boten aussenden müsste, dann hätte man schon jetzt die Klagegesänge aus der Stadt bis weit ins Land hinaus gehört. Und auch die Bauern und die Hirten wären wohl nicht so ruhig vor sich hin getrottet.
Awtandil gab seinem Pferd die Sporen. Er hätte einen der Boten anhalten können, die ihm auf der Straße entgegenkamen, aber der hätte ihm auch nur einen Brief gezeigt, natürlich versiegelt und an einen Statthalter des Königs am Ende der Welt gerichtet, irgendwo so weit draußen, dass Awtandil sicher noch niemals dort gewesen war.
Auch er wich den Boten aus, dann passierte er die Wächter und ritt durch die Straßen der Residenz, vorbei an den Lehmbauten mit ihren dicken Wänden und den glatten, fast fensterlosen Fassaden, bis er vor dem Palast angekommen war. Er warf einem Diener die Zügel zu und wollte sich im Thronsaal anmelden, als er den Großwesir Sograt auf sich zukommen sah.
Es ist gut, dass du endlich hier bist, sagte Sograt, der König wartet auf dich.
Awtandil wollte weiter, aber Sograt schüttelte den Kopf und deutete nach links auf eine zweite Treppe. Im Rosengarten, sagte er.
Der Garten war auf einer Terrasse angelegt, hoch über der Stadt, geschützt von einer Brüstung, sodass nur die Vögel sehen konnten, wer sich dort traf. Als Awtandil das Ende der Treppe erreicht hatte und durch eine Pforte ins Freie trat, sah er den König zwischen den Rosenstöcken, ganz versunken, wie es schien. Awtandil kam langsam näher.
Rostewan sah auf und hielt ihm eine Blüte entgegen.
Siehst du, Awtandil, sagte er, wie sie langsam ihre Kraft verlieren? Noch ein paar Tage, dann genügt ein Windhauch, um die Blätter überallhin zu verstreuen.
Aber sie duften schöner als je zuvor, sagte Awtandil.
Rostewan lachte leise.
Das haben sie im Kronrat auch gesagt. Und das, obwohl mancher dort zehn oder noch mehr Jahre älter ist als ich und besser wissen müsste, was die Zeit mit uns macht.
Awtandil schwieg. Er dachte daran, dass der Druck von Rostewans Hand auf seinem Arm zuletzt oft mehr gewesen war als ein Zeichen von Huld. Rostewans Fuß war nicht mehr so sicher wie früher, und wenn Awtandil mit ihm gemeinsam in den Rosengarten gegangen war, hatte er seinen eigenen Schritt etwas zügeln müssen, um Rostewan nicht zu berühren.
Ich habe dem Rat meine Entscheidung mitgeteilt, den Thron künftig zu teilen. Einen Mitregenten einzusetzen, der mir einmal nachfolgen soll.
Awtandil wusste, wie schwer dem König das gefallen sein musste.
Tinatin, sagte Rostewan. Sie hat all die Jahre den besten Unterricht erhalten und ist jetzt bereit dafür.
Tinatin, dachte Awtandil. Was hatte ich denn erwartet?
Ich möchte, dass du meine Entscheidung verstehst, sagte der König. Sie ist die richtige, und das wäre sie auch, wenn ich außer ihr auch noch einen Sohn hätte. Er lachte leise. Weißt du, was der Großwesir gesagt hat? Es spiele keine Rolle, ob ein Löwenkind nun Sohn oder Tochter sei. Hauptsache Löwe.
Rostewan wurde wieder ernst.
Du wirst sie stützen, nicht wahr?, fragte er Awtandil dann.
Ich werde sie sehen, dachte Awtandil, jeden Tag, als Königin. Sie wird sich mit mir beraten, manchmal werden wir sogar allein miteinander sein. Und sie wird mir ferner sein als je zuvor.
Wirst du?, fragte Rostewan.
Ja, sagte Awtandil.
Der ägyptische Gesandte hatte schon zweimal zum Trinkspruch angesetzt, den man von ihm erwartete, und zweimal den Faden verloren. Jetzt versuchte er es ein drittes Mal, und als der arabische Offizier, der ihm gegenüber saß, ihn mit lauten Bravorufen unterbrach, setzte sich der Gesandte erleichtert mit fahrigen Bewegungen wieder hin. Alle tranken, dann stand der Nächste auf. Während die Sklaven blitzschnell mit den Silberkrügen von Gast zu Gast gingen und die Pokale wieder füllten, pries der Redner die Weisheit des Königs und die Freigebigkeit der Prinzessin, die von diesem Tag an die Mitregentin ihres Vaters war. Er hatte Grund dazu, so wie jeder hier im großen Saal des Lehmpalasts. Tinatin hatte sie aus ihrem privaten Vermögen derart großzügig beschenkt, dass sich viele fragten, ob die Prinzessin nun überhaupt noch etwas besaß.
