Olivier Guez, 1974 in Straßburg geboren, ist Autor und Journalist. Er arbeitete unter anderem für Le Monde, die New York Times und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Für das Drehbuch von »Der Staat gegen Fritz Bauer« erhielt er den deutschen Filmpreis. Olivier Guez lebt in Paris.
Nicola Denis wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Sie übersetzte u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac und Éric Vuillard, zuletzt seinen mit dem Prix Goncourt 2017 ausgezeichneten Roman »Die Tagesordnung«. Nicola Denis lebt Jahren in Frankreich.
»Im Spannungsfeld zwischen Journalismus und Literatur, gelingt Olivier Guez mit viel Verve, was der internationalen Gemeinschaft misslang: Josef Mengele zu verfolgen bis zum letzten Atemzug.« Transfuge
1949 flüchtet Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, nach Argentinien. Dreißig Jahre lang lebt er in Südamerika, unterstützt von Sympathisanten vor Ort und seiner Familie in Günzburg. Olivier Guez, der das preisgekrönte Drehbuch zu »Der Staat gegen Fritz Bauer« schrieb, inszeniert in seinem Tatsachenroman Mengeles jahrzehntelange Flucht, spürt die Helfer und Verfolger auf und konfrontiert uns mit der Inkarnation des Bösen. Es ist das fesselnde Portrait einer fanatischen Bestie, das uns eindringlich vor Augen führt, warum deren Verfolgung so kläglich scheiterte.
Ausgezeichnet mit dem Prix Renaudot, wurde der Roman in Frankreich innerhalb kürzester Zeit zum Sensationsbestseller.
»Olivier Guez hat eine phantastische neue Romanform geschaffen.« Frédéric Beigbeder
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Das Verschwinden des Josef Mengele
Roman
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Inhaltsübersicht
Über Olivier Guez
Informationen zum Buch
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Erster Teil – Der Pascha
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Zweiter Teil – Die Ratte
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Epilog – Das Phantom
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Quellen und Bibliographie
Dank
Impressum
Im Andenken an Ada und Giuditta Spizzichino,
Grazia Di Segni und Rossanna Calò
»Ihr, die ihr Leid über den einfachen Mann brachtet, ihr, die ihr über sein Leid lachtet, fühlt euch nicht sicher. Der Dichter erinnert sich.«
Czesław Miłosz
»Das Glück liegt nur in dem, was bewegt, und allein das Verbrechen bewegt; die Tugend …
führt nie zum Glück.«
Sade
Die North King durchpflügt das schlammige Wasser der Flussmündung. Seit dem Morgengrauen haben die Passagiere auf dem Deck den Horizont abgesucht, und jetzt, da die Kräne der Schiffswerften und die rote Linie der Hafenlager aus dem Nebel auftauchen, stimmen die Deutschen ein Soldatenlied an, die Italiener bekreuzigen sich und die Juden beten, Paare küssen einander trotz des Nieselregens, der Ozeandampfer erreicht Buenos Aires nach dreiwöchiger Überfahrt. Allein an der Reling: Helmut Gregor, in Gedanken versunken.
Er hatte gehofft, dass ihn ein Motorboot der Geheimpolizei abholen und ihm die Schikanen des Zolls ersparen würde. In Genua, wo er an Bord gegangen war, hatte er Kurt um diesen Gefallen angefleht, hatte sich als Wissenschaftler, als erstklassiger Genetiker vorgestellt und ihm Geld angeboten (Gregor hat sehr viel Geld), doch der Schleuser hatte nur ausweichend gelächelt: Solche Freibriefe seien nur den ganz hohen Tieren vorbehalten, den Würdenträgern des früheren Regimes, selten einem Hauptsturmführer der SS. Er würde dennoch nach Buenos Aires telegraphieren, Gregor könne sich auf ihn verlassen.
Kurt hatte die D-Mark einkassiert, aber nun: weit und breit kein Boot in Sicht. Also wartet Gregor zusammen mit den anderen Emigranten in der riesigen Halle des argentinischen Zolls. Fest presst er seine beiden Koffer an sich, einen großen und einen kleinen, und mustert das exilierte Europa ringsherum, die langen Schlangen eleganter oder schlampiger Namenloser, von denen er sich während der Überfahrt ferngehalten hatte. Gregor hatte lieber den Ozean und die Sterne betrachtet oder in seiner Kabine deutsche Gedichte gelesen. Er hatte die letzten vier Jahre seines Lebens Revue passieren lassen, seit er im Januar 1945 Hals über Kopf aus Polen geflohen und in der Wehrmacht untergetaucht war, um den Fängen der Roten Armee zu entgehen: seine mehrwöchige Internierung in einem amerikanischen Gefangenenlager, seine Befreiung, weil er falsche Papiere auf den Namen Fritz Hollmann besaß, sein Unterschlupf auf einem idyllischen Bauernhof in Bayern, unweit von Günzburg, seiner Geburtsstadt, wo er drei Jahre lang als Fritz Hollmann bei der Heuernte und beim Sortieren der Kartoffeln geholfen hatte, dann seine Flucht vor zwei Monaten, an Ostern, die Überquerung der Dolomiten über bewaldete Schmugglerpfade, seine Ankunft in Italien, in Südtirol, wo er Helmut Gregor wurde, und schließlich Genua, wo ihm Kurt, der Bandit, mit den Formalitäten bei den italienischen Behörden und der argentinischen Einwanderungsstelle behilflich gewesen war.
