Über Barbara Fradkin

Barbara Fradkin, geboren in Montreal, studierte Psychologie und arbeitete als Kinderpsychologin, bevor sie beschloss, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Die dreifache Mutter hat zahlreiche Kurzgeschichten und mehrere Kriminalromane veröffentlicht.

Bei Aufbau Taschenbuch sind ihre Kriminalromane »Tote Spur. Verschollen in den Wäldern Kanadas« (2014) und »Die Toten in den Klippen« (2016) lieferbar.

Mehr zur Autorin unter www.barbarafradkin.com

Informationen zum Buch

Verschollen im Wintercamp

Amanda Doucette ist mit Jugendlichen unterschiedlicher Nationalität in einem Wintercamp. Bis auf Luc sind alle aus politischen Krisengebieten nach Kanada gekommen. Zuerst verschwindet Luc, kurz darauf Yasmina, ein Mädchen mit irakischen Wurzeln, in den unendlichen weißen Weiten. Amanda macht sich mit ihrem Hund Kaylee und Chris Tymko auf die Suche nach beiden. Schon bald erfährt sie, dass Yasmina zu einer Gruppe radikalisierter Jugendlicher gehört. Was hat sie vor?

»Kluges Plotting und die angebrachte Frage, was junge Leute zu extremistischen Ideologien hinzieht.« Publishers Weekly

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Barbara Fradkin

Die Schneetoten

Ein Kanada-Krimi

Aus dem Englischen von Bela Wohl

Inhaltsübersicht

Über Barbara Fradkin

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Anmerkungen

Impressum

1. Kapitel

Die Fremde, die gegen die Tür hämmerte, hatte weder eine Entschuldigung parat, noch nannte sie ihren Namen. Sie stand in der Türöffnung und trotzte der Kälte, während ihr Atem weiße Wirbel in die eisige Luft malte.

»Amanda Doucette?«, fragte sie.

Ihr Tonfall ließ Amanda argwöhnisch zurücktreten. Die Frau trug einen zerschlissenen marineblauen Parka und einen roten glockenförmigen Hut mit passenden Fausthandschuhen und wirkte ziemlich harmlos, doch in ihrer Stimme schwang Verzweiflung mit. Durch ihre jahrelange Arbeit in internationalen Hilfsorganisationen wusste Amanda, dass verzweifelte Menschen gefährlich werden können. Sie war allein und selbst in dem ruhigen, abgelegenen Wochenendhäuschen in den ausgedehnten Wäldern der Provinz Québec nicht sicher.

»Sind Sie Amanda Doucette?«, wiederholte die Frau, diesmal sogar noch schärfer. Der Tonfall der Québecer war jetzt deutlicher zu erkennen.

Amanda warf einen Blick auf den kleinen Honda, der in der verschneiten Einfahrt parkte. Der Wagen war einmal weiß gewesen, wirkte jedoch unter mehreren Schichten aus Salz und Rost wie marmoriert. Ein Scheinwerfer war zerbrochen, ein Kotflügel verbeult. Genau wie bei seiner Besitzerin hatte die Zeit auch bei dem Fahrzeug ihre Spuren hinterlassen. Amanda ließ sich erweichen.

»Ja«, antwortete sie. »Kann ich Ihnen helfen?« Sie packte das Halsband von Kaylee, ihrer Hündin, die angerannt kam, um den Besuch zu begrüßen. Sie hätte die Frau hereinbitten sollen, doch auch nach anderthalb Jahren war Vertrauen für sie immer noch ein unzuverlässiger Verbündeter, der sie beim ersten Anzeichen von Gefahr im Stich ließ. Das Häuschen war ihr ganz persönlicher Zufluchtsort, ihr verstecktes, der Öffentlichkeit nicht bekanntes Refugium, in dem sie nicht von sensationshungrigen Neugierigen behelligt wurde. Kaum jemand wusste, wo es lag.

»Ich möchte, dass Sie meinen Sohn auf Ihren Ausflug mitnehmen.«

Wieder spürte Amanda diese Beklemmung, den Druck, den sie nicht vorhergesehen hatte, als Matthew Goderich sie im vergangenen September überredete, zu wohltätigen Zwecken ihr Reiseprogramm Familien-Spaß aus der Taufe zu heben. Die Idee hatte sie begeistert: Abenteuerfahrten für benachteiligte Jugendliche, die sie wenigstens für kurze Zeit den täglichen Kampf des Lebens vergessen ließen. Und Matthew, der unübertreffliche Organisator, hatte ihr versprochen: »Du planst den Spaß, ich suche die Familien.« Aber die Nachfrage nach den Erlebnisreisen war überwältigend gewesen und die Auswahl der Teilnehmer qualvoll. So viele bedürftige Kinder, so wenig verfügbare Plätze.

»Steht er auf der Liste?«, fragte sie, wohl wissend, dass sie sich anhörte wie jeder andere Bürokrat.

»Er sollte draufstehen, aber am College befand man, dass er wegen seiner Vergangenheit ungeeignet sei. Darf ein Achtzehnjähriger denn keine Fehler machen?« Sie umklammerte Amandas Arm. »Er ist ein guter Junge. Aber er braucht Zuspruch, um seinen Weg zu finden. Bitte.«

Amanda wickelte ihre ausgebeulte Fleecejacke enger um sich, denn ein kalter Wind wehte durch die offene Tür. Sie hatte zwei Möglichkeiten: Entweder sie wies die Frau unter einem bürokratischen Vorwand ab, was sie grundsätzlich verabscheute – Ich mache die Listen nicht –, oder sie bat sie herein, um sich ihre Version der Geschichte anzuhören. Als Mitarbeiterin internationaler Hilfsorganisationen hatte Amanda zu viele Jahre gegen die Willkür von Bürokraten gekämpft, um sich jetzt genauso zu verhalten.

Ein dankbares Lächeln erhellte das Gesicht der Frau, als Amanda sie hereinbat. Während sie die Stiefel auszog, entschuldigte sie sich für den Schnee auf dem Parkett aus Kiefernholz. »Merci mille fois«, sagte sie. »Schon allein dafür, dass Sie mich anhören und meinen Sohn nicht wie einen faulen Apfel aussortieren.«

»Wie heißt er denn?«

Die Frau sah auf, und ihre blonden Locken fielen ihr über die Augen. Das Blond war künstlich, wie der graue Haaransatz verriet, aber beim Stylen hatte sie sich alle Mühe gegeben. »Entschuldigen Sie. Mein Name ist Ghyslaine Prevost, und er heißt Luc Prevost. Genau genommen Luc Prevost-MacLean, aber er verzichtet auf MacLean. Seit sein Vater uns verlassen hat. Und ich bestehe nicht darauf.«

Amanda kannte die Liste der zwölf Jugendlichen, die für ihr Extrem-Abenteuer in den Laurentinischen Bergen angemeldet waren, und der Name des Jungen stand weder darauf noch auf dem längeren Verzeichnis der dreißig Anwärter, die Matthew Goderich von dem Jugendberater erhalten hatte, der bei ihrem Projekt mitarbeitete.

