Über C. W. Gortner

C. W. Gortner wuchs in Südspanien auf. In Kalifornien lehrte er an der Universität Geschichte mit einem Fokus auf starke Frauen inder Historie. In Marlene Dietrich erkannt er eine so "stürmische wie unkonventionelle und mutige Frau", dass er einfach über sie schreiben musste. Er lebt in San Francisco.

Mehr Informationen zum Autor unter www.cwgortner.com

Christine Strüh übertrug u.a. Kristin Hannah, Gillian Flynn und Cecelia Ahern ins Deutsche. Sie lebt in Berlin.

Informationen zum Buch

Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt

Wie im Rausch erkundet die junge Marlene die wilden Nächte Berlins. Sie liebt, wen immer sie begehrt, und wird mit „Der blaue Engel“ zum Star. Bald feiert man sie in Hollywood als glamouröse Diva. Ihr Streben nach Selbstbestimmung lässt Marlene jedoch immer wieder anecken, und auch in der Liebe bleibt sie auf der Suche – bis sie dem Schauspieler Jean Gabin begegnet. Doch dann zieht Marlene mit den amerikanischen Truppen an die Front – und die Rückkehr in das zerstörte Deutschland wird zu ihrem persönlichen Drama.

Eine große Geschichte über Leidenschaft und Kunst, eine Welt im Wandel – und die Liebe

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C. W. Gortner

Marlene und die Suche nach Liebe

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Christine Strüh

Für meinen Vater

»Im Herzen bin ich ein Gentleman.«

Marlene Dietrich

Inhaltsübersicht

Über C. W. Gortner

Informationen zum Buch

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Erste Szene: Das Schulmädchen 1914–1918

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Zweite Szene: Geigenunterricht 1919–1921

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Dritte Szene: Probeaufnahme 1922–1929

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Vierte Szene: Der blaue Engel 1930

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Fünfte Szene: Göttin der Begierde 1931–1935

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Sechste Szene: Die höchstbezahlte Schauspielerin 1935–1940

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Siebte Szene: Der goldene Panther 1942–1946

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Nachwort

Dank

Quellen

Impressum

Erste Szene

Das Schulmädchen

1914–1918

»Mit meiner Geburt hatte ich nichts zu tun.«

Kapitel 1

Als ich mich das erste Mal verliebte, war ich zwölf Jahre alt.

Es passierte in der Auguste-Viktoria-Schule in Schöneberg, damals noch eine eigene Stadt im Südwesten Berlins. In einem klotzigen, von schmiedeeisernen Toren bewachten Gebäude, hinter dessen extravaganter Fassade sich ein Labyrinth eisig kalter Klassenzimmer verbarg, lernte ich Tag für Tag Grammatik, Rechnen und Geschichte, darauf folgten Haushaltsführung und kräftigende Leibesübungen im Freien und zu guter Letzt noch ein ausgesprochen oberflächlicher Französischunterricht. Ich hegte eine tiefe Abneigung gegen die Schule, was jedoch nicht daran lag, dass es mir schwerfiel, die fachlichen Anforderungen zu erfüllen. Verschiedene Gouvernanten hatten sich in meiner Kindheit um meine Erziehung gekümmert, wobei meine ein Jahr ältere Schwester Elisabeth – in der Familie stets Liesel genannt – immer die meiste Aufmerksamkeit bekam, weil sie so kränklich war. Bei uns zu Hause hatten täglich Englisch und Französisch, Benehmen, Tanz und Musik auf dem Programm gestanden, und unsere Mutter verlangte in jeder dieser Disziplinen unanfechtbare Perfektion. So mochte ich zwar besser auf die Härten institutionellen Lernens vorbereitet sein als die meisten meiner Klassenkameradinnen, dennoch war mir die Schule verhasst. Ich passte einfach nicht zu den anderen Mädchen mit ihren marmeladenklebrigen Fingern und wollte mich nicht in ihre Gemeinschaft einfügen. Sie hingegen kannten sich fast alle seit frühester Kindheit und verliehen mir wegen meiner vermeintlichen Schüchternheit den Spitznamen Maus, nichtahnend, dass »schüchtern« wohl das letzte Wort gewesen wäre, mit dem meine Mutter mich beschrieben hätte.

