Sofie Sarenbrant, Jahrgang 1978, hat als Journalistin gearbeitet und gilt als der neue Star der Krimiszene in Schweden. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Bromma, einem Stadtteil von Stockholm.
Mehr Informationen zur Autorin unter www.sofiesarenbrant.se
Hanna Granz, geboren 1977, hat in Bonn Skandinavistik, Romanistik und Vergleichende Literaturwissenschaften studiert. Sie lebt im Harz.
»Es wird hart für Emma. Ich schone meine Figuren nicht.« Sofie Sarenbrant
Die Polizistin Emma Sköld ist tot, getötet von Kollegen, denen sie auf die Spur gekommen ist. Zumindest glaubt das alle Welt. In Wahrheit hat Emma den Anschlag überlebt. Zusammen mit ihrem Vater will sie nun dem Polizeichef von Stockholm das Handwerk legen. Gunnar Olausson sieht sich auf einer Mission; er will das Land von Bettlern und Migranten säubern. Emma aber braucht Beweise. Da gerät sie an Soraya, eine junge Frau, die den Mord an einem Bettler beobachtet hat und seitdem vor Gunnar auf der Flucht ist.
Der Bestseller aus Schweden – packend, bewegend und mit einem besonderen Blick erzählt
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Die Tote und der Polizist
Thriller
Aus dem Schwedischen
von Hanna Granz
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Über Sofie Sarenbrant
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Freitag 5. Juni
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Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Kapitel 113
Ein Monat später
Kapitel 114
Danksagung
Impressum
Für Tommy
Ein Knacken weckt Soraya mitten in der Nacht. Es klang, als wäre ein trockener Zweig abgebrochen. Sie schaudert in dem feuchten Gras und zieht den roten Schal enger um sich, den die Großmutter ihr geschenkt hat. Dafür, dass es Juni ist, ist es sehr kalt, sie hat Gänsehaut. Außerdem fährt ein stechender Schmerz durch ihren entzündeten Zahn, sobald sie sich bewegt. Sie versucht, den Kopf stillzuhalten.
Als sie gerade wieder einschlafen will, hört sie fremde Stimmen auf Schwedisch flüstern, einer Sprache, die sie nicht versteht.
Razvans Schnarchen ist nicht mehr zu hören, nur noch die leisen Stimmen.
Ist er aufgestanden, um zu pinkeln?
Ein dumpfer Schlag lässt sie zusammenzucken. Was ist passiert, wo ist Razvan?
Sie steht auf und schleicht durch den dichtbelaubten Park mitten im Zentrum Stockholms.
An seinem gewohnten Schlafplatz ist niemand. Das Gras ist heruntergetrampelt, sie erkennt die Spuren grober Stiefel. Razvans Tasche liegt umgekippt auf dem Boden. Das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, wächst. Jemand ist auf den Pappbecher getreten, den Razvan tagsüber zum Betteln benutzt, um Geld für seine kranke Tochter in Rumänien zu sammeln.
Soraya blickt sich vorsichtig um. Zwischen zwei großen Eichen stehen zwei Männer, die ihr den Rücken zukehren. Der eine hält Razvan fest, dessen Kopf in einem eigenartigen Winkel herabhängt.
Der Boden unter ihren Füßen beginnt zu wanken. Panik ergreift sie, als sie Razvans schlaffen Körper sieht und begreift, was es bedeutet: Sie müssen ihn getötet haben. Razvan, der ihr immer beigestanden hat. Für ihn kommt jede Rettung zu spät, sie aber muss schleunigst weg hier, sonst ist sie als Nächste dran. Verzweifelt sucht sie nach einem Fluchtweg, da steht plötzlich ein dritter Mann vor ihr.
Erschrocken starrt er sie an.
»Verdammt«, ruft er dann und geht langsam auf sie zu. »He, hallo!«
Es besteht kein Zweifel, dass er zu den beiden anderen gehört. Jetzt geht es um ihr Leben. Das rote Tuch flattert im Wind, sie rennt so schnell sie kann. Ihre Füße wirbeln den Kies auf, und sie hält verzweifelt Ausschau nach jemandem, der ihr helfen könnte. Doch um diese Uhrzeit ist niemand mehr unterwegs. Sie erreicht den Spielplatz des Humlegården-Parks und nimmt Anlauf, um über den grünen Zaun zu springen. Ihr Schal bleibt hängen, und sie muss sich losreißen, um weiterlaufen zu können, mitten durch einen Sandkasten. Sie hat immer noch Vorsprung. Da der Mann jedoch sehr groß war, wird es nicht lange dauern, bis er sie eingeholt hat. Sie muss noch schneller sein, wenn sie überleben will. Auf keinen Fall darf sie sich umdrehen und dadurch wertvolle Sekunden verlieren.
»Stehenbleiben!«, ruft der Mann hinter ihr.
Die Stimme ist näher, als sie gehofft hat.
Sie überquert den Spielplatz und springt auf der anderen Seite über den Zaun. Diesmal bleibt sie nicht hängen, doch sie ist in einem dichten Wäldchen mit viel Gestrüpp gelandet und muss sich durchkämpfen, bis ein niedriger Metallzaun auftaucht. Sie klettert darüber hinweg und fliegt geradezu über den Asphalt. Hinter sich hört sie ein lautes Brüllen und hofft inständig, dass der Mann hängengeblieben oder gestolpert ist. Vielleicht hat er den letzten Zaun zu spät bemerkt.
Ohne sich umzusehen, rennt sie über eine große Straße mit einem Grünstreifen in der Mitte. Ein Taxifahrer muss heftig bremsen und hupt anhaltend.
Das Keuchen des Mannes hinter ihr ist nicht mehr zu hören. Dennoch rennt sie weiter, ohne anzuhalten. Nachdem sie lange ziellos durch die Straßen gelaufen ist, landet sie endlich in einem weiteren Park und sucht Schutz zwischen den Bäumen. Mit klopfendem Herzen dreht sie sich um.
Niemand da.
Sie lässt sich zu Boden sinken und weint. Razvan ist tot.
Und sie ist die Einzige, die weiß, was geschehen ist.
Sein Blick wandert langsam von den sorgfältig dekorierten Blumenkränzen zu dem gerahmten Porträtfoto. Die Flammen der Kerzen in den hohen, gusseisernen Ständern auf dem Boden flackern, und er begegnet dem intensiven Blick seiner Tochter. Obwohl es ihm schwerfällt, schaut er ihr direkt in die grünbraunen, mandelförmigen Augen.
So schön wirkt sie, so lebendig.
