Trude Teige, Jahrgang 1960, ist eine bekannte Journalistin und gehört zu den erfolgreichsten Kriminalautorinnen Norwegens.
Bei atb sind bisher zwei Romane mit Kajsa Coren erscheinen »Totensommer« und »Das Mädchen, das schwieg«.
Gabriele Haefs übersetzt aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen, u. a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt 2008 den Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. Sie lebt in Hamburg.
Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er lebt in Berlin.
Mörderische Geheimnisse
Die Journalistin Kajsa hat sich auf eine Insel bei Oslo zurückgezogen, als ein Mann sie aufsucht, um sie auf das Schicksal einer verschwundenen Frau hinzuweisen. Wenig später wird dieser Mann tot aus dem Meer gefischt. Offenbar hat ihn jemand betäubt und ins Wasser geworfen. Kajsas Interesse erwacht. Der Fall, dem sie nachgehen soll, liegt Jahre zurück. Damals ist Julia, eine junge Frau, verschwunden – und nun ist ihre Mutter, eine Psychiaterin, auf die Insel zurückgekehrt.
Ein Bestseller aus Norwegen – ein packender Roman um verschollene Bilder, eine mysteriöse Klinik und eine junge Frau, die ein Geheimnis hütet.
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Die Frau, die verschwand
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen von
Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
Inhaltsübersicht
Über Trude Teige
Informationen zum Buch
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20. April 1993
Kapitel 1: Krankenhaus Dikemark, 15. Mai 1993
Kapitel 2: Losvika, 14. März 2016
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6: 29. August 1992
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Einen Monat später
Nachwort
Impressum
»HIC EST LOCUS UBI SANGUIS
URINAQUE ARCANA VITAE APERIANT.«
(Dies ist der Ort, wo sich die Geheimnisse
des Lebens in Blut und Urin offenbaren.)
An die Decke des Labors im Bjørkeli-Gebäude
der Irrenanstalt Dikemark in Asker gemalt
Bald ist meine Zeit zu Ende, und vielleicht ist das hier das Allerletzte, was ich schreibe. Wenn irgendwer diese Aufzeichnungen findet, dann stelle ich mir vor, dass diese Person Schwierigkeiten damit haben kann, meine Schrift zu lesen. So geschwächt bin ich nämlich, und dabei war es mir immer so wichtig, deutlich zu schreiben.
Ich habe die ganze Zeit an Julia gedacht. Denn sie stellt so viele Fragen, die kleine Julia, und sie hat mich dazu gebracht, erzählen zu wollen, was ich gesehen und gehört habe. Aber das Wichtigste von allem: Sie hat mich dazu gebracht zu glauben, dass mein Leben nicht gänzlich vergeudet war.
Anne-Marie hat das Testament bekommen. Ich hoffe, Julia freut sich über das Gemälde. Sie ist die Einzige, die weiß, wie wertvoll es ist, in dem Grad, in dem eine Neunjährige so etwas erfassen kann.
Meine Lebenskraft ist verebbt, der Quell ist leer, jetzt habe ich nichts mehr zu erzählen. Es endet hier. Übrigens spielt nichts mehr eine Rolle, ich empfinde nichts, es ist so, als sei ich gar nicht mehr ich.
Ich bereue, dass ich nicht früher mehr über meine Erlebnisse erzählt habe, denn dann wären vielleicht diese entsetzlichen Dinge nicht alle passiert. Aber wer hätte mir geglaubt? Mir, einem Geisteskranken, einem Patienten, einem unzurechnungsfähigen Menschen.
Und dann will ich feststellen, ob es stimmt, was der antike Krösus behauptet hat: dass man erst glücklich ist, wenn man tot ist. Obwohl ich mich frage, wie ich das dann wissen soll, wenn ich nicht mehr existiere?
Krösus von Dikemark
Die Pflegehelferin Anne-Marie Skog hatte die ältere Frau, die in der Küchentür stand und nach Gunnar Lauritzen fragte, noch nie gesehen. Sie musste Ende siebzig sein, war klein und adrett und trug einen schwarzen zweireihigen Mantel. Ihre Augen waren blass, ihre Miene war traurig, und es sah aber nicht so aus, als sei die aktuelle Situation daran schuld. Ihre Erscheinung jedoch sprach eher von einem allgemeinen und konstanten Kummer. Sie hielt mit beiden Händen eine rote Handtasche vor sich.
»Ich bin seine Schwester«, sagte sie und reichte Anne-Marie Skog die Hand. »Lydia Lauritzen.«
Anne-Marie sah die Frau überrascht an. »Gunnar Lauritzen? Wir haben niemanden …«, begann sie. Aber dann fiel es ihr ein. Die Frau meinte Krösus. Anne-Marie erinnerte sich nur durch Zufall an seinen wirklichen Namen, der war nie benutzt worden, so lange sie schon hier arbeitete, also seit fast fünfzig Jahren.
»Kann ich ihn sehen?«
»Natürlich, aber ich fürchte, er ist stark geschwächt.«
»Das weiß ich bereits«, sagte Lydia Lauritzen und folgte der Pflegerin in den Aufenthaltsraum. »Hier ist es aber schön«, bemerkte sie, als sie die breite, geschwungene Treppe in den ersten Stock hochstiegen. An den Wänden hingen große bunte Wappen, welche die Patienten hergestellt hatten.
Krösus war noch länger hier als Anne-Marie. Angeblich war er mit zwanzig hergekommen, und jetzt war er siebenundsiebzig. Sie hatte noch nie von einer Schwester gehört. Oder von anderen Verwandten. Niemals hatte er Geschwister oder Eltern auch nur mit einem einzigen Wort erwähnt, nicht ihr gegenüber und auch nicht bei anderen, das wusste sie, denn sie hatten oft darüber gesprochen, wie seltsam es war, dass er nie Besuch von draußen bekam. Hatte er niemanden? Die Ärzte wussten sicher mehr über ihn, bestimmt stand das in den Krankenberichten, aber zu denen hatte das Pflegepersonal keinen Zugang. Und jetzt, da er im Sterben lag, tauchte plötzlich eine Schwester auf. Anne-Marie war empört, gab sich aber Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen.
Krösus lag mit geschlossenen Augen im Bett. Anne-Marie zog einen Stuhl heran, und die Schwester setzte sich, sie sah ihren Bruder einige Sekunden lang an, dann streckte sie langsam die Hand aus, legte sie über seine. Es ist viel zu lange her, dass jemand, der ihn wirklich kennt, seine Hand auf diese Weise berührt hat, dachte Anne-Marie, als sie das Zimmer verließ. Jemand, der ihn als Kind und Jugendlichen gekannt hatte, der wusste, wer er war und was er durchgemacht hatte.
