Jacqueline Sheehan is the acclaimed author of The Center of the World and other NY-Times-Bestseller. In addition to being a fiction writer and essayist, she is also a psychologist. She is a New Englander through and through, but spent twenty years living in the western states of Oregon, California, and New Mexico doing a variety of things, including house painting, freelance photography, newspaper writing, clerking in a health food store, and directing a traveling troupe of high school puppeteers. She lives near Northampton in Western Massachusetts.
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Christiane Winkler studierte Italianistik, Anglistik und Kommunikationswissenschaft in München und Genua. Seit über zwanzig Jahren übersetzt sie aus dem Englisch und Italienisch. U.a. übertrug sie Mary Kay Andrews ins Deutsche.
Was hast du gesehen?
An einer abgelegenen Straße in Maine wird ein fünfjähriges Mädchen gefunden. Ihre Kleidung ist mit Blut bespritzt, das nicht von ihr stammt, und niemand weiß, zu wem sie gehört. Als in einem Haus in der Nähe drei Leichen gefunden werden, vermuten die Ermittler darunter auch die Mutter – doch keiner der Toten war mit dem Kind verwandt. Dalia Lamont, die in einer Einrichtung für Pflegekinder arbeitet, nimmt sich des Mädchens an. Was hat es beobachtet, worüber es nicht sprechen kann?
Spannend und hochemotional – die verzweifelte Suche nach einer Mutter.
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Das namenlose Mädchen
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Christiane Winkler
Inhaltsübersicht
Über Jacqueline Sheehan
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel: J Bird
9. Kapitel: J Bird
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel: Hayley
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel: Hayley
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel: Juniper
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel: Juniper
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel: Juniper
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel: Juniper
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel: Juniper
50. Kapitel
51. Kapitel: Juniper
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel: Mai
Danksagung
Impressum
Für Ruth Lundin.
Du hättest die Gerichte im J Bird Café geliebt.
Jen und Richard aßen in South Portland in dem Fischrestaurant zu Abend, von dem ihre Tochter ihnen schon so oft vorgeschwärmt hatte. Und man aß genau so gut, wie sie es erwartet hatten. Jen hatte eine Hummerrolle bestellt, vor Rich hingegen türmte sich ein Teller voller Fish and Chips. Das Lokal war eines dieser typischen amerikanischen Restaurants, in dem man etwas bestellte, gleich bezahlte und eine Nummer bekam.
Das Beste daran war der Picknicktisch hinter der Fischbude mit Blick aufs Meer. Jen stellte sich vor, wie sie den Abend wohl genossen hätte, wenn sie fünfundzwanzig Jahre jünger und noch frisch verliebt gewesen wären oder wenn Rich wenigstens noch gewusst hätte, worüber er reden sollte. Sie aßen die meiste Zeit über schweigend. Jen dachte wehmütig an die Zeit zurück, als sie beide noch in ihrer Rolle als Eltern aufgegangen waren und ein Team gebildet und viel miteinander gelacht hatten.
Nach dem Essen setzten sie sich wieder in ihren Chevy Silverado Pick-up und schnallten sich an. Rich wandte sich zu ihr und sagte: »Komm, wir nehmen den Umweg über die große Farm der Johnsons, sie steht zum Verkauf.« Okay, das hörte sich nach einem netten Ausflug an. Sie legte eine CD des frühen Bruce Springsteen ein und fühlte sich gleich ein wenig jünger. Sie ließ ihr Fenster herunter und trommelte mit den Fingern auf den Seitenspiegel. Sie fuhren an Büscheln von Strandgras und rot gefiederten Roststärlingen vorbei, die auf Rohrkolben saßen. Die Häuser hier waren kleiner und sahen aus wie früher, sie wirkten nicht so schrecklich pompös. Jen streifte ihre Sandalen ab und wackelte mit den Zehen.
Es war Ende August, und man merkte schon um acht Uhr abends, dass die Tage wieder kürzer wurden.
»Schau mal«, sagte Rich, nahm seinen Fuß vom Gas und drehte Bruce Springsteen leiser.
Eine Wolke schob sich vor die tief stehende Sonne. Vor ihnen auf der Straße stand ein kleines Kind und lutschte am Daumen. Schon vor ein paar Meilen war die Straße zu einer Schotterpiste geworden, so dass sie nur langsam fahren konnten. Der Kies knirschte wie Styropor unter den dicken Reifen des großen Pick-up.
Das Kind trug weiße Shorts. Nirgends parkte ein Auto an der Straße, weit und breit waren keine Häuser mehr zu sehen, nur die Nase eines Baggers war in die Erde gegraben, um ein neues Fundament auszuheben.
Jen zog ihre Hand zurück und schlüpfte wieder in ihre Sandalen. Ihr großer Wagen musste einem Kind schreckliche Angst einjagen.
Sie fuhren etwas näher heran. Jen war eine zierliche Frau und konnte gut mit Kindern, sie wirkte bestimmt nicht so angsteinflößend wie ein Mann oder ein großes Auto.
Es war ein Mädchen mit braunem Haar, und seine Shorts stellte sich als eine weiße Unterhose heraus. Dazu trug es ein T-Shirt, bedruckt mit einer verblassten Disney-Prinzessin. Jen war sich nicht sicher, um welche Prinzessin es sich handelte.
Sie überlegte, was sie sagen sollte, ohne das Kind zu erschrecken. Das Mädchen musste etwa fünf Jahre alt sein.
»Hallo«, sagte Jen, nachdem sie ausgestiegen war, und blieb ein paar Meter vor dem Kind stehen. Das Mädchen war barfuß. »Ich heiße Jen. Wo sind denn deine Mommy und dein Daddy?«
Sie ging noch zwei Schritte auf das Kind zu und deutete dann hinter sich auf ihr Auto. »Das ist mein Mann Rich.« Sie blieb vor dem Kind stehen und ging in die Hocke, bis sie auf Augenhöhe war.
Das Mädchen hatte geweint. Ihr Gesicht schien mit einer feinen Staubschicht bedeckt zu sein, und die Tränen hatten Streifen auf ihren Wangen hinterlassen.
»Ich möchte dir gerne helfen, deine Familie wiederzufinden«, sagte Jen. Was hatte das Kind da an seinen Armen und am Hals? Ihr stockte der Atem. Das war Blut.
»Schätzchen, bist du verletzt?«
Das Mädchen lutschte weiter fest an seinem Daumen. Jen versuchte zu lächeln.
»Es wird alles wieder gut. Warte hier.«
Als sie die Tür des Wagens zuschlagen hörte, drehte sie sich um. »Ich habe schon angerufen«, sagte Rich und steckte sein Handy in die Vordertasche seiner Jeans zurück.