Eine Hand auf seiner Schulter reißt ihn aus seinen Gedanken. »Evert, wir müssen jetzt anfangen. Ist das okay?«
Marianne sieht ihn bittend an, und er nickt kurz, findet jedoch keine passenden Worte, denn es ist überhaupt nichts okay. Wie könnte etwas auch nur annähernd in Ordnung sein, wenn sie hier in der über hundert Jahre alten Backsteinkirche stehen, um von ihrer jüngsten Tochter Emma Abschied zu nehmen? Am liebsten würde er die geschnitzten Kirchentüren weit öffnen und alle Freunde und Bekannten nach Hause schicken und ihnen mitteilen, dass alles nur ein Missverständnis ist. Stattdessen werden im nächsten Augenblick die Türen aufgestoßen und Menschen mit starren, bleichen Gesichtern strömen herein. Die meisten nicken ihm mitfühlend zu, manche geben ihm die Hand und sprechen ihm ihr Beileid aus, andere grüßen flüsternd und wenden sich dann ab.
So viele Menschen. Evert Sköld kennt knapp die Hälfte von ihnen.
Provinzpolizeichef Gunnar Olausson tritt vor und schüttelt ihm die Hand, seine Frau Agneta grüßt verhalten. Dann gehen sie zum Glück weiter und setzen sich, bevor Evert etwas sagen muss. Er entdeckt Josefin, die mit Ines auf dem Arm hereinkommt. Im Schlepptau hat sie Sofia, Anton und Julia, sie sind viel zu klein für so eine Gedenkstunde.
»Opa«, sagt Julia und umarmt ihn.
Josefin schüttelt den Kopf. »Wir sind beinahe zu spät gekommen. Es ist furchtbar. Heute klappt einfach gar nichts, wie es soll.«
Andreas taucht hinter ihnen auf, wie ein Hirte, der seine Herde bewacht, und zeigt der Familie, wo sie in der ersten Reihe Platz nehmen soll. Zwei Polizisten in Zivil setzen sich neben sie, Evert nickt ihnen kurz zu. Ines will nicht von Josefins Arm herunter und hält sich krampfhaft an ihr fest, sie scheint sich vor all den Blicken zu fürchten. Oder sie begreift mehr als man denkt, obwohl sie noch so klein ist. Everts Herz zieht sich zusammen. Ines war erst vier Wochen alt, als ihre Mutter nach einem Reitunfall im Judar-Wald ins Koma fiel. Am Morgen noch hatte Emma ihn angerufen und ihm erzählt, dass sie zum ersten Mal nach der Geburt reiten wolle. Sie klang so froh. Wenn er damals geahnt hätte, dass er fünf Monate lang nicht mehr mit ihr sprechen würde. Das Pferd war gestürzt, der Reitausflug endete mit einer Krankenwagenfahrt in die Notaufnahme. Die Monate vergingen, und die Ärzte wagten nicht, irgendeine Prognose zu stellen. Marianne, Evert, Josefin und Emmas Lebensgefährte Kristoffer wechselten sich auf der Intensivstation ab und gewöhnten sich mit der Zeit an den Gedanken, dass sie nie wieder aufwachen würde. Früher oder später würden sie sich dazu durchringen müssen, die lebenserhaltenden Maßnahmen abbrechen zu lassen.
Doch dann geschah, wovon sie nicht zu träumen gewagt hatten.
Emma kam wieder zu Bewusstsein.
Die Freude währte allerdings nur kurz.
Eine Woche später wurde Kristoffer in ihrer gemeinsamen Wohnung mit einer Bierflasche erschlagen und Ines verschwand. Zum Glück tauchte das kleine Mädchen schnell wieder auf. Evert schaudert, wenn er daran denkt. Kristoffer hatte seine ehemalige Lebensgefährtin Hillevi Nilsson als Kindermädchen engagiert, und diese ging in ihrer wahnhaften Zuneigung so weit, dass sie Ines entführte. Kurz darauf überfiel sie Emma im Krankenhaus, wurde jedoch auf frischer Tat ertappt und ins Gefängnis gesperrt, bis sie auf dem Weg in eine andere Haftanstalt spurlos verschwand. Jetzt sind sowohl Emma als auch Kristoffer fort, und Ines lebt bei Josefin.
Der einzige Trost für Evert ist, dass Ines nichts anderes kennt. Sie hat wahrscheinlich gar keine Erinnerungen an Emma, höchstens bruchstückhafte Bilder von einem Menschen im Krankenhausbett.
Als Letzter von allen setzt Evert sich in die Kirchenbank. Seine schmerzende Hüfte protestiert, als er schwerfällig neben seiner Frau Platz nimmt. Er ist viel zu warm angezogen, aber er wollte einfach ordentlich aussehen an diesem besonderen Frühsommertag.
Die Sonne scheint durch die Fensterscheiben und beleuchtet Emmas Porträt.
Seine hübsche Tochter mit dem dichten blonden Haar.
Die Kirchenglocken läuten, und als ihr Klang verhallt, setzt die Orgel ein.
Es kribbelt unter seiner Haut. Der neue marineblaue Anzug, für den er beinahe einen halben Monatslohn ausgegeben hat, kratzt, es juckt ihn überall wie verrückt. Zudem ist das Hemd anscheinend eine Nummer zu klein. Der Kragen schnürt ihm beinahe die Luft ab. Thomas Nyhlén fällt es schwer, mit der nötigen Ruhe an der Trauerfeier für Emma Sköld teilzunehmen, während ihre Mörderin noch auf freiem Fuß ist.
Fünfunddreißig Tage sind vergangen, ohne das geringste Lebenszeichen.
Hillevi Nilsson ist wie vom Erdboden verschluckt.
Die Zeit läuft ihnen davon, denn je länger sie es schafft, sich verborgen zu halten, desto größer ist das Risiko, dass sie sie niemals finden. Für Ines ist sie eine so große Bedrohung, dass das Mädchen sicherheitshalber unter Polizeischutz gestellt worden ist – Hillevi könnte jederzeit auf die Idee kommen, sie noch einmal zu entführen. Nyhlén begreift immer noch nicht, wie es der zarten Frau gelingen konnte, auf dem Weg in die Haftanstalt Kronoberg zwei bewaffneten Polizisten zu entwischen. Es irritiert ihn wahnsinnig, dass sie sich überhaupt außerhalb der Sicherheitsvorkehrungen einer Haftanstalt befunden hat, doch er kennt den Grund und weiß genau, wer die Entscheidung getroffen hat. Er war sich mit seinem Chef Lars Lindberg einig gewesen, dass es das Beste wäre, Hillevi vom Gefängnis in Sollentuna nach Kronoberg zu verlegen, wo man sie besser verhören konnte.
Deshalb schmerzt es ihn besonders, dass bei dem Transport etwas schiefgegangen ist.
