Zaza Burchuladze, 1973 in Tbilissi geboren, übersetzte Fjodor Dostojewski und Daniil Charms ins Georgische. Seine Romane und Essays wurden von religiösen Extremisten verbrannt und vom Präsidenten Saakaschwili in der georgischen Tagesschau angeprangert. Im Sommer 2012 wurde er von Unbekannten angegriffen und musste mit seiner Familie nach Deutschland fliehen. Heute lebt und arbeitet er in Berlin. Für seine Romane wurde er mehrfach ausgezeichnet. Bei Blumenbar erschien 2015 sein Roman »adibas«, der von der Stiftung Buchkunst zum »schönsten Buch des Jahres« gewählt wurde. 2017 folgte sein Flucht- und Heimatroman »Touristenfrühstück«.
Eine Frage des Glaubens
Das junge georgische Paar Nino und Niko Gorosia führt aus Langeweile in ihrer Küche eine Geisterbeschwörung durch. Und der Geist erscheint wirklich. Es ist Georges Gurdjieff, der große Esoteriker und Scharlatan des 20. Jahrhunderts. Zur Bestürzung der Gorosias macht er keine Anstalten, wieder zu verschwinden.
Als sie ihn bitten, sich an den Haushaltungskosten zu beteiligen, verfällt Gurdjieff auf seine probaten Mittel: Betrug, Kidnapping, Hypnose. Auf einmal scheint alles möglich, nur eine Frage des Glaubens, und die Gorosias träumen vom großen Aufstieg.
»Der aufblasbare Engel« erzählt mit feiner Ironie von Schuld ohne Sühne im Georgien der Nullerjahre, wo Erfolg und Kriminalität so eng verbunden sind wie Glauben und Aberglauben.
»Zaza Burchuladze gilt in seiner Heimat als einer der wichtigsten Autoren seiner Generation. Dass er seit einiger Zeit in Berlin lebt, liegt an seinen Gegnern: Religiöse Extremisten verbrannten einst seine Romane und Essays.« Spiegel Online
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Der aufblasbare Engel
Roman
Aus dem Georgischen von Maia Tabukashvili
Inhaltsübersicht
Über Zaza Burchuladze
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Erster Akt
Die nächtliche Séance
Der Tanzlehrer
Die Akrobatenmönche
Der Werbeblock
Zweiter Akt
Der Vierte Weg
Der heimtückische Plan
Der türkische Thriller
Die Verklärung am Morgen
Dritter Akt
Der Schokoschnurrbart
Wattebeine
Der Pilzsammler
Im Königreich der Zauberspiegel
Vierter Akt
Die drei Schwengel des Kondors
Schaumzuckerstalin
Der Jadekaiser
Der Bußgesang
Fünfter Akt
Der alte Kombi
Der singende Wels
Die gastronomische Pietà
Der aufblasbare Engel
Anmerkungen
Impressum
Viele glauben nicht an Geister. Selbst dann nicht, wenn sie sie beschwören. Auch die Gorosias glaubten nicht daran, dass Georges Gurdjieffs Geist wirklich erscheinen würde.
Nino und Niko Gorosia hatten also keine großen Erwartungen. Dennoch hatten sie das Licht in der Küche ausgeschaltet, einen quadratischen Bogen gestrichenes Papier auf den Tisch gelegt, einen großen Kreis darauf gezeichnet und sorgfältig mit Filzstift das georgische Alphabet eingetragen. Unter dem Kreis standen zwei Wörter: Ja und Nein. Daneben lag ein umgedrehter Teller mit einem aufgemalten Pfeil. In einer rot gepunkteten Tasse brannte ein Kerzenstummel, dessen orangeviolettes Licht spärlich das Papier, den Teller mit Pfeil, die Gesichter der Gorosias und ihre auf dem Tisch liegenden Hände beleuchtete. Dass die Wanduhr bereits nach Mitternacht anzeigte, war nicht zu erkennen. Ebensowenig, wie sich im Spülbecken das Geschirr stapelte. So weit reichte der Kerzenschimmer nicht.
In einem hasenverzierten Nesquik-Glas mit abgebrochenem Henkel schwamm im letzten Schluck Milchkaffee eine Fliegenleiche. Die Luft im Zimmer war schlecht, es roch nach Nikotin, Spülmittel und dem Hund: Im Sessel an der Wand schlief Foucault, ein weißer Bullterrier mit rosa Schnauze, beinahe so groß wie ein junger Eber. Aus der Nachbarwohnung hörte man den Fernseher. Offenbar lief die Sendung Profil. Die Moderatorin hatte einen schlagfertigen Gast, der Saal lachte ausgelassen und applaudierte.