Er hielt eine Windjacke in der Hand. »Hier, zieh ihr das über.«
Hunde leben zwar nicht ewig, auch wenn wir das gerne möchten«, sagte Delia, »aber sie leben dafür in einem beschleunigten Paralleluniversum.«
Sie half Ben, dem örtlichen Tierarzt, bei der jährlichen Kastrationsaktion. Er hatte sie angerufen, weil ein ehrenamtlicher Mitarbeiter abgesprungen war. Sie hatten um sechs Uhr morgens begonnen und würden vor sieben, acht Uhr abends nicht fertig sein. Ben nähte mit winzigen Stichen eine Wunde am Bauch einer Terrier-Mischlingshündin zu.
»Du sprichst sonst nie von Paralleluniversen. Das ist wohl die betäubende Wirkung des OP-Saals. Aber ich weiß, was du meinst.« Ben trug seine OP-Brille, die wie eine Lesebrille aussah, nur größer und ähnlich wie die Brillen aus den Achtzigern: groß und rund, mit einem breiten schwarzen Gestell, das sich über die Augenbrauen und die Wangen wölbte.
Delia war keine Tierarzthelferin, kannte Ben aber seit der Junior High. Er war ein guter Freund ihres Vaters. Der letzte, der ihm geblieben war. Das Beste an Ben war, dass er die schlimmsten Geschichten über ihre Familie kannte und sie ihm nichts zu erklären brauchte.
Ben richtete sich stöhnend auf und drückte die Schultern nach hinten. »Die junge Dame hier ist bereit für den Aufwachraum.«
Die noch betäubten Tiere im Arm zu halten war die Aufgabe, die Delia in der Tierklinik am meisten mochte. Sie selbst hatte keine Kinder und wusste nicht, wie es sich anfühlte, ein Baby an die Brust zu drücken, darum hätte sie auch niemals behauptet, dass es dasselbe war, wie einen Hund oder eine Katze im Arm zu halten, dennoch rührte es sie. Sie behütete die Tiere, wenn sie nach dem Eingriff noch wehrlos und nicht in der Lage waren, sich selbst zu schützen. Das glich in gewisser Weise ihrem Job als Sachbearbeiterin einer Einrichtung für die Vermittlung von Pflegekindern.
Sie schob ihre Arme unter den kleinen Hund, hob vorsichtig den wackligen Kopf an und ging ins Hinterzimmer, in dem bereits andere Hunde in ihren Drahtkäfigen in verschiedenen Aufwachphasen lagen. Delia ging in die Hocke und legte die Terrierhündin auf die Handtücher, die die Mitarbeiter auf dem Käfigboden verteilt hatten. Dann legte sie ihre Hand auf den warmen Bauch und fühlte den Herzschlag.
Sie stand wieder auf und kehrte in den OP-Saal zurück. Ben streckte die Arme über den Kopf, drückte seine Hände ins Kreuz und schob das Becken nach vorne.
»Meine Frau findet, dass ich eine furchtbar schlechte Haltung habe und von der Seite wie ein Fragezeichen aussehe. Sie möchte, dass ich Yoga oder Tai-Chi mache. Im Fernsehen habe ich einmal ältere Leute gesehen, die langsame Bewegungen zu etwas machen, das Qi-Gong heißt. Bitte sag mir, dass es noch nicht so weit gekommen ist.«
Ben war Anfang fünfzig, doch Delia wusste, dass sein Alter nichts mit der Abneigung gegen körperliche Ertüchtigung zu tun hatte. Als junger Mann war er sehr sportlich gewesen, hatte danach aber nie den Draht zu einer dem Alter angemessenen Sportart wie Tennis oder Radfahren gefunden, geschweige denn zu esoterisch angehauchten Gebieten wie Tai-Chi. Weil er in der Highschool Footballspieler gewesen war, hatte er sich einer Knie-OP unterziehen müssen. Das war sechs Monate her, doch er hinkte immer noch.
Die nächste Hündin, eine Mischung aus Beagle und Boxer, wurde hereingebracht und schnell in Narkose versetzt. Ben beugte sich über die ausgestreckte Patientin und nahm das Skalpell, doch es fiel ihm scheppernd zu Boden. Er griff nach einem neuen, das auf einem Stahltablett bereitlag. »Bin heute wohl etwas unbeholfen«, sagte er.
Etwas kam Delia seltsam vor. Warum wirkte Ben verändert? Er war ein herausragender Tierarzt. Die Tiere liebten ihn. Sein Team, das fast ausschließlich aus jungen Tierarzthelferinnen bestand, arbeitete gern mit ihm zusammen. Für die Mitarbeiter des Tierheims war er der beste Tierarzt, weil er stets bereit war, verletzten Tieren zu helfen, auch wenn man die Besitzer nicht ausfindig machen konnte und niemand für die Kosten aufkam.
Auch Delia hatte nicht gezögert, als er sie um Hilfe gebeten hatte. Wie könnte sie auch? Er war nach dem Tod ihrer Eltern für sie und ihre Schwester Juniper da gewesen. Sie hätte alles für Ben getan, und so assistierte sie ihm gerne, damit weniger Tiere verwirrt und verängstigt im Tierheim landeten.
Doch irgendwas an ihm war anders. Es war so unauffällig, dass man es nicht bemerkte, wenn man ihn nicht gut kannte. Delia war mit einem überdurchschnittlichen Geruchssinn gestraft und hatte eine saure Ausdünstung wahrgenommen, der seinen vertrauten Geruch überlagerte. Dann die ruckartige Bewegung seiner Hand, mit der er nach dem Skalpell gegriffen hatte, die so gar nicht zu seinem ruhigen, überlegten Wesen passte. Wie er das chirurgische Instrument fallen ließ. Ach was, Delia war vermutlich nur übermüdet und unruhig, weil sie ihrem Chef Ira unter Wahrung der dreimonatigen Frist die Kündigung vorgelegt hatte. Eine viel zu lange Zeit, wie Delia empfand, jedoch nach Iras Meinung nicht lang genug. Nun blieben ihr noch vier Wochen.
Jill, die Sprechstundenhilfe, öffnete die Tür. »Delia, ein Anruf für dich aus der Einrichtung in Portland.«
Woher wusste Ira, dass sie in der Kastrationsklinik arbeitete? Sie hatte ihr Handy ausgeschaltet, aber vermutlich hatte er es bei ihrer Schwester versucht. Das verhieß nichts Gutes.
Delia folgte Jill ins Vorzimmer und nahm den Telefonhörer entgegen.
»Hi Ira«, sagte sie.
»Tut mir leid, dass ich dich in der Klinik störe, aber wir haben soeben eine Anfrage für eine Notunterbringung erhalten«, sagte er. »Wir brauchen dich.«
Auf dem Parkplatz vor der Vermittlungsstelle für Pflegekinder fiel Delia wieder ein, dass sie ihre aktuellen Fälle nicht sorgfältig dokumentiert hatte und zum ersten Mal in ihrer beruflichen Laufbahn nicht so gut organisiert war wie gewohnt. Sie zog deshalb ihren Laptop heraus und tippte vor ihrem Treffen mit Ira wie wild darauf herum.