Indirekt ist es seine Schuld, dass sie verschwunden ist.
Doch warum haben die Kollegen sie nicht gleich wieder gefasst, nachdem sie ihnen weggelaufen war? Ein Schuss ins Bein – wie schwierig konnte das sein? Natürlich sind nicht alle Polizisten besonders schnell. Oder schlau, denkt Nyhlén säuerlich und merkt, dass seine Gedanken schon wieder abschweifen. Er sollte sich lieber auf die Feierstunde konzentrieren.
Emmas wahrscheinliche Mörderin ist verschwunden, und er kann an nichts anderes denken, seit er am 1. Mai davon erfahren hat. Damals, als endlich das erste Verhör durchgeführt werden sollte. Jetzt in der Kirche jedoch, als er das Foto von Emma sieht, holt der Kummer ihn ein. Sie ist nur achtunddreißig Jahre alt geworden. Er schlägt die Augen nieder. Es tut zu weh, sie zu sehen, die Frau, mit der er so eng zusammengearbeitet hat und die er so gut kannte. Doch es war nicht ihre Schönheit, die ihm jedes Mal, wenn er sie ansah, den Atem verschlug. Nicht deshalb hatte er sie im Krankenhaus besucht und getan, worum auch immer sie ihn bat. Nein, er hatte es getan, weil sie eben Emma war.
Doch er war nicht der Einzige, der sich in sie verliebte.
Tief in seinem Innern wusste er immer, dass aus ihnen beiden nichts werden würde.
Emma hatte ja gerade erst eine Familie gegründet.
An seinen eigenen Autounfall, nachdem sie gerade ermordet worden war, hat er keinen weiteren Gedanken verschwendet, weil er wie durch ein Wunder ohne einen Kratzer davongekommen ist. Da habe er wohl einen Schutzengel gehabt, meinte der Arzt in der Notaufnahme. Seltsamerweise ergab eine technische Untersuchung des Wagens, dass die Bremsen einwandfrei funktionierten, und er wusste selbst nicht mehr, was er glauben sollte. Er hätte schwören können, dass sie nicht funktioniert hatten, als er die Tranebergsbrücke hinuntergefahren war, nachdem ihm klargeworden war, dass Hillevi hinter allem steckte.
Die Front des Autos war komplett eingedrückt gewesen, und der Wagen wurde verschrottet, bevor er weitere Untersuchungen in die Wege leiten konnte.
Nyhlén fährt sich mit den Fingern durch das kurze Haar, weiß nicht, wohin mit seinen Händen. Er fühlt sich wie in einer Doppelstunde in der Schule, wenn man vergeblich auf die Pause wartet. Er will einfach nur, dass diese Qual schnell vorbei ist, damit er sich endlich wieder in die Ermittlungen stürzen kann. Es fühlt sich falsch an, hier zu sitzen, zugleich will er natürlich Abschied von ihr nehmen. Für die Jahre danken, die sie gemeinsam hatten. Es sind viele Polizisten gekommen, um Emma die letzte Ehre zu erweisen, nicht zuletzt sein Chef, der in seinem braunen Cordjackett neben ihm sitzt und sich diskret die Nase schnäuzt. Noch nie hat Nyhlén Lindberg weinen sehen.
Sogar der Provinzpolizeichef ist anwesend, was an sich nicht weiter merkwürdig ist, denn er ist ein Freund der Familie. Er setzt alle verfügbaren Kräfte ein, um Emmas Mörderin zu schnappen.
Dennoch ist es ihnen bisher nicht gelungen, sie ausfindig zu machen.
Die Sandwichtorte mit Krabben und Lachs quillt in seinem Mund, und er kann nicht schlucken, sosehr er es auch versucht. Gunnar Olausson hat Mayonnaise noch nie gemocht. Als wäre es nicht genug, in der Kirche zu sitzen, muss es nun auch noch ein feierliches Beisammensein geben. Diesen Teil an Beerdigungen hat er noch nie verstanden. Es kommt ihm merkwürdig vor, mit trauernden Menschen zu essen und zu trinken, die sich versammelt haben, um von einer lieben Freundin, Schwester, Tochter, Arbeitskollegin und Mutter Abschied zu nehmen. Er erträgt es nicht, Emmas pausbäckige kleine Tochter zu sehen, die zur Feier des Tages ein weißes Kleid mit Spitzen trägt, eine weiße Strumpfhose und kleine Sandalen mit blauen Blumen.
Mit nicht einmal einem Jahr hat sie ihre Mutter verloren.
Gunnar schenkt sich Mineralwasser ein und tut so, als würde er sich für das Gespräch zwischen seiner Frau Agneta und dem Mann ihnen gegenüber interessieren, einem Nachbarn von Emma, wenn er es richtig verstanden hat. Sie reden über Thuja, und es dauert einen Moment, bis er darauf kommt, was das überhaupt ist. Gartenarbeit und Pflanzen sind so ungefähr das Langweiligste, was er sich vorstellen kann. Er betrachtet das Etikett der Wasserflasche, während er diskret ein Gähnen unterdrückt.
Seine Gedanken kehren zur Walpurgisnacht zurück.
Emma sah zerbrechlich aus, wie sie in ihrem Krankenhausbett lag, nachdem Hillevi versucht hatte, sie mit einem Kissen zu ersticken. Da sie als Putzfrau in der Klinik arbeitete, war es ihr gelungen, sich Zutritt zu Station 73 zu verschaffen, wo sie Emma töten wollte.
Gunnar schenkt sich noch einmal nach, trinkt einen Schluck und beißt dann in die Zitronenscheibe in seinem Glas. Schade, dass es so ausgehen musste.
Er seufzt und erkennt an Agnetas missbilligendem Blick, dass er es unnötig laut getan hat. Der Sauerstoff im Gemeindehaus hat deutlich abgenommen. Es ist offensichtlich, dass Emmas Mutter Marianne ihm ausweicht. Sie nimmt lieber einen Umweg, um ihre Kaffeetasse nachzufüllen, statt direkt hinter ihm vorbeizugehen. Obwohl sie während der Gedenkfeier keinen Blickkontakt hatten, konnte er ihre Trauer beinahe körperlich spüren. Nun, sie hat gerade von ihrer Tochter Abschied genommen, da ist es wahrscheinlich kein Wunder, dass sie nicht sie selber ist. Es muss das Schlimmste sein, was einem als Eltern passieren kann. Eine Mutter darf ihr Kind nicht überleben, das ist verkehrt. Er kann sich den Schmerz vorstellen, den sie empfindet. Wobei, im Grunde kann er das nicht, überhaupt nicht, denn er hat selbst keine Kinder. Es kam einfach nie dazu, und darüber ist er sehr froh. Kinder scheinen meist doch nur Probleme zu bereiten, siehe Emma. Er betrachtet Agneta aus dem Augenwinkel, die ebenfalls lustlos in ihrer Sandwichtorte herumstochert. Es sieht aus, als hätten sie auch nach zwanzig Jahren Ehe immer noch etwas gemeinsam.