Der Flüchtige hält dem Zöllner ein Reisedokument des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, eine Landegenehmigung und ein Einreisevisum hin: Helmut Gregor, 1,74 m groß, Augen braungrün, geboren am 6. August 1911 in Termeno, auf Deutsch Tramin, einer Gemeinde in Südtirol, deutscher Staatsangehöriger mit italienischer Staatsbürgerschaft, katholisch, von Beruf Mechaniker. Adresse in Buenos Aires: Arenales 2560, im Stadtteil Florida, c/o Gerard Malbranc.
Der Zöllner kontrolliert sein Gepäck, die akkurat gefaltete Kleidung, das Porträt einer grazilen blonden Frau, Bücher und ein paar Opernplatten, verzieht das Gesicht, als er den Inhalt des kleineren Koffers entdeckt: Injektionsspritzen, Hefte mit Notizen und anatomischen Zeichnungen, Blutproben und Zellplättchen, seltsam für einen Mechaniker. Er ruft den Hafenarzt an.
Gregor erschaudert. Er ist unsinnige Risiken eingegangen, um diesen kompromittierenden Aktenkoffer zu behalten, den kostbaren Ertrag jahrelanger Forschungen, sein ganzes Leben, das er mitgenommen hatte, als er damals überstürzt seine polnische Stelle verlassen musste. Hätten ihn die Sowjets damit erwischt, wäre er auf der Stelle hingerichtet worden. Auf dem Weg Richtung Westen im Frühjahr 1945 des großen deutschen Zusammenbruchs hatte er ihn einer mitfühlenden Krankenschwester anvertraut, die er später im Osten Deutschlands, in der sowjetischen Zone, wiedertraf – ein aberwitziges Unterfangen, nach seiner Befreiung aus dem amerikanischen Lager und einer dreiwöchigen Reise. Anschließend hatte er ihn Hans Sedlmeier übergeben, ein Kindheitsfreund und enger Vertrauter seines Industriellenvaters; Sedlmeier, den er regelmäßig in den Wäldern rings um den Bauernhof traf, auf dem er sich drei Jahre lang verkrochen hatte. Ohne seinen Aktenkoffer hätte Gregor Europa nicht verlassen: Sedlmeier hatte ihn ihm vor seiner Abreise aus Italien mit einem dicken Umschlag Bargeld garniert ausgehändigt, und nun ist ein Idiot mit schmutzigen Fingernägeln drauf und dran alles zu vermasseln, denkt Gregor, während der Hafenarzt die Proben und die in steiler gotischer Schrift verfassten Aufzeichnungen inspiziert. Weil er nichts versteht, stellt er ihm auf Spanisch ein paar Fragen und der Mechaniker erläutert auf Deutsch seine Berufung als Liebhaberbiologe. Die beiden Männer taxieren einander, und der Arzt, der gern seine Mittagspause machen würde, bedeutet dem Zöllner, ihn durchzulassen.
An jenem 22. Juni 1949 hat Helmut Gregor sein argentinisches Refugium erreicht.
In Genua hatte Kurt ihm zugesichert, dass ihn am Hafen ein deutscher Arzt erwarten und zu Malbranc bringen würde, offenbar wieder falsche Versprechungen des Schleusers.
Gregor geht im Regen auf und ab, womöglich steckt sein Kontakt noch im Stau. Er beobachtet die Kais, das Ballett der Hafenarbeiter, die wiedervereinten Familien, die sich lächelnd auf den Weg machen, die Stapel mit Leder und die Wollballen auf den Ladeflächen der Frachtschiffe. Kein deutscher Arzt weit und breit. Gregor sieht auf die Uhr, das Horn eines Kühlschiffes tutet, beunruhigt überlegt er, ob er zu Malbranc fahren soll, beschließt dann aber, vorsichtshalber noch zu warten. Bald ist er einer der letzten verbliebenen Passagiere der North King.