Sie hatte auch zu ihrem letzten Fall noch keine Notizen gemacht. Sie gab den einzelnen Fällen insgeheim Titel, über die Ira nur missbilligend die Stirn gerunzelt hätte, weil sie möglicherweise der Tragödie eines Kindes nicht gerecht wurden oder das Drama der Eltern verharmloste, die wegen Alkohol, Drogen, psychischer Erkrankungen oder einfach schlechten Charakters aus der Bahn geraten waren.
Sie gab die Titel ihrer Fälle niemals preis, behielt sie aber im Kopf. Manchmal fassten sie ein ganzes Leben zusammen, andere bezogen sich nur auf eine Befragung. »Transformator Joe« hatte sie den Fall eines Jungen genannt, der sich innerhalb von Sekunden von einem süßen Kerl zu einem Tyrannen wandeln konnte. »Lass mir die Decke« war der Titel für einen Fall, in dem ein Kind furchtbare Zeiten mit Hilfe einer zerschlissenen blauen Decke überstanden hatte, von der inzwischen nur noch ein Stück, nicht größer als ein Taschenbuch, übrig war. »Wir sind Atome, die sich immer wieder neu verbinden« war die Überschrift für den Fall einer Familie mit vier Kindern, die über drei Pflegefamilien verteilt waren, bis Delia sich dafür einsetzte, dass eine Familie alle vier bei sich aufnahm.
Diese Titel halfen ihr dabei, sich die wichtigsten Einzelheiten im Leben eines Menschen zu merken, genau wie bei Fotos in einem Album, die man mit einer Überschrift versah. Nur wenige Menschen besaßen heutzutage noch Fotoalben. Sie speicherten die Fotos auf ihren Smartphones oder in ihrer Cloud. Delia wusste nicht genau, was eine Cloud war, und es war ihr peinlich, danach zu fragen. Wenn man ein Foto oder den Unterbringungsort eines Kindes in die Cloud gab, konnte man es dann jemals wieder daraus löschen? Sie würde einen Praktikanten fragen.
Ihr letzter Praktikant hatte zu ihr gesagt: »Wie alt bist du? Du wirkst viel älter, als du aussiehst.« Der Kommentar bezog sich wohl auf ihre Wissenslücken hinsichtlich der Cloud-Technologie. Sie war zweiunddreißig und hoffte, dass es nicht an ihrem Aussehen lag, auch wenn sie sich manchmal um Jahrzehnte älter fühlte.
Als Delia ihrem Chef Ira verkündet hatte, dass sie kündigen würde, hatte er das nicht gut aufgenommen. »Es ist wegen Juniper, oder? Du kannst dich nicht immer um sie kümmern.«
Doch in Wirklichkeit ging es bei der Kündigung um Delia selbst und darum, dass sie in ein neues Leben ohne Sozialdienst starten wollte.
Ira leitete die Einrichtung für die Vermittlung von Pflegekindern im südlichen Maine.
Und er hatte sich hochgearbeitet. Er war selbst ein Pflegekind gewesen, das man mit acht Jahren mit Verbrennungen aus dem Shriners Hospital in Boston entlassen hatte. Delia hatte ihn nie zu den Misshandlungen befragt, die ihm zugefügt worden waren; die Brandnarben an seinen Armen verrieten genug über das furchtbare Trauma, das er erlebt haben musste. Er war einer der Überlebenden dieses Systems und hatte nur zwei Pflegefamilien durchlaufen müssen, bevor er zu der Familie kam, die ihn adoptierte. Seine leibliche Mutter war an einer Überdosis Drogen gestorben, sein leiblicher Vater saß im Gefängnis und hatte die beste Entscheidung für seinen Sohn getroffen, indem er auf sämtliche Elternrechte verzichtet hatte. Ira war zu jemandem geworden, dem nichts entging, der jedes Zucken bemerkte, denn als Kind hatte er gelernt, wachsam zu sein und auf die Stimmungsschwankungen seiner Eltern zu achten, herauszufinden, ob deren Laune kippte.
»Es wird mir einfach zu viel«, hatte Delia zu ihm gesagt und seinen Kommentar über Juniper ignoriert.
Sie schrieb ihre Notizen fertig und speicherte sie ab, dann klappte sie ihren Laptop zu und betrat das Gebäude. Selbst jetzt, als sie alleine durch den Flur lief, spürte sie die Angst und die Wut der Kinder, die durch das System der Pflegefamilienzuweisung geschleust wurden. Es waren die Gefühle von Kindern, die von jenen Menschen misshandelt wurden, die sie liebten.
Delia befolgte alles, was sie im Laufe der Jahre bei Weiterbildungskursen gelernt hatte. Ihr letzter Workshop hatte das Thema »Klare Grenzen setzen« gehabt. Sie hatte Schlüsselworte gelernt, die man benutzte, damit einen das Leid der jungen Klienten nicht traumatisierte, und Informationen zum Thema Zuschauer-Trauma erhalten.
Sie betrieb Sport, hatte Freunde, nahm sich Auszeiten, wo es ging, machte Urlaub und hörte auf ihren Fahrten von der und zur Arbeit Musik statt Nachrichten. Trotzdem grub sich jedes neue Kind in Delias Innerstes, so wie Rost Autolack zerfraß. Das alles zusammen brachte sie irgendwann an ihre persönliche Schmerzgrenze.
Delia sah Kollegen, die diese Grenze überschritten hatten. Und sie wollte nicht zu dem verbitterten, fatalistischen Griesgram werden, in den sich andere verwandelt hatten.
Ab heute waren es noch dreißig Tage. Genügend Zeit, um ihre Projekte vernünftig abzuschließen, sie zu übergeben und sich aus den schweren Kämpfen zurückzuziehen. Doch nach Iras Anruf war Delia misstrauisch, was sie erwartete. Ihr Kinn fing zu kribbeln an, wie immer, wenn ein Fall besonders schwerwiegend war, wenn es um Kindesverwahrlosung ging. Oder noch schlimmer. Es war einfach da, und sie hatte gelernt, darauf zu hören. Es fühlte sich an, als krabbelten kleine Kreaturen ihren Kiefer entlang.
Sie rieb sich das Kinn und versuchte, dieses ihr vertraute Kribbeln zu verdrängen. Sie blieb lange vor ihrem Schreibtisch stehen, auf dem schon die neue Akte auf sie wartete. Ira hatte sie dort abgelegt und bereits ihren Namen vorne draufgeschrieben: Delia Lamont.