Eine Diskussion über wintergrünen Liguster contra großblättrigen Efeu lässt Gunnar erneut in seine eigene Gedankenwelt abtauchen. Er hofft, dass Torbjörn und Karim Hillevi rasch finden. Sie müssen sie erwischen, bevor jemand anderes es tut, damit sie nicht ausplaudern kann, was eigentlich an diesem Abend im Krankenhaus geschah. Zwar ist eine ehemalige Psychiatriepatientin keine glaubhafte Zeugin, doch sein Name darf unter keinen Umständen mit dem Ganzen in Zusammenhang gebracht werden.
Er ist immer noch verärgert darüber, dass Emma so aufmüpfig war, als er ihr ruhig und vernünftig erklärte, dass es nicht Hillevis Schuld war, dass sie nach dem Reitausflug im Krankenhaus landete. Sein eigener Ruf hätte auf dem Spiel gestanden, wenn Emma weiter herumgeschnüffelt und herausgefunden hätte, dass Karim, Torbjörn und er hinter dem Mord an ihrem gemeinsamen Polizeikollegen Henrik »Henke« Dahl standen. Wenn Henke sie nicht dabei ertappt hätte, wie sie im Industriegebiet in Ulvsunda einen Bettler zusammenschlugen, würde im Übrigen auch er heute noch leben.
Der Bettler allerdings nicht.
Es ist ihr Verdienst, dass es auf den Straßen Stockholms inzwischen drei Bettler weniger gibt.
Gunnar weiß noch, dass er sehr deutlich gewesen ist, dennoch hatte Emma die Stirn, eine Erklärung von ihm zu verlangen, als ob sie die Statistik der Gewalttaten in Stockholm nicht kennen würde. Jeder bei der Polizei weiß, dass es nicht Johansson oder Svensson sind, die die schlimmsten Verbrechen begehen, das kann doch ausgerechnet ihr als Kriminalkommissarin nicht entgangen sein! Es hat seinen Grund, dass die Polizei Code 291 eingeführt hat, um all diejenigen Ermittlungen zusammenzufassen, bei denen es um Gewalt, Morddrohungen und andere Verbrechen geht, die ausschließlich Migranten betreffen. Beim Großeinsatz mit dem Namen Alma, der von der Nationalen Operativen Abteilung geführt wird, gehen die Beteiligten weiß Gott schon auf dem Zahnfleisch. Wie sollen sie das alles schaffen, von Grenzkontrollen bis Verbrechensbekämpfung, wenn jedes zweite Asylbewerberheim abgefackelt wird? Er hat Klartext mit Emma geredet und ihr gesagt, dass er nur seiner Verantwortung für die Rettung dieses Landes nachkommt, damit es nicht vollkommen vor die Hunde geht. Doch er stieß bei ihr auf kein Verständnis oder gar Dankbarkeit. Die Gewaltverbrechen nehmen lawinenartig zu, während gleichzeitig Flüchtlinge und Bettler ungehindert ins Land strömen. Wie schwer kann es denn sein, eins und eins zusammenzuzählen? Bald sind es die Schweden, die ihr Land verlassen müssen. Auch das hat er Emma erklärt, doch sie starrte ihn nur verächtlich an. Als wäre die Migrationsproblematik ihr völlig unbekannt. Es ist ihm bis heute nicht gelungen, ihre letzten Worte aus seinem Gedächtnis zu löschen, Verpiss dich, Gunnar!, ehe er Karim die Order gab, sie mit dem Kissen zu ersticken. Damals erschien es ihm unumgänglich, wenn er jetzt allerdings sieht, wie Evert leidet, tut es ihm doch ein wenig leid. Wobei Evert sich um seine Polizistin-Tochter immer besonders viele Sorgen gemacht hat, das wenigstens bleibt ihm jetzt erspart, und er kann seine kostbare Zeit als Pensionär weniger komplizierten Dingen widmen, zum Beispiel Thuja-Bäumen.
Eben das, worum es an seinem Tisch gerade geht.
Alles, was Emmas Tod betraf, war klar und eindeutig, sie hatten sogar eine Mordverdächtige in Handschellen abgeführt.
Doch das hielt nur einen einzigen Tag.
Dann verschwand sie spurlos, und ihr wasserdichter Plan begann zu bröckeln.
Kein Wunder, dass er sich jetzt wegen zu hohen Blutdrucks und Herzrasens für eine Woche krankschreiben lassen musste. Es hat ihn einfach alles zu sehr gestresst.
Gunnar kann nicht länger darüber nachdenken, denn jetzt klopft Evert an sein Glas. Der Thuja-Fan hält endlich die Klappe, und das Murmeln im Lokal verebbt.
Evert, der Bruder und Freund, der sich von ihm abgewendet hat. An den er seit dem Tod seiner Tochter nicht mehr herankommt.
Die arme Marianne hat sich um alles, was die Trauerfeier angeht, selber kümmern müssen, sie hat alles organisiert, während Evert in seinen Kummer abgetaucht ist. Laut Marianne war ihm alles egal, weder die Auswahl der Psalmen, die Todesanzeige noch der Sologesang in der Kirche haben ihn interessiert. Das Einzige, worauf er bestand, war, Emmas letztem Wunsch nachzukommen und sie einäschern und in alle vier Winde verstreuen zu lassen. Marianne musste also alle Entscheidungen selber treffen, während er ständig in ihr Sommerhaus fuhr und für sich trauerte. Jetzt ist Evert kaum noch wiederzuerkennen, er hat extrem abgenommen, und seine einst so stolze Haltung ist in sich zusammengebrochen, er wirkt mehrere Zentimeter kleiner als früher. Gunnar empfindet ihn als Verräter erster Güte. Jetzt, wo seine Frau ihn am dringendsten braucht, steckt er den Kopf in den Sand.
Das hat nichts mit Liebe in guten wie in schlechten Zeiten zu tun.
Allmählich fällt mir das Warten schwer, doch ich kann nicht gehen, bevor ich sie nicht wenigstens kurz gesehen habe. Ich muss wissen, wie es ihr geht. Endlich öffnet sich die Tür des Gemeindehauses und zwei Männer in Anzügen treten heraus. Zu meiner Enttäuschung wollen sie nur rauchen.