Eine Stunde später kam die Schwester aus dem Zimmer. Sie sah mitgenommen aus, ihr Gesicht war weiß, die Augen wirkten leer. Anne-Marie fragte sich, ob es daran lag, dass sich die Schwester des nahenden Endes bewusst wurde oder ob sie ihr schlechtes Gewissen spürte, da sie sich nie um ihren Bruder gekümmert hatte. »Er hat mir etwas zugeflüstert«, sagte die Frau.
»Was denn?«
»Ich habe deutlich verstanden, dass er gesagt hat: ›Hier werden Menschen umgebracht.‹«
Kajsa Coren ließ beim Kinderwagen die Bremsen einrasten. Dann hob sie sich den dreieinhalb Jahre alten Sohn Jonas auf die Hüfte, warf sich die Tasche über die Schulter und betrat das Hotel von Losvika.
Warum um alles in der Welt hatte sie sich zu diesem Treffen mit einem Fremden bereiterklärt, der nicht verraten wollte, worüber er mit ihr zu sprechen wünschte, überlegte sie, als sie Jonas auf den Fahrstuhlknopf drücken ließ.
Sie klopfte an die Tür von Nummer 210 und öffnete sie, als eine Stimme »Herein« sagte. Neugier, dachte sie, und: Man kann nie wissen. Es war schon häufiger vorgekommen, dass jemand sich an sie gewandt hatte, ohne gleich einen Grund zu nennen. Einige Male hatte das durchaus zu interessanten Reportagen geführt.
Der Mann stand vor einem der großen Fenster und schaute hinaus auf den Fjord. »Es ist schön hier draußen am Meer«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Er sprach das Wort »schön« auf eine Weise aus, die für sie schwedisch klang, weit hinten im Mund, mit sehr viel Atem.
»Ja, das stimmt allerdings«, sagte sie und blieb abwartend bei der Tür stehen.
Erst jetzt drehte er sich halbwegs um, schaute sie über seine Schulter hinweg an.
»Sie kommen ursprünglich von hier, nicht wahr?«, fragte er in einem Gemisch aus Norwegisch und Schwedisch.
»Ich bin hier geboren, aber wir sind nach Ostnorwegen umgezogen, als ich zehn war. Vor zwei Jahren bin ich mit Mann und Kindern zurückgekehrt.«
Er winkte sie zu sich, reichte ihr die Hand. »Göran Nordin, freut mich. Und wer ist der kleine Knabe?«, fragte er mit Blick zu Jonas, der verlegen sein Gesicht an Kajsas Brust schmiegte.
»Wild und schön«, sagte der Mann dann und wandte sich wieder der Aussicht zu. »Vor allem bei Wind.«
Erst jetzt sah sie, dass sein halbes Gesicht entstellt war. Seine gesamte Stirn, Teile der Nase und die eine Wange waren von rötlichem Narbengewebe bedeckt. Das linke Augenlid hing herab und ließ ihn wehmütig aussehen. Es war schwierig, sein Alter zu schätzen, vielleicht Anfang dreißig. Er war groß, an die eins neunzig. Er hatte sich die Haare abrasiert, bis auf ein knotiges Feld an der Seite, das eine Fortsetzung des Narbengewebes im Gesicht war. Sein Ohr war deformiert, fast aller Knorpel war verschwunden. Das Kinn war von einem dichten, gepflegten Bart bedeckt, und er trug eine moderne Brille mit dünner, schwarzer Fassung.
Das Losvika Hotel war aus Glas und Schiefer gebaut und passte sich der Landschaft an der Küste von Sunnmøre hervorragend an. Es hatte heftige Auseinandersetzungen um diesen Bau gegeben, viele hatten das Hotel für einen hässlichen Eingriff in die schöne Natur gehalten. Aber die Proteste waren immer leiser geworden, je weiter die Bauarbeiten fortschritten.
Kajsa schaute auf das Gartenrestaurant des Hotels hinab, das gleich unter dem Fenster lag. Es war Mitte März. Hier draußen am Meer kam der Frühling frühzeitig, aber in diesem Jahr war er bisher kühl und feucht gewesen, deshalb waren draußen noch keine Möbel aufgestellt worden. Mit Ausnahme einer an einem Steg vertäuten Schmack gab es im Gästehafen des Hotels keine Boote. Die Aussicht war großartig. Der weite Fjord verengte sich in nördlicher Richtung zwischen zwei Inseln. In der Ferne, im Osten, ragten die zackigen Gipfel der Sunnmørsalpen in den Himmel. Ein leichter Dunst trieb langsam über der Wasseroberfläche.
»Boot«, sagte Jonas und zeigte darauf.
Ein kleines Fischerboot umrundete die Landspitze gleich unterhalb des Hotels, dicht gefolgt von einer Schar Möwen. An Deck stand ein Mann in orangem Ölzeug und nahm Fische aus. Er warf den Abfall ins Meer, zur Begeisterung der Möwen. »Glauben Sie, er ist glücklich?«, fragte Göran Nordin und zeigte auf den Mann im Boot.
Kajsa schaute verstohlen zu ihm hinüber, überrascht über diese Frage. »Wer weiß?«
»Ja, wer weiß«, wiederholte er leichthin. »Sogar hier draußen, wo alle einander kennen, weiß man nicht, ob der Nachbar glücklich ist.«
»Nein, so ist es wohl«, erwiderte Kajsa.
Göran Nordin stemmte die Hände auf die Fensterbank.
Kajsa fiel auf, dass er am kleinen Finger einen Goldring mit einem türkisen Stein trug. Der Mann passte mit seiner schlichten maskulinen Eleganz in dieses modern eingerichtete Zimmer.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«, fragte sie und setzte Jonas auf den Boden.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte er und zeigte auf einen braunen Sessel. »Möchtest du eine Limo?«, fragte er Jonas und nahm eine Cola aus der Minibar. Jonas kletterte auf den Sessel. »Was sagst du zu dem Herrn?«, fragte Kajsa, als Nordin ihm die Flasche reichte.
»Danke«, sagte der Dreijährige verlegen.
Sie zog ein Papiertaschentuch hervor und wischte ihm über die Nase. Er war wegen einer Erkältung an diesem Tag nicht im Kindergarten.
»Kaffee?«, fragte Göran Nordin und ging hinüber zu einer kleinen Espressomaschine, die am Rand des Schreibtisches stand. Kajsa nahm dankend an und beobachtete ihn im Spiegel an der Wand, während er eine Kapsel in die Maschine legte.
»Ende Oktober 2002 ist aus Enden in Flatbygda eine junge Frau verschwunden. Sie wurde nie gefunden.« Er reichte ihr eine Tasse.