Nachdem sie die Akte gelesen hatte, schloss sie sie wieder. Das Kind war fünf Jahre alt und aus dem Krankenhaus entlassen worden. Man hatte Spuren von Blut an ihm gefunden, das aber nicht sein eigenes war. Der Kinderarzt hatte eine leichte Unterernährung attestiert, Schmutz unter den Fingernägeln und infizierte Mückenstiche entdeckt.
Es bestand Grund zu der Annahme, dass das Mädchen in einem Haus in der Bakersfield Road wohnte, das zu einem Tatort erklärt worden war. Der diensthabende Sozialarbeiter hatte es nicht betreten und nachsehen dürfen, ob dort irgendwas zu finden war, das eine Bedeutung für das Mädchen haben könnte, eine Decke oder ein Kuscheltier vielleicht.
Im Haus waren drei Personen gefunden worden, die man aus nächster Nähe erschossen hatte. Eine Frau und zwei Männer. Die Frau konnte anhand ihres Führerscheins als die sechsundzwanzigjährige Emma Gilbert aus Florida identifiziert werden. Die beiden Männer trugen keine Ausweise bei sich, als hätte man sie ihnen abgenommen oder als hätten sie erst gar keine gehabt. Für das Haus waren eine Kaution und die Miete in Höhe von 4600 Dollar für August und September einen Monat im Voraus an eine örtliche Agentur überwiesen worden. Auf dem Mietvertrag stand der Name Russ Tiggs. Nach Angaben der Polizei musste es sich um einen falschen Namen handeln, denn es gab niemanden mit dem Namen Russ Tiggs. Und über das Kind lagen auch keine Informationen vor.
Es war nicht das erste Mal, dass ein Kind ohne persönliche Akte zur Vermittlungsstelle für Pflegekinder kam. Manchmal rutschten Kinder jahrelang durch die behördliche Überwachung, wurden nie zum Arzt oder Zahnarzt gebracht und besuchten weder Kinderkrippe noch Kindergarten.
Ein Paar mittleren Alters hatte das Mädchen gefunden und war bei ihm geblieben, bis die Polizei kam. Es hatte darum gebeten, über den Zustand des Kindes informiert zu werden. Der erste Polizist vor Ort hatte das Mädchen nach seinem Namen gefragt, woraufhin es, ohne zu zögern, geantwortet hatte: »Hayley.« Doch als man es nach seinem Nachnamen fragte, zuckte es nur mit den Schultern.
***
Delia war froh, dass es Iras und nicht ihre Aufgabe war, die Eltern des Kindes ausfindig zu machen. Obwohl die Medien die Einrichtungen zur Vermittlung von Pflegekindern in der Regel sehr negativ darstellten, durften sie erst dann aktiv werden, wenn Kinder in einem Umfeld lebten, das einem regelrechten Kriegsgebiet gleichkam. Und manchmal waren Kinder auch völlig sich selbst überlassen.
Niemand wollte das Kind sein, das man in eine Pflegefamilie geschickt hatte, denn das hieß, dass irgendwas Schreckliches passiert war, dass sich die Eltern nicht genug gekümmert hatten, oft nicht einmal um sich selbst. Wenn die Kinder in der Schule mitbekamen, dass man in einer Pflegefamilie lebte, war man gebrandmarkt, als wäre völlig klar, dass man keine Liebe verdiente.
Delia blieb vor Iras Tür stehen, atmete ein paarmal tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Doch das funktionierte nicht. Im Büro schob sie Ira die Akte über den Schreibtisch zu und sagte dann: »Gab es wirklich keine Familienangehörigen, bei denen man das Kind hätte unterbringen können?« Sie warf einen Blick auf die Akte, auf deren Deckblatt ein Name stand. Hayley.
»Was geht hier vor, warum hast du ausgerechnet mich angerufen? Das Mädchen braucht vermutlich jemanden, der sie über eine längere Zeit aufnimmt.«
»Weil du die Beste bist. Glaubst du nicht, dass wir diesem Mädchen nicht weniger als das geben sollten?«
Sie konnte Ira nie etwas ausschlagen. An gewisse Umstände in ihrem Job würde Delia sich nie gewöhnen. Da war zum einen dieser Geruch der Angst, den ein Kind verströmte, wenn es verlassen wurde, wenn es unvorstellbar einsam war. Dann war es Delias Aufgabe, das Kind nach Freigabe durch die Polizei und das Krankenhaus in eine Notunterkunft zu bringen. Sie könnte niemandem beschreiben, wie diese Angst roch (sie hatte nicht einmal Juniper davon erzählt), denn sie bemühte sich sehr, den Geruch zu verdrängen.
Zum anderen war es die unerträglich drückende Stimmung, wenn die Eltern eines Kindes gestorben waren. Delia hatte einmal Fotos von der Eruption eines Vulkans gesehen und wie diese das ganze Leben drum herum ausgelöscht und zu Asche verbrannt hatte, so dass die Bäume wie Zahnstocher umfielen. Genau so sahen die Kinder aus. Hätte Delia sich jemals an diesen Teil ihres Jobs gewöhnt, hätte sie gekündigt. Nun, sie hatte gekündigt.
Was sie immer wieder erstaunte, war die Art und Weise, wie die Erinnerung von Kindern Dinge in einem freundlicheren Licht erscheinen ließ, eine überraschend freundliche Schutzmaßnahme des Gehirns. So wie auch Delia vergessen hatte.
***
Genau das wollte Delia bei dem Mädchen vermeiden, das man auf der Landstraße in South Portland gefunden hatte. Das Kind musste sich erinnern. Es war ungefähr fünf Jahre alt und hatte vermutlich mit angesehen, wie drei Erwachsene bei einem bewaffneten Raubüberfall ermordet wurden. Das Kind war fast eine Meile von dem Haus entfernt gefunden worden, in dem die Morde stattgefunden hatten.
Mit der Akte war Delia zum Southern Portland Police Department und zu Detective Lieutenant Michael Moretti gefahren. Er gehörte erst seit kurzem dem Police Department an, war jünger als die anderen, und aus irgendeinem Grund hatte Delia bisher noch nicht mit ihm zu tun gehabt. Er ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich neben sie auf einen Stuhl. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, wie seine Hände, die er verschränkt auf die Oberschenkel legte, ihren Blick magisch anzogen, oder auf seine sanften Augen, wenn er sie ansah. Auf seinem Schreibtisch stand das Foto eines kleinen Mädchens, er hatte also eine Tochter. Alle Männer, denen sie begegnete, schienen verheiratet zu sein.
»Solche Morde geschehen entweder im Affekt oder weil Drogen im Spiel sind. In unserem Fall gehe ich von Letzterem aus. Vor fünfzehn Jahren wäre ich mir da noch nicht so sicher gewesen, vielleicht nicht einmal vor zehn Jahren. Der Drogenhandel, vor allem mit Heroin, breitet sich wie eine Seuche über den Kontinent aus und gelangt in jeden entlegenen Winkel. An einer der Leichen hat man Heroinspuren gefunden.«
Delia gefiel seine Stimme, obwohl sie Schreckensnachrichten verbreitete.