Als unser Vater an einem Herzstillstand starb, war ich sechs Jahre alt, doch unsere Trauer um ihn wurde rasch überlagert von der dringenden Notwendigkeit, unser Leben neu zu organisieren. Nach außen musste der Schein gewahrt werden, immerhin stammte die Witwe Josephine Dietrich aus der berühmten Uhrmacherdynastie Felsing, die seit über einem Jahrhundert den Titel »Hoflieferant« führen durfte, doch meine Mutter weigerte sich strikt, Unterstützung von ihrer Familie anzunehmen, und die Rente meines Vaters – er war Polizeileutnant auf der Schöneberger Insel gewesen – reichte bei weitem nicht. So verschwanden schon bald nach seiner Beerdigung die Gouvernanten, weil sie als entbehrlicher Luxus erachtet wurden, und Mutter nahm eine Stelle als Hauswirtschafterin an. Wegen Liesels diffuser gesundheitlicher Beschwerden entwarf Mutter einen Lehrplan für sie, dem sie zu Hause nachgehen sollte. Mich dagegen zwang sie in die steif gestärkte graue Schuluniform, flocht meine rotblonden Haare zu Zöpfen, krönte das Ganze mit einer riesigen Taftschleife auf dem Kopf und führte mich in meinen zehenzwackenden Lacklederschuhen ab in die Schule, wo unbescholtene ältere Fräulein meinen Charakter bilden sollten.

»Benimm dich ordentlich«, ermahnte Mutter mich. »Denk an deine Manieren, und tu, was man dir sagt. Hab ich mich klar ausgedrückt? Durch deine Erziehung bist du vielleicht vielen anderen voraus, aber damit prahlt man nicht.«

Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Zu Hause wurde ich oft getadelt, weil ich versuchte, Liesel auszustechen, aber als ich den Schulhof betrat und mich von den Mädchencliquen umringt sah, die mich mit argwöhnischen Blicken musterten, begriff ich sofort, dass es besser für mich wäre, mit meinem Wissen hinter dem Berg zu halten. So ahnte niemand, dass ich über mehr als grundlegende schulische Kenntnisse verfügte. Dies galt natürlich auch für die französische Sprache, die zwar zur Bildung jedes wohlerzogenen Mädchens gehörte, mit der jedoch kein wohlerzogenes deutsches Mädchen allzu vertraut werden sollte, da sie mit ihrem verführerischen Klang immer auch einen Hauch des Verbotenen in sich trug. Um die Aufmerksamkeit von mir abzulenken, setzte ich mich an ein Pult ganz hinten im Klassenzimmer und hielt mich von den anderen weitgehend fern – eine Maus eben, die sich in aller Öffentlichkeit versteckte.

Bis zu jenem Tag, an dem unsere neue Französischlehrerin eintraf.

Sie wirkte gehetzt, als hätte sie sich sehr beeilen müssen, nicht zu spät zu kommen. Aus ihrem Knoten hatten sich kastanienbraune Strähnen gelöst, ihre Wangen waren gerötet. Tatsächlich hatte es bereits geläutet, die Mädchen flüsterten aufgeregt über die Gänge hinweg miteinander.

Plötzlich tauchte nun also die lang erwartete Nachfolgerin von Madame Servine auf, die nach einem unglücklichen Sturz früher als geplant in den Ruhestand gegangen war. Die Julihitze war extrem, und unserer neuen Lehrerin stand der Schweiß auf der Stirn, als sie ihre Bücher mit einem lauten Knall auf das Pult fallen ließ. Die ganze Klasse setzte sich erschrocken auf.

Madame Servine hatte keine Trödelei geduldet, und ihr Lineal war als Strafe für vermeintlichen Ungehorsam schmerzhaft auf Knie oder Finger so mancher Schülerin niedergesaust. Und womöglich würde sich diese junge Frau als ebenso furchterregend herausstellen. Von meinem üblichen Platz weit hinten spähte ich über die Schultern der vor mir sitzenden Mädchen und beobachtete, wie sie sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte.

»Mon Dieu«, stöhnte sie dabei. »Il fait si chaud. Ich hätte nicht gedacht, dass es in Deutschland so heiß werden kann.«

Niemand sagte ein Wort. Mit einer achtlosen Handbewegung ließ die neue Französischlehrerin ihr feuchtes Taschentuch in der Bluse verschwinden. »Bonjour mesdemoiselles. Ich bin Mademoiselle Bréguand, eure neue Französischlehrerin.«

Eigentlich war es unnötig, dass sie sich vorstellte. Wir wussten genau, wer sie war, warteten wir doch schon seit Wochen auf sie, während wir von der Vertretungslehrerin Frau Becker mit endlosen Aufgaben gequält wurden. Im Akzent unserer neuen Lehrerin war deutlich die Melodie von Paris zu erkennen, und während es in meinem Bauch vor Freude kribbelte, spürte ich, wie die Mädchen um mich herum schauderten. Madame Servine war wegen ihrer Lorgnette, ihrer bedrohlich klackenden dritten Zähne und ihrer hochgeschlossenen, aus der Zeit der Jahrhundertwende stammenden Kleider stets mit dem Spitznamen Ancien Régime bedacht worden. Doch die junge Frau – in ihrer an Hals und Handgelenken spitzenverzierten Bluse, ihrem modischen knöchellangen Rock, der ihre schlanke Figur betonte und unter dem elegante Stiefelchen hervorlugten – verhieß etwas ganz anderes.