Zwei wie Maulesel bepackte Kalabrier schlagen ihm vor, mit ihnen ein Taxi zu teilen. Zu seiner eigenen Überraschung folgt Gregor dem Lumpenpack, an diesem ersten Tag auf südamerikanischem Boden will er nicht allein sein, und überhaupt weiß er nicht, wohin.
Im Hotel Palermo teilt er ein Zimmer ohne Waschbecken und Toilette mit seinen Reisegefährten, die sich über ihn lustig machen: Gregor, der Südtiroler, spricht kein Wort Italienisch. Er verflucht seine Entscheidung, reißt sich jedoch zusammen, nimmt ein paar Rädchen von der Knoblauchwurst und schläft völlig zerschlagen ein, seinen Aktenkoffer, vor den Begehrlichkeiten der beiden Männer geschützt, gut zwischen sich und der Wand verstaut.
Am nächsten Morgen ist er sofort auf den Beinen. Bei Malbranc geht niemand ans Telefon: Er springt in ein Taxi und verstaut den kleinen Koffer in einem Schließfach am Bahnhof, bevor er eine ruhige Straße im Stadtviertel Florida erreicht. Gregor klingelt an der Tür einer großzügigen Villa im Neokolonialstil. Nach einer Stunde kommt er wieder, klingelt erneut und ruft zwei, drei Mal vergeblich aus dem Café, in dem er Zuflucht gesucht hatte, an.
Noch in Genua hatte Kurt ihm einen zweiten Kontakt in Buenos Aires gegeben: Friederich Schlottmann, ein deutscher Geschäftsmann, Eigentümer eines florierenden Textilunternehmens. 1947 hatte Schlottmann die Ausschleusung von Flugzeugherstellern und Ingenieuren der Luftwaffe via Skandinavien finanziert. »Der Mann ist sehr einflussreich, er wird dir helfen können, eine Anstellung und neue Freunde zu finden«, hatte Kurt gesagt.
In der Textilfabrik Sedalana verlangt Gregor nach Schlottmann, der jedoch die ganze Woche im Urlaub ist. Da er nicht lockerlässt, führt eine Sekretärin ihn zu einem Verantwortlichen der Personalabteilung, ein Deutsch-Argentinier im Zweireiher, dessen Erscheinung ihm sofort unsympathisch ist. Gregor bewirbt sich um einen Managerposten, der junge Mann mit dem geölten Haar bietet ihm stattdessen einen »sehr ehrenvollen« Arbeiterjob an: die täglich aus Patagonien eintreffende Wolle kämmen, das machten alle frisch angekommenen Kameraden. Gregor traut seinen Ohren nicht, würde dem kleinen Kläffer am liebsten an die Gurgel springen. Er, der Sohn aus gutem Hause, zweifach promoviert in Anthropologie und Medizin, soll zehn Stunden täglich in einem Vorort von Buenos Aires zusammen mit Indianern und Kanaken in toxischen Ausdünstungen Schafstonsuren bürsten und aufrauen? Gregor knallt die Bürotür hinter sich zu und schwört, Kurt abzumurksen, wenn er eines Tages wieder in Europa wäre.
Gregor nippt an einer Orangeade und überdenkt seine Lage. Einen Job ergattern, jeden Tag hundert spanische Wörter lernen und Malbranc auftreiben, einen ehemaligen Agenten des Bolivar-Netzwerks der Abwehr, dem Geheimdienst der Nazis; sich in Geduld üben und bei den beiden Kalabriern ausharren, obwohl er sich ein bequemes Hotel leisten könnte. Er hat kein Wort von ihrem südländischen Dialekt verstanden, gerade einmal, dass sie faschistische Veteranen des Abessinienkriegs waren. Als Soldaten würden sie ihn nicht verraten, und so war es besser, diskret und vorerst noch im Besitz der kostbaren Devisen zu bleiben, denn die Zukunft ist ungewiss, Gregor ist noch nie sonderlich waghalsig gewesen.