Amanda hatte sich seit über zehn Jahren mit Leidenschaft als Entwicklungshelferin engagiert und niemals vorgehabt, das aufzugeben, doch das mörderische Wüten von Boko Haram in dem nigerianischen Dorf, in dem sie arbeitete, hatte alles verändert. Fast zweihundert Schulkinder waren entführt oder getötet worden, ihre Eltern abgeschlachtet und ihr Dorf niedergebrannt. Zwei Jahre später waren die Erinnerungen an jene Nacht und an ihre eigene grauenvolle Flucht noch so lebhaft, dass sie bezweifelte, jemals wieder in einem Entwicklungsland arbeiten zu können.

Als sie im letzten Herbst nach einer neuen Perspektive gesucht und Familien-Spaß konzipiert hatte, schienen die Prämissen klar: eine Fundraising-Tour für gemeinnützige Abenteuerreisen in die berühmtesten Gegenden Kanadas. Die Erlebnisreisen sollten Lebensfreude und Zugehörigkeitsgefühl stärken, aber vor allem die Hoffnung auf eine Zukunft, sowohl für sie selbst als auch für die teilnehmenden Familien und Jugendlichen.

Die Logistik für die Projekte erwies sich jedoch als wesentlich komplizierter als erwartet. Die Auswahl der Reiseziele und Aktivitäten vor Ort war einfach gewesen – für den bevorstehenden Ausflug waren sechs Tage geplant, mit Schneeschuhwanderungen, Skilanglauf und Winter-Camping in der Nähe des weltberühmten Mont-Tremblant-Nationalparks nördlich von Montreal –, die Auswahl der Teilnehmer dagegen ganz und gar nicht. Seit sie mit ihrer Spendenaktion Aufmerksamkeit erregt hatte, zum Teil auch durch Matthews außergewöhnliches Talent, in den sozialen Medien für Furore zu sorgen, war sie von Vorschlägen für hilfsbedürftige Gruppen überflutet worden und von zahllosen Bitten von Eltern, ihre Kinder mitzunehmen.

Es war Matthews Idee gewesen, sie vor dem Ansturm – und dem daraus resultierenden Ärger – zu schützen, indem er diese Aufgabe übernahm. Er behauptete zwar, auf diese Weise könne sie den Gruppen unbelastet gegenübertreten, doch sie vermutete, dass er auch ihre Gemütsverfassung berücksichtigte. Matthew kannte sie besser als jeder andere; seit er als Auslands-Korrespondent arbeitete, hatten sich ihre Wege häufig gekreuzt – in den abgelegenen Krisenherden dieser Welt. Er hatte in Westafrika über Boko Haram berichtet und sie unmittelbar nach dem Massaker getroffen, erneut nach den grauenvollen Torturen, die sie letzten Herbst in der Wildnis von Neufundland durchlitten hatte. Er kannte ihre Stressfaktoren, vielleicht sogar besser als sie selbst.

Nachdem Amanda Ghyslaine ins Wohnzimmer geführt hatte, setzte sich die Frau auf die Kante des Sofas nahe der Tür wie ein Vogel, der jederzeit zur Flucht bereit war. Kaylee reagierte instinktiv auf ihre Anspannung, sprang auf die Couch und schmiegte sich an sie. Amanda wollte ihre Hündin gerade rufen, als ihre Besucherin die Finger in ihrem seidigen roten Fell vergrub und lächelte, als hätte Kaylees Zauber bereits gewirkt.

»Was für ein hübscher kleiner Golden Retriever«, sagte sie. »Wie heißt sie denn?«

»Kaylee«, antwortete Amanda und erwärmte sich sofort für ihren Gast. Bei der Erwähnung ihres Namens horchte die Hündin auf. »Das bedeutet Fest. Sie ist eigentlich ein Nova Scotia Duck Tolling Retriever. Manche nennen sie auch kleine Goldene mit Charakter.«

Die Frau sah sich in dem Häuschen um, das Amandas Tante spartanisch mit Möbeln aus privaten Wohnungsauflösungen und von Flohmärkten eingerichtet hatte. Tante Jean besaß genügend Menschenverstand, um den Winter in Florida zu verbringen, so dass Amanda ihre Hütte und den Wagen benutzen konnte. Sie hatte keine großen ästhetischen Ansprüche, sondern legte lediglich Wert auf Bequemlichkeit, was Amanda durchaus entgegenkam. In dieses einfache, abgeschiedene Refugium flüchtete sie sich, um sich von Nigeria und Neufundland zu erholen. Ihre einzigen Zugeständnisse an die Moderne waren Telefon und Laptop, der geöffnet auf dem Schreibtisch am vorderen Fenster stand. Von hier aus konnte sie die Straße überblicken und immer sehen, wer kam. Eine kleine Maßnahme zur eigenen Beruhigung.

Amandas Besucherin schien das Fehlen jeglichen Überflusses zu bemerken, denn sie senkte den Kopf. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich weiß, dass Sie mit den Reisevorbereitungen beschäftigt sind, aber Herr Zidane ruft mich einfach nicht zurück. Er behauptet, die Entscheidung sei getroffen. Eine Vorstrafe wegen Gewalttätigkeit, sagt er. Aber das war nicht Luc, das waren die Drogen. Ja, Luc war wütend und verwirrt, aber dass er so verzweifelt reagierte, lag an den Drogen.«

Drogen und Gewalt, dachte Amanda bestürzt. »War er im Gefängnis?«

Vielleicht ahnte die Frau, dass eine Tür ins Schloss zu fallen drohte, denn ihr Blick wurde hart. »Ja, aber …«

»Wie oft?«

»Ein einziges Mal …«

»Wie viele Verurteilungen?«

»Warum achten Leute wie Sie eigentlich immer nur auf das Negative? Warum hat Luc denn überhaupt zu Drogen gegriffen? Er wollte nur etwas glücklicher sein und die Zurückweisung durch seinen Vater vergessen. Das ist doch wichtig. Luc braucht neue Hoffnung, etwas, was sein Leben lebenswert erscheinen lässt.«

»Aber die Drogen, Frau Prevost …«

»Ghyslaine. Bitte. Er ist jetzt clean. Herr Zidane war sein Berater und hat selbst gesagt, dass es ihm besser geht. Dann hat er sich plötzlich von ihm abgewendet – gerade als Luc endlich anfing, Vertrauen zu ihm aufzubauen. Und so einer will Berater sein? Das war wie eine erneute Zurückweisung!«

»Seit wann ist er denn clean?«

»Diesmal seit drei Monaten.«

Diesmal. Das klang nicht gerade vielversprechend. Amanda wurde schwer ums Herz, als sie sich wappnete und der Frau direkt ins Gesicht sah. »Sie verstehen doch, dass wir auf so einer Reise keinerlei Drogenkonsum oder Gewalt in Kauf nehmen können? Wir verbringen fünf Tage in der Wildnis, wohnen gemeinsam in Zelten und haben weder Internet noch Kontakt zu irgendwelchen Helfern. Das ist Bestandteil der Erfahrung.«

»Es gibt Satellitentelefone«, sagte Ghyslaine.