Julia, dachte Kajsa. Sie hatte lange über den Fall berichtet, hatte nachts wachgelegen und das ernste Gesicht vor sich gesehen, den verlegenen Blick auf dem der Vermisstenmeldung beigefügten Foto. Jede Journalistin hat nach einigen Jahren einen solchen Fall, der sie niemals loslässt. Erlebnisse, die sich festbrennen. Kajsa hatte mehrere. Dramatische Wahlnächte, einen Minister mit argen Problemen, ein führender Geschäftsmann, der wegen Steuermauscheleien seinen Posten aufgeben musste. Aber nichts davon konnte sich mit den schrecklichen Schicksalen normaler Menschen messen; die lasteten mit einem ganz anderen Gewicht auf ihr. Und nichts, worüber sie berichtet hatte, hatte sie so schwer bedrückt wie die Sache mit Julia. Vielleicht lag es daran, dass sie sich Julia so leicht als Kind vorstellen konnte, das im Sommer hier am Meer barfuß durch Gras und Ebbestreifen sprang, wie Kajsa es selbst getan hatte.
Aller Wahrscheinlichkeit einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Niemals gefunden. Gab es ein schrecklicheres Schicksal?
Nachdem sie mit Karsten und den Kindern hergezogen war, hatte sie mehrmals mit dem Gedanken gespielt, Zeugen von damals aufzusuchen, noch einmal mit allen zu sprechen, vielleicht einen Dokumentarfilm zu drehen, etwas herzustellen, das andere dazu bringen könnte, sich doch noch an etwas zu erinnern – oder etwas zu erzählen, was auf dem Gewissen lastete. Sie sah noch immer allerlei Bilder vor sich, wenn der Fall erwähnt wurde, sie waren wie Szenen aus einem Film: die Leute mit den gelben Reflexwesten, die am Meer suchten, in Bootshäusern, Schuppen, an den Berghängen. Junge Mädchen, die einander auf dem Schulhof weinend umarmten; ältere Menschen, die sich im Laden zueinander vorbeugten und mit gedämpften Stimmen über die Sache sprachen.
»Der Fall Julia?«, fragte sie überrascht.
»Ich wollte fragen, ob Sie wohl bereit wären, mit Leuten zu reden, mit Zeugen von damals.«
»Aber warum …?«
»Wenn ich das richtig verstanden habe, dann haben Sie damals über Julias Verschwinden berichtet?«, unterbrach er sie. »Ich habe versucht, Sie über Kanal 4 zu erreichen, ich habe mit Ihrem Chef gesprochen, und der hat mit Ihre Telefonnummer gegeben.«
Das also war die Erklärung. Er hatte sich darüber informiert, wer über den Fall berichtet hatte, und dann hatte er sie gefunden. Noch dazu in der Gemeinde, in der Julia verschwunden war.
»Ja«, sagte sie. »Ich wurde einen Tag, nachdem Julia vermisst gemeldet worden war, nach Vestøy geschickt, und ich habe an den ersten Tagen über die Suchaktion berichtet. Aber was …«
»Es war sicher ein Vorteil, sich hier auszukennen?«
Kajsa erzählte, dass sie damals seit vielen Jahren nicht mehr in Vestøy gewesen war. »Außerdem liegt der Ort, wo Julia verschwunden ist, auf der anderen Seite der Insel. Da kenne ich mich nicht besonders gut aus.«
»Was wissen Sie noch über den Fall?«
»Das meiste, glaube ich, so etwas vergisst man nicht«, sagte Kajsa. »Julia hatte ein Jugendtreffen im Gebetshaus besucht und war früher gegangen als die anderen. Sie ist nie nach Hause gekommen. Es wurde überall gesucht, aber keine einzige Spur wurde gefunden. Eine Woche nach ihrem Verschwinden – da war ich nicht hier, sondern war von einem Kollegen abgelöst worden – wurde ihr Bruder Allan festgenommen. Ein Nachbar, sogar ein Freund des Bruders, hatte bei der Polizei ausgesagt, er habe Julia und ihren Bruder am fraglichen Abend gegen halb zwölf auf der Straße ein Stück von ihrem Haus entfernt gesehen.«
»Aber der Bruder wurde nach einigen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt«, sagte Nordin.
Jonas wollte auf Kajsas Schoß, und deshalb hob sie ihn hoch. »Ja, aber trotzdem glaubten viele, dass er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte.«
»Haben Sie mit Julias Familie gesprochen?«, fragte Göran.
»Nein, da hatte die Presse keinen Zugang. Alle haben es natürlich versucht, aber sie wollten mit niemandem reden. Ihre Mutter hat sich nie zu dem Fall geäußert, und ihr Vater war nicht hier, die Eltern waren geschieden. Aber wozu wollen Sie meine Hilfe denn nun genau?«
»Ich stelle mir vor, dass jemand, der den Fall mit neuem Blick betrachtet, etwas entdecken kann, was die Polizei nicht gefunden – oder übersehen hat.« Seine Stimme klang jetzt dringlich. »Es muss doch etwas geben.«
»Warum interessieren Sie sich für den Fall?«
Er überhörte diese Frage. »Ich glaube, jemand weiß etwas, was er nicht erzählt hat, so ist es immer. Sie kennen den Fall besser als die meisten anderen, und als Journalistin fällt es Ihnen leicht, mit Menschen zu reden, auf andere Weise als die Polizei, und Sie haben schon zur Lösung anderer unaufgeklärter Fälle beigetragen. Jemand muss doch einfach etwas wissen«, fügte er hinzu.
»Warum sind Sie da so sicher?«
»So sind die Menschen eben, alle haben Geheimnisse.«
Kajsa musterte ihn schweigend einige Sekunden lang. »Aber es steht nicht fest, ob es möglich ist …«
»Ich bezahle natürlich«, sagte er eilig.
»Ich bin keine Privatdetektivin, ich bin Journalistin.«
Er deutete ein Lächeln an. »Eben.«
»Welches Interesse haben Sie an dem Fall? Sie sind Schwede?«
Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Sagen wir, ich habe einen Auftrag übernommen, und …«
Jetzt war Kajsa es, die ihm ins Wort fiel. »Sie haben also einen Auftraggeber?«
»Na ja, ich fungiere als eine Art Privatdetektiv.«
»Und wer ist der Auftraggeber?«
»Darauf können wir noch zurückkommen.«
»Der Betreffende will also anonym bleiben?«
»Das hat einen Grund. Es kommt leicht zu Gerede, an kleinen Orten verbreiten Gerüchte sich schnell, das macht alles komplizierter. Der Fall ist doch eine Art … wie soll ich sagen? Eine Eiterbeule? Sie wissen schon, da er nicht geklärt werden konnte.« Er machte eine resignierte Handbewegung, die von der passenden Miene begleitet wurde.