Avellaneda, La Boca, Monserrat, Congreso … anhand einer aufgefalteten Karte macht er sich mit der Topographie von Buenos Aires vertraut und fühlt sich winzig vor dem schachbrettartigen Raster, ein unbedeutender Floh, er, der unlängst noch ein ganzes Reich tyrannisiert hatte. Gregor denkt an eine andere Planstadt – Baracken, Gaskammern, Krematorien, Schienen –, wo er seine besten Jahre als Ingenieur der Rasse verbracht hatte, eine verbotene Stadt in dem beißenden Geruch von verbranntem Haar und Fleisch, ringsherum Wachtürme und Stacheldraht. Mit dem Motorrad, Fahrrad oder Auto war er zwischen den gesichtslosen Schatten umhergefahren, unermüdlicher Kannibalen-Dandy, Stiefel, Handschuhe und Uniform blitzblank, die Mütze etwas schief aufgesetzt. Es war verboten, seinen Blick zu suchen oder das Wort an ihn zu richten. Sogar seine Kameraden vom Schwarzen Orden hatten Angst vor ihm. An der Rampe, wo die europäischen Juden selektiert wurden, waren sie betrunken, er aber blieb nüchtern und pfiff lächelnd ein paar Takte aus Tosca. Sich nie zu einem menschlichen Gefühl hinreißen lassen. Mitleid ist eine Schwäche: Mit einer leichten Bewegung seiner Reitgerte besiegelte der Allmächtige das Schicksal seiner Opfer, links der sofortige Tod, die Gaskammern, rechts der langsame Tod, die Zwangsarbeit oder sein Labor, das größte der Welt, welches er bei Ankunft der Züge täglich mit »verwendungsfähigem Menschenmaterial« (Kleinwüchsige, Riesen, Krüppel, Zwillinge) fütterte. Injizieren, vermessen, Blut abnehmen; zerstückeln, töten, obduzieren: ihm zu Diensten ein Zoo aus Versuchskindern, um die Geheimnisse der Zwillingsforschung zu ergründen, Übermenschen zu produzieren und die Fruchtbarkeit der deutschen Frauen zu vermehren, eines Tages die den Slawen entrissenen Ostgebiete mit Bauernsoldaten zu bevölkern und die nordische Rasse zu kräftigen. Hüter der Rassenreinheit und Alchemist des neuen Menschen: eine großartige Universitätslaufbahn und die Anerkennung des sieggekrönten Reichs winkten ihm nach dem Krieg.
Blut für den Boden, sein immenser Ehrgeiz, der große Plan seines obersten Chefs, Heinrich Himmler.
Auschwitz, Mai 1943 – Januar 1945.
Gregor ist der Todesengel Doktor Josef Mengele.
Nebel, heftiger Regen, der Südwinter hat Buenos Aires fest im Griff, und Gregor liegt niedergeschlagen auf seinem Bett, er hat sich erkältet. Er beobachtet eine Kakerlake, die aus einem Lüftungsschacht gekrochen ist, und fröstelt unter den Decken. Das letzte Mal war er im Herbst 1944 so übel dran gewesen. Die Sowjets fielen in Mitteleuropa ein: Er wusste, dass der Krieg verloren war, und schlief nicht mehr, war mit den Nerven völlig am Ende. Seine Frau Irene half ihm wieder auf die Beine. Sie war im Sommer nach Auschwitz gekommen, hatte ihm die ersten Fotos von ihrem Sohn Rolf gezeigt, der vor ein paar Monaten zur Welt gekommen war, und sie hatten ein paar idyllische Wochen verbracht. Trotz des Umfangs seiner Aufgabe, das Eintreffen von vierhundertvierzigtausend ungarischen Juden, hatten sie so etwas wie zweite Flitterwochen erlebt. Die Gaskammern liefen auf Hochtouren; Irene und Josef badeten in der Soła. Die SS-Männer verbrannten Männer, Frauen und Kinder bei lebendigem Leib in einer Grube; Irene und Josef sammelten Blaubeeren, aus denen sie Marmelade kochte. Die Flammen schlugen aus den Krematorien; Irene blies ihm einen, und Josef nahm Irene. In nicht einmal acht Wochen wurden dreihundertzwanzigtausend Juden vernichtet.
Als Josef zu Beginn des Herbstes zusammenzubrechen drohte, war Irene bei ihm geblieben. Sie waren in eine neue Baracke mit Küche und Badewanne gezogen, wo sie sich von Zeugen Jehovas bedienen ließen.
Gregor betrachtet das Porträt von Irene auf seinem Nachttisch, ein Foto aus dem Jahr 1936, als sie sich in Leipzig kennengelernt hatten. Er arbeitete damals an der Kinderklinik der Universität, Irene war nur vorübergehend dort, sie studierte Kunstgeschichte in Florenz. Liebe auf den ersten Blick: Die junge Frau war neunzehn, blond und schlank, der Typ Cranachsche Venus, sein weibliches Ideal.
Gregor hustet und erinnert sich an Irene: wie sie sich in ihrem Sommerkleid im Englischen Garten in München bei ihm eingehakt hatte, wie selig sie am Tag ihrer Hochzeit in dem Opel-Coupé gewesen war, mit dem sie über die Autobahnen des Reichs flitzten. Und Gregor gerät in Rage, als er zum tausendsten Mal die schmalen Lippen seiner Gattin auf dem Foto betrachtet. Sie hat sich geweigert, ihm mit ihrem kleinen Jungen nach Argentinien zu folgen und jenseits des Ozeans das Leben einer Flüchtigen zu führen. Mengele steht auf der amerikanischen Kriegsverbrecherliste, sein Name ist schon bei etlichen Prozessen gefallen.