Ich reckte mich erwartungsvoll.

»Allez«, verkündete sie. »Ouvrez vos livres, s’il vous plaît

Regungslos saßen die anderen Mädchen da, nur ich griff zu meinem Französischbuch. »Eure Bücher, bitte. Schlagt eure Bücher auf«, erklärte Mademoiselle auf Deutsch und seufzte.

Ich verkniff mir ein Grinsen.

»Wir wollen heute ein paar Verben konjugieren, ja?«, fuhr sie fort und ließ den Blick über die Klasse schweifen. Niemand antwortete ihr. Seit Madame gestürzt war, hatte keines der Mädchen sich die Mühe gemacht, einen Blick in unser Französischbuch zu werfen. Französisch war ihnen gleichgültig, und aus den Gesprächen, die ich gelegentlich mitbekam, wusste ich, dass meine Mitschülerinnen ohnehin nur ein einziges Lebensziel kannten: so schnell wie möglich zu heiraten und den Klauen ihrer Eltern zu entrinnen. Kinder, Küche, Kirche – das schien der alleinige Ehrgeiz, der deutschen Mädchen eingeimpft wurde wie zuvor ihren Müttern und Großmüttern. Welchen Sinn könnte es für diese jungen Frauen haben, Französisch zu lernen?

Mademoiselle Bréguand beobachtete das hektische Blättern, schien jedoch nicht willens, es zu kommentieren. Pflichtvergessenheit bei den Hausaufgaben war ein beliebtes Vergehen, doch jede von uns fürchtete, dabei erwischt zu werden. Von Madame Servine erzählte man sich, dass sie einmal eine Schülerin gezwungen hatte, bis zum Einbruch der Dunkelheit nachzusitzen – bis sie entweder ihre Aufgaben erledigt hatte oder vor Erschöpfung zusammengebrochen war.

Dann sah ich plötzlich, wie sich auf Mademoiselles Gesicht ein schelmisches Lächeln abzeichnete. Ich konnte es nicht fassen – an diesem Ort, wo die Lehrerinnen nie etwas anderes zeigten als Strenge, war diese Gemütsregung so überraschend, dass der Gefühlswirbel in meinem Inneren sich unversehens in etwas verwandelte, was mich an Schlagsahne auf meiner Zunge denken ließ.

»Beginnen wir mit ›sein‹ – être. Je suis, je serai, j’étais. Tu es, tu seras, tu étais. Il est, il sera, il était. Nous sommes, nous serons, nous étions …« Während sie rezitierte, schritt sie langsam durch die schmalen Gänge zwischen unseren Pulten und lauschte, den Kopf zur Seite geneigt, den erbärmlichen Bemühungen ihrer Schülerinnen. Es war eine miserable Darbietung, ein Beweis von Bummelantentum und absoluter Geringschätzung der französischen Sprache. Aber Mademoiselle korrigierte niemanden, sondern wiederholte nur immer wieder die Konjugationen, die die Mädchen ihr mehr oder minder erfolgreich nachsprachen.

Schließlich stand sie vor mir. Blieb stehen. Hob die Hand, und alle verstummten. Mit ihrem bernsteinbraun-grünen Blick fixierte sie mich und forderte mich zu wiederholen auf: »Répète, s’il te plaît

Weil ich um jeden Preis vermeiden wollte, herausgestellt zu werden, nahm ich mir vor, genauso schrecklich zu klingen wie die anderen. Aber meine Zunge gehorchte mir nicht, und ich hörte mich zögernd konjugieren: »Vous êtes. Vous serez. Vous étiez

Das unterdrückte Kichern eines Mädchens in meiner Nähe traf mich wie eine Ohrfeige.

Aber dafür kehrte das warme Lächeln auf Mademoiselles Lippen zurück, und nun galt es mir allein – zu meinem Entsetzen und meiner Freude zugleich. »Und weiter?«

Im Flüsterton fuhr ich mit den komplexeren grammatischen Formen fort: »Vous soyez. Vous seriez. Vous fûtes. Vous fussiez

»Und jetzt benutze das Verb in einem Satz, bitte.«

Einen Moment kaute ich auf der Unterlippe und überlegte, dann platzte ich heraus: »Je voudrais être quelqu’un qui vous aimez bienIch möchte jemand sein, den Sie mögen. Kaum waren die Worte aus meinem Mund, da bereute ich sie auch schon. Was war in mich gefahren, etwas so – Direktes, geradezu Dreistes zu sagen?

Obwohl ich mich nicht umzuschauen wagte, spürte ich, dass meine Mitschülerinnen mich anstarrten. Vielleicht hatten sie nicht verstanden, was ich genau gesagt hatte, aber mein Ton genügte vermutlich.

Ich hatte mich enttarnt.