»Ja, da kann ich Ihnen zustimmen«, sagte Kajsa. »Solche unaufgeklärten Fälle sind immer schlimm, und man muss behutsam vorgehen. Aber Sie könnten doch selbst mit den Leuten sprechen?«
»Die wollen garantiert nicht mit einem Fremden reden, der plötzlich auftaucht und Fragen über einen alten Kriminalfall stellt. Für Sie wäre das leichter.«
Sie erwiderte seinen Blick. Und wieder dachte sie, er sehe wehmütig aus, oder vielleicht wäre verletzlich die passendere Beschreibung.
»Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie unser Gespräch niemandem gegenüber erwähnten«, sagte Göran Nordin.
»Und was werden Sie machen?«
»Ich werde einige andere Untersuchungen anstellen.«
Kajsa sah ihn nachdenklich an. Sie hatte von Privatdetektiven gehört, die von Redaktionen angeheuert wurden, um streng genommen illegale Ermittlungen durchzuführen, sie begingen Einbrüche, um Unterlagen zu besorgen, die für Journalisten unerreichbar waren. Konnte Nordin etwas mit »Kalte Fakten« zu tun haben, der bekanntesten Dokumentationsserie über ungeklärte Fälle, die im schwedischen TV4 lief? Wo er doch Schwede war. Oder hatte Julias Familie ihn um Hilfe gebeten? Aber warum jetzt, mehr als dreizehn Jahre nach ihrem Verschwinden?
»Ich kann unter einer Bedingung solche Gespräche führen«, sagte sie.
»Nämlich?«
»Wenn ich etwas Neues herausfinde, dann will ich es als Journalistin verwenden können.«
Er schien einige Sekunden zu überlegen, dann lächelte er. »Sie sind genauso, wie ich es erwartet hatte«, sagte er. »Aber okay, dann ist das abgemacht.«
»Soll ich mich auf etwas Bestimmtes konzentrieren?«
»Der Nachbarsjunge, der Freund des Bruders, der behauptet hat, den Bruder und Julia spätabends gesehen zu haben. Die Polizei fand diese Aussage überzeugend, aber sie fanden keine Beweise dafür, dass der Bruder etwas mit Julias Verschwinden zu tun haben könnte. Aber was, wenn dieser Freund eben nicht die Wahrheit gesagt hat?«
»Frode Olsen«, sagte Kajsa, und er nickte bestätigend. »Alle wollten ihn interviewen, aber er hat sich nie zu dem Fall geäußert.«
»Genau«, sagte Göran Nordin. »Ich glaube, Frode Olsen hat etwas zu verbergen.«
»Warum glauben Sie das?«
Göran Nordin zeigte auf seine Nase. »Nur so ein Gefühl, das man nach vielen Jahren in diesem Spiel entwickelt. Ich brauche allerdings etwas Konkretes. Wie gesagt: Ich glaube nicht, dass er mit mir reden würde. Sie dagegen … Sie können sich doch irgendeinen Grund ausdenken, Sie als Journalistin.«
»Wenn Sie glauben, dass Frode Olsen gelogen hat, was halten Sie dann für sein Motiv?«
»Dass er etwas zu verbergen hatte, natürlich.«
»Sie glauben, dass er etwas mit Julias Verschwinden zu tun hatte?«
»Vielleicht. Wer weiß?«
Als sich die Tür hinter Kajsa geschlossen hatte, ging er wieder zum Fenster, lehnte sich an die Fensterbank und strich sich hastig über das Gesicht. Draußen wurde es dunkel, das Meer lag spiegelglatt da. Er blieb stehen, bis im Gartenrestaurant die Lampen eingeschaltet wurden. Dann machte er sich noch einen Espresso, drehte den Fernseher an und setzte sich. Ab und zu schaute er auf die Uhr, unternahm aber nichts. Gegen Abend ging er zum Schrank, nahm einige Kleidungsstücke heraus, zog eine dunkle Hose und eine Allwetterjacke an. Er suchte kurz in seinem Koffer nach einer Taschenlampe, die er dann zusammen mit Fernglas, Mütze und Handschuhen in einen Rucksack steckte.
Er folgte der menschenleeren Straße von Losvika nach Flatbygda auf der andere Seite der Insel, vorbei an einem Schild mit der Aufschrift Enden, und dann weiter bis zur äußersten Bucht, Kistevika. Dort hielt er auf dem Anleger bei einer stillgelegten Fischfabrik, zwischen einem ramponierten Wohnwagen und einem verrosteten Schneepflug, und blieb eine Weile sitzen, während er auf das Wasser hinausschaute. Das Meer wogte schimmernd und blank im Mondlicht, wie glattes Metall.
Er zog Mütze und Handschuhe an, ehe er ausstieg und sich den Rucksack über die Schultern warf. Ein Stück die Straße zu der stillgelegten Nervenheilanstalt hoch bog er auf einen Weg ab, der am Hang entlangführte, ein schmaler Pfad zwischen Moos, Heidekraut und Wacholder-, Blaubeer- und Brombeergestrüpp. Das Gestrüpp musste dann höheren Bäumen weichen, vor allem kurz nach dem Krieg gepflanzten Kiefern, die Schutz bieten und die karge Landschaft fruchtbarer machen sollten. Er ging langsam, aber ohne zu zögern, obwohl der Pfad stellenweise fast nicht mehr zu sehen war. Nach einer Weile erreichte er offeneres Gelände. Er ging immer weiter geradeaus, bis er die Häuser fast erreicht hatte, dann setzte er sich auf einen Felsbrocken. Dort am Hang war alles still und dunkel, aber er konnte das ganze Dorf vor sich sehen. Das nächste Haus stand etwa fünfzig Meter weiter. Er verspürte ein leises Zittern, als sie ans Badezimmerfenster trat. Sie machte sich nicht die Mühe, die Vorhänge zu schließen. Wer kann mich hier denn sehen, dachte sie sicher, da das Fenster auf den einsamen Berghang schaute, und dort war um diese Zeit niemand, an einem kalten, dunklen Abend im März. Er hielt sie mit dem Blick gefangen, während sie Zähne putzte, Creme ins Gesicht rieb, sich auszog, ihre Kleider an einen Haken an der Wand hängte, ein Nachthemd über den Kopf streifte und das Licht ausknipste, ehe sie das Badezimmer verließ. Gleich darauf wurde im Schlafzimmer nebenan Licht gemacht, und er sah sie einige Sekunden lang, dann ließ sie die Jalousie herunter. Er blieb ganz still sitzen, das konnte er gut, in der Dunkelheit still sitzen. Sogar, als sie nach einer Viertelstunde das Licht löschte, blieb er noch einige Minuten reglos sitzen, sog die säuerliche Frische der Luft in sich ein, den Geruch des offenen Meeres. In der Ferne konnte er hören, wie das Meer gegen das Ufer schlug. Das wirkte beruhigend.