Tatsächlich hat sie ihn loswerden wollen. Er fühlte, wie sie im Laufe der Jahre in den Wäldern und Gasthäusern im Umkreis seines bayrischen Unterschlupfs immer distanzierter wurde. Sedlmeier, Gregors Vater und seine beiden Brüder, Karl und Alois, hatten ihm gesagt, dass sich die Trauerflor tragende Irene mit anderen Männern tröstete. »Um ihn zu decken«, hatte sie der amerikanischen Militärpolizei erzählt, dass er gefallen sei. »Miststück«, flucht Gregor nun in seinem Dachzimmer im Palermo: Bei ihrer Rückkehr von der Front sind seine Kameraden von ihren Frauen als Helden empfangen worden; seine hat sich in einen Schuhverkäufer aus Freiburg verliebt und ihn dann ins Nirgendwo katapultiert.
Im Badezimmer im ersten Stock bewundert Gregor, ein Handtuch um die Taille geknotet, seinen flachen Bauch, seinen unbehaarten Oberkörper, seine zarte Haut. Er hat seine Haut immer verwöhnt. Seine Brüder und Irene hatten sich über seine Backfischkoketterie lustig gemacht, über all die Stunden des Eincremens und der Nabelschau, nun aber beglückwünscht er sich zu seiner Eitelkeit, die ihm das Leben gerettet hat. Als er 1938 in die SS eintrat, wehrte er sich erfolgreich gegen die im Reglement vorgeschriebene Blutgruppentätowierung unter dem Arm oder auf der Brust: Als die Amerikaner ihn nach dem Krieg festnahmen, hielten sie ihn für einen einfachen Wehrmachtssoldaten und ließen ihn ein paar Wochen später wieder frei.
Gregor nähert sich dem Spiegel und prüft seine Augenbrauen, die leicht vorspringende Stirn, seine Nase, seinen listigen Mund, von vorn und im Profil, rollt mit den Augen, einschmeichelnd, dann plötzlich ernst und beunruhigend. Lange hat sich der Ingenieur der arischen Rasse gefragt, woher wohl sein rätselhafter Name stammen mochte. Mengele, das klingt fast wie ein Weihnachtsgebäck oder ein pelziges Spinnentier. Und weshalb waren Haut und Haar so dunkel? In Günzburg hatten seine Mitschüler ihn Beppo den Zigeuner genannt, und seit er sich in Buenos Aires hinter einem düsteren Schnurrbart versteckt, sieht er aus wie ein Hidalgo, wie ein Italiener, ja, wie ein Argentinier. Gregor besprüht sich mit Kölnisch Wasser und lächelt, wobei die Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen sichtbar wird. Trotz Niederlage und Flucht, obwohl Malbranc noch immer auf Tauchstation ist, hat er das Fieber besiegt und immer noch einen ansehnlichen Ständer. Für einen Achtunddreißigjährigen, der vom Leben und vom Krieg nicht verschont wurde, ist er, mit Verlaub, nach wie vor attraktiv. Gregor kämmt sein Haar nach hinten wie William Powell in The Kennel Murder Case, zieht sich an und geht hinaus. Der Himmel ist klar, die Brise vom Rio de la Plata erfrischend.
Seit ein paar Tagen streift er durch Buenos Aires. Die kolossale Avenida 9 de Julio mit ihrem Obelisken; die Avenida Corrientes mit ihren Kabaretts und Buchhandlungen; der in den Himmel wachsende Palacio Barolo und die Jugendstilcafés in der Avenida di Mayo; die mit fettigen Papieren übersäten Rasenflächen im Parque Tres de Febrero; das Gewimmel auf den Hauptverkehrsadern der Innenstadt, die Konditoreien und luxuriösen Läden in der Calle Florida. Am Tag zuvor hatte er die Wachablösung im Stechschritt vor der Casa Rosada angeschaut, den Präsidentenpalast, die Inbrunst der Schaulustigen um ihn herum, ihren Respekt vor der Welt des Militärs. Die Armee, eine stabilisierende Institution, in Argentinien wie überall. Nur die Deutschen setzen alles daran, mit ihrer Kollektivschuld ihre Traditionen zu zerstören, murmelt er in der Metro, die ihn zurück in seine Kaschemme bringt.
Überall hübsche Frauen, Blumen, streunende Hunde, Platanen und Gummibäume, der Geruch von Zigarren und gegrilltem Fleisch, Läden mit üppigeren Auslagen als in Europa. Fotos von Alfredo di Stéfano im weißen River-Plate-Trikot mit rotem Querstreifen sowie Porträts von Carlos Gardel und Agustín Magaldi zieren die Zeitungskioske neben Stichen der Gottesmutter und den Titelseiten von Sintonía, dem Magazin für Stars und Sternchen.