»Oui«, antwortete Mademoiselle leise. »Parfait

Dann ging sie weiter, begann von neuem Verbformen zu skandieren und gab den Mädchen zu verstehen, es ihr nachzutun. Ich saß da wie erstarrt. Aber dann stupste mich auf einmal ein Finger in die Rippen, und als ich mich umdrehte, zwinkerte mir ein dunkelhaariges, dünnes Mädchen mit einem Elfengesicht zu. »Parfait«, flüsterte sie. »Perfekt.«

Mit einer solchen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte gedacht, die anderen würden bis zur Schlussglocke warten und mich, sobald wir das Schultor passiert hatten, auf dem Heimweg überfallen und wahrscheinlich verprügeln, weil ich sie hintergangen und mich obendrein auch noch bei unserer neuen Lehrerin lieb Kind gemacht hatte. Aber was ich auf dem Gesicht dieses Mädchens erkannte, war weder Missgunst noch Ärger. Es war … Bewunderung.

Nachdem Mademoiselle uns unsere Hausaufgaben gegeben hatte und alle den Klassenraum verließen, versuchte auch ich, mich an ihrem Pult vorüberzuschleichen. Ich hatte es fast geschafft, als sie sagte: »Mademoiselle, einen Augenblick bitte.«

Ich hielt inne und blickte mich vorsichtig um. Die anderen drängten sich an mir vorbei, und eine spottete: »Marie, das graue Mäuschen, kriegt ihren ersten Goldstern.«

Dann stand ich allein vor der Lehrerin, die mich nachdenklich musterte. Durch das staubige Fenster fiel die Spätnachmittagssonne und ließ ihren unordentlichen Knoten kupferrot schimmern. Ihre Haut war rosig, mit einem leichten Flaum auf den Wangen. Meine Knie wurden weich. Ich verstand nicht, warum ich gesagt hatte, was ich gesagt hatte, aber ich hatte das beunruhigende Gefühl, dass sie es umso besser wusste.

»Marie?«, fragte sie. »Ist das dein Name?«

»Ja. Marie Magdalene.« Nur mit Mühe gehorchte mir meine Stimme. »Marie Magdalene Dietrich. Aber ich möchte lieber … in meiner Familie nennen mich alle nur Marlene. Oder kurz Lena.«

»Ein hübscher Name. Du sprichst sehr gut Französisch, Marlene. Hast du das hier gelernt?« Bevor ich antworten konnte, lachte sie. »Nein, natürlich nicht. Die anderen … c’est terrible, elles savent si peu, es ist eine Schande, wie wenig sie wissen. Du solltest nicht in dieser Klasse sein, du kannst viel mehr.«

»Bitte, Mademoiselle.« Ich drückte meine Schultasche an die Brust. »Wenn die Direktorin das herausfindet, dann wird sie …«

»Was?« Sie neigte den Kopf. »Was wird sie dann tun? Wissen ist kein Verbrechen. Du verschwendest hier deine Zeit. Würdest du diese Stunde nicht lieber für etwas nutzen, bei dem du wirklich etwas lernen kannst?«

»Nein.« Ich war den Tränen nahe. »Ich … ich lerne gern Französisch.«

»Dann müssen wir sehen, was wir für dich tun können. Bei mir ist dein Geheimnis sicher, aber für die anderen kann ich nicht die Hand ins Feuer legen. Sie sind vielleicht ignorant, aber sicher nicht taub.«

»Merci, Mademoiselle. Ich werde fleißig sein. Sie sollen mit mir zufrieden sein.« Das war meine Standarderklärung, begleitet von einem ungeschickten Knicks, wie Mutter es mir beigebracht hatte, wenn wir sonntags nach der Kirche andere achtbare Witwen besuchten, die uns heiße Schokolade und Kuchen vorsetzten. Dann wandte ich mich ab und machte mich hastig auf den Weg zur Tür, um Mademoiselles amüsiertem Blick und meiner eigenen Impulsivität zu entfliehen.

Im Gehen hörte ich noch, wie sie sagte: »Marlene, ich bin schon jetzt mit dir zufrieden. Sogar sehr.«

Kapitel 2

Auf dem Heimweg hüpfte ich und schwang vor Freude meine Schultasche. In meinem Kopf erklang Mademoiselles Stimme wie ein Echo der raschelnden Linden, die die Straßen säumten. Nichts anderes drang in mein Bewusstsein, während ich die Straßenbahnschienen überquerte und den Straßenverkäufern auswich, die lautstark ihre Waren anpriesen.

Marlene, ich bin schon jetzt mit dir zufrieden. Sogar sehr.