Nach einer ganzen Weile stand er dann auf und warf sich wieder den Rucksack über die Schulter. Er ging ein Stück auf dem Weg zurück, den er gekommen war, dann überquerte er die Straße und lief über ein kleines Grundstück zum Meer hinunter, zu einem grünen, ein wenig abgelegenen Haus. Er schlich sich vorsichtig an der Hauswand entlang und schaute in ein Kellerfenster.
Ein Mann saß an einem Schreibtisch. Das Licht des Bildschirms fiel auf sein Gesicht. An den Wänden hingen Plakate von Fußballspielern und einem Popstar, es sah aus wie das Zimmer eines Teenagers, aber der Mann war erwachsen. Für ihn schien die Zeit stillgestanden zu haben. In einigen Tagen würde er diesen Mann mit zurück zu dem Augenblick nehmen, an dem die Zeit stehengeblieben war. Aber das eilte nicht, vorher war noch einiges zu erledigen. Er lief zurück zum Auto, holte einen Spaten aus dem Kofferraum, ging hoch zu dem stillgelegten Sanatorium, vorbei am Haupteingang, dann zielgerichtet über den Parkplatz, an Treibhaus und Scheune entlang, bis er die Mauer erreicht hatte, die den alten Friedhof umgab. Er übereilte sich nicht, er ging langsam durch die Reihen von Grabsteinen, blieb bei einem großen Geröllbrocken stehen, wie es sie ganz ähnlich unten auf dem Ebbestreifen so reichlich gab. Dann packte er den Spaten und rammte ihn in den Boden.
Jonas kränkelte noch immer. Sie waren einkaufen gewesen, und Kajsa hatte ihn dazu bewegen wollen, ein bisschen allein zu spielen, aber er wollte die ganze Zeit mit ihr zusammen sein. Später am Nachmittag schlief er während einer Kindersendung vor dem Fernsehen auf dem Sofa ein, und Kajsa konnte sich endlich wieder dem Fall Julia widmen. Sie hatte am Vorabend Göran Nordin gegoogelt. Bei der schwedischen Internetadresse hitta.se gab es siebenundvierzig Männer dieses Namens, und sie wohnten über ganz Schweden verstreut.
Flatbygda, wo Julia gewohnt hatte, war wie Losvika kein Ort zum Durchfahren, die Hauptstraße endete in einem Wendehammer. Flatbygda und Losvika waren die beiden einzigen Ortschaften auf Storøya, der größten Insel in der Gemeinde Vestøy.
Kajsa wohnte in Losvika, zusammen mit Karsten, dem gemeinsamen Sohn Jonas und den beiden Kindern aus ihrer Ehe mit Aksel. Anders war fünfzehn und Thea elf. Losvika lag vor dem Storøygebirge, einem beliebten Wandergebiet mit vier oder fünf Gipfeln, weitem Heideland und mehreren kleinen Seen. Der höchste Punkt war der vierhundertdreißig Meter hohe Berg Høgvarden.
Kajsa ging zu Google Street View und folgte der Straße durch den Ort Flatbygda, der sich zwischen Gebirge und See ausbreitete. Die kleinen Stichstraßen hatten niedliche Namen wie Pferdegehege und Gärtnereiweg, und auf der Heringsodde fand sie Läden, eine Schule und Sporthalle. Gebetshaushang stand auf einem anderen Schild, an dieser Straße lagen ein Gebetshaus und der Friedhof. An vielen Stellen streifte die Straße Haus- und Scheunenwände. Gleich unterhalb des Berghangs und auch auf dem ebenen Gelände am Meeresufer gab es Baustellen. Fünfhundert Meter vor Julias Haus, das in Enden lag, wo die Straße auch wirklich endete, gab es ein ziemlich gerades Stück, vielleicht fast einen Kilometer lang, dort war die Straße aus der Felswand herausgesprengt worden. Ansonsten schlängelte und wand sie sich dicht am Ufer entlang. Bei Wind und hohem Wellengang kam man dort wohl nicht durch, denn dann schlugen die Brecher über die Straße. Kajsa drückte auf die Maus, bewegte sich weiter und sah, dass die Straße sich vor einer Brücke über einen kleinen Fluss verengte und nur noch einspurig war. Auf dem anderen Ufer tauchte dann ein Schild mit der Aufschrift Enden auf. Irgendwo an dieser Straße, zwischen Gebetshaus und Enden, war Julia Winther am 28. Oktober 2002 verschwunden. Es war ein besonders dunkler Abend gewesen, denn alle Straßenlaternen an dieser Strecke waren ausgefallen. Es hatte geregnet, und ein starker Wind hatte geweht.
Während Kajsa vor dem Rechner saß, lief im Hintergrund im Fernsehen ein Nachrichtenkanal, wie immer, wenn sie an der Arbeit war. Jetzt drehte sie lauter. Ihr ehemaliger Kollege bei Kanal 4, Nils Lier-Holm, war zu Gast im Studio. Sie hatten zwei Jahre nebeneinander in der offenen Bürolandschaft gesessen. Er war in ihrem Alter, etwas jünger, Ende dreißig, und hatte bei Kanal 4 ungefähr zu dem Zeitpunkt aufgehört, als Kajsa sich beurlauben ließ und nach Losvika umgezogen war. Jetzt arbeitete er als Kommentator bei VG und gehörte zu den profiliertesten Mitarbeitern dieser Zeitung. Kajsa hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihm gehabt. Er war wie ein wandelndes Lexikon, was Geschehnisse und Jahreszahlen aus der norwegischen Politik anging, und sie hatte ihn oft nach Dingen gefragt, die sie nicht gewusst hatte. Jetzt kommentierte er den Sprachgebrauch der Einwanderungs- und Integrationsministerin Sylvie Listhaug. Der Auslöser war ein VG-Artikel über Rechtspopulismus; die Zeitung hatte Rechtsextreme interviewt, die von Listhaug begeistert waren. Unter ihnen war der Führer der Nazi-Organisation Vigrid, Tore Tvedt, der sich enthusiastisch über die Tatsache erging, dass Listhaugs Sprachgebrauch die Grenzen dafür, was man zum Thema Zuwanderer sagen durfte, inzwischen weit verschoben hatte. Lier-Holm hielt es für ein großes Problem für die Ministerpräsidentin, dass sie eine Ministerin hatte, deren Ausdrucksweise in der Diskussion zu Streit und Polarisierung führte – bei einem Thema, zu dem sich die im Parlament vertretenen Parteien mehr oder weniger einig waren – und der nun noch dazu von einem bekennenden Nazi gehuldigt wurde.