Nino hatte immer viel jünger ausgesehen, als sie tatsächlich war. Aber wen kümmert das, sie arbeitete als einfache Beamtin im Tbilissier Rathaus. Dort wurden auch ältere Frauen beschäftigt, solange sie jung aussahen. Ninos kaum erschlaffte Brüste, die großen blauen Augen und ihr wohlgeformter, cellulitefreier Körper sprachen dafür. Wer hätte gedacht, dass hinter diesem sanftmütigen Gesicht und dem leicht melancholischen Blick ein eiserner Wille und ein starker Charakter steckten. Sie war klein, zierlich und hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Barbiepuppe.
Auch Niko war kein Riese. Im Unterschied zu Nino besaß seine Gestalt etwas Unmögliches, nahezu politisch Unkorrektes. Mit seinen runden Wangen, vollen Lippen und ausdruckslosen Augen wirkte er wie ein depressiver Psychopath. Dabei war sein Gemüt weich und formbar wie Teig.
In dieser Nacht trug Nino Gummischlappen, außerdem Jeansshorts und ein weißes, beinahe durchsichtiges Top. Sie war gerade erst aus dem Bad gekommen, ihr kurzes, zerzaustes Haar war noch nass. Der Shampooduft verbesserte die stickige Luft im Zimmer nur wenig. Sie trug keinen BH, unter dem Top zeichneten sich ihre festen Nippel ab und sie wünschte sich, Niko würde mit der Hand unter ihr Top fahren und sie berühren. Mehr nicht.
Aber Niko starrte auf den Teller mit dem Pfeil. Dabei dachte er an das Eclair im Kühlschrank, das er nicht anzurühren wagte. Seit einer Woche schon aß er nach sechs Uhr abends nichts mehr, worunter er schrecklich litt. Sein Übergewicht störte ihn eigentlich nicht, diese Diät war vielmehr ein fixer Gedanke als eine Notwendigkeit.
Die Idee mit der Séance war Nino im Büro gekommen, als sie durchs Internet surfte. Niko hatte nichts einzuwenden gehabt. Es ist auch schwer, der eigenen Ehefrau die Stirn zu bieten. Besonders wenn sie mit einem Toten in Kontakt treten möchte. Er hatte nur gefragt: »Warum ausgerechnet Gurdjieff?«, und in Gedanken hinzugefügt, »warum nicht … sagen wir …« Gerne hätte er einen bedeutenderen Toten genannt, doch fiel ihm außer dem Papagei, den er als Kind besessen hatte, niemand ein. Eines Morgens hatte Niko das Tuch vom Käfig gezogen und den Vogel tot am Boden liegen sehen. Als Niko den kleinen Kadaver hochhob, war er noch warm. Das Köpfchen fiel zur Seite.
»Weil«, und nach einer Pause fügte Nino hinzu: »Weil wir mit ihm, falls es klappt, Georgisch sprechen können.«
Die Sache war die: Die Gorosias beherrschten keine einzige Fremdsprache richtig. Notfalls hätte Nino ein bisschen Deutsch zusammenbekommen und Niko ein paar Brocken Englisch. Aber warum sollten sie, wenn es überhaupt klappen würde, vor sich hin stammeln. Allerdings wusste Nino auch so gut wie nichts über Gurdjieff und hielt ihn für einen Georgier, oder zumindest für jemanden, der in Georgien geboren war.
Niko tat sich schwer, seiner Frau recht zu geben. Ihr Umgang miteinander erinnerte stark an eine Mutter-Kind-Beziehung.