»Gibt es irgendeinen Hinweis, mit Hilfe dessen wir das Kind identifizieren können? Waren die Opfer mit ihr verwandt?«
»Wir überprüfen gerade noch die DNA«, sagte der Detective und legte den Kopf schief, als versuche er, seine Worte sorgfältig zu wählen. »Ich will Ihnen sagen, womit wir es hier zu tun haben. Bei diesem Fall weist für mich alles darauf hin, dass sich größere Verbrechensorganisationen in der Gegend breitgemacht haben, um den Herointransport zu regeln und alles, was dazugehört, etwa verschreibungspflichtige Medikamente. Vielleicht sind die Opfer irgendwem in die Quere gekommen. Auf jeden Fall haben sie jemanden gehörig verärgert.«
Delia konnte nicht umhin, seinen guten Geruch zu bemerken.
»Wir hatten schon immer ein wenig Heroin in der Stadt, das ist nichts Neues. Und Crack«, sagte sie. Sie betrachtete ihn gerne, seinen Hals und seinen Adamsapfel. Sie schlug ihr rechtes Bein über das linke.
»Ich wurde eingestellt, weil ich Erfahrung mit dem Drogenhandel in Rhode Island habe, und um ehrlich zu sein, hat sich etwas verändert. Heroin ist einem Phänomen gefolgt, dessen Ursprung vor ungefähr fünfzehn Jahren zu suchen ist, als Ärzte anfingen, Oxycodon und andere Schmerzmittel zu verschreiben. Die großen Pharmakonzerne haben es versäumt, darauf aufmerksam zu machen, dass Oxy genau wie Heroin wirkt. Nehmen wir mal an, Sie bekommen ein künstliches Hüftgelenk oder hatten einen Autounfall, und ihr Knie ist kaputt. Sie bekommen Schmerzmittel, von denen viele Menschen abhängig werden. Und ich meine richtig abhängig.«
Er hielt inne, atmete aus und rieb sich den Nacken. Dann stellte er einen Fuß dichter an seinen Stuhl, wobei die Gummisohle seines Sportschuhs einen schwarzen Streifen auf dem Linoleumboden hinterließ. Irgendetwas beschäftigte ihn, unabhängig von seinem Job.
»Haben Sie einen persönlichen Bezug zu Heroin?«, fragte Delia.
Er zog ruckartig die Augenbrauen hoch. »Meine Nichte. Letztes Schuljahr, Basketballerin, Stipendium in North Carolina. Im Frühling vor ihrem Abschluss hatte sie einen Autounfall und brach sich den Fußknöchel. Wir dachten alle, sie würde sich wieder erholen, und das tat sie auch, so dass sie im Sommer bei einer Malerfirma anheuern konnte. Doch keiner von uns wusste, dass sie von Oxy abhängig war, das sie sich auf der Straße kaufte.« Er unterbrach sich. »Ich habe das außerhalb des Department noch niemandem erzählt.«
»Klingt, als hätten Sie Ihrer Nichte nahegestanden.«
Er schloss einen Moment die Augen. »Ich stand ihr nahe. Sie war ein tolles, kluges, wunderschönes Mädchen und hatte riesiges Talent für Basketball. In jenem Sommer fing sie auch mit Heroin an. Eine miese Lieferung erreichte Providence, und sie nahm eine Überdosis.«
Delia schnürte es den Hals zu. »Das tut mir sehr leid.«
Er blickte zu Boden, ein Muskel zuckte über seinen Kiefer.
»Was ich damals jedoch nicht wusste, war, dass das überall passiert, in allen fünfzig Staaten, in unzähligen Orten jedes Staates. Die Drogenindustrie verdient damit viel Geld, denn das Heroin hat sich in Vororte und ländliche Gegenden wie Maine, Vermont und Massachusetts verlagert. Überallhin. Es ist explodiert. Bis man wie meine Nichte wird, in seinem zweistöckigen Haus im weißen Amerika sitzt und sich im Keller den Schuss setzt. Unsere drei toten Opfer haben auch damit zu tun.«
Sein Handy surrte. »Tut mir leid, den Anruf muss ich annehmen. Ich sage Ihnen sofort Bescheid, sobald ich etwas über die Identität des Mädchens herausgefunden habe.«
Delia wäre gerne noch länger in seinem Büro geblieben. Aus Erfahrung wusste sie, dass die Polizei ziemlich frenetisch wurde, wenn es um ein Kind ging. Wenn ein Kind einem Verbrechen zum Opfer fiel, nahm die Polizei das sehr persönlich. Dieser Detective hatte selbst eine Tochter und trauerte über den sinnlosen Tod seiner Nichte.
Sie nahm ihre Tasche und die Akte und winkte ihm kurz zu, als er sich wieder hinter seinen Schreibtisch setzte. Er blickte auf und nickte.
Die Verbrecher waren Morettis Job. Delia war es eher gewöhnt, mit der Polizei in Portland zusammenzuarbeiten, die sich um häusliche Gewalt kümmerte und nicht um Mordfälle. Mit der South Portland Police hatte sie noch nie zu tun gehabt. Ihre Aufgabe dagegen war es, zum Schutze des Kindes Gutachten zu erstellen und für die beste Notunterbringung zu sorgen. Ira sagte, nur seine besten geschulten Pflegefamilien wären in der Lage, eine solche Art von Unterbringung zu ermöglichen.
Delia und ihre Schwester spazierten mehrere Male in der Woche die Eastern Promenade in Portland am Wasser entlang. Sie waren gerade an der Stelle vorbeigekommen, an der die Leute Skulpturen hinterließen, die aus Felsbrocken bestanden, die Wasser abgerundet hatte.
»Das Kind sah auf dem Foto total verstört aus«, sagte Delia.
»Was meinst du mit verstört?«, fragte Juniper.
Delia warf ihren Pappbecher in einen Mülleimer. »Ich meine damit ein fünfjähriges Mädchen auf einem Polizeifoto in weißer Unterhose und lavendelfarbenem T-Shirt mit einer Prinzessin vorne drauf. Ich meine ihre Augen, ich meine die Angst, auch nur einen winzigen Mucks von sich zu geben. Sie wirkte wie erstarrt. Ich habe den Bericht gelesen, das Kind war körperlich unversehrt. Sie musste keine physischen oder sexuellen Übergriffe erleiden, aber man hat sie alleine auf einer Landstraße im Süden Portlands gefunden. Das Mädchen hat nur seinen Vornamen gesagt. Es konnte auch nicht angeben, wo seine Familie war.«
Delia durfte über einen Fall reden, solange sie nur das erwähnte, was auch die Öffentlichkeit wusste. Die Zeitungen hatten über Hayley berichtet, ihren Namen aber nicht preisgegeben. Die Schwestern beendeten ihren Ausflug bei Junipers Auto, das neben einem italienischen Supermarkt parkte.