Auch als ich die rissige Marmortreppe zu unserer Wohnung in der Tauentzienstraße 13 hinaufstürmte, summte ich noch leise vor mich hin. Ich ließ meine Schultasche auf den Flurtisch fallen und marschierte in den makellosen Salon, wo meine Schwester Liesel über ihren Büchern kauerte. Sie blickte auf und sah so müde aus, als säße sie dort schon seit Wochen.

»Ist der General schon hier?«, fragte ich und griff nach dem letzten Stück Kuchen, das neben ihr auf einem Teller lag.

Die missbilligende Falte zwischen Liesels Augenbrauen vertiefte sich. »Du sollst unsere Mutter nicht so nennen, das ist respektlos. Du weißt doch, dass sie donnerstags immer länger bei den Loschs arbeitet, sie kommt erst um sieben. Und nimm dir einen Teller, Lena, du hinterlässt überall Krümel. Das Hausmädchen ist gerade gegangen.«

Ich bückte mich, klaubte schnell ein paar Krümel von dem abgenutzten Teppich und leckte mir die Finger ab.

»Nimm lieber den Besen.«

Obwohl es sinnlos war, holte ich den Besen aus der Küche – Mutter würde sowieso noch einmal fegen, wenn wir schon im Bett waren, und obendrein die Parkettböden bohnern. Obwohl sie den ganzen Tag bei anderen Leuten putzte, wurde sie es nie müde. Innerhalb von vier Monaten hatte sie ebenso viele Hausmädchen wegen Schlampigkeit entlassen. Es war so absehbar, dass Liesel und ich uns nicht einmal mehr die Mühe machten, uns den Namen des aktuellen Mädchens zu merken.

Noch immer vor mich hin summend, ging ich ins Wohnzimmer, in dem das kleine Hammerklavier und meine Geige warteten; beide Instrumente hätten dringend professionell gestimmt werden müssen. Die Geige hatte mir meine Großmutter zum achten Geburtstag geschenkt, nachdem mein Musiklehrer Mutter glaubhaft versichert hatte, ich hätte Talent. Inzwischen war der Geigenlehrer ebenso verschwunden wie die Gouvernanten, dennoch übte ich weiter. Ich liebte Musik, und sie war eine der wenigen Interessen, die ich mit meiner Mutter teilte. Als Kind hatte sie viele Jahre lang Klavierunterricht gehabt, und wir spielten nach dem Abendessen oft zusammen. Jetzt fand ich auf dem Klavierdeckel die Sonate von Bach, die sie mir zum Üben hingelegt hatte.

Als ich die Geige an die Schulter setzte, sagte Liesel: »Du hast heute so gute Laune. Ist in der Schule irgendwas Besonderes passiert?«

»Nein.« Behutsam, um die abgenutzten Saiten zu schonen, justierte ich die Wirbel. Zu meinem Geburtstag würde Mutter mir sicher neue Saiten kaufen, aber bis Dezember waren es noch ein paar Monate, und bis dahin musste ich das Beste aus den alten herausholen. Als ich dann mit dem Bogen über die Saiten strich und zunächst nur ein misstönendes Quäken hervorbrachte, hakte Liesel nach: »Nichts? Sonst strahlst du nie so, wenn du heimkommst. Und du fängst auch nie gleich an zu üben. Irgendetwas muss doch gewesen sein.«

Ich setzte von neuem an, ließ mich jedoch nebenbei zu einer Antwort herab. »Ich habe eine neue Französischlehrerin. Sie heißt Mademoiselle Bréguand.«

Eine Weile sah Liesel mir stumm zu. Ich musste nur wenig in die Noten schauen, da ich das Stück inzwischen auswendig konnte. Mutter würde stolz auf mich sein.

»Du bist so gutgelaunt, weil ihr eine neue Lehrerin habt?« Meine Schwester gab keine Ruhe. »Das glaube ich dir nicht. Ich weiß doch, wie sehr du die Schule verabscheust. Deiner Meinung nach sind die Lehrerinnen samt und sonders alte Schachteln und die Mädchen allesamt dumme Gänse. Sag die Wahrheit – hast du einen Jungen kennengelernt?«

Mein Bogen rutschte ab, und ich starrte Liesel ungläubig an. »Wo sollte ich denn bitte einen Jungen kennenlernen?«, schnaubte ich. »In meiner Schule gibt es bloß Mädchen.«

»Aber auf dem Nachhauseweg, auf der Straße, da triffst du doch jeden Tag Jungen, oder etwa nicht?« Sie klang ernst. Und auch ein wenig ärgerlich.

»Die einzigen Jungen, die ich unterwegs sehe, sind irgendwelche Straßenlümmel, die streunende Hunde treten. Die lerne ich ganz bestimmt nicht kennen, denen gehe ich aus dem Weg.«

Am liebsten hätte ich noch hinzugefügt, dass Liesel öfter nach draußen gehen sollte, wenn sie sich so für junge Männer interessierte. Doch ich verbiss es mir, weil es ja nicht Liesels Schuld war, dass sie eine schwache Lunge oder verschleimte Bronchien oder was auch immer hatte. Mutter machte immer so viel Aufhebens um die Verfassung meiner Schwester, dass es ihr meiner Ansicht nach überhaupt nicht guttat; aber sie galt nun einmal als »anfällig« und hatte sich diese Diagnose uneingeschränkt zu eigen gemacht.