»Nur für außergewöhnliche Notfälle. Die Teilnehmer sind sehr verletzlich, Ghyslaine. Einige sind noch nicht lange hier und haben in ihren Heimatländern Schreckliches erlebt. Meine Aufgabe ist, sie alle zu beschützen. Sicher wären andere Gruppen für Ihren Sohn und seine Probleme besser geeignet.«

»Na klar. Stecken Sie ihn doch mit einer Horde von Süchtigen und Schwerverbrechern zusammen. Dort findet er bestimmt seinen Weg!«

Beim scharfen Ton des Gastes hob Kaylee den Kopf und verzog sich. Amanda hatte der Logik dieser Mutter nichts entgegenzusetzen und suchte nach einer positiveren Antwort. Die Frau und ihr Sohn brauchten Hilfe, und Amanda hasste es, ihnen nicht helfen zu können. Sie hatte es schon immer gehasst, Menschen in Not abzuweisen.

Ghyslaine interpretierte Amandas Schweigen als Absage, denn sie erhob sich und griff nach ihrem Parka. »Herr Zidane interessiert sich nur für die Muslime. Ihnen fühlt er sich verpflichtet. Luc ist für ihn nur ein verzogener kanadischer Bengel, der gar nicht weiß, was wirkliches Leid ist.«

Amanda ging die Liste der zwölf Kandidaten im Geiste noch einmal durch. Zweifel beschlichen sie. Hatte Zidane bewusst einen hilfebedürftigen jungen Mann übergangen, nur weil er Kanadier war? Amanda empfand den Berater als äußerst zurückhaltend und undurchschaubar, doch das College lobte seine Arbeit in den höchsten Tönen. Es gab tatsächlich mehrere Namen von Migranten aus dem Nahen Osten und Nordafrika, aber schließlich lag die Schule, an der Zidane beschäftigt war, in einem Viertel mit hohem Migrantenanteil. Das war einer der Gründe für ihre Auswahl gewesen. Kinder von Einwanderern mussten hart darum kämpfen, in Kanada heimisch zu werden, und hatten kaum Gelegenheit, die einzigartigen Reize ihrer Wahlheimat kennenzulernen, die mit ihren meist heißen und bevölkerungsreichen Herkunftsländern nicht vergleichbar war.

Ghyslaine starrte sie wütend an, als könne sie ihre Gedanken lesen. »Und kommen Sie mir bloß nicht mit diesem Unsinn, sie sollen Kanada entdecken. Wir wohnen im gleichen beschissenen Viertel wie sie, wir beobachten die gleichen Drogengeschäfte in den Parks und die gleichen Mädchen, die sich an jeder Ecke verkaufen. Wir hören die gleichen Babys schreien und riechen den gleichen Essensgestank. Sie müssen sich auch um die kanadischen Jugendlichen kümmern. Hat Luc weniger Rechte, nur weil er hier geboren ist? Wollen Sie meinen Sohn für den Betrug seines Vaters bestrafen, dafür, dass er uns verprügelte und auf einem Schuldenberg hat sitzenlassen?«

Die Bilder schossen Amanda durch den Kopf, während sie Ghyslaine zur Tür folgte. Unbewusst hatte die Frau genau die Gründe genannt, aus denen Amanda ihren Familien-Spaß ursprünglich ins Leben gerufen hatte – um benachteiligten Kindern einen Funken Hoffnung zu vermitteln.

»Ich werde mit Herrn Goderich reden«, hörte sie sich sagen. »Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber mal sehen, was er dazu meint.«

Matthew Goderich lehnte sich mit dem Stuhl nach hinten und schob frustriert seinen Fedora aus der Stirn. Sein kleines Büro war in dem winzigen Schlafzimmer seines Apartments in Lower Westmont untergebracht – dritter Stock ohne Fahrstuhl – und nahm mehr Raum ein als geplant. Drei Laptops standen auf dem Schreibtisch und zeigten die Webseiten verschiedener Nachrichtenagenturen; Bücher und Papiere drohten sich jeden Moment aus den Regalen entlang der Wände ins Zimmer zu ergießen, und auf dem zerwühlten Bett waren weitere Unterlagen ausgebreitet. Man hatte den Eindruck von völligem Chaos, doch Amanda war sicher, dass Matthew genau wusste, wo welcher Zettel lag und was darauf stand.

Als routinierter Journalist war er daran gewöhnt, seine Zelte in den ungastlichsten Ecken der Welt aufzuschlagen und von dort zu berichten. Er reiste meist nur mit einem Rucksack, in dem das Allernötigste steckte. Dass er einen kurzfristigen Untermietvertrag für eine Wohnung abgeschlossen und sie dermaßen vollgestellt hatte, war ein Beleg dafür, wie sesshaft er seit seiner Rückkehr nach Kanada geworden war.

»Luc Prevost bedeutet einen Haufen Scherereien«, sagte er.

Amanda schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln. Sie mochte Matthew mit all seinen Unzulänglichkeiten, aber manchmal versuchte er einfach zu sehr, ihr Leben zu kontrollieren. Natürlich nur, um sie zu beschützen, aber das allein ging ihr schon auf die Nerven. Wenn er sie weiterhin als verletzten Menschen behandelte, wie sollte sie sich da jemals wieder als gesund empfinden? Oft wünschte sie, sie hätte ihm die Geschichte ihrer grauenvollen Flucht durch halb Nigeria niemals anvertraut.

»Lass mich ausreden«, konterte sie und skizzierte in groben Zügen Ghyslaines Argumente. Bevor sie damit halbwegs fertig war, fauchte Matthew:

»Mütter! Für eine Mutter bleibt der Popo ihres heiß geliebten Babys immer so rosig wie am ersten Tag.«

»Trotzdem hat sie nicht ganz unrecht. Wenn ein junger Mann dringend jemanden braucht, der sich nicht von seiner Fassade abschrecken lässt, dann Luc.«

»Er und Hunderte anderer Gestalten, die unsere Innenstädte bevölkern. Amanda, selbst du kannst die Welt nicht retten, deshalb müssen wir unsere Kräfte konzentrieren. Zidane traut diesem Jungen nicht. Er beschreibt ihn als Außenseiter – missmutig und abweisend, wenn er nüchtern ist, aufbrausend und paranoid unter Drogeneinfluss. Er konsumiert am liebsten Kokain, weil er sich dadurch stark fühlt und gut drauf ist. Ihn in diese Gruppe aufzunehmen, wäre etwa so, als würde man ein Streichholz in einen Haufen Kienspäne werfen.«