Als Delia noch auf dem College war, hatte sie direkt nach dem Hurrikan Katrina ehrenamtlich beim Roten Kreuz gearbeitet. Man hatte sie nach Meridian in Mississippi geschickt, wo Tausende Evakuierte aus New Orleans gestrandet waren. Die Menschen waren völlig verstört und wirkten verwirrt und erschöpft. Delia war in provisorischen Unterkünften, Kirchen und Schulen unzähligen von ihnen begegnet. Doch das, was sie am meisten berührt hatte, war eine Katze gewesen. Ein junger Mann und eine Frau hatten das Tier aus dem Sturm in New Orleans gerettet, sie in einen Katzenkorb gesteckt und über Meilen auf dem Kopf durch brusttiefes Wasser watend transportiert, um sie aus der Stadt zu schaffen. Als sie benommen das Zentrum des Roten Kreuzes erreichten und sich nach einem Nachtlager umsahen, saß die Katze in ihrem Plastikkäfig und starrte vor sich hin. Man hätte die Finger vor ihren Barthaaren schnippen können, sie hätte nicht einmal geblinzelt.
Und genau so sah auch dieses Kind aus.
***
Nach dem Spaziergang an der Promenade fuhren Delia und Juniper auf den Parkplatz vor dem Whole-Foods-Supermarkt.
»Wir könnten die letzten Pfirsiche aus der Gegend kaufen«, sagte Juniper. »Dann mache ich eine Pfirsichtorte. Oder ich röste sie auf dem Grill.«
Delia hörte den hoffnungsvollen Ton in Junipers Stimme, den Wunsch, ihrer Schwester ein wenig Ablenkung zu verschaffen. Delia beneidete ihre Schwester darum, dass sie mit absoluter Sicherheit davon ausging, dass Essen die endgültige Rettung war. Auch sie entspannte der Gedanke an ihre bevorstehende Karriere als Bäckerin, aber nicht mit der tiefen Überzeugung, die ihre jüngere Schwester empfand. An guten Tagen beneidete sie sie darum. An schlechten fürchtete sie die Monster, die aus den Schatten nach Juniper griffen, so dass Delia dauernd in Alarmbereitschaft war und an die Krankheit in ihrer Familie dachte, die Juniper plötzlich dahinraffen konnte. So wie sie ihren Vater dahingerafft hatte.
Delias Vater Theo war starker Raucher. Camel-Zigaretten, schon für damalige Zeiten eine nostalgische Entscheidung. Der Rauch hing in fast allen seinen Jacken und Pullis, in allen Kleidungsstücken, die man nur schwer waschen konnte oder in die Reinigung geben musste. Wenn es ihm gutging, rauchte er nicht im Haus und musste nur ab und zu sachte von ihrer Mutter Susan erinnert werden. »Liebling, macht es dir etwas aus, die Zigarette mit nach draußen zu nehmen?« Doch wenn es ihm schlechtging, rauchte er eine Zigarette nach der anderen, so dass man ihm Feuer unter dem Hintern hätte machen müssen, um ihn nach draußen zu treiben. Delia war elf, es war Herbst, und sie ging in die fünfte Klasse.
Wenn seine Kleidung miefig roch oder er sich seinen paranoiden Gedanken hingab, traf sie der Geruch wie eine chemische Keule. Am Zigarettengeruch lernte sie einzuschätzen, wie der Tag verlaufen würde. Zu viel Rauch bedeutete Schlechtes.
Eines Tages, es musste wohl an einem Samstag gewesen sein, die Herbstsonne schien warm, war er nicht in seinem Büro, um Restaurantbewertungen zu schreiben, sondern saß mit Delia unter dem großen Ahornbaum, an dem die gesamte Nachbarschaft den bevorstehenden Herbst erkennen konnte. Die Züge um seine Kiefer waren weicher geworden, und der Zigarettenrauch nicht mehr als ein würziger Hauch.
Die meisten Zeitungen wollten ihn nicht mehr beschäftigen, nur noch ein paar veröffentlichten auch weiterhin seine Rezensionen.
»Delia, komm, wir harken die Blätter zusammen und formen eine drachenförmige Sandburg. Wir überraschen deine Mom und deine kleine Schwester, wenn sie aus dem Lebensmittelladen zurückkommen.«
Das Wort Drache hatte sie erschreckt, und sie fürchtete, es könnte das wahre Monster aus seinem Versteck locken. Sie sah ihm in die Augen. Seine Pupillen waren nicht erweitert und dunkel von all den erfolglosen Medikamenten. Er war hier, ganz bei Delia. So fühlte es sich an, wenn man mit seinem Vater Blätter im Garten zusammenharkte.
»Nun komm schon, Kleine, es geht mir gut. Es ist doch nur ein Drache, den wir aus Laub bauen. Denkst du vielleicht, ich bin verrückt?« Er zwinkerte ihr zu, holte zwei Rechen und reichte ihr einen Rechen für ihr Ende des Blätterbergs.
Sie harkten und formten die Blätter, bauten einen Drachen, der mehr einem Reptil und einer Schlange glich als einem echten Drachen. Ihr Vater war in Schweiß gebadet. Er warf seine Jacke über einen Gartenstuhl aus Plastik.
»Wir brauchen Stacheln für seinen Rücken, damit er grimmig aussieht«, sagte Delia, trat einen Schritt zurück und bewunderte die Kreatur.
»Ich glaube, du hast recht«, sagte er und machte sich zu dem Müllhaufen in einer entfernten Ecke des Gartens auf, der sich neben den Büschen befand, die sich über Nacht violett verfärbt hatten. »Würdest du Limonade für uns holen?«, fragte er und sah Delia über seine Schulter an.
Was war dann geschehen? Hatte sie zu lange gebraucht? Hätte sie in den Schränken nach den Crackern suchen sollen, die er so liebte? Hatte sie wirklich zehn Minuten gebraucht? Sie nahm die beiden Gläser und ein Schälchen mit Crackern und ging damit zum Drachen zurück. Wo war ihr Dad?
Delia fand ihn zitternd hinter dem Busch. Er zeigte auf ein Häufchen Stöcke, eine kaputte Leiter und eine ausrangierte Reifenschaukel. »Wer hat das hierhergetan?«, fragte er und sah an Delia vorbei, er sah immer an ihr vorbei. »Wen hast du in den Garten gelassen? Waren es Männer? Haben sie nach mir gefragt? Was haben sie über mich gesagt?«
Delias Herz hämmerte wie wild, und sie zählte die Minuten, bis ihre Mutter wieder zu Hause war.