Ich kenne sie beide nicht. Sie unterhalten sich, während ihre Zigaretten kürzer werden, aber ich bin zu weit entfernt, um hören zu können, was sie sagen. Einer von ihnen lacht, und ich frage mich, was angesichts der gegebenen Umstände so lustig sein kann. Dann drücken sie die Zigarettenstummel aus und gehen wieder hinein. Vielleicht waren es Polizisten? Es dauert eine halbe Stunde, bis endlich wieder etwas passiert. Diesmal kommt eine ganze Gruppe heraus, alle in Jacken oder Mänteln, obwohl es achtzehn Grad sind und die Sonne scheint. Der Kies knirscht unter ihren Füßen, als sie vom Gemeindehaus zum Parkplatz gehen.
Einige sehen erleichtert aus, andere sind vom Ernst der Stunde gezeichnet.
Und dann entdecke ich sie endlich. Mein Herz schlägt schneller, und es flimmert vor meinen Augen.
So weit weg und doch so nah.
Ich möchte ihre weiche Wange an meiner spüren, doch das ist unmöglich, ich kann nicht hingehen und sie hochheben, ihr sagen, dass ich sie über alles auf der Welt liebe und ihr versprechen, dass alles gut wird. Nichts von dem, was passiert ist, ist ihre Schuld, und ich möchte nicht, dass sie unter den Konsequenzen leidet. Zum Glück sehe ich von hier aus, dass sie trotz allem fröhlich ist und es ihr gutgeht, ich brauche mir also keine Sorgen zu machen. Ein Stein fällt mir vom Herzen, wird jedoch sogleich von einem anderen ersetzt. Es tut weh, zu sehen, dass ich austauschbar bin, dass sie ohne mich zurechtkommt. Als sie die Arme ausstreckt, um hochgehoben zu werden, ist das für mich zu viel. Ich kann es nicht mit ansehen. Ich bin es, die bei ihr sein sollte, statt mich hier hinter einem Baum zu verstecken wie eine Verbrecherin. Es ist alles so ungerecht, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich vollkommen vergessen hat. Der Gedanke, dass sie aufwachsen könnte, ohne sich im Geringsten an mich zu erinnern, macht mir am meisten zu schaffen. Das darf einfach nicht sein. Ich würde alles für sie tun und möchte sie um jeden Preis vor diesem Schicksal bewahren.
Ich muss die Wahrheit ans Licht bringen.
Ach Ines, bald haben wir uns wieder.
Je weiter sie sich entfernt, desto schwerer fällt es mir, stillzustehen. Ich sehe nur noch einen Zipfel ihres geblümten Mäntelchens, und es tut so weh, ruhig bleiben zu müssen. Es fühlt sich an, als würde ich akzeptieren, sie zu verlieren. Und das tue ich weiß Gott nicht, ich kann ihr nur leider nicht hinterher. Nicht jetzt. Ich muss mich zusammenreißen.
Alles fühlt sich jetzt noch tausendmal schlimmer an.
Als der wahre Täter vor das Gemeindehaus tritt, klopft mir das Herz, und mein Atem wird flacher. Er sieht ruhig und besonnen aus, äußerlich ist ihm keine Spur von Reue oder Doppelspiel anzusehen. Es ist abscheulich, er lügt, bis er sich selber glaubt, und nutzt seine Umgebung zu seinem eigenen Vorteil aus. Steht dort herum wie ein Trauernder unter vielen.
Wenn die anderen wüssten, dass in Wahrheit er hinter allem steckt!
Die Zivilbeamten geben Andreas ein Zeichen, dass sie nach Hause fahren können. Seltsamerweise hat Josefin sich an die Polizeiüberwachung gewöhnt. Ihre Sorge, dass Ines nach so langer Zeit noch etwas passieren könnte, hat sich ein wenig gelegt. Hillevi hat nichts zu gewinnen, wenn sie plötzlich auftaucht, dennoch ist es genau das, was die Polizei insgeheim hofft. An dem Tag, an dem Hillevi sich nicht länger von Ines fernhalten kann, werden sie sie endlich schnappen.
Josefin umarmt ihre Eltern, und Evert und Marianne verabschieden sich von ihren vier Enkelkindern, bevor auch sie zum Parkplatz gehen.
Ihr armer Vater, er sah so verwirrt aus, als er ein paar Worte über Emma sagen sollte. Doch nachdem er sich gefangen hatte, war seine Rede sehr ergreifend. Er vermisste Emma spürbar, und es wurde deutlich, dass er sich darüber grämte, ihr seine Zuneigung zu Lebzeiten nicht öfter gezeigt zu haben. Dennoch schmerzt es Josefin zu hören, wie viel Respekt er vor ihrem Eigensinn und ihrem Mut gehabt hat. Nicht weil es bedeutete, dass er nicht auch stolz auf sie wäre. Es bestätigt ihr nur einmal mehr, dass ihr Vater Emma besonders gerne mochte. Und da spielt es überhaupt keine Rolle, dass Josefin inzwischen dreiundvierzig ist, sie fühlt sich immer noch zurückgesetzt. Gleichzeitig schämt sie sich, dass sie sich mit ihrer toten Schwester vergleicht.
Josefin überlegt, ob sie sich Sorgen um ihren Vater machen muss. Er ist noch viel verschlossener als sonst. Seit Emma gestorben ist, sagt er am Telefon noch weniger, und manchmal ist er völlig abwesend. Er sollte mit jemandem reden, denkt sie. Trauer kann verschiedene Formen annehmen, und es ist schwer einzuschätzen, wann etwas zu weit geht und man eingreifen muss. Sie wird sich mit ihrer Therapeutin beraten, wenn sie sich das nächste Mal sehen. Der Unterschied zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter ist, dass ihre Mutter sich die ganze Zeit mit irgendetwas beschäftigt. Um sie macht Josefin sich deshalb viel weniger Sorgen. Allerdings überlegt sie, wie Emma es wohl gefunden hätte, dass sie bei der Feier keine Rede gehalten hat. Josefin weiß, dass ihre Mutter ungern im Rampenlicht steht. Sie fühlt sich wohler, wenn sie sich in Everts Schatten halten kann, oder sie hat sich einfach an diesen Platz gewöhnt. Aber dennoch …
Josefin dreht sich um, um noch einmal zu kontrollieren, ob die Kinder auf den beiden Rückbänken richtig angeschnallt sind. Dann lehnt sie sich zurück und sieht sofort wieder das Foto von Emma vor sich. Kein Wunder, dass es ihr so vorgekommen ist, als wäre ihre Schwester in der Kirche anwesend, es war ein so lebendiges Bild. Keiner konnte in die Kamera lächeln wie Emma. Als sie Teenager waren, war ihr in Mailand sogar einmal ein Model-Vertrag angeboten worden. Josefin schaudert, wenn sie daran denkt, wie sehr sie Emmas Anwesenheit heute gespürt hat, zugleich ist es aber auch schön. Vielleicht hat Emmas Tod bei ihr selbst ja die Fähigkeit geweckt, mit der anderen Seite zu kommunizieren? Doch dann hätte sie richtig Kontakt mit Emma bekommen müssen, was ihr bisher nicht gelungen ist, obwohl sie bereits zwei Sitzungen bei einem bekannten Medium gehabt hat.