»Zidane hat seine weitere Betreuung abgelehnt.«

»Und was sagt dir das?«

»Seine Mutter behauptet, er sei seit drei Monaten clean.«

»Du und ich, wir wissen beide, dass das auch nicht annähernd ausreicht. Beim kleinsten Ärger – und der wird garantiert nicht ausbleiben – wird er versuchen, Koks aufzutreiben, und wenn er dafür den Mont Tremblant rauf- und runterrennen muss.« Er beugte sich vor und sagte in versöhnlichem Ton: »Wir haben zwölf wirklich nette Jugendliche, die alle hochmotiviert sind. Warum sollte Luc Prevost überhaupt mitfahren wollen? Es macht doch keinen Spaß, eine Woche fernab von sämtlichen Kumpels zu verbringen, ohne Musik und Internet, ohne seine Stammlokale, nur um sich in einem Zelt den Hintern abzufrieren, während draußen die Wölfe heulen. Nein, das hat seine Mutter eingefädelt. Wozu solltest du einen missmutigen, asozialen Burschen auf so einen Ausflug mitschleppen?«

Amanda drehte ihre Tasse in den Händen und wappnete sich, bevor sie einen Schluck Kaffee nahm. Mit Matthews Gebräu könnte man einen Flugzeugmotor antreiben, und sie fragte sich immer wieder, wie er zehn Tassen davon trinken konnte, ohne abzuheben. »Vielleicht gerade deshalb – weil er missmutig und asozial ist? Und seine Mutter behauptet, dass er mitfahren möchte.«

»Wie ich bereits sagte: Mütter.«

»Sie behauptet auch, dass Zidane Muslime bevorzugt. Du weißt, dass ich eine gemischte Gruppe haben wollte, damit jeder etwas über den anderen lernt.«

»Haben wir doch. Haitianer, Asiaten, Afrikaner. Es stimmt, etwa die Hälfte sind Muslime, aber das ist nun mal die demographische Gruppe, mit der Zidane arbeitet, und meines Erachtens lassen die Bemerkungen der Mutter auf die dahinterliegende Botschaft schließen. Und darauf, woher Luc seine Komplexe hat.«

Um Zeit zu gewinnen, wagte Amanda vorsichtig einen Schluck; ihr Puls beschleunigte sich schon, als sie das köstliche, starke Aroma auf der Zunge schmeckte. Sie wusste, dass Matthew recht hatte – in allen Punkten. Ein destruktiver, möglicherweise krimineller Teilnehmer konnte den Ausflug für alle verderben. Und doch war sie zu dieser Odyssee aufgebrochen, um jungen Menschen zu helfen, ihnen einen Ausweg aus der Welt ihrer Eltern zu zeigen und die Chance, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen.

»Lass mich mit ihm reden. Ich werde ihm nichts versprechen, aber ich möchte mir selbst ein Bild von ihm machen, bevor ich ihn als riskanten Fall ausschließe.«

Amanda hatte sich auf so ziemlich jede Version eines jugendlichen Rebellen eingestellt. Auf einen Grufti, ganz in Schwarz gekleidet, mit klirrenden Ketten und dunkel geschminkten Augen. Auf einen stämmigen, bärtigen Gorilla mit Tattoos von Kopf bis Fuß. Oder auf eine bleiche, hohläugige Bohnenstange mit zitternden Gliedern. Doch der junge Mann, der am Eingang des Restaurants zögernd stehenblieb, wirkte vollkommen anders. Unter seinem Parka war er tadellos gekleidet: schwarze Jeans und ein Rollkragenpullover, der zu seinen Augen passte: himmelblau mit langen, dunklen Wimpern, wie die Augen seiner Mutter. Er trug einen gepflegten Vollbart und schien eher vom exklusiven Lower Canada College zu kommen als aus einer Mietskaserne im East-End.

Sein suchender Blick blieb an Amanda hängen, und er lächelte – ein erwartungsvolles Lächeln mit einer Spur Schüchternheit. Sie hatte sich in ihren üblichen dezenten Stil gekleidet: Jeans und Fleecejacke. Mit ihrem weichen, honigfarbenen Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, und ihren Sommersprossen, die sie nicht unter Make-up versteckte, sah sie vermutlich eher wie eine zierliche College-Studentin aus und nicht wie eine verletzte, aber weltgewandte Frau von Mitte dreißig.

Er eilte auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Frau Doucette? Hallo, ich bin Luc.« Seinen Fingern merkte man die Kälte draußen an, doch sein Händedruck war kräftig. Er zog den Stuhl hervor, hängte den Parka über die Lehne und zwängte seinen schlaksigen, eins achtzig großen Körper hinein. Amanda fragte sich, wie viel seine Mutter ihm wohl eingepaukt hatte und wie lange er die Fassade aufrechterhalten würde. Oder hatte er seine Drogen genau richtig dosiert?

»Schön, dich kennenzulernen, Luc. Ich hoffe, du magst vietnamesisch.« Sie hatte das Restaurant bewusst ausgewählt. Ein libanesisches Lokal hatte sie, um jeden Bezug zu Muslimen zu vermeiden, verworfen. Hier gab es original landestypisches und obendrein ausgezeichnetes Essen und genügend Privatsphäre für ein vertrauliches Gespräch, aber auch genügend Gäste, die bei eventuellen Schwierigkeiten Sicherheit boten.

»Hab ich noch nie probiert.« Er ließ den Blick über die Nachbartische schweifen, wo meist Suppe aus großen Schüsseln gegessen wurde. »Pizza zum Mitnehmen und St-Hubert-Grillhähnchen sind die bewährten Alternativen meiner Mutter.«

Sein Englisch war einwandfrei und erinnerte sie an sein vernachlässigtes MacLean’sches Erbe. Hinter seiner Liebenswürdigkeit spürte sie latente Nervosität. »Wo wohnst du?«, fragte sie, um ihm die Befangenheit zu nehmen.

Er nannte eine Straße, von der sie noch nie gehört hatte. »Im East End. Die Wohnung ist winzig, aber meine Mutter hat sie hübsch hergerichtet. Sie ist Künstlerin und hat ein Auge dafür.«

»Und seit wann gehst du aufs College de la Salle?«

Er zögerte. »Ich bin im zweiten Jahr, mit gewissen … Unterbrechungen. Falls ich bessere Noten schaffe, möchte ich nächstes Jahr auf die Uni gehen.«

»Und was studieren?«

»Weiß ich noch nicht genau. Meine jetzigen Noten reichen wahrscheinlich gerade mal so für ein allgemeines Kunststudium an der Concordia, aber eigentlich mag ich Politikwissenschaft und Geschichte.«

Immerhin ist er clever genug, nicht von Global Development anzufangen, dachte sie ironisch. Ihr eigenes Studienfach zu erwähnen wäre nun doch allzu offensichtlich gewesen. »Die Geschichte von Québec?«

Er schüttelte den Kopf. »Das will jeder studieren. Es ist komisch, aber nach all den Fernsehserien – Die Tudors, Wölfe, Die Borgias1 – finde ich Europa cool, im sechzehnten Jahrhundert.«

»Die Renaissance?« Sie konnte ihre Überraschung kaum verbergen. Luc war offensichtlich alles andere als der missmutige Außenseiter, den sie erwartet hatte.