»Nein, Daddy. Niemand war hier. Ich hätte sie gesehen. Bitte, lass uns zu unserem Drachen zurückkehren«, sagte sie und versuchte, dabei so ruhig wie möglich zu klingen. Sie reichte ihm ein Glas Limonade. Er nahm es und starrte es an, als enthalte es Gift. Dann sah er sie an und kippte die Limonade aus.
»Hat man dir gesagt, dass du mir das zu trinken geben sollst? Sie würden alles versuchen. Sie haben hier irgendwas reingetan, um mich zu überwachen.«
Er lief durch den Garten, an dem Drachen vorbei und ins Haus, wo er einen Aschenbecher mit der Asche seiner Camel-Zigaretten füllte.
Eine Woche später, nachdem neue Medikamente seine Wahnvorstellungen in Schach hielten, kam Delia nach der Schule in die Küche, öffnete den Kühlschrank und hörte die gedämpften Stimmen ihrer Eltern hinten auf der Veranda. Auf Zehenspitzen ging sie zum Fenster. »Ich ertrage es nicht, dass ich euch allen weh tue«, sagte ihr Vater und schluchzte. Delia schlich sich wie eine Spionin näher heran und spähte hinaus. Ihre Mutter hockte neben ihrem Vater und hatte die Arme um ihn geschlungen.
»Sie hat Angst vor mir, meine Tochter hat Angst vor mir. Das sehe ich in ihrem Blick«, sagte er und drückte sein Gesicht an die Schulter seiner Frau.
Delia betete darum, die Schizophrenie ihres Vaters möge verschwinden, und hoffte auf eine Therapie, die seine teuflischen Halluzinationen besiegen würde. Lieber als alles andere auf der Welt wollte sie ihren Vater zurückhaben, ihren lieben Dad, immer. Für ihn hätte sie alles getan.
Nicht nur für ihren Vater war es ein schlimmer Sommer gewesen, sondern für sie alle. In einer Woche sollte Delia ihr zweites Jahr am College beginnen. Juniper besuchte die achte Klasse. Da sie auf eine öffentliche Schule ging, hatte ihr Unterricht bereits begonnen. Delia hatte im Sommer am Empfang des YMCA gearbeitet, Leute eingecheckt und Handtücher ausgegeben. Ihr größter Wunsch war, ab Herbst auf dem Campus zu wohnen, aber der Gedanke, J Bird alleine bei ihrem Vater zu lassen, wenn er seine schlechten Phasen hatte, war ihr schier unerträglich.
Seit diesem Sommer trug Juniper den neuen Spitznamen J Bird. Alles hatte als Hänselei begonnen, als ein älterer Junge sie Bird Legs, Vogelbeinchen, nannte. Doch Delias jüngere Schwester war nicht wie der Rest ihrer Familie, sie ließ sich von Gerede nicht aus der Ruhe bringen, sondern verspottete den Jungen, flatterte mit den Armen und rief: »Ich bin ein Vogel, ein Vogel, J Bird!« Der Spitzname saß, und jeder, der sie kennenlernte, nannte sie so. Doch für Delia war und blieb sie Juniper, auch wenn sie den neuen Spitznamen übernommen hatte. Selbst ihr Vater hatte während dieses unheilvollen Sommers Freude an Junipers resoluter Namensänderung gefunden.
Ihre Mutter hatte ihren Job als politische Berichterstatterin bei der Zeitung aufgegeben und arbeitete jetzt im Vertrieb. Der Verleger höchstpersönlich hatte den Wechsel vorgeschlagen, nachdem Delias Vater zu viele Abgabetermine verpasst hatte und die Nachfrage anderer Zeitungen für seine Kolumnen nachließ. »Dann bin ich abends mit J Bird zu Hause«, sagte sie mit gespielter Begeisterung zu Delia, und es zerriss ihr das Herz. Ihre Mutter liebte hitzige politische Debatten.
Ihr Vater hatte zum x-ten Mal beschlossen, die Medikamente abzusetzen, die zwar die Stimmen in seinem Kopf dämpften, ihn dafür aber alles wie in Watte gepackt wahrnehmen ließen. Doch seine paranoiden Gedanken versetzten sie alle in Angst und Schrecken. Wieder riss er die Kabel aus dem Fernseher und entfernte die Batterien aus dem CD-Player. Er bestand auf einem Postfach, wollte keinen Briefkasten mehr und versuchte, systematisch alle Bedrohungen durch die Außenwelt, über die Regierung bis hin zur UNO und darüber hinaus abzuwehren.
Ihre Mutter intervenierte, versuchte zu vermitteln, beruhigte ihn und stellte sich schützend zwischen den Mann, in dem sie ab und zu noch ihren gutaussehenden Ehemann erkannte, und ihre entsetzten Töchter.
»Delia, geh mit J Bird heute Abend ins Kino oder ins Einkaufszentrum«, sagte sie, als Delia vom YMCA nach Hause kam und ihre Mutter ihr schon in der Einfahrt entgegenlief. Irgendetwas fiel im zweiten Stock des Hauses zu Boden. Ihre kleine Schwester saß auf dem schwarzen Asphalt, den Rücken an die Garagentür gelehnt, ihr neuer Schulranzen stand vor ihren Füßen. Mit gesenktem Kopf stocherte sie in einer Kerbe herum.
»Morgen ist Schule. Hat J Bird keine Hausaufgaben?« Aber beide wussten, dass es nicht darum ging. Vielmehr ging es um den Verfolgungswahn, unter dem ihr Vater zunehmend litt.
»Ich muss seinen Psychiater sprechen«, sagte ihre Mutter und schob sich das schulterlange Haar hinter das Ohr. Sie hatte in diesem Sommer bereits ein Dutzend Mal mit dem Psychiater und den Ärzten der Notaufnahme gesprochen, doch die Schizophrenie ihres Vaters stellte selbst für den erfahrenen Psychiater eine Herausforderung dar. Ihre Mutter musste sich hingegen der Aufgabe stellen, ihren Vater während seiner Wahnvorstellungen davon zu überzeugen, dass es sicher war, Medikamente einzunehmen. Delia glaubte, dass ihre Mutter über kurz oder lang vor Erschöpfung zusammenbrechen würde. Dass sie das alle tun würden.
Doch was war schlimmer? Die Wahnvorstellungen, mit denen ihr Vater sie tyrannisierte und vor Eindringlingen abschottete, die nur er sah, oder die schier unendliche Reue, die er zeigte, wenn er sich dessen bewusst wurde? Die Medikamente sorgten dafür, dass er seine Krankheit erkannte. Sie hielt ihn außerdem vom Schreiben ab.