Sie wird in ihren Gedanken unterbrochen, Andreas legt seine große Hand auf ihre.
Er weiß nichts über ihre Besuche bei dem Medium. Josefin ist sich sicher, dass er nur den Kopf schütteln und sie auslachen würde. Gewisse Dinge behält sie lieber für sich. Sie spürt das Gewicht und die Wärme seiner Hand und atmet tief durch, zum ersten Mal seit langer Zeit. Es ist traurig, aber auch gut, dass alles vorbei ist.
Eine Woche vor den Sommerferien hat sie Abschied von ihrer einzigen Schwester genommen. Josefin schluckt, versucht jedoch nicht länger, die Tränen zurückzuhalten, jetzt, da sie im Schutze des Autos sitzt, weit weg von den Blicken der anderen Gäste, also Emmas Kollegen, Freunden, Verwandten und weiß Gott wem noch.
Die Kinder sitzen ganz still. Andreas parkt rückwärts aus, und Josefin dreht sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass es allen gut geht. Ines hat sich eine Sandale ausgezogen und ist anschließend sofort eingeschlafen. Die anderen scheinen ganz in ihren eigenen Gedanken versunken, sie streiten sich nicht, obwohl keines von ihnen sein Handy oder iPad dabei hat, um damit zu spielen. Die Feier in der Kirche scheint alle sehr mitgenommen zu haben.
Leere breitet sich in Josefin aus. Es ist so endgültig.
Das Leben ohne Emma wird ein ganz anderes, und sie weiß noch nicht recht, was das für sie bedeutet.
Sie schaut zu Andreas hinüber.
Emmas Tod hat trotz allem auch etwas Gutes mit sich gebracht, denkt sie und lässt den Blick ein letztes Mal über den Friedhof wandern. Ganz hinten entdeckt sie eine einsame, zierliche Frau mit dunklen Haaren. Sie steht mit dem Rücken zu ihnen etwa auf der Höhe von Kristoffers Grab. Hillevi? Die Angst schießt wie eine Kugel durch ihren Körper. Kann das wirklich Emmas Mörderin sein? Die Frau ist ungefähr so groß und hat eine ähnliche Haarfarbe. Was, wenn sie die ganze Zeit während der Trauerfeier hier herumgeschlichen ist, ganz in Ines’ Nähe, bereit, jederzeit zuzuschlagen und sie aus dem Kinderwagen zu entführen?
»Andreas, halt an!«, sagt sie und zeigt mit zitterndem Finger Richtung Friedhof. »Sie ist da.«
Ich stehe an Kristoffers Grab und versuche ihm zu sagen, wie leid es mir tut, dass ich nicht zu seiner Beerdigung kommen konnte. Auf dem Boden liegt ein verwelkter Tulpenstrauß. Einige der braunen Blütenblätter haben sich gelöst und verstärken den Eindruck von Tod und Verfall. Kristoffer fehlt mir, obwohl er mich hintergangen hat. Darüber werde ich niemals hinwegkommen. Dennoch hatten wir auch viele schöne Stunden. Ich sehe seine kastanienbraunen Augen vor mir und die kräftigen Augenbrauen, sein dunkles, widerspenstiges Haar und sein ansteckendes Lächeln. Er war einen Kopf größer als alle anderen, trug als Makler immer gut sitzende Anzüge und war stets bereit, einen Besichtigungstermin zu übernehmen. Auch wirkte er immer vergnügt. Doch hinter der hellen Fassade verbarg sich ein dunkles Geheimnis.
Am Ende war er nicht mehr er selbst, nein, das war er wirklich nicht.
Etwas bringt mich dazu, mich umzudrehen, ich weiß nicht, was, vielleicht eine Spannung in der Luft oder eine rasche Bewegung im Augenwinkel. Eine Krähe fliegt von einem Baum auf, ebenso fluchtbereit wie ich. Vielleicht habe ich deshalb reagiert. In der Nähe der Gräber, wo ich stehe, entdecke ich niemanden, aber hinten am Parkplatz steigen zwei Personen aus einem Auto, den Blick auf mich gerichtet wie brennende Laserstrahlen. Sie kommen in meine Richtung, erst langsam, dann werden sie wie auf ein Signal hin schneller.
Noch sind sie hundert Meter entfernt, doch der Abstand wird mit jeder Sekunde kürzer.
Polizei.
Und zwar nicht irgendwer.
Das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, war im Krankenhaus von Danderyd.
Sie haben mich entdeckt, und als sie merken, dass ich das begriffen habe, fangen sie an zu laufen.
Wenn sie mich jetzt schnappen, ist es vorbei. Panik ergreift mich, und ich wage nicht, nachzuschauen, wie weit sie noch von mir entfernt sind, ich laufe einfach los.
Rasch geht es an einem Wäldchen vorbei. Das Einzige, was mich retten kann, ist der Sichtschutz der Bäume, dass sie nicht sehen, in welche Richtung ich laufe.
Ein paar wenige Sekunden werde ich außerhalb ihres Blickfeldes sein, dann ist die Chance vorbei. Noch fünfzig Meter bis zum Versteck. Ich muss weiter, so schnell ich kann. Darf mich nicht umdrehen, nicht an Tempo verlieren, nicht anfangen zu denken. Es ist wie ein Mantra in meinem Kopf. Der Schweiß rinnt mir herab, und mein Herz klopft so laut, dass alle anderen Geräusche verstummen. Jedoch nicht ganz. Ich höre, wie sie mir drohend etwas hinterherbrüllen:
»Hillevi, bleiben Sie stehen!«
Ich beschleunige noch mehr, erreiche die versteckte Öffnung zu der Höhle hinter dem Wäldchen und krieche hinein.
»Es bringt nichts, wenn Sie sich verstecken«, ruft einer von ihnen noch lauter.
Doch, das tut es.
Denn hier werden sie mich niemals finden.
Ihr Zahnfleisch ist so geschwollen, dass es beinahe platzt. Soraya ist schwindlig, sie hat Fieber und fühlt sich matt und elend. Zum Glück wird es langsam wärmer draußen, auch wenn es zwischen zwei und vier Uhr nachts immer noch sehr kalt ist. Dann liegt sie da und zittert ohne Decke, mitten zwischen den Abfällen auf dem Boden.