Gregor springt auf eine Straßenbahn, verschmilzt mit dem Gedränge aus Fußgängern und Automobilen, der Metropole, die seit ihrer Gründung mit offenen Armen Deserteure und Scharlatane empfängt. Sobald er einen Juden mit rotem Bart erblickt, Nachfahren der Rusos, die vor den zaristischen Pogromen Anfang des Jahrhunderts geflohen waren, wechselt er die Straßenseite. Auf seinem Stadtplan hat er die Viertel Villa Crespo und Once, wo die Juden ihre Schneiderwerkstätten eingerichtet haben, rot eingekreist, er fürchtet die Begegnung mit einem Gespenst aus Auschwitz, das ihn entlarven könnte.
Gregor fühlt sich nicht verloren. Argentinien, noch mitten im Wirtschaftsboom, ist das höchstentwickelte lateinamerikanische Land. Seit Kriegsende kauft ihm das verwüstete Europa Lebensmittel ab. In Buenos Aires gibt es unzählige Kinos und Theater; die Dächer sind grau, die Schüler tragen strenge Uniformen. Und wie in Deutschland zu Zeiten des Reichs wird der líder der Nation kultisch verehrt, ein Duo aus einem Bär in Operettenuniform und einem schmuckbehangenen Spatzen. Der Erlöser und die Unterdrückte: Juan und Evita Perón prangen triumphierend auf sämtlichen Mauern der Hauptstadt.
Gregor schlägt die Zeit damit tot, in den Zeitungen ihre Romanze zu entziffern. Sie haben sich im Januar 1944 kennengelernt, bei einer Wohltätigkeitsgala für die Opfer des Erdbebens, das sich wenige Tage zuvor in San Juan ereignet hatte. Die junge Schauspielerin Eva Duarte ist hin und weg von Oberst Perón, einem der starken Männer der Offizierscamarilla, die gerade an der Macht ist, Sprachrohr der Entrechteten, verdienter Sportler, Schönredner, Luchsaugen und indianische Gesichtszüge: Er hat zur Mobilmachung des ganzen Landes aufgerufen, um der zerstörten Stadt zu Hilfe zu eilen.
Nach der Abendveranstaltung kommt Perón in den Radiosender, für den Evita jobbt; Evita erhält ein eigenes Büro im Arbeitsministerium, wo Perón an seinem Schicksal feilt. Ihr Temperament und ihre Großzügigkeit beeindrucken ihn. Er engagiert sie als Sekretärin, bald ziehen sie zusammen. Evita überlässt sich ihrem Steuermann: »Perón, meine Sonne, mein Himmel, mein fliegender Kondor, hoch und fern, unter den Wipfeln in Gottes Nähe. Grund meines Lebens.«
Einmal am Ruder, steigt Perón noch weiter auf. Nun ist er Kriegsminister und Vizepräsident. Er erhöht das Budget für die Truppen, gründet Luftstreitkräfte und verbreitet über die Radiowellen die Mär von einem drohenden Angriff des brasilianischen Nachbarn. Gegen Ende des weltweiten Konflikts drängen die Vereinigten Staaten die Militärjunta zur Organisation freier Wahlen. Im September 1945 treibt ein großer Freiheitsmarsch die Regimegegner auf die Straße. Argentinien brodelt, die Offiziere streiten erbittert, die liberalsten schütteln die Nationalisten ab, verhaften Perón und entheben ihn seiner Ämter. Seine Anhänger machen mobil, auf den Appell der Confederación General del Trabajo (CGT) marschieren Arbeiter, Gewerkschafter und Hungerleider nach Buenos Aires und fordern auf der Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalais seine Befreiung und Wiederaufnahme in die Regierung. Perón heiratet Evita und gewinnt ein paar Monate später die Präsidentschaftswahlen.
Ehrgeizige und revanchistische Provinzler, sind Evita und Perón einander sehr ähnlich. Er ein Kind der einsamen Steppen aus der Provinz Chubut, der Vater ein labiler Taugenichts, die Mutter ein Flittchen; sie die uneheliche Tochter eines bigamischen Provinzhonoratioren. Evita ist noch nicht geboren, als Perón 1911 mit sechzehn Jahren in das Kadettenkorps eintritt. Paraná, die Anden, die Amazonasprovinz Misiones: Der junge Soldat erkundet bei seinen verschiedenen Zuweisungen das Innerste Argentiniens und entdeckt von täglicher Fron geplagte Peons, Arbeiter in den Schlachthöfen von Buenos Aires, die schlechter behandelt werden als die dort abgestochenen Tiere. Die Ungleichheiten eines reichen Landes, wichtigster Rohstofflieferant für England, das seine Bedingungen diktiert: Die Briten kontrollieren das Eisenbahnnetz, die Banken beuten die Schätze der Pampa aus und riesige Wälder mit Quebrachobäumen, aus denen sie Gerbstoffe gewinnen. Die Großgrundbesitzer reißen die Macht an sich, geben rauschende Feste. In Buenos Aires steht der Palast neben der Hütte, das Teatro Colón neben den Bordellen in La Boca.