»Ich frage nur, weil ich mir Sorgen mache«, verteidigte sie sich. »Du wirst dieses Jahr dreizehn, also bist du beinah eine Frau, und Jungen – na ja, Jungen haben die Neigung …«

Ihre Stimme verebbte, unbehagliche Stille trat ein. Während ich meine Geige neu stimmte, erwog ich, was meine Schwester gesagt hatte. Und noch mehr, was sie nicht gesagt hatte.

Liesels Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht waren ebenso begrenzt wie meine: Seit dem Tod unseres Vaters war unser Onkel Willi in Berlin das einzige männliche Wesen, das wir regelmäßig zu Gesicht bekamen. Aber das sagte ich nicht, weil Liesel und ich uns nicht wirklich nahe waren, jedenfalls nicht so, wie es Schwestern sein sollten. Unser Umgang war nicht feindselig – wir teilten uns ein Schlafzimmer und stritten uns selten –, aber wir waren so verschieden, dass sogar Mutter gelegentlich Bemerkungen darüber machte. Schon körperlich waren die Unterschiede offensichtlich: Liesel war dünn und blass und besaß den hellen Teint meines Vaters. Ich dagegen hatte Mutters kräftigen Körperbau geerbt, ihre blauen Augen, die Stupsnase und die durchscheinende Haut, die puterrot wurde, wenn ich zu lange in der Sonne blieb. Und je älter ich wurde, desto besser verstand ich, dass mein zurückhaltendes Auftreten in der Öffentlichkeit nur daher kam, weil Mutter mir eingebläut hatte, Mädchen müssten sich so benehmen. Ganz anders war es bei Liesel, die von Natur aus reserviert war und nie dazu ermahnt zu werden brauchte. Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen machte meiner Schwester Angst, deshalb verließ sie das Haus nur zu den sonntäglichen Besuchen, den Gängen zum Markt und den Ausflügen nach Berlin, die wir einmal im Monat unternahmen.

»Willst du damit andeuten, dass Jungen mich unterwegs anzusprechen versuchen könnten?«, fragte ich mit einem wohlüberlegt ahnungslosen Augenaufschlag. Liesel erstarrte förmlich auf ihrem Stuhl, womit sie mir mehr als deutlich verriet, dass sie genau das meinte.

»Tun sie das etwa?«, hauchte sie.

»Nein. Jedenfalls hab ich bisher nichts davon bemerkt.« Ich hielt inne. »Warum? Sollte ich … sollte ich es bemerken?«

»Aber nein, niemals.« Liesel war entsetzt. »Wenn sie dich ansprechen oder anstößige Bemerkungen machen, musst du es ignorieren und sofort mit Mutter darüber sprechen.«

»Das werde ich.« Ich strich mit dem Bogen sanft über die Saiten. »Versprochen.«

Ich hatte nicht gelogen. Bisher hatte kein Junge mich je beachtet. Aber heute war tatsächlich jemand auf mich aufmerksam geworden. Und ich ahnte, dass es besser war, nicht zuzugeben, was für ein Gefühl das in mir hervorgerufen hatte.

Bei mir ist dein Geheimnis sicher.

Ich hatte noch nie ein Geheimnis gehabt. Und ich beabsichtigte, es um jeden Preis zu bewahren.

Pünktlich fünf Minuten nach sieben traf Mutter ein. Wir hatten Liesels Lehrbücher schon weggeräumt und den Tisch mit unserem angeschlagenen Keramikgeschirr gedeckt; das Meissener Porzellan war für besondere Anlässe reserviert. Ich erhitzte den Topf mit der weißen Bohnensuppe, die ich tags zuvor zubereitet hatte. Mutter weigerte sich standhaft, das Hausmädchen kochen zu lassen, und hatte mir die Verantwortung für das tägliche Abendessen übertragen. Ich kochte gern und auch besser als Liesel, bei der die Sauce anbrannte oder das Fleisch nicht durch war. Genau wie bei der Musik gefiel es mir, einer genauen Vorgabe zu folgen – einem strukturierten Rezept, angefangen beim genauen Portionieren und Mischen der Zutaten bis hin zum Erreichen des gewünschten Ergebnisses. Mutter hatte mir das Kochen selbst beigebracht, aber wie bei allem anderen vertraute sie auch hier letztlich nur ihren eigenen Fähigkeiten und kam noch mit Hut und Handschuhen in die Küche, um den Inhalt des Kochtopfs zu kontrollieren.