Er kniff die Augen zusammen. »Richtig. Die Wiedergeburt. Eigentlich ging es eher um Hass, Mordkomplotte und Religionskriege, ganz ähnlich wie heute. Genau das ist ja so cool an Geschichte. Im Grunde haben wir uns nicht verändert.«

»Vielleicht entspricht das der menschlichen Natur. Es fällt dem Menschen schwer, auf Dauer gut zu sein.«

»Im Moment sieht es in der Welt tatsächlich nicht gerade rosig aus. Na ja, das wissen Sie viel besser als jeder andere.«

Wieder konnte Amanda ihre Überraschung nur mit Mühe verbergen. Wie viel Information hatte dieser junge Mann über sie ausgegraben und, was noch wichtiger war, warum? Geschickt umging sie seinen offensichtlichen Versuch, noch mehr über sie zu erfahren, und spielte den Ball zurück. »Wie sieht’s denn aus mit deinen Noten?«

Luc machte ein langes Gesicht. »Ich will nicht lügen – sie sind ziemlich mies. Ich habe das letzte Jahr – genauer gesagt die letzten Jahre – häufig die Schule geschwänzt.«

»Wieso?«

Er rutschte verlegen auf seinem Stuhl herum. »Sollen wir bestellen?«

»Das habe ich bereits: ihr Hausgericht Pho2 für uns beide.« Sie ließ ihn nicht aus den Augen. »Wieso?«

Er wirkte überrumpelt und deshalb für einen kurzen Moment wie der Achtzehnjährige, den sie erwartet hatte. »Haben Sie meine Akte gelesen?«

»Ja, aber ich möchte deine Version hören.«

Er seufzte. »Okay. Als ich im letzten Jahr auf die CEGEP3 kam, habe ich angefangen, mit den falschen Leuten rumzuhängen. Keiner meiner Freunde von der Highschool ging dorthin, also kannte ich niemanden. Ich gebe zu, das war dumm. Ich war einfach stinksauer. Gerade hatte uns mein Vater verlassen, hatte das Haus unter unserem Hintern weg verkauft, sein Geld in Offshore-Firmen investiert und war mit seiner neuen Frau nach Westmont gezogen. Also wohnte ich in einer neuen Wohnung, in einem neuen Viertel, ging auf eine neue Schule – ein enttäuschter Junge, der seine Wurzeln verloren hatte. Ein paar Jugendliche zeigten mir, wie man die miesen Gefühle loswerden konnte. Zuerst Gras und E, aber Kokain wirkte noch viel besser.«

»Und wie hast du das Kokain finanziert?«

Er wurde blass, hielt ihrem Blick jedoch stand. »Was denken Sie?«

»Ich denke an die verschiedensten Möglichkeiten.«

»Ich habe sie alle ausgeschöpft.« Er wandte den Blick ab. »Ich erinnere mich nicht gern daran. Es ist wie ein schwarzes Loch, und ich kämpfe jeden Tag darum, nicht wieder hineinzufallen.«

»Wie hast du diese Kehrtwendung geschafft?«

»Beratung.«

»Zidane?«

Er nickte. »Zuerst der Entzug in der Wohngruppe, aber nach meiner Rückkehr auf die Schule dann Zidane. Das College hatte ihn hinzugezogen, denn es gab einige Jugendliche, die nicht klarkamen und Hilfe brauchten. CEGEP ist wie ein Junior College4, aber es hat einen großen Nachteil. Wenn man einen Haufen Siebzehn- und Achtzehnjähriger neu zusammenwürfelt, müssen alle erst mal zurechtkommen. Es gibt eine Menge Versuchungen, vieles kann schiefgehen.«

»Und wie hat Zidane dir geholfen?«

»Wir haben über meinen Vater gesprochen, wer er war und wer ich sein möchte. Es ging auch um Selbstachtung und um die Fürsorge für den eigenen Körper …« Er wurde rot und senkte die Lider. »Das ist etwas sehr Persönliches.«

Amanda erwog, ihn zu fragen, warum er sich mit Zidane zerstritten hatte, entschied jedoch, gleich zum Wesentlichen zu kommen. Sie nutzte seine Beschämung und fragte beiläufig: »Bist du clean?«

»Ja.«

»Seit wann?«

»Seit drei Monaten.«

»Für einen Kokainsüchtigen ist das gerade mal eine Sekunde.«

»Ich weiß, aber ich arbeite dran. Mehr kann ich nicht tun.«

»Und wie?« Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Kellner sich mit ihren Nudelsuppen näherte, und bedeutete ihm mit einem kaum merklichen Kopfschütteln, zu warten.

Luc merkte nichts davon. Er beugte sich vor, eifrig bemüht, sie zu überzeugen. »Ich nehme nichts, was mir schaden könnte. Keinen Alkohol, keine Drogen oder Zigaretten, nicht einmal Koffein und Zucker. Ich gehe jeden Tag ins Fitnessstudio. Ich arbeite dafür, dass sich mein Körper erholt und mit ihm auch meine Seele.«

Amanda musste sich beherrschen, um keine Miene zu verziehen. Luc folgte dem gleichen Trainingsplan, den sie selbst genutzt hatte, um die Schrecken Afrikas auszulöschen und die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen. Als ob sie durch den Aufbau von Kraft und Stärke die Erinnerung an ihre Ohnmacht bezwingen könnte. »Fällt dir das schwer?«

»Ja. Aber ich fühle mich auch bedeutend wohler, und meine Noten sind besser geworden. Mir bleiben fünf Monate, um das Blatt zu wenden, damit ich auf die Concordia gehen kann. Vielleicht sogar auf die McGill.«

»Willst du deshalb auf diese Reise mitkommen? Weil es sich auf deiner Bewerbung gut machen würde?«

Er blähte die Nasenflügel auf, als würde er etwas Widerliches riechen, und lehnte sich zurück. »Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich spiele keine Spielchen. Zugegeben, die Teilnahme an dieser Reise würde Eindruck machen. Aber eigentlich zählen in erster Linie die Abschlussnoten, und ich weiß, dass ich die verbessern kann, wenn ich mich anstrenge. Aber ich möchte …« Seine Stimme geriet ins Stocken, und er schaute auf seine Hände, die jetzt leicht zitterten. Emotionen oder Entzug, fragte sie sich.