Früher wurde Niko einmal für einen vielversprechenden Regisseur gehalten. Als Zwanzigjähriger war er mit seinen studentischen Kurzfilmen prompt ins Zentrum der Aufmerksamkeit eines kleinen, jedoch bedeutenden Kreises gerückt. Viele sprachen damals von seinem scharfen Blick und seiner Intuition. Es schien, als hätte der junge Mann noch alles vor sich, kurze Romanzen mit verzweifelten Hausfrauen, einen Schal um den Hals und einen ziemlich wilden Lebensstil … Das war vor der Begegnung mit Nino, seiner zukünftigen Ehefrau. Mit ihr verlor Niko auf einmal Antrieb und Haltung. Er wurde träge. Wie selbstverständlich tauschte er seine Filmkamera gegen einen Fotoapparat ein. In den letzten drei Jahren beteiligte er sich zwar ein paar Mal an Gruppenausstellungen, doch wurde dabei nur deutlich, dass sein scharfer Blick sich getrübt hatte. Auch andere konnten Schwarzweiß-Portraits machen, und zwar um Längen besser. Das fiel Niko durchaus auf, berührte ihn aber kaum. Und so blieb der Fotoapparat des Öfteren zwischen CDs und Büchern im Regal liegen. Jetzt war seine Intuition nur noch dazu da, Nino zu erforschen und zu verhindern, dass er etwas sagte, was ihr hätte missfallen können – umso mehr, weil er seit geraumer Zeit auf ihre Kosten lebte. Daher sagte Niko in Ninos Gegenwart nicht immer das, was er sagen, sondern das, wovon er annahm, dass sie es hören wollte.
»Wer weiß schon, was passieren wird«, hatte Niko in dieser Nacht gedacht, sich den toten Papagei aus dem Kopf geschlagen und verkündet: »Gut, dann eben Gurdjieff.«
Er zuckte mit den Schultern und fügte aus welchen Gründen auch immer hinzu: »Wir werden sehen.«
Auch als Nino den umgedrehten Teller mit dem Pfeil über die Kerzenflamme gleiten ließ und dann auf das Papier legte, erwartete sie nicht im geringsten, dass etwas passieren würde. Als zeitgleich in Island der Vulkan Eyjafjallajökull auszubrechen begann, legten in Tbilissi die Gorosias vorsichtig ihre Finger auf den Teller und schlossen die Augen. Eher mechanisch als bewusst flüsterte Nino:
»Gurdjieff, komm zu uns! Gurdjieff, komm zu uns!«
Als der Teller erst zu vibrieren begann, dann wie festgewachsen auf dem Papier klebte und plötzlich im Flur ein Rascheln zu hören war, verstummte Nino abrupt. Die Gorosias rissen die Augen auf, blickten sich entgeistert an. Foucault fuhr hoch, spitzte die Ohren. Im Flur raschelte es erneut. Foucault sprang vom Sessel und lief knurrend zur Tür. Auf seinen kurzen, dicken, etwas bogenförmigen Beinen watschelte er wie eine große Eidechse. Nino hielt Nikos Hand. Schon hatte Foucault die Eingangstür erreicht.
Dort hustete jemand, deutlich vernehmbar. Foucault hörte auf zu knurren. Aus der Dunkelheit drangen Geräusche, als hantiere jemand herum. Nino drückte Nikos Hand noch fester. Da ihm nichts Besseres einfiel, rief er leise Richtung Flur:
»Foucault!« Er hob die Stimme ein wenig: »Foucault!«
»Der ist hier!«, erwiderte jemand aus dem Flur.
Ninos Augen weiteten sich. Auf ihrem Rücken sträubten sich die Härchen. Denn wie alle georgischen Frauen hatte auch Nino einen leichten Flaum entlang der Wirbelsäule.
»Wer ist da?«, fragte Niko, im Flüsterton, warum auch immer.
Aus der Dunkelheit erschien ein mittelgroßer, leicht untersetzter, schlaffer alter Mann. Irgendwie erinnerte er an einen Seehund. Selbst im schummrigen Kerzenlicht war zu erkennen, dass er schlecht sah. Er hatte große Glubschaugen und ein welk herunterhängendes Doppelkinn. Der dichte, weiße, gezwirbelte Schnurrbart schien ihm aus den Nasenlöchern herauszuwachsen. Sein schwarzes, abgegriffenes Sakko trug er offen. Zwischen Brusttasche und Knopf seiner ebenfalls schwarzen Satinweste kam die Kette einer goldenen Uhr zum Vorschein. An den Füßen trug er staubige Stiefel mit stumpfer Spitze, auf dem Kopf eine schwarze Lammfellmütze, eine Mischung aus sufischer Sikke und Pionier.
»Ich bin es«, rief der Mann in den Raum hinein, »Gurdjieff«.
Er nuschelte, es war nicht zu verstehen, ob er Gurdjieff oder Dordjieff gesagte hatte. Bei seinem Anblick erhob sich Niko.
»Kommen Sie«, sagte Niko, »Herr …«
»Nennen Sie mich Guru«, half ihm der Alte. Er sprach eigenartig, als bemühe er sich, ein Lächeln zu unterdrücken.