»Mehr Salz«, verkündete sie. »Und stell die Hitze runter, sonst wird es eine Pampe.« Dann wandte sie sich ab und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Wenige Minuten später kam sie in Hauskleid und Schürze wieder zum Vorschein, die blonden Haare im Nacken aufgesteckt. Ich hatte meine Mutter noch nie mit offenen Haaren gesehen, nicht einmal im Bad. Anscheinend zeigte eine Witwe keine ungezähmten Locken.

»Wie war die Schule heute?«, erkundigte sie sich, als ich die Suppe zum Tisch trug.

»Gut«, antwortete ich. Manchmal überlegte ich, ob Mutter es wohl merken würde, wenn ich ihr erzählte, die Schule sei bis auf die Grundmauern abgebrannt. Vermutlich nicht. Sie fragte mich jeden Tag, aber nur aus Höflichkeit, und meine Antwort war letztlich überflüssig.

Wir aßen schweigend, müßige Gespräche waren bei Tisch nicht erwünscht. Als ich meinen Teller mit meinem Brot auswischte (ich hatte einen gesunden Appetit), meinte sie tadelnd: »Lena, wie oft habe ich es dir schon gesagt?« Natürlich hätte ich ihre übliche Litanei auswendig zitieren können: »Ein wohlerzogenes Mädchen tunkt ihr Brot nicht in die Sauce wie ein Bauer. Wenn du noch etwas essen möchtest, dann bitte darum.«

Aber das tat ich nie. Hätte ich es getan, hätte Mutter mir nur erklärt, dass wohlerzogene Mädchen keine zweite Portion bräuchten. Ein unkontrollierter Appetit offenbare einen Mangel an Kultiviertheit.

Wir wuschen die Teller ab und räumten sie in den Schrank. Als Vater noch lebte, wäre dies der Zeitpunkt gewesen, an dem Liesel und ich uns zurückgezogen hätten, damit unsere Eltern im Wohnzimmer für sich sein konnten, wo Mutter auf dem Klavier spielte und ihren abendlichen Weinbrand trank. Aber Vater war tot, und da wir jetzt im angemessenen Alter waren, machte meine Schwester es sich nach dem Abwaschen auf dem Sofa bequem, und Mutter beaufsichtigte meine Interpretation der Bachsonate.

Wie immer war ich nervös. Zwar spielte Mutter die Violine nicht selbst, doch ihr Ohr war unfehlbar, und ich wollte beweisen, dass ich so viel übte, wie sie es verlangte. Körperlich wurden wir von Mutter nicht gezüchtigt, nur ein einziges Mal hatte sie mich geohrfeigt. Damals war ich zehn Jahre alt gewesen und hatte mich geweigert, mit einem Jungen zu tanzen, dessen Atem nach Zwiebeln stank. Nie würde ich vergessen, wie sie vor den Augen aller anderen Kinder und Eltern über die Tanzfläche auf mich zumarschierte, um mir mit einem strengen: »Wir zeigen unsere Gefühle niemals in der Öffentlichkeit. Das ist unhöflich«, den demütigenden Schlag zu verpassen. Doch obwohl sie uns die sprichwörtliche Zuchtrute ersparte, konnte ihre Zunge ebenso verletzend sein, und für Faulheit hatte sie noch weniger Verständnis als für Unreinlichkeit oder Unhöflichkeit. »Tu etwas!«, lautete ihr Motto. Wir hatten gelernt, dass Müßiggang die schlimmste Sünde sei, die wir um jeden Preis vermeiden mussten.

Ich beendete die Sonate fehlerlos. Mutter lehnte sich auf dem Klavierbänkchen zurück. »Das war hervorragend, Lena«, sagte sie, so voller Zuneigung, wie sie nur mit mir sprach, wenn ich ihre Erwartungen übertroffen hatte.

Ich war erleichtert. Von Mutter bekam man so selten ein Lob, dass ich mich fühlte, als hätte ich eine Heldentat vollbracht.

»Man merkt, dass du geübt hast«, fuhr sie fort. »Weiter so. Wir sollten demnächst einen Vorspieltermin an der Musikhochschule in Weimar für dich vereinbaren, damit du dich für ein Stipendium bewerben kannst.«

»Ja, Mutter«, antwortete ich. Das angesehene Konservatorium in Weimar war ihr Wunschtraum, nicht meiner; sie glaubte, mein Talent könnte mir den Weg in eine Karriere als Konzertsolistin ebnen – was ich davon hielt, interessierte nicht.

»Und du, meine Liebe?« Sie sah zu Liesel, die am Ende meiner Darbietung Beifall geklatscht hatte. »Möchtest du etwas auf dem Klavier für uns spielen?«

Verärgert nahm ich zur Kenntnis, dass meine Schwester im Gegensatz zu mir nach ihrer Meinung gefragt wurde, denn als sie einwandte: »Tut mir leid, aber ich habe Kopfschmerzen«, seufzte Mutter nur und schloss den Tastendeckel.