»Du möchtest was?«

»Ich möchte beweisen, dass ich es schaffe. Mir selbst. Ich weiß, dass ich schwach bin und so ziemlich jeden Charaktertest vergeigt habe, dem ich ausgesetzt war. Ich möchte wissen … ob ich den Mumm habe, diesen zu bestehen. Zuversicht erzeugt neue Zuversicht. Das ist es, was ich brauche.«

2. Kapitel

Frischer Schnee fiel und hüllte die Bäume in einen weißen Mantel. Straße und Gräben verschwammen, sodass Amanda das Lenkrad fester umklammerte und angestrengt nach vorn schaute. Kaylee wachte auf dem Beifahrersitz und drehte den Kopf in gespannter Erwartung unablässlich hin und her. Sie ahnte nicht, wo die Reise hinging, doch Amanda wusste, dass sie die Landschaft aus endlosen Wäldern und Bergen und zugefrorenen Seen erkannte. Draußen auf dem Land zu sein bedeutete freien Auslauf, ohne Leine, und Wildpfade, die es zu erschnüffeln galt. Draußen zu sein bedeutete Abenteuer.

Amanda kraulte sie hinter den Ohren. »Ja, wir werden Abenteuer erleben, Prinzessin, aber nicht heute. Wir haben ein Riesenproblem zu lösen. Ich verspreche dir einen kleinen Spaziergang, vielleicht sogar eine kurze Skifahrt, aber zuerst muss ich mit Freunden sprechen.«

»Freunde« war eine etwas übertriebene Formulierung, denn sie hatte Sebastien und Sylvie nur wenige Male getroffen, doch dieser feine Unterschied war für Kaylee irrelevant. Sie schloss schnell Freundschaften; jeder, der mit ihr spielte, wurde zum Freund. Weitere charakterliche Spitzfindigkeiten interessierten sie nicht.

Amandas Extrem-Abenteuer in den Laurentinischen Bergen sollte in einer Woche starten, und zwar vom Ausgangspunkt eines Wanderweges in einem Naturschutzgebiet unmittelbar nördlich des Mont-Tremblant-Nationalparks. Alle Planungen hatten sich beinahe wie von selbst ergeben, bis vor zwei Tagen, als die Reiseführer vor Ort anriefen und erklärten, dass sie aussteigen wollten. Sylvie hatte sie angerufen, war jedoch schon nach wenigen Worten zu aufgebracht, um eine zusammenhängende Erklärung abzugeben, nicht einmal auf Französisch. Ihr Mann übernahm das Gespräch, ruhiger, aber bestimmt.

»Es ist nichts Persönliches, Amanda. Du weißt, wie sehr wir dein Vorhaben bewundern. Es geht um eine gute Sache. Allerdings sollte Politik dabei keine Rolle spielen, schon gar nicht Politik, die Frauen benachteiligt. Dabei machen wir nicht mit, und ich werde nicht zulassen, dass Sylvie diskriminiert wird.«

Amanda hielt sich im Ferienhäuschen ihrer Tante auf und traf letzte Vorkehrungen für den Ausflug. »Wovon redet ihr? Was ist passiert?«

»Herr Zidane hat mich angerufen und gebeten, anstelle von Sylvie einen männlichen Reisebegleiter zu finden. Als ich nach dem Grund fragte, erwiderte er, einige Schüler seien äußerst konservativ und könnten sich durch die Anwesenheit einer Frau beim Zelten und den Gruppenaktivitäten gehemmt fühlen.«

Amanda war verblüfft. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn! An dem Ausflug nehmen Jungen und Mädchen teil. Ohnehin fährt Sylvie als Reiseleiterin mit und nicht als Anstandsdame. Wir haben bereits vereinbart, dass sie nicht im Zelt der Jungen übernachten wird.«

»Nein, aber es gibt gemeinsame Toiletten …«

»Es gibt keine Toiletten!«

»Umso schlimmer. Nicht mal ein Minimum an Privatsphäre. Sie werden Sylvie um Rat fragen müssen, wenn es um die Ausrüstung und ihre Benutzung geht.«

»Wir haben vier erwachsene Reiseleiter, Sebastien. Zwei männliche und zwei weibliche. Ich bin auch eine Frau. Hat er plötzlich auch Einwände gegen mich?«

»Ich erzähle dir nur, was er gesagt hat. Die Schüler haben Bedenken geäußert …«

»Die Schüler? Oder ihre Eltern?«

»Er sprach von den Schülern«, antwortete Sebastien. »Unter diesen Umständen verstehst du sicher meinen Protest. Falls diese Jungs es inakzeptabel finden, mit einer Frau umgehen zu müssen …«

»Überlasst das mir, Sebastien. Gebt nicht vorschnell auf.«

»Die Kränkung ist bereits geschehen, Amanda.«

»Ich bringe das in Ordnung.«

Sofort rief sie Matthew an. »Matthew, was soll das? Was glaubt Zidane, wer er ist? Wieso erzählt er unseren Reiseleitern, dass keine Frau mitkommen darf? Zuerst versucht er, ein Veto gegen Luc Prevost einzulegen, und jetzt führt er sich auf wie ein Fundamentalist?«

»Einige Eltern haben gedroht, ihre Kinder abzumelden.«

»Diese Kinder sind siebzehn und achtzehn Jahre alt! Und die Eltern sind hier nicht der Boss. Auch Zidane nicht. Du kennst mich doch. Du weißt, wie sehr ich mich für Toleranz und die Rechte der Frauen eingesetzt habe. Denkst du, ich würde so etwas auf einer meiner eigenen Reisen tolerieren? Das widerspricht doch allem, was ich zu erreichen versuche – Menschen zusammenbringen, sich gegenseitig achten, Kindern die Möglichkeit geben, die Einschränkungen ihres Alltags zu überwinden.« Sie blickte missmutig aus dem Fenster ihres Häuschens. Erste Schneeflocken wirbelten zwischen den Bäumen herab. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Jemand hat eine große Geldsumme gespendet …«

»O nein, untersteh dich!« Sie umklammerte den Hörer und zwang sich zur Ruhe. »Familien-Spaß dient nicht der Geldbeschaffung. Ja, ich bin wirklich froh, dass zum Wohle von Kindern gespendet wird – und angesichts des gegenwärtigen Chaos mit den Dschihadisten hätten wir keine bessere Wahl treffen können, als eine Initiative für Kindersoldaten wie Romeo Dallaire zu unterstützen –, aber mein oberstes Ziel ist es doch, jungen Menschen eine Erfahrung zu ermöglichen, die ihnen Freude und Hoffnung vermittelt. Die geplante Reise soll Kinder von Einwanderern aus verschiedenen Teilen der Welt zusammenbringen.«

»Das tut sie auch«, entgegnete Matthew. »Aber dabei zeigen sich nun mal gewisse unterschiedliche kulturelle Ansichten. Wenn wir diese Jugendlichen einbeziehen möchten, können wir die nicht einfach mit Füßen treten.«