»Guru?«, wiederholte Niko.
»Ansonsten«, der Alte reichte Niko die Hand, »gefällt mir auch der Name Raymond.«
Foucault gab einen hustenähnlichen Laut von sich, er forderte Aufmerksamkeit.
»Raymond?«, fragte Niko und griff mechanisch nach der Hand des Gastes.
Foucault stellte sich auf die Hinterbeine, stützte die Vorderpfoten gegen den Alten und brachte ihn damit beinahe zu Fall. Der Alte strich dem Hund über den Kopf, kraulte ihm das Ohr.
»Dann eben Guru«, sagte er lächelnd, »aber ohne Herr!«
Niko verstand nicht, ob der Gast scherzte oder es ernst meinte.
»Salam aleikum!« Jetzt streckte der Alte Nino die Hand entgegen, »Tanzlehrer Georges Gurdjieff. Für euch einfach Guru.«
Gurdjieff sah Nino kurz in die Augen. Sofort spürte sie ein leichtes Stechen zwischen den Beinen, und ein Schauer durchfuhr ihren Körper. Es war wie bei einer Hypnose, angenehm und angsteinflößend zugleich.
»Nino«, sagte sie. Und trotz ihrer Verwirrung, bemerkte sie, was für eine warme, weiche Hand er hatte. Ihr Blick fiel auf den Silberring, den er an seinem Mittelfinger trug und in den allerlei Vogelmotive eingraviert waren. Eine Juwelierarbeit. Auch im schwachen Licht ließ sich jedes Detail deutlich erkennen, wie auf einer frisch geprägten Münze.
Mehrere Figuren waren auf dem Silberring hintereinander aufgereiht: ein Mann mit einem Vogelkopf, ein zweiköpfiger Adler, ein auf einem Bein stehender Storch, auch ein gewöhnlicher Hahn. Dann noch ein Vogel, dreimal hintereinander, wie Auslassungspunkte. Er hatte einen großen Körper, einen kleinen Kopf und einen gebogenen Schnabel.
Der Gast folgte Ninos Blickrichtung:
»Das ist ein Andenkondor«, sagte er und nickte Nino zu, »habe die Ehre.«
Niko musste schmunzeln beim Anblick des Tellers mit dem Pfeil und erst jetzt fiel ihm auf, dass der Alte tatsächlich Georgisch sprach; ruhig und mit leichtem, angenehmem Akzent. Ninos Idee, Gurdjieffs Geist zu rufen, erschien ihm auf einmal sehr richtig.
»Möchten Sie vielleicht einen Tee?« Nino stand auf.
»Wir hätten sogar noch ein Eclair mit Schokolade gefüllt«, dachte Niko bei sich.
»Das könnte knapp werden«, sagte der Gast, zog seine Uhr aus der Tasche und schaute darauf. »Entschuldigung. Eigentlich sollte ich gerade ganz woanders sein … Ich weiß nicht, wie ich hierher geraten bin.« Der Gast schob seine Unterlippe nach vorn. »Offenbar ist etwas durcheinandergekommen.«
In der Küche entstand eine bedrückte Stille. Niko wandte den Blick vom Alten ab, sah hinüber zu Nino, dann zu Foucault, schließlich zum Kühlschrank, dann wieder zu Nino.
»Gleich verschwinde ich«, sagte der Gast nüchtern und begann zu zählen: »Fünf … vier …« Die Gorosias starrten ihn an. »Drei … zwei … eins …«
Gurdjieff hatte zwar eindrucksvoll gezählt, kurz auch eigenartig gewackelt, wie ein Fernsehbild bei schlechtem Empfang, doch er verschwand nicht. Lediglich ein Klicken in seinem Bauch war zu hören, und schwarzer Ruß stieg ihm aus den Ohren, begleitet vom Geruch verbrannten Gummis.
Foucault wunderte sich und gab wieder einen hustenähnlichen Laut von sich. Der Gast schaute erneut auf seine Uhr, schüttelte sie, hielt sie ans Ohr, schaute noch einmal darauf.
»Was ist passiert?«, fragte Nino.
»Ich weiß nicht.« Der Gast rülpste unwillkürlich. Ruß quoll aus seinem Mund, es roch nach verbranntem Gummi.