Rostewan hatte ruhig dabeigesessen, als Tinatin jedem Mitglied des hohen Rats einen goldenen Harnisch überreicht hatte und zustimmend genickt, als sie Seidenballen an die Vorsteher der Kaufmannsbruderschaft verteilte. Er war ans Fenster getreten und hatte zufrieden die großen Kessel gesehen, in denen Tinatins Köche Pilaw für die Armen der Residenz zubereitet hatten. Und er hatte gesehen, wie sich die Offiziere auf die edlen Streitrösser gestürzt hatten, die Tinatins Stallmeister ihnen im Hof zugeführt hatte.
Nun war es an ihm, einen Trinkspruch anzubringen. Von heute an, sagte Rostewan, herrscht eine Königin in diesem Land, dem es nie besser ging und dem es von nun an jeden Tag besser gehen wird. Ihr alle werdet es erleben, unser goldenes Zeitalter, das einmal den Namen dieser Königin tragen wird. Burgen und Brücken wird sie bauen und dem Feind die Stirn bieten, ihr Name wird einen süßen Klang haben unter uns und einen schrecklichen jenseits unserer Grenzen. Sollte übrigens irgendjemand daran zweifeln, dass ich noch da bin, um meiner Tochter beizustehen, dann kann er mich gern herausfordern: Reiten, Schwertkampf, Bogenschießen, den möchte ich sehen, der mir gleichkommt!
Hört, hört, rief der ägyptische Gesandte.
Rostewan schaute sich herausfordernd um. Sein Blick fiel auf Awtandil. Der junge Krieger lächelte und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Pokal, der vor ihm stand.
Was ist, Awtandil? Habe ich recht?
Awtandil stand auf.
Darf ich aussprechen, was ich denke, Majestät, ohne Euren Zorn fürchten zu müssen?
Es wurde vollends still. Auch diejenigen, die ihre Augen kaum noch offen halten konnten, wollten kein Wort verpassen.
Musstest du das denn je?, fragte Rostewan zurück.
Majestät?
Sprich, Awtandil, sagte Rostewan, was immer du willst, es geschieht dir nichts.
Dann lasst mich sagen, dass ich Eure Kriegskunst bewundere, Eure weise Regierung, Euren Sinn für die schönen Dinge. Nur was das Bogenschießen angeht, fürchte ich, dass es einen gibt, der Euch mehr als ebenbürtig ist.
Er ist mir über?
In diesem einen Punkt, Majestät.
Du sprichst von dir.
Das war eine Feststellung, keine Frage, und Awtandil nickte nur.
Schön, sagte Rostewan, und blickte in die Runde. Ich weiß, dass ihr alle Awtandil liebt, so wie ich ihn liebe. Fürchtet euch nicht, sprecht so frei, wie er gesprochen hat. Glaubt ihr das auch?
Niemand rührte sich.
Ich glaube ja, er hat den Mund etwas zu voll genommen, oder nicht?
Der ägyptische Botschafter schaute vom Einen zum Anderen und entschied sich, so stumm zu bleiben wie alle im Raum.
Wir werden es herausfinden, sagte Rostewan, in drei Tagen. Du und ich, Awtandil, werden jeder mit zwölf Sklaven zur Jagd gehen. Wer bis zum Abend mehr erlegt hat, wird beim Verlierer zu Gast sein. Wir benutzen nur unsere Bogen, ihr Ritter hier im Saal seid Zeugen. Und weil ihr euch gerade so gar nicht zwischen uns beiden entscheiden wolltet, werdet ihr das Wild zählen, das wir erlegen. Eurem Urteilsspruch wollen wir uns unterwerfen.
Rostewan hob den Pokal und trank Awtandil zu.
Awtandil sah, dass Tinatins Auge auf ihm ruhte. Und fragte sich, wem die neue Königin wohl den Erfolg beim Jagen gönnte.