Gut gemacht, Nils, dachte Kajsa, als der Programmpunkt vorüber war. Sie loggte sich aus dem Rechner aus und stand auf, es war Zeit, mit Kochen anzufangen. Anders und Thea würden bald aus der Schule kommen. Sie holte sich einen Becher Kaffee und ging ins Wohnzimmer. Jonas schlief noch immer. Vorsichtig fühlte sie seine Stirn, stellte fest, dass die weiterhin heiß war, dann trat sie ans Fenster. Endlich klarer blauer Himmel. Es ging auf Ostern zu, und die Sonne wärmte, wenn sie durchkam. Das Haus war hochgelegen, Kajsa hatte einen Ausblick über ganz Losvika. Ihr Blick glitt über die weißgestrichenen Bootshäuser, die Reihen aus grauen, verwitterten Schuppen und die beiden Molen, die dem Hafenbecken eine Hufeisengestalt gaben.
Sie liebte dieses alte Haus, aber im Sommer würden sie nach Asker zurückziehen. Karsten würde endlich wieder in Vollzeit bei der Kripo arbeiten.
Vier Jahre zuvor war Karsten während einer Geiselnahme angeschossen worden. Viele Wochen lang hatten sie nicht gewusst, ob er überleben würde, dann kamen die Monate, in denen unklar war, ob er seine körperliche Beweglichkeit zurückgewinnen würde. Erst nach zwei Jahren hatte er wieder angefangen zu arbeiten, zuerst in halber Stellung, im letzten Jahr dann mit achtzig Prozent. Er hatte ausdauernd trainiert, um sich vom Rollstuhl befreien zu können. Kajsa hatte das Haus in Sunnmøre von einer kinderlosen Tante geerbt, und sie hatten beschlossen, es zu renovieren und in dieser Zeit hier zu wohnen. Karsten war zwischen Oslo und Losvika gependelt, und wenn er nicht unbedingt bei der Kripo hatte anwesend sein müssen, hatte er beim Lensmann im Gemeindezentrum Vågen ein Arbeitszimmer mieten können.
Kajsa war noch immer von ihrer Stelle bei Kanal 4 beurlaubt, aber ab und zu übernahm sie Reportageaufträge, wenn der feste Lokalreporter in Ålesund verhindert war. Immer mehr sehnte sie sich nach dem pulsierenden Leben in der Redaktion, vor allem danach, Fernsehdokumentationen drehen zu können. Vielleicht wäre der Fall Julia ein Thema? Würden die Zeugen etwas Neues erzählen, andere Darstellungen ihrer Gedanken und Beobachtungen liefern, jetzt, da so viel Zeit vergangen war?
Sie schob die Hand unter ihren Pullover, unter den BH, und strich sich mit zwei Fingern über die Brust. Sie hatte es vor zwei Wochen eines Morgens beim Duschen entdeckt, dicht bei den Rippen, unter der linken Brust. Der Knubbel war nicht groß, ungefähr so wie eine Erbse. Sie reagierte nicht mit Panik, denn erst zwei Jahre zuvor war ein Knoten in ihrer Brust seziert worden, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als sie aufgehört hatte, Jonas zu stillen. Der Knoten hatte sich als entzündete Drüse entpuppt, vollkommen ungefährlich. Sie hatte ein sogenanntes drüsenreiches Gewebe, und da waren solche Knoten nichts Ungewöhnliches. Der Knoten damals war von selbst verschwunden. Nein, sie wollte nicht daran denken. Jetzt nicht. Der Fall Julia. War Julia ermordet worden? Vergewaltigt? War sie irgendwo hier draußen verscharrt worden? Oder ins Meer geworfen worden? Kajsa erinnerte sich an das Bild aus der Fahndung: eine junge Frau, achtzehn Jahre alt, die langen blonden Haare, die durch einen Mittelscheitel geteilt wurden und wie ein Vorhang zu beiden Seiten des Gesichts hingen. Die großen ernsten Augen, die verlegen in die Kamera schauten. Sie war auf eine natürliche, unbewusste Weise hübsch gewesen.
Komischer Vogel, dieser Göran Nordin, sprach eine Mischung aus Schwedisch und Norwegisch, als ob er schon lange in Norwegen lebte. Oder war er ein Norweger, der in Schweden wohnte? Privatdetektiv, davon ging sie aus, er verhielt sich jedenfalls wie einer. Für wen er wohl arbeitete? Julias Familie? Na, sie würde abwarten müssen, bis er es ihr von sich aus erzählte.
Egal, endlich würde sie sich mit einem Fall befassen, sie freute sich schon. Und in einem Punkt musste sie Göran Nordin immerhin zustimmen: Es gibt immer Leute, die mehr wissen, als sie sagen.
»Du siehst aber gut aus«, sagte Kajsa.
Der Lensmann Ole-Jakob Eggesbø strahlte sie hinter seinem Schreibtisch im Lensmannsbüro an. »Das hättest du wohl nicht von mir erwartet?« Er stand auf und strich sich mit der Hand über den Bauch.
Kajsa hatte ihn seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Karsten hatte erwähnt, dass Eggesbø abgenommen hatte, aber das hier war doch die reine Verwandlung. So lange sie ihn kannte, war er übergewichtig gewesen und hatte reichlich ungesund gelebt.
»Der Arzt hat mich vor die Wahl gestellt: Entweder meinen Lebensstil ändern – oder sterben. Und ich fand es doch zu früh, dieses Jammertal zu verlassen«, sagte er und schmunzelte.
»Wie viel hast du abgenommen?«
»Im vergangenen Jahr fast vierzig Kilo.«
»Wie gut, dann fehlt dir nur noch eine Frau.«
Eggesbø war Witwer.
»Hm«, sagte er, und Kajsa blickte ihn fragend an.
»Himmel, ich glaube, du wirst rot.« Sie lachte. »Hast du dir eine Freundin zugelegt?«
»Was heißt schon Freundin, ich habe eine Bekannte, mit der ich Ausflüge mache, wir wandern in den Bergen und so.«
»Und so?«, wiederholte Kajsa mit neckendem Lachen.
»Hm, na ja, wir wollen im Sommer nach Spanien«, sagte er und sah jugendlich glücklich aus.