Erneut herrschte in der Küche eine bedrückte Stille. Der Gast schien verwirrt.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Niko schob ihm einen Stuhl hin. »Setzen Sie sich doch.«
»Ich weiß nicht, Suliko, ich glaube nicht …«
Der Alte setzte sich mechanisch. »Jetzt müssen wir vor allem einen kühlen Kopf bewahren.« Er schien das eher zu sich selbst zu sagen als zu den Gorosias. »Wir können uns ja ein wenig unterhalten, und wenn ich währenddessen verschwinde, dann verschwinde ich eben.«
Nach einer Weile gingen sie hinüber ins Wohnzimmer. Niko hatte sich auf der Bank am geöffneten Fenster niedergelassen. Unweit von ihm stand das Nesquik-Glas mit den Hasenmotiven und dem abgebrochenen Henkel. Von dort aus beäugte Niko den Gast. Tief im Herzen schämte er sich dafür, dass er über ihn so rein gar nichts wusste. Dieser Mann war immerhin Georges Gurdjieff und nicht irgendein Verwandter.
Nino saß am Tisch. Wieder und wieder hielt sie sich die Hand vor den Mund, gähnte. Sie hielt eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, rauchte aber nicht, und der blaue Qualm schlängelte sich zur Decke. Anfangs hatte Nino so viele Fragen an den Gast, dass sie nicht wusste, wo beginnen. Doch alle erschienen ihr irgendwie dumm oder fehl am Platz. Nun waren die Fragen einfach weg. Fast eine ganze Stunde war seit Gurdjieffs Ankunft bereits vergangen, aber Nino hatte in seinem Blick kein einziges Mal wieder jenes Etwas gespürt, das sie zuvor hatte erschaudern lassen. Sie schämte sich sogar vor sich selbst und überlegte, wie sie über diesen alten Mann so hatte denken können, und dass sie sich wohl etwas eingebildet haben musste.
Der Gast hatte sein Sakko, auch die Weste und die Stiefel ausgezogen, den Hut abgelegt, und sein kahler Schädel glänzte im Schein der Glühbirne. An den Füßen trug er geringelte, abgewetzte Socken mit dünnen Fersen. Wie ein Bauer verströmte er einen säuerlichen Fußgeruch, roch außerdem nach Rauch, frischem Gras und ein wenig nach Mist. Jetzt war ihm das Alter deutlicher anzusehen. Offenbar hatte er sich seit Tagen nicht mehr rasiert. Seine Wangen waren vom heißen Tee gerötet. Seine schmutzigen Hemdsärmel trug er hochgekrempelt. Seine Hände waren über und über mit Altersflecken bedeckt. Er saß kerzengrade da wie ein alter Yogi. Neben ihm eine Untertasse mit Sultaninen. Eine ganze Handvoll davon verschwand gerade in seinem Mund. Dazu nippte er Tee aus einem Glas. Weichte die verspeisten Sultaninen darin ein. Sein schlaffes, faltiges Doppelkinn wackelte hin und her wie bei einem großen Reptil. Immer wieder zog er die Uhr aus der Westentasche, schaute drauf. Gelassen kraulte er Foucault am Ohr, das schlafende Tier hatte den Kopf in seinen Schoß gelegt.
»Ich habe die Gebrüder Foucault noch gekannt«, sagte Gurdjieff, »Janosch und Tamasch Foucault. Das waren Akrobatenmönche aus Koposchwar. Konnten ein hervorragendes Gulasch zubereiten Und Tschardasch tanzen konnten sie auch gut …« Schließlich fragte er:
»Wer hat denn den hier Foucault getauft?
»Niko.« Nino hielt sich die Hand vor den Mund, gähnte, dachte bei sich, da ihr auch wieder seine Bemerkung zu Raymond einfiel, der Gast habe eindeutig einen Namenstick.
Gurdjieff schaute zu Niko.
»Wegen Michel Foucault«, sagte Niko. »Der sah doch so ähnlich aus, stämmiger Nacken, kräftiger Unterkiefer …« Plötzlich verstummte Niko, schämte sich für seine schnelle Antwort.
Allerdings hatte der Hund den Namen nicht von ihm bekommen; als die Gorosias den Welpen kauften, hieß er bereits Foucault. Das mit dem stämmigen Nacken und dem kräftigen Unterkiefer hatte ihnen der Kynologe gesagt. Da sie es unbedingt so wollten, stellten sie auf den zweiten Blick tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Bullterrier und Michel Foucault fest.
»Ah, so ist das«, sagte Gurdjieff und lächelte.