Der schwarze Asphalt hatte die Hitze des Tages gespeichert, die nun durch Delias Schuhe an ihre Fußsohlen drang und ihre Beine hinaufkrabbelte. Sie war erschöpft vom vielen Stehen hinter dem Tresen. Am liebsten wäre sie einfach ins Haus gegangen, hätte sich aufs Sofa gesetzt oder sich auf ihrem Bett ausgestreckt. Aber nein, in dieser Familie ging das ja nicht, denn ihr Vater hatte mal wieder den Verstand verloren. Warum war ihre Familie nicht so wie andere? Sogar wie solche, in denen sich die Eltern ab und zu stritten oder einer zu viel trank? Immerhin hingen bei denen keine nackten Kabel aus der Wand, sie konnten ihr Badezimmer benutzen, Freunde anrufen und fernsehen. Warum durfte ihr Freund sie nicht besuchen? Einmal hatte sie Tyler nach einem Date eingeladen, doch dann hatte ihr Vater ihn peinlicherweise angeschrien: »Ich habe schon von dir gehört! Halt dich von meiner Tochter fern!«
Delia wollte es nicht aussprechen, aber sie sehnte sich nach mehr Zeit mit ihrer Mutter. Sie wollte mit ihr in eine Eisdiele gehen, shoppen oder lange Spaziergänge am Strand unternehmen, ohne dass sie gleich nach Hause rannte, um sich um ihren Vater zu kümmern. Er war überzeugt, dass die Nachbarn sich gegen die Familie verschworen hatten und einen Tunnel unter der Straße gruben, um in ihr Haus einzudringen.
»Ich weiß, dass er krank ist, aber wann können wir endlich wieder ein normales Leben führen? Müssen wir alle für seine Krankheit büßen? Ich weiß, dass du ihn verlassen willst«, sagte Delia. »Dann tu es doch einfach, Herrgott noch mal.«
Das hatte Delia bisher noch nie laut ausgesprochen und es nur unter Tränen Tyler gegenüber zugegeben. Ihre Mutter blinzelte in die untergehende Sonne und legte ihre Hand über die Augen. »Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, wusste ich, dass ich dem brillantesten, attraktivsten und witzigsten Mann der Welt gegenüberstand. Und ich wusste, dass ich nie wieder so einem Mann begegnen würde.« Sie wandte den Blick ab und kniff die Augen zusammen. Ein zittriger Atemzug durchfuhr sie. »Ich muss mich daran klammern, dass er uns liebt. Wenn ich das aufgebe, ist er verloren. Nimm deine Schwester für ein paar Stunden mit, ja? Bitte!«
Sie reichte Delia die Schlüssel. »Unternehmt etwas Schönes zusammen.«
»Ich habe eine Verabredung mit Tyler! Ich musste schon letzte Woche absagen, weil Dad mich nicht aus dem Haus lassen wollte«, sagte sie.
»Du wirst noch viele Verabredungen mit Tyler haben. Bitte, Delia. Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.«
Schweigend fügte Delia sich und schob den Schlüssel in ihre Tasche.
»Ich liebe euch Mädchen und weiß, wie schwer das für euch ist«, sagte ihre Mutter, legte den Kopf schief, als bitte sie um Vergebung.
Wut nagte an Delia, und sie reagierte nicht auf die unausgesprochene Bitte ihrer Mutter nach einer Umarmung und nach ein wenig Verständnis für ihr Verhalten. Sie blickte auf und sah ihren Vater hinter einem Fenster im oberen Stockwerk, seine einst markanten Gesichtszüge aufgedunsen von den Medikamenten, die er zwar seit Wochen nicht mehr nahm, deren Spuren aber immer noch sichtbar waren.
Sie drehte sich um und sagte dann: »Komm, J Bird. Lass uns ins Kino gehen.«
Sie rief bei Tyler an und hinterließ die Nachricht, dass sie ihr Treffen absagen musste.
Delia hatte sich schon immer um Juniper gekümmert und darauf geachtet, ob sich auch bei ihr Anzeichen der Krankheit ihres Vaters zeigten. Sie beobachtete Juniper, als sie auf die Highschool ging und während sie in ihren frühen Zwanzigern war.
Und was war, wenn Juniper Drogen nähme, die eine Kettenreaktion in ihrem Gehirn auslösten? Oder wenn ein Autounfall den Schalter umlegte? Oder wenn es Delia erwischte und sie selbst plötzlich kreischende Stimmen im Kopf hörte? Was wäre, wenn das passierte, wer würde sich dann um Juniper kümmern?
Ihre kleine Schwester war mittlerweile sechsundzwanzig und fast auf der sicheren Seite, und abgesehen davon, dass sie in den vergangenen sieben Jahren mit furchtbaren Jungs zusammen gewesen war, wirkte sie nicht angeschlagen. Und wie sah es bei Delia aus? Abgesehen von ihrem überdurchschnittlich ausgeprägten Geruchssinn und dem Kribbeln am Kinn hatte sie mit ihren zweiunddreißig Jahren bereits das Alter überschritten, in dem das Risiko, auch an Schizophrenie zu erkranken, am höchsten war.
Doch Delia kannte die Zahlen auswendig, und schon als zwanzigjährige Studentin der Psychopathologie hatte sie gewusst: Das Risiko, dass die Kinder eines schizophrenen Elternteils auch an der Krankheit leiden, lag bei dreizehn Prozent. Es bestand also die Möglichkeit, dass Sie und Juniper einmal Aluminiumhelme tragen würden, um sich vor aggressiven Funkwellen abzuschirmen. Ihr Vater war so schwer daran erkrankt, dass er glaubte, radioaktive Luft würde durch die Wasserleitungen gepumpt. Als Delia in die zwölfte Klasse der Highschool ging und seine Wahnvorstellungen leid war, versuchte sie, vernünftig mit ihm zu reden. »Aber Daddy, das sind Wasserleitungen …« Doch er sah sie nur mit seinem verzerrten Gesicht an und sagte: »Ich bin doch nicht bescheuert. Wasser enthält Luft, H2O, also O, kapiert?«
Und was hatte Delia sonst noch in ihren Kursen über psychische Erkrankungen gelernt? Dass die Lebenserwartung bei Menschen wie ihrem Vater zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre unter dem Durchschnitt lag. Ihr Vater hatte beim Durchschnitt einen Volltreffer gelandet. Er war mit vierundvierzig Jahren gestorben.
Heute liebte jeder Juniper. Sie brachte die Leute zum Lachen. Die Kunden der Bayside Bakery, in der sie arbeitete, liebten ihre Muffins und gebackenen Himbeerkreationen mit Sahnequark. Delia hätte alles darum gegeben, die Ernsthaftigkeit abzulegen, die durch den Tod ihrer Eltern und dem zu frühen Erwachsenwerden auf ihr lastete. Sie wollte sein wie Juniper, be