Eggesbø hatte sie immer an einen Bernhardiner erinnert, groß und breit in allen Richtungen, mit schweren Augenlidern und Hängebacken. Jetzt waren Hängebacken und Speckwülste im Nacken verschwunden. Auch den Bart hatte er sich abrasiert. Obwohl er gesünder und besser in Form aussah, wirkte er älter, die Runzeln waren tiefer. Jetzt hatte er eher Ähnlichkeit mit einem Boxer.
»Was kann ich für dich tun, Kajsa?«, fragte er.
»Ich interessiere mich für einen Fall, einen alten Fall.«
Eggesbø stützte die Ellbogen auf die Tischplatte, presste die Handflächen gegeneinander und tippte sich zweimal mit den Zeigefingern an den Mund. »Ach?«
»Der Fall Julia«, sagte Kajsa.
»Ach?« Er sah sie überrascht an.
»Wir haben uns doch damals kennengelernt, als ich über den Fall berichtet habe«, sagte sie.
Eggesbø nickte. »Eine Tragödie.«
»Ja, grauenhaft. Ich werde nie die Stimmung im Ort vergessen«, sagte Kajsa. »Alle suchten überall nach ihr, lange Menschenketten, die im Regen die Felder durchkämmten, die in den Bergen Ausschau nach ihr hielten, am Meer. Und ich weiß noch, wie still es jedesmal wurde, wenn du in der Schule aufgetaucht bist, wo die Leute aus dem Ort heiße Suppe und Kaffee bereithielten.«
»Ja, das ist mir aufgefallen. Sie haben nur gewartet, auf gute Nachrichten gehofft. Aber die konnte ich ihnen nicht liefern«, sagte Eggesbø.
»Was meinst du: War es ein Verbrechen, oder war es Selbstmord?«
»Diese Frage kann niemand beantworten.«
»Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, dann hat damals ihr Bruder sie vermisst gemeldet?«
»Nein, das war ihre Mutter, aber der Bruder rief gegen Mitternacht bei der Polizei an und fragte, ob es irgendwelche Verkehrsunfälle gegeben habe. Er machte sich Sorgen, weil Julia nicht nach Hause gekommen war.«
Kajsa wusste es jetzt auch wieder. »Und dann hat die Mutter später in der Nacht angerufen, als sie von der Arbeit nach Hause kam?«
»Ja, sie war Ärztin im Sanatorium in Kistevika.«
»So war das, ja. Die Familie war hergezogen, weil die Mutter und ein Kollege das Nervensanatorium Kistevika eröffnet hatten. Aber das wurde stillgelegt, oder was?«
»Ja, genau. Julia ist im Oktober 2002 verschwunden, und gleich nach Neujahr wurde das Sanatorium geschlossen. Es wurde etwas länger als acht Jahre betrieben.«
»Es gab drei Geschwister. Allan war der Älteste, nicht wahr?«
»Ja, er war neunzehn.«
»Und dann gab es Julia, sie war ein Jahr jünger als ihr Bruder, und die kleine Schwester, die war zehn.«
»Das stimmt, ja.«
»Die Eltern waren geschieden. Wo war der Vater?«
»Er arbeitete für Norad in Tansania, wir hatten nur telefonischen Kontakt zu ihm.«
»Hast du irgendeine Theorie darüber, was mit Julia passiert sein könnte?«
»Nein … wir haben doch überall gesucht, zu Wasser und zu Lande. Alle Gebäude wurden mit Hunden durchsucht, Gullys wurden geöffnet, Brunnen und Düngerkeller auf den Kopf gestellt, alle Aufnahmen von Kameras auf den Fähren zum Festland, nordwärts und südwärts, durchgesehen. Aber wir haben nicht eine einzige Spur von ihr gefunden.«
Es habe sich dann auch herausgestellt, dass Julia nur wenige Freunde hatte, dass sie eine ziemliche Einzelgängerin war, erzählte Eggesbø weiter, und einzelne Zeugen meinten, sie habe sich isoliert und bisweilen deprimiert gewirkt. »Wir hielten es also für absolut möglich, dass sie Selbstmord begangen haben könnte«, sagte er. »Und dann war da ja die Sache mit dem Bruder …«
Kajsa war froh darüber, dass der Lensmann dieses Thema ansprach. Der Fall hatte damals dem Ansehen der Polizei arg geschadet. Die Arbeit der Polizei war von mehreren Kritikern als skandalös bezeichnet worden. Sie hatten zu früh alles auf eine Karte gesetzt: dass der Bruder mit dem Verschwinden seiner Schwester zu tun haben könnte. Und der Lensmann hatte der Kritik natürlich als Zielscheibe gedient. Es war niemals Anklage gegen Allan Winther erhoben worden, und zwei Jahre nach dem Verschwinden seiner Schwester war er in Thailand durch den Tsunami ums Leben gekommen.
»Allan ist nicht lange nach dem Verschwinden seiner Schwester weggezogen«, fuhr Eggesbø fort. »Ich glaube, ich kann sagen, dass der Verdacht weiter an ihm hing, deshalb hatte er wohl das Gefühl, dass das hier kein Aufenthaltsort mehr für ihn war. Er ließ sich in Khao Lak nieder. Er war an Bord eines Segelbootes, das gerade den Hafen verließ, als 2004 die Riesenwelle über das Land hereinbrach. Niemand von denen, die an Bord gewesen waren, wurde je gefunden.«
»Glaubst du, der Bruder hatte etwas mit Julias Verschwinden zu tun?«, fragte Kajsa.