Amanda rollte mit den Augen. Der Schnee fiel dichter, die Flocken tanzten im Lichtschein der Außenbeleuchtung und versprachen erstklassige Schneeverhältnisse für ihr Ski-Abenteuer. »Eine Frau als Begleitperson bedeutet noch lange nicht, ihre Kultur mit Füßen zu treten, Matthew. Bei allem Respekt, immerhin stellen wir fünfzig Prozent der Bevölkerung, und falls einigen der Schüler der Kontakt mit uns unangenehm sein sollte, dann ist das möglicherweise nicht die richtige Reise für sie.«

»Heißt das, du willst sie ausschließen?«

Amanda seufzte. Sie hasste es, jemanden auszuschließen, der gern mitfahren wollte, aber ein Minimum an gegenseitigem Respekt war einfach Voraussetzung für das Gelingen ihres Vorhabens. Während ihrer Jahre im Ausland hatte sie zu häufig tief verwurzelte Vorurteile und Ausgrenzung erlebt und kannte deren destruktive Kraft. Sie konnte nicht jeden erreichen oder verändern, schon gar nicht innerhalb einer Woche.

»Ja«, antwortete sie. »Informiere Zidane. Ich bin sicher, er hat noch Jugendliche auf der Warteliste. Inzwischen versuche ich, unsere Abmachung mit Sylvie und Sebastien zu retten.«

Auf dem Weg zum Landhaus der Outdoor-Ausstatter und Reisebegleiter ging Amanda ihre Argumente in Gedanken noch einmal durch. Während der Fahrt wurden die Berge immer höher und die kleinen laurentinischen Städtchen, die sich an die mit Skipisten übersäten Hänge schmiegten, immer seltener. Sie waren nach Heiligen benannt und von hohen, silbernen Kirchturmspitzen überragt und spiegelten wider, wie sehr die katholische Kirche einst das Leben in der Provinz Québec in ihrem Griff hatte. Heute nicht mehr. Sylvie war beispielhaft für die modernen Québecer mit ihrer Weltlichkeit, die sie trotzig verteidigten. Amanda konnte nicht von ihr verlangen, das zu verleugnen.

Die Laurentinischen Berge waren die Spielwiese für die Einwohner Montreals. Sie gehörten zum ursprünglichen Gebirgskamm der Appalachen, der sich wie ein Rückgrat aus Granit an der Ostküste Nordamerikas nach Süden wand – ein Freizeitparadies mit glitzernden Bergseen im Sommer und Wintersportorten von Weltrang in der kalten Jahreszeit.

Der Mont Tremblant5 war die Krönung dieses Traumlands und ragte als fast eintausend Meter hoher, sagenumwobener Monolith über seine Seen und Flüsse. Die Algonquin-Indianer hatten ihn Berg der Geister genannt und glaubten, dass der Felsen zitterte, wenn man die Geister störte. Die Geister sollten ihn jetzt mal sehen, dachte Amanda sarkastisch. In den letzten Jahren war hier ein alpines Skigebiet entstanden mit sechsundneunzig Pisten für Abfahrtsläufer, Langlauf-Loipen, Restaurants und luxuriösen Berghütten. Eigentumswohnungen, teilzeitgenutzte Ferienimmobilien, Golfplätze und Boutiquen schossen aus dem Boden und stellten die idyllischen, für diese Region typischen Dörfer in den Tälern in den Schatten.

Amanda, die viele Jahre in dicht bevölkerten, heißen Ländern gearbeitet hatte, wusste die weiten Landschaften, sauberen Flüsse und das üppige Grün ihrer Heimat zu schätzen, und als sie sich auf die Suche nach dem perfekten Ort für ihr nächstes Wohltätigkeits-Unternehmen machte, war sie bestürzt über das Gewimmel und Gedränge in den Laurentinischen Bergen.

Bis sie Sylvie und Sebastien Laroque kennenlernte. Letztes Jahr im November, auf einer Fähre mitten im Sankt-Lorenz-Strom, hatten sie sie angesprochen. Sie kehrte gerade von New Brunswick über den Fluss zurück nach Québec – nach einer Motorradtour zu Werbezwecken sowie auf der Suche nach einem neuen Abenteuer-Reiseziel. Der erste Ausflug war ein bescheidenes Wochenende in den Cape Breton Highlands in Nova Scotia gewesen, für Kinder von arbeitslosen örtlichen Bergarbeitern. Der Erfolg dieses Wochenendes und Matthews hartnäckiges Drängen hatten sie ermutigt, das nächste bereits zu planen, während sie noch im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stand.

Sie bewunderte gerade vom Schiffsdeck aus die atemberaubende Kulisse der Gaspé, einer Halbinsel an der Mündung des Sankt Lorenz, als ein junges Paar auf sie zustürzte.

»Amanda Doucette!«, riefen beide. »Ihr grünes Motorrad und Ihr roter Hund – wir würden Sie überall erkennen! Dürfen wir Sie zu einem Drink einladen, wenn wir in Godbout anlegen?«

Aus dem Drink wurde ein Abendessen, bei dem der Wein ebenso ungezwungen floss wie die ständig zwischen Französisch und Englisch wechselnde Unterhaltung. Als Amanda erwähnte, dass sie ein Winter-Abenteuer auf der Gaspé plane, sahen sie sie verblüfft an.

»Mais non! In Québec muss man doch zum Mont Tremblant. Nichts ist so spektakulär, so gewaltig und reizvoll. Der Berg liegt nur hundert Kilometer von Montreal entfernt und bietet jede erdenkliche Winteraktivität. Sebastien und ich betreiben in der Nähe eine eigene Reiseagentur und würden uns sehr geehrt fühlen!«

Amanda war skeptisch, denn ihre Tante Jean hatte ihr Horrorgeschichten über die rasante Erschließung dieses Skigebietes erzählt. »Aber dort wimmelt es doch nur so von Touristen, Golfplätzen und Luxuswohnungen«, erwiderte sie.

»Nicht überall«, entgegnete Sylvie. Sie sprach besser Englisch als ihr Mann und bestritt daher den Großteil der Unterhaltung. »Der Nationalpark ist riesig und im Norden fast völlig unberührt. Daneben liegt ein großes Naturschutzgebiet. Wo wir euch hinführen, gibt es garantiert keine BMWs oder Wellnessbäder. Wir bieten Winter-Camping, Skilanglauf und Hundeschlittenfahrten, und obendrein sind Sebastien und ich wahre Gourmet-Köche, selbst auf einem Campingkocher.«

Und so hatte die Partnerschaft begonnen. Amanda hatte ihr Ausrüstungsgeschäft außerhalb der kleinen Ortschaft La Macaza besucht und war ein Stück durch die Wildnis gewandert, gerade, als der erste Schnee fiel. Sie hatte sich sofort verliebt. Durch das Gebiet spann sich ein feines Netz von Seen und Flüsschen, die sich um bewaldete Hügel schlängelten oder über Felsvorsprünge in die Tiefe stürzten. Matthew hegte gewisse Zweifel, was die Motivation von Sylvie und Sebastien betraf; er fürchtete, sie betrachteten Amanda nur als lukrative Werbung für ihr noch junges Unternehmen. Sie beteuerten jedoch, voll und ganz hinter der Idee ihres Projektes zu stehen.