Hirsche und Rehe, Wildesel, die sich ängstlich aneinanderdrängten, Hyänen, Steinböcke und Gemsen: Rostewans Leute hatten die Tiere in eine lang gestreckte Steppe zwischen zwei hohen Bergrücken getrieben und bewachten nun die Herden, um sie am Ausbrechen aus dem Tal zu hindern. Alles war bereit, als Rostewan in seinem roten, Awtandil in seinem weißen Jagdrock herbeigeritten kam. Ihre Diener waren bei ihnen, schwer beladen mit gefüllten Köchern und Bogen. Sie würden den beiden Jägern helfen, die Tiere zu ihnen treiben und Ersatz bereithalten, wenn die Pfeile verschossen oder die Sehnen zerrissen wären. Vom Morgen bis zum Nachmittag hatten Rostewan und Awtandil Zeit. Dann würden sie miteinander rasten und die Helfer die erlegten Tiere zählen lassen.
Der König kam zu seinem Ziehsohn geritten. Die Pferde tänzelten aufgeregt. Bist du bereit?, fragte Rostewan. Du kannst es dir immer noch überlegen.
Ich hatte einen guten Lehrer, sagte Awtandil.
Rostewan lächelte. Mach mir keine Schande, sagte er und berührte Awtandil leicht an der Schulter.
Der Ausgang des Tals, an dem sie mit der Jagd begannen, war breit. Jeder schlug mit seinem Gefolge einen Weg ein, der ihn von seinem Gegner entfernte. Die Herden stoben davon. Einige Tiere versuchten, seitwärts zu den Hängen zu flüchten und wurden von dort wieder zurückgetrieben; andere stürmten zum hinteren Ende der Talebene, weit entfernt am Horizont, wo die Berge nur einen Spalt ließen, durch den ein kleiner Bach abfloss.
Die Jäger erreichten zuerst die alten und kranken Tiere, die nicht mit der wegstürmenden Herde mithalten konnten, und erlegten sie. Nicht jeder im Vorbeireiten abgeschossene Pfeil war tödlich, dann zügelten Rostewan oder Awtandil das Pferd und schossen einen zweiten, oder sie sprangen ab und zückten das Messer. Die leblosen Körper ließen sie zurück; die Sklaven trugen sie zusammen und steckten eine Flagge mit einem weißen oder roten Wimpel in die Haufen, um anzuzeigen, wem die Beute gehörte.
In dem trockenen Tal wirbelten die Herden Staub auf, ebenso die Hufe der Araberpferde. Die Luft war voll vom Brüllen der sterbenden Tiere und vom Blutgeruch, Wind kam auf, und als die Jäger schließlich beinahe das Ende des Tals erreicht hatten, den Durchgang im Bergmassiv, durch den die fliehenden Tiere ins Dickicht entkommen waren, hatte sich der Himmel zugezogen. Es war schwül geworden. Rostewan und Awtandil schossen jeder noch einen Pfeil auf die Herde der davonstürmenden Wildesel, dann beschlossen sie, es gut sein zu lassen, und der König befahl den Rittern, die Beute zu zählen.
Die Diener schlugen ein Lager im Schatten einer Zeder auf, des einzigen Baums weit und breit. In seiner Nähe floss der Bach. Rostewan und Awtandil tranken Wein, matt von dem Ritt, den Bogenschüssen und der Hitze. Dann kam der Großwesir Sograt heran, gefolgt von zwei Schreibern, einigen Rittern und Gästen des Hofs. Die Übrigen blieben zurück und beobachteten die Szene neugierig.
Und?, fragte Rostewan.
Majestät, sagte Sograt, Ihr habt heute so viele Tiere erlegt, dass es für zwanzig Opferfeuer im Tempel unserer Stadt reicht. Die meisten Pfeile, die Ihr verschossen habt, trafen ins Schwarze.
Die meisten, sagte Rostewan. Und Awtandil?
Kein Fehlschuss, sagte Sograt. Und zwanzig Hirsche mehr als Ihr.
Rostewan versuchte noch, finster zu blicken, dann gab er es auf, lachte und umarmte Awtandil. Die Ritter, die aus dem Abstand zugesehen hatten, kamen jetzt heran und klatschten Beifall für Awtandil.
Aber der König hat die Wette doch verloren, sagte der ägyptische Botschafter leise zum Großwesir, warum freut er sich so?
Weil er jetzt weiß, dass er dem Tod mit einer Sorge weniger entgegensehen kann, sagte Sograt.