»In diesem Fall glaube ich überhaupt nichts.«
»Was ist mit Mutter und Schwester, wo sind die jetzt?«
»Susanne wohnt in Losvika, sie hat eine zwei oder drei Jahre alte Tochter.«
»Susanne?«, fragte Kajsa nachdenklich. »Die Mutter von Kamilla, die mit Jonas in den Kindergarten geht, heißt Susanne. Aber sie heißt nicht Winther mit Nachnamen.«
»Das wird sie wohl sein«, sagte Eggesbø. »Susanne Ytterland. Sie hat den Nachnamen ihres Mannes angenommen. Er ist aus Losvika, hat sie aber vor kurzem verlassen, habe ich gehört, und wohnt jetzt in Ålesund.«
»Und Julias Mutter?«
»Marianne Winther ist jetzt angeblich eine angesehene Wissenschaftlerin. Sie lebt in den USA, hat aber das Haus draußen in Enden behalten. Kommt nur im Sommer her. Aber irgendwer hat neulich erwähnt, sie gesehen zu haben, vielleicht räumt sie das Sanatorium aus? Es steht noch immer fast genauso da wie damals bei der Stilllegung, es wurde erfolglos versucht, es zu verkaufen. Jetzt hat die Gemeinde Interesse am Kauf, um es als Asylbewerberheim zu nutzen, und da muss sie es wohl ausräumen. Die arme Marianne Winther. Erst die Tochter verloren, dann den Sohn. Attraktive Frau, ich bin ihr damals in Verbindung mit den Ermittlungen oft begegnet. Sie machte einen soliden Eindruck. Aber sie galt als … wie soll ich sagen … als etwas anders. Du weißt schon, aus Ostnorwegen, urban, gut ausgebildet, sie passte hier nicht her.« Eggesbø zuckte mit den Schultern. »Im Fall Julia ist jeder Stein mehrfach umgedreht worden. Der Fall ist kalt, eiskalt. Du wirst nichts Neues finden.«
»Ich will ja auch keine Ermittlungen anstellen.«
»Na …« Er machte eine verbindliche Handbewegung. »Wer weiß, worüber du stolperst, du bist doch eine gute … wie soll ich sagen … Schnüfflerin.« Er grinste, und Kajsa lächelte flüchtig. »Frode Olsen, der Zeuge, der Allan und Julia am Abend von Julias Verschwinden gesehen haben will, nachdem sie im Gebetshaus gewesen war, ist der zuverlässig?«
»Tja, wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass er nicht die Wahrheit sagt.«
»Aber meint ihr nicht, dass er vielleicht andere gesehen hat statt Julia und Allan? Oder dass er ganz einfach gelogen hat?«
»Natürlich, wir sind ja nicht blöd. Aber wir fanden keine anderen, die um diese Uhrzeit unterwegs gewesen waren, und wir fanden auch keinen Grund, warum Frode hätte lügen sollen. Im Gegenteil, er hat zuerst gezögert, uns auf seine Beobachtung aufmerksam zu machen, weil er mit Allan befreundet war. Es gab keinen Zweifel daran, dass ihm das alles arg zugesetzt hat.«
»Wohnt Frode Olsen noch immer in Enden?«
»Ja, bei seiner Mutter im Haus, wie schon damals.«
Kajsa erhob sich und bedankte sich für die Hilfe.
»Ich denke oft an diesen Fall«, sagte Eggesbø und seufzte. »Es ist schrecklich, dass wir Julia nie gefunden haben. Ein Albtraum von einem Fall.«
Ein kleines Mädchen kommt mich besuchen. Sie heißt Julia und hat mich auf den Gedanken gebracht, über mein Leben hier in Dikemark zu schreiben. Ich werde später mehr über sie erzählen, aber meine Aufzeichnungen müssen damit beginnen, was mir vor langer Zeit widerfahren ist, am 3. November 1935, denn vieles von dem, was später geschehen ist, hängt auf seltsame Weise damit zusammen.
Ich war zwanzig und studierte seit zwei Jahren Theologie, um Pastor zu werden, so wie mein Vater. Aber ich hatte seit einem halben Jahr nicht eine einzige Vorlesung besucht. Mir wurde jedesmal schlecht, wenn ich auch nur daran dachte. Es war sinnlos, ich würde niemals ein guter Geistlicher werden. Ich sah Vater vor mir, wie er auf der Kanzel die Gemeinde überragte und voller Erregung seine grundlegenden Ansichten über Himmel und Hölle und den allgemeinen Mangel an Moral flüsterte und schrie.
Ich war nicht wie er, ich glaubte nicht wie er.
Ich wanderte durch die Straßen, verzweifelt, deprimiert, und hörte in Gedanken die Stimme meines Vaters, die aus der Bibel zitierte: »Desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt. Sie wissen, dass nach Gottes Recht den Tod verdienen, die solches tun.«
Ich hätte Mut finden und ihm schon längst trotzen sollen. Aber ich fügte mich und nahm das Studium auf. Ich, der Sündige, der Schandfleck, einer von denen, die den Tod verdienten.
Vater geriet in Zorn, als ich nach Hause kam und mitteilte, dass ich das Studium nicht fortsetzen könnte, ich wollte alles dafür tun, um Kunstmaler zu werden. Einen Moment lang glaubte ich, er werde mich schlagen. Er hatte immer gern die Peitsche geschwungen, verbal über seinen Gemeindekindern, eher wortwörtlich über seiner fleischlichen Nachkommenschaft. Aber er starrte mich nur lange an, dann explodierte er: »Kunstmaler? Du wirst Pastor. Wenn nicht, dann bist du nicht mehr mein Sohn.«
An diesem eisigen Wintertag des Jahres 1935 ging ich langsam am Grand Café vorbei, sah durch das Fenster Menschen, die plauderten und lachten und ihre Gläser hoben. Wer doch mit anderen zusammensitzen könnte, statt trostlos umherzuwandern, ohne irgendwo Ruhe zu finden! Ich verachtete mich, schämte mich dessen, der ich war, aber das half nichts, egal, wie sehr ich auch gegen meine Gefühle ankämpfte.
Vater weigerte sich, mir weiterhin Geld zu schicken, deshalb musste ich auch Hunger leiden. Nicht einmal einen Gruß hatte ich eine Woche zuvor zu meinem zwanzigsten Geburtstag erhalten. Ich lag im Rückstand mit der Miete für die Kammer, die ich bei einer Witwe in Skøyen bewohnte. Und wenn ich mich an die Staffelei setzte, dann schienen die Wände auf mich zuzukommen, die Hand, die den Pinsel hielt, zitterte so sehr, dass ich nicht malen konnte, die Unruhe in mir wuchs und wuchs, bis mein Kopf zu bersten drohte, und ich musste loswandern, egal, welche Uhrzeit, egal, was für Wetter es war.
Ich klappte mir den Mantelkragen über die Ohren hoch, bohrte die Hände in die Taschen und schaute noch einmal in das warme Innere des Cafés. Ein Mann saß allein am Fenster. Ich ging langsamer, ich hätte schwören können, dass es Edvard Munch war. Ich überquerte die Straße, stellte mich auf den Eidsvolls plass, zog eine Zigarette aus der Tasche – es war meine vorletzte – und musterte ihn. Seine Bilder beschäftigten mich schon, so weit ich mich zurückerinnern konnte. Ob es wohl vorkommt, dass Edvard Munch sich so abmühen muss wie ich, damit Striche, Bögen, Linien, Streifen und Farben so werden wie das, was er in Gedanken vor sich sieht?, überlegte ich, während ich ihn betrachtete.
Wenn ich nur einige Worte mit ihm wechseln könnte, dachte ich dann, ihn fragen, wie er dachte, wie ihm diese Transformation vom inneren Bild zu dem gelang, was sich auf der Leinwand manifestierte? Wie er die Kunst zum Leben erweckte, wie er das ausdrückte, was jenseits aller Worte lag?