Bis jetzt hatte Amanda ihre eigenen, geheimen Zweifel gehegt, doch die abrupte Aufkündigung aller Absprachen hatte ihre Skepsis zerstreut. Sebastien und Sylvie hatten durch einen Rückzug weit mehr zu verlieren als sie selbst, egal, wie redlich ihre Argumente sein mochten.

Das Paar betrieb sein Geschäft in einem etwa hundertjährigen Bauernhaus, das vorher ein einfaches Hotel gewesen war. Sie hatten das alte Gebäude vor zwei Jahren zu einem Spottpreis gekauft, nachdem es wegen der größeren und moderneren Landhäuser rund um das Mont-Tremblant-Resort eine ganze Weile leer stand. Abseits des überlaufenen Touristenzentrums hatten sie es zum angenehmen Ausgangspunkt für Ökotouristen und individuelle Abenteuertouren ausgebaut.

»Wir können anbieten, was ihr wollt!«, hatte ihr Sylvie bei diesem ersten Besuch versichert, während sie Amanda ein köstliches Rehragout servierte, das ihre Kochkünste eindrucksvoll unter Beweis stellte. Die Wände der gemütlichen Bauernküche waren mit Hockey-Utensilien der Montreal Canadiens bedeckt, darunter Spielertrikots mit Autogrammen, alte Schlittschuhe und Schläger. Sylvies Augen strahlten vor jugendlichem Selbstvertrauen. »Sebastien und ich sind in diesen Bergen aufgewachsen. Wir kennen sämtliche Flüsse und Wanderwege. Wir können Schneeschuhe oder Langlaufskier benutzen und sogar Hundeschlitten fahren!«

»Ich bringe Stadtkinder aus Montreal in die Wildnis«, hatte Amanda geantwortet. »Die wollen alles ausprobieren, sind aber Anfänger. Sie sollen sich über die Bewältigung neuer Aufgaben freuen und stolz darauf sein. Ich möchte kein Risiko eingehen. Sie müssen nicht dreißig Kilometer pro Tag auf Skiern zurücklegen, sondern sollen einfach den Kick erleben, leicht wie eine Feder über den Schnee zu gleiten. Manche von ihnen kommen aus Kulturen, in denen man Angst vor Hunden hat, deshalb würde ich auf Hundeschlitten verzichten. Ich werde Kaylee mitbringen, aber zusätzliche Hunde könnten zu viel Stress machen. Mein Ziel ist, dass sie sich aufbauen, dass sie Spaß haben, Gemeinsamkeiten entdecken und sich ein kleines bisschen in dieses Land verlieben.«

»Pas d’problème. Uns genügen auch drei Kilometer pro Tag, wenn du willst. Ich habe deine Idee verstanden und werde ein perfektes Programm ausarbeiten.«

Und genau das hatte sie getan. Sie hatte einen fünftägigen Ausflug ins Hinterland des Rouge-Matawin-Wildreservats nördlich des Mont Tremblant geplant, einschließlich einer Schneeschuhwanderung über vier Kilometer zum Basislager, wo sie vier Nächte mitten im Wald am Ufer eines kleinen zugefrorenen Sees verbringen würden. Sie hatte ihre Verbindungen spielen lassen und Beamte umschmeichelt, um Sondergenehmigungen zum Zelten und Eisfischen zu bekommen, hatte eine ausgezeichnete Speisefolge regionaler Gerichte zusammengestellt, die alle auf dem Holzofen zubereitet werden konnten, und war sogar bereit gewesen, auf ihre unverkennbare, hausgemachte frankokanadische Bauern-Schweinswurst und Fleischpastete zu verzichten – aus Respekt vor den Essgewohnheiten der Muslime. Sie legte überschäumende Kreativität und Begeisterung für diesen Ausflug an den Tag.

Doch als sie diesmal die Tür öffnete, um Amanda und Kaylee hereinzulassen, fehlte jegliches Lächeln und Strahlen in ihren Augen. »Vielen Dank für deine Unterstützung«, sagte sie.

»Zidane hat zugestimmt, dass du mitkommst«, erwiderte Amanda. »Die meisten Schüler sind auch einverstanden oder haben ihre Eltern überzeugt.«

»So weit hätte es gar nicht kommen dürfen.«

Amanda versuchte es mit einer gemäßigten Position. »Frischgebackene Kanadier müssen sich mit vielen Dingen auseinandersetzen, sie sind neu in diesem Land und häufig auch neu in unserem Kulturkreis. Es ist für die Kinder und ihre Eltern oft beängstigend.«

»Das weiß ich. Aber hier geht es um kanadische Werte. Um meine Werte. Und die sind nicht mit meinen Kunden verhandelbar.« Sie drehte sich um und führte Amanda durch den Laden zur Büronische dahinter, wo ihr Mann am Computer arbeitete. Er hielt inne und kraulte Kaylee hinter den Ohren.

»Immerhin haben wir das Problem aus der Welt geschafft«, sagte Amanda. »Den Familien ist es recht, solange ihr beide mitfahrt. Die Mädchen schlafen mit dir in einem Zelt, die Jungen mit Sebastien und Zidane in zwei Zelten.«

Als Sebastien sie traurig anlächelte, begriff sie, dass das Problem noch nicht gelöst war. Sylvie verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Ich habe viel darüber nachgedacht und glaube nicht, dass ich mit diesem Mann arbeiten kann.«

»Zidane?«

»Oui. Sein Einwand allein offenbart doch schon seine Vorurteile und wie wenig er von Gleichberechtigung hält.«

»Glaub mir, er ist dem größten Teil der Welt um Lichtjahre voraus«, antwortete Amanda. »Wir selbst haben für unsere Gleichberechtigung und die Toleranz von Unterschieden jahrhundertelang gekämpft. Noch vor weniger als hundert Jahren prügelten sich unsere katholischen und protestantischen Vorfahren überall auf den Dorfstraßen in Ontario und Québec. Wir sind noch nicht sehr weit davon entfernt. Fanatismus ist auch heutzutage weit verbreitet, trotz unserer besonderen kanadischen Werte.«

»Umso wichtiger ist es, für diese Werte einzustehen«, entgegnete Sylvie. »Gleichberechtigung und gegenseitiger Respekt sind etwas sehr Zerbrechliches, das man verteidigen muss. Wahrscheinlich würde ich den Kerl schon am ersten Tag umbringen.«

»Das würde sie tatsächlich tun«, warf Sebastien trocken ein, sodass alle erleichtert lachten.