Die Krise von 1929 verwüstet Argentinien. Es wimmelt von Arbeits- und Obdachlosen, Streiks lähmen das Land, anarchistische Gruppen treiben ihr Unwesen. Perón reißt sich zusammen. Für das Unglück ihrer Mitbürger unempfänglich, organisiert die korrupte politische Führungsriege die Unterversorgung, tritt öffentlich für die Demokratie ein, aber betrügt bei den Wahlen. Die 1930er-Jahre: Opiumrauchen, Finanzskandale, Äther und Kokain, bewaffnete Überfälle. Mitten in jenem berüchtigten Jahrzehnt kommt die junge Evita nach Buenos Aires, um Schauspielerin zu werden.
Naiv und schmächtig, wird sie von skrupellosen Produzenten missbraucht. Evita tobt: Nichts vergisst und verzeiht sie. Sie träumt davon, die Verräter aus ihren widerwärtigen Schlupflöchern zu ziehen und den mit ausländischen Kapitalisten verbandelten Zucker- und Züchterbaronen, die alle Mittellosen wie sie mit Füßen treten, den Kopf abzuschneiden. Evita ist noch fanatischer und leidenschaftlicher als Perón.
1946 sind sie die Herren Argentiniens, unterstützt von Kirche, Militär, Nationalisten und Proletariern: Die Stunde des Schwerts hat geschlagen.
Die Peróns wollen Argentinien emanzipieren und kündigen eine ästhetische und industrielle Revolution an, ein plebejisches Regime. Der Präsident schimpft und wettert im Radio, gestikuliert und prahlt vor den faszinierten Massen, verspricht das Ende von Demütigung und Abhängigkeit, ein herrliches Leben, den großen Umschwung: Er ist der Erlöser, mit dem Justizialismus wird Argentinien in die Geschichtsbücher eingehen.
Perón ist der erste Politiker, der die alte koloniale Agrargesellschaft Argentiniens wachrüttelt. Als Staatssekretär hat er die Arbeiter verwöhnt, als Präsident mit Unterstützung der CGT den öffentlichen Dienst, der dem riesigen Staatsapparat angehört, aufgepäppelt. Wachstum und Selbstversorgung, Stolz und Würde: Perón räumt mit den Privilegien der Oligarchie auf, entwirft seine Ruhmesträume, zentralisiert und verstaatlicht die Eisenbahn, das Telefon, die strategischen Sektoren in ausländischer Hand.
Evita ist das Symbol dieser radikalen Modernisierung. Im Abendkleid empfängt die Madonna der Armen die Gewerkschaftsdelegationen, besucht Krankenhäuser und Fabriken, weiht Straßenabschnitte ein, verteilt Zahnprothesen und Nähmaschinen und wirft bündelweise Pesos aus den Fenstern des Zuges, mit dem sie unermüdlich das Land bereist. Sie gründet ein Hilfswerk für die Hemdenlosen, für alle Entrechteten, und verkündet unter dem Beifallssturm der Menge die frohe Botschaft der Perónisten im Ausland. 1947 wird sie auf ihrer »Regenbogentour« vom Papst und mehreren Staatschefs empfangen.
Die Peróns, Mittler des Volkes und des göttlichen Willens, riegeln die nationalistische und autoritäre neue Ordnung ab. Sie säubern Universität, Justiz, Presse und Verwaltung; verdreifachen das Personal des Geheimdienstes, Männer in beigefarbenen Gabardinemänteln und braunen Anzügen. Perón brüllt »Hanfschuhe ja, Bücher nein!«. Jorge Luis Borges wird aus der Biblioteca Nacional von Buenos Aires geworfen und zur staatlichen Geflügel- und Haseninspektion abgestellt.
Perón denkt die Welt. Der Mensch ist ein von gegensätzlichen und feindlichen Verlangen getriebener Kentaur, der in einer Staubwolke dem Paradies hinterhergaloppiert. Die Geschichte ist die Erzählung der menschlichen Widersprüche; Kapitalismus und Kommunismus machen das Individuum zu einem Insekt, beuten es, wie Ersterer, aus oder versklaven es. Allein der Perónismus wird Individualismus und Kollektivismus überwinden. Ein schlichter, volksnaher Katechismus, der einen neuen Kompromiss zwischen Körper und Seele, Kloster und Supermarkt vorschlägt. Seinem Volk verspricht Perón die Senkrechte des Uhrenpendels: das Zeitalter des Kentauren zu überwinden – für Argentinien, die sozialistische christliche Nation.