Doch vielleicht muss sie bald nicht mehr frieren.
Innerhalb der nächsten Tage muss sie eine Lösung finden, wie sie nach Hause zu ihrer Familie kommen kann, denn sie hat versprochen, nach drei Monaten zurückzukommen. Irgendwie muss ihr das gelingen. Ihre Sehnsucht nach den Großeltern ist so groß. Ihre Eltern sind gestorben, als sie noch ganz klein war, und sie hat keine Erinnerungen mehr an sie. Soraya denkt an ihren Sohn und hofft, dass ihn nicht dasselbe Schicksal ereilt. Seinen Vater hat er nie gekannt, deshalb hängt seine Zukunft ganz allein von ihr ab.
Aurel ist es wert, für ihn zu kämpfen.
Jetzt muss sie nur noch die Tage zählen.
Doch sie hat keine Ahnung, wovon sie das Ticket bezahlen und noch weniger, wie sie ihren Pass zurückbekommen soll. Letzteres kann sie wahrscheinlich vergessen, sie muss eine andere Möglichkeit finden, über die Grenze nach Rumänien zu gelangen. Das Problem ist, dass es ihr mit jedem Tag schlechter geht. Sie kann kaum noch kauen, die Zahnschmerzen sind so heftig, dass sie nur noch flüssige Nahrung zu sich nehmen kann.
Soraya steht vom Boden auf, wo sie den Vormittag über gelegen hat. Sie befindet sich in einem großen Park mit Spielplatz, umgeben von stattlichen Bäumen. Ein kleiner Junge kämpft sich auf eine Rutsche hinauf, von weitem sieht er beinahe aus wie Aurel.
Nur dass Aurel noch nie von einer Rutsche gerutscht ist.
Sie sieht ihren Sohn vor sich, wie er morgens neben ihren Großeltern aufwacht. Noch ist er klein und unbekümmert, doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis er begreift, in welche Armut er hineingeboren worden ist. Alles Geld, das sie zusammenbekommen hat, hat sie in einen Umschlag gesteckt. Doch ihre Großeltern erwarten wahrscheinlich, dass sie mit einem wohlgefüllten Rucksack heimkehrt, so wie die Männer es versprochen haben, die ihr die Reise nach Schweden verkauft haben. Sonst hätte ihr Großvater sie niemals ins Ausland reisen lassen, eine alleinstehende neunzehnjährige Frau. Wenn sie nur einen Bruchteil der Wahrheit wüssten! Doch Soraya hat sich selbst geschworen, ihnen niemals etwas davon zu erzählen.
Sie sind zu alt und zu krank dafür. Ihrer Großmutter würde es vor Kummer das Herz brechen.
Soraya schluckt ihre Tränen hinunter und sieht sich um.
Ihre Tasche hat sie zum Glück mitgenommen, obwohl sie in der Nacht so panisch davongelaufen ist. Als sie an den schrecklichen Anblick von Razvan denkt und wie sein Kopf herabgehangen hat, kann sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Warum haben sie ihn umgebracht? Er war der freundlichste Mensch der Welt. Nie hat sie einen harmloseren Mann getroffen, er kann nichts getan haben, womit er den Tod verdient hätte. Vielleicht sind sie aber auch gerade deshalb auf ihn losgegangen, weil er ein so leichtes Opfer war. Sie wussten, wo er sich für gewöhnlich aufhielt, und konnten ihn umbringen, ohne dabei erwischt zu werden. Doch sie haben anscheinend nicht gewusst, dass er nicht immer alleine war. Razvan war ihr Schutzengel, der einzige Mensch, den sie in diesem Land kannte. Er war der erste Rumäne, mit dem sie gesprochen hatte, nachdem es ihr gelungen war, ihren Landsleuten zu entkommen. Er hatte ihr helfen wollen, nach Hause zu gelangen. Razvan war so etwas wie eine Vaterfigur für sie gewesen, und jetzt war er fort.
Der Park füllt sich allmählich mit Menschen, alle sind auf dem Weg irgendwohin. Soraya begreift selbst nicht, wie sie überhaupt schlafen konnte, nach dem Schrecklichen, was sie mit angesehen hat. So viel Angst, wie sie vor der Dunkelheit hat und davor, geschlagen oder vergewaltigt zu werden. Dennoch muss sie in den frühen Morgenstunden vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Beschämt sieht sie sich um. Was wohl die Leute von ihr denken?
Als würde es auch nur irgendeine Rolle spielen.
Die meisten schauen weg, und ihren Gesichtern nach zu urteilen, fühlen sie sich belästigt oder peinlich berührt. Soraya fragt sich, wieso sie überhaupt aufgestanden ist. Sie könnte genauso gut liegenbleiben und auf den Tod warten. Es würde ohnehin niemand etwas tun, um ihr zu helfen, sie könnte hier liegen, bis sie für immer einschläft, und das, obwohl die Leute nur einen Meter entfernt an ihr vorübergehen. Vielleicht sorgt auch irgendjemand dafür, dass sie ihren letzten Atemzug tut. Die Härchen an ihren Unterarmen stellen sich auf, wenn sie an den Blick denkt, den der große, glatzköpfige Mann ihr zugeworfen hat, der sie verfolgt hat. Er wirkte ebenso überrascht wie sie selbst, bis sich sein Gesicht verzerrte und sein Blick schwarz wurde. In dem Augenblick rannte sie los.
Soraya verlässt den Park und gelangt auf eine Straße, die sie noch nie gegangen ist. Irgendwie muss sie einen neuen Schlafplatz finden, irgendwo, wo sie sich so sicher fühlen kann wie möglich. Zugleich weiß sie nicht mehr, wofür sie eigentlich kämpfen soll, vor allem, da der Schmerz in ihrem Mund immer unerträglicher wird.
Ihr Schicksal ist doch längst besiegelt.
Plötzlich schämt sie sich, dass sie sich in Gedanken so gehenlässt.
Sie darf Aurel nicht im Stich lassen.
Ihr Heimweh wird übermächtig, genau wie der Schmerz in ihrem Mund. Es pocht so stark in ihrem Kopf, dass sie sich kaum aufrecht halten kann. Als sie jedoch wieder an ihren Sohn und ihre kranken Großeltern denkt, sieht sie nur einen Ausweg: die Zähne zusammenzubeißen. Sie wird versuchen, noch ein paar Kronen zusammenzubekommen und dann den langen Weg nach Hause antreten. Irgendwie wird es ihr gelingen, auch wenn sie im Moment noch keine Ahnung hat, wie. Sie erreicht einen weiteren Park. In dieser Stadt scheint es von Grünflächen nur so zu wimmeln. Die schwedische Fahne flattert im Wind, und sie erkennt den Schriftzug »Polizeistationspark« auf einem Schild, begreift jedoch nicht, was er bedeutet. Genauso wenig wie sie weiß, wie sie das Unmögliche schaffen soll: nach Hause und zu ihrem Sohn zu kommen.
Auf dem Weg durch den blühenden Polizeistationspark begegnet Nyhlén einer jungen Frau mit einem roten Schal. Sie sieht so hilflos und einsam aus, dass es ihm die Kehle zuschnürt. Dennoch geht er weiter, statt stehenzubleiben und zu fragen, wie es ihr geht. Er biegt nach links ab und kommt zu der Tür, durch die er zur Regionalen Einsatz- und Ermittlungseinheit gelangt, und versucht, sich dabei einzureden, dass er ohnehin nichts für sie tun könnte. Er freut sich schon darauf, das enge Hemd gegen das weitere Poloshirt einzutauschen, das ihm nicht wie eine Henkersschlinge um den Hals sitzt. Dafür spannt es etwas mehr am Bauch als früher. Er ist froh, die Trauerfeier für Emma überstanden zu haben. Jetzt kann er sich wieder ganz dem Material über Hillevi widmen. Sie hat bestimmt irgendetwas gesagt, das ihnen einen Hinweis auf ihr mögliches Versteck gibt. Menschen auf der Flucht begeben sich am Ende doch an einen von ihnen in irgendeiner Form als sicher empfundenen Ort.
Er muss nur noch herausfinden, wo das ist.
Auf dem Weg durchs Präsidium wird Nyhlén jäh aus seinen Gedanken gerissen. Bisher ist die Tür zu Emmas Büro verschlossen gewesen, jetzt steht sie weit offen. Ein Funke Hoffnung lodert in ihm auf, bevor er schnell den Gedanken verdrängt, sie könnte da drinnen sein, quicklebendig mit ihrem strahlenden Lächeln und dem blonden Haar, obwohl sie gerade offiziell von ihr Abschied genommen haben.
Nein, sie ist eingeäschert und in alle Winde verstreut worden. Die Neugier lässt ihn dennoch innehalten und hineinsehen. Zu seinem Erstaunen erblickt er eine fremde Frau mit dunklem, beinahe rabenschwarzem, kurzgeschnittenem Haar. Sie ist schlank und bestimmt nicht größer als eins sechzig. Noch ist sie sich seiner Anwesenheit nicht bewusst, sie hat ihm den Rücken zugekehrt und stellt einen Karton auf den Boden. Emmas Karton.
Er räuspert sich, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.
Die Frau fährt herum, eine Spur von Angst im Blick, ihre Augen sind erstaunlicherweise blau und nicht braun, wie er erwartet hat. »Huch, haben Sie mich erschreckt!«
»Wer sind Sie?«, fragt er so neutral wie möglich.
»Madeleine Widstrand«, sagt sie in einem Dialekt, der ihm sofort unsympathisch ist. Vielleicht kommt sie aus Västergötland oder Norrland? Dialekte und Geografie sind noch nie seine Stärke gewesen. »Ich habe heute bei der Ermittlungseinheit acht angefangen und bereits einen Fall auf dem Tisch.«
»Aha?«
»Sie wissen gar nichts davon? Ein weiterer Bettler wurde mit gebrochenem Genick aufgefunden, diesmal direkt vor der Rumänischen Botschaft. Es ist bereits das vierte Opfer, wenn man den ermordeten Bettler in Ulvsunda im vergangenen Jahr mitzählt.«
Lars Lindberg hat nebenbei etwas von einem Neuzugang in der Mordkommission gesagt, wie ihre Abteilung früher hieß. Emmas Nachfolgerin also. Nyhléns erste Reaktion auf die neue Kollegin ist ein saures Aufstoßen, das er schnell unterdrückt. Ihr Gesicht drückt Verunsicherung aus, und sie fährt sich so verlegen durch das gesprayte Haar, dass es ihm den Magen umdreht. So jemand soll jetzt also dem Irren das Handwerk legen, der sich darauf eingeschossen hat, Bettler zu töten? Nyhlén ist sich bewusst, dass man nie jemanden vorverurteilen sollte, bezweifelt jedoch, dass sie dem Job gewachsen ist. Er hat auf einen Kollegen mit mehr Erfahrung gehofft, nicht auf eine junge Frau, die aussieht, als hätte sie gerade die Schule beendet.
»Ich bin übrigens Nyhlén«, sagt er, als ihm einfällt, dass er seinen Namen noch nicht genannt hat. »Thomas Nyhlén.«
»Sie sind dieser Nyhlén, von dem immer alle reden?«, fragt sie und lächelt, so dass eine Zahnlücke zwischen den vorderen Schneidezähnen sichtbar wird.
»Herr Nyhlén, bitte«, sagt er kurz und lässt sie ohne ein weiteres Wort stehen. Am selben Tag, an dem die Trauerfeier für Emma stattgefunden hat, übernimmt also jemand ihren Schreibtisch. Es brennt in ihm, und es fällt ihm schwer, sich vorzustellen, dass da drinnen jetzt jemand anderes sitzt und Emmas Tastatur benutzt.
Madeleine. Er seufzt.
Ein unsicherer Mensch, das genaue Gegenteil von Emma.
Er schließt sich in seinem Büro ein, und sobald er sein Hemd aufgeknöpft hat, beruhigt er sich ein wenig.
Es klopft zaghaft an seiner Tür.
»Moment«, knurrt er wie ein Wachhund.
Es dauert ein wenig, bis er sich umgezogen hat, und als er die Tür öffnet, steht Madeleine mit einer Kaffeetasse davor. »Er muss vielleicht noch ein bisschen abkühlen«, sagt sie schüchtern.
»Danke«, sagt er kurz, obwohl er sie am liebsten anbrüllen würde, ihn einfach in Ruhe zu lassen. Schleim dich nicht so ein!, hätte er ihr gerne gesagt.
»Und dann wollte ich Ihnen noch mein Beileid aussprechen.«
Bevor er etwas erwidern kann, ist sie verschwunden. Glück für sie. Er will nicht über Emma reden, schon gar nicht mit Leuten, die er nicht kennt und die sie nicht gekannt haben. Hoffentlich lässt sie ihn jetzt endlich in Ruhe, immerhin hat sie ja bereits einen dringenden Fall auf dem Tisch. Er selbst will keine Zeit mehr verschwenden und sich so rasch wie möglich wieder auf die Suche nach Emmas Mörderin begeben.
Er wird Hillevi finden.