Kentauren und Hemdenlose: Die unmögliche Harmonie der perónistischen Antinomien lässt Gregor kalt. Fürs Erste muss er sich zurechtfinden und seine Haut retten.
Mit dem Südfrühling stellt er seine Stadtbesichtigungen ein. Mitte September 1949 bekommt er eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Anstellung als Zimmermann im Stadtteil Vicente López, wo er in ein neues Mauseloch mit dreckigem Fenster zieht, das er mit einem Ingenieur und seiner kleinen Tochter teilt. Eines Nachts wacht Gregor vom Stöhnen des Kindes auf. Die Stirn heiß, leichenblass, wird es von Fieberkrämpfen geschüttelt, der Vater fleht Gregor, mit dem er bisher kaum ein Wort gewechselt hat, panisch an, schnellstmöglich einen Arzt zu holen. Gregor flüstert dem Ingenieur zu, er könne sie selbst behandeln, allerdings unter der Bedingung, dass er niemandem von seinen Fähigkeiten erzähle, sonst solle er sich selbst behelfen, er werde keinen Finger rühren, seine Tochter müsse sterben – und wehe ihm, wenn er ihn später verrät.
Niemand darf wissen, dass er Arzt ist. Er, der während des Studiums verächtlich auf alle Tüftler und manuellen Berufe herabgeschaut hatte, ist nun bereit, Fußböden zu verlegen und Balken zusammenzusetzen, seit Beginn seiner Flucht ist er gezwungen, sich an stumpfe körperliche Arbeit, an ungebührliche Aufgaben zu gewöhnen. Auf seinem bayrischen Gehöft musste Gregor den Pferdestall ausmisten, die Bäume stutzen, die Erde lockern. Hier verrinnen die Wochen, sein Leben ist trist und einsam, seit er in Buenos Aires ist, lebt er in der permanenten Furcht vor einem Fauxpas, einer unguten Begegnung, eckt überall an mit seiner Angst. Gregor ist gefesselt. Jeden Tag nimmt er einen anderen Weg zur Arbeit. Regelmäßig trifft er Menschen, die Deutsch sprechen und an die er kein Wort zu richten wagt. Er träumt von Eisbein und Apfelsaft in einem der deutschen Restaurants, auf die er während seiner winterlichen Gänge gestoßen ist – das ABC in der Innenstadt, die Gaststätte Zur Eiche in der Avenida Crámer oder das Otto im Stadtteil Chacarita –, doch er weigert sich, dort einzukehren, wie er sich weigert, in der Öffentlichkeit seine Sprache zu sprechen. Gregor hat einen starken bayrischen Akzent. Ebenso wenig kommt es infrage, sich Der Weg zu kaufen, die Monatsschrift für Freiheit und Ordnung. Gregor tröstet sich mit der Post, die ihm noch ins Hotel Palermo geschickt wird. Dank des guten Sedlmeier ist er mit Irene und ihrer Familie in Kontakt: Über ein Postfach sendet er ihnen wehmütige Briefe, und Sedlmeier adressiert ihm im Gegenzug die Schreiben und Vollmachten seiner Verwandten. In der Heimat ist alles in Ordnung. Das Familienunternehmen für Landmaschinen floriert, seine Schubkarren und Mähdrescher »gehen weg wie warme Semmel«, brüstet sich der Vater. Deutschland hat noch nicht alle Trümmer weggeräumt und beginnt gerade erst, sich wieder aufzurichten. Karl senior erwartet ihn: Sobald die »revanchistischen Freunde uns nicht mehr schikanieren«, wird er in den Schoß der Familie und in den Aufsichtsrat zurückkehren. »Josef, hör auf zu flennen, Du hast an der Ostfront gekämpft, Du bist doch kein Kind mehr. Hab Geduld, immer so misstrauisch, es wird sich schon alles fügen.«
Vorsorglich in seinem Zimmer eingeschlossen, der Ingenieur und seine Tochter sind nicht da, hört Gregor eine Strauss-Oper und verschlingt Der Weg. Vor zwei Tagen war ihm plötzlich schwindlig geworden, die Feinsäge war ihm entglitten, fast wäre er von einem mehrstöckigen Holzgerüst gestürzt. Er verdankt sein Leben der Reaktionsschnelle des Baustellenpoliers. Weil er es satthat, ewig dahinzuvegetieren und auf die Rückkehr des schimärischen Malbranc zu hoffen, hat er sich am Kiosk schnell die Zeitschrift der Nostalgiker des Schwarzen Ordens gekauft und unter die Jacke gesteckt.