»Dann solltest du zu Bett gehen. Es ist schon spät, und wir müssen morgen früh aufstehen.«

Noch früher als sonst? Ich stöhnte innerlich. Das bedeutete, dass Mutter irgendwelche Aufträge für mich zu erledigen hatte, ehe ich zur Schule und sie zur Arbeit ging. Während ich meine Geige in ihrem Kasten verstaute, fragte ich mich, wozu wir überhaupt ein Hausmädchen hatten. Zog man die Menge unserer täglichen Pflichten und obendrein noch Mutters abendliches Putzritual in Betracht, war es doch reine Geldverschwendung, eine Haushaltshilfe zu bezahlen.

Dann sagte Mutter: »Ehe wir uns zur Ruhe begeben, habe ich euch noch etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Überrascht sah ich auf. Gespannt warteten wir, während sie auf ihre rauen Hände hinunterblickte, die mit noch so viel Creme nicht zu glätten waren – der sichtbare Beweis, dass Wilhelmine Josephine Felsing, die Witwe Dietrich, nicht mehr standesgemäß lebte. Trotz ihrer geschwollenen Fingerknöchel trug sie noch immer ihren goldenen Ehering, und auch jetzt fingerte sie daran herum. Irgendetwas an ihrer Geste machte mich nervös.

»Ich werde wieder heiraten.«

Liesel erstarrte. Ich fragte ungläubig: »Du heiratest? Wen denn?«

Mutter runzelte die Stirn. Ich machte mich schon darauf gefasst, ermahnt zu werden, keine vorlauten Fragen zu stellen, aber sie erwiderte nur: »Herrn von Losch. Wie ihr wisst, ist er Witwer und kinderlos. Nach reiflicher Überlegung habe ich beschlossen, seinen Antrag anzunehmen.«

»Herrn von Losch?« Jetzt war ich endgültig fassungslos. »Du willst den Mann heiraten, bei dem du als Putzfrau arbeitest?«

»Ich arbeite nicht als Putzfrau.« Obwohl Mutter die Stimme nicht hob, wurde ihr Ton scharf. »Ich kümmere mich um sein Haus. Ich bin bei Herrn von Losch die Haushälterin, seine Dienstmädchen putzen, und ich beaufsichtige sie. Sind deine Fragen damit beantwortet, Lena?«

Keinesfalls, mir schwirrten noch mindestens hundert Fragen im Kopf herum, aber ich sagte nur: »Ja, Mutter«, und trat schnell einen Schritt zurück, weil ich befürchtete, dass mir meine zweite Ohrfeige bevorstand.

»Die Hochzeit wird nächstes Jahr stattfinden.« Mutter stand auf und strich ihre Schürze glatt. »Ich habe mir Zeit erbeten, um mich vorzubereiten, und er hat sie mir eingeräumt. Selbstverständlich möchte ich zunächst eure Großmutter und Onkel Willi informieren, sie müssen ja ihre Zustimmung geben und mich zum Altar führen. Ich habe sie für morgen eingeladen, und bevor sie eintreffen, haben wir viel zu tun, wenn es hier einigermaßen ordentlich aussehen soll. Deshalb müssen wir früh aufstehen.«

Wenn sie nicht vorhatte, das gesamte Mobiliar neu zu arrangieren, wusste ich nicht, was es zu tun gab. Samstags gingen wir auf dem Markt einkaufen und schrubbten danach ohnehin die gesamte Wohnung, einschließlich jeden Winkels, den das Hausmädchen möglicherweise vernachlässigt hatte. Und ganz gleich, wie viel wir putzten, konnte trotzdem jeder sehen, dass wir – im Gegensatz zu Oma und Onkel Willi – in einer Mietwohnung lebten, die zwar nicht schäbig, aber auch alles andere als luxuriös war. Doch ich wagte nichts mehr zu sagen, zu erschütternd war Mutters Neuigkeit.

Liesel und ich würden einen Stiefvater bekommen, einen Mann, den wir überhaupt nicht kannten, und dennoch würde man von uns erwarten, dass wir ihm mit Respekt begegneten und ihm gehorchten.

»Wir haben noch nicht entschieden, wo wir wohnen wollen«, fuhr Mutter unterdessen fort, »aber ich gehe davon aus, dass wir nach der Hochzeit in sein Haus in Dessau ziehen werden. Nächste Woche werde ich hinfahren und sehen, ob es geeignet ist. In der Zwischenzeit dürft ihr niemandem ein Wort sagen. Ich möchte nicht, dass die Nachbarn unpassende Bemerkungen machen oder womöglich dem Vermieter Bescheid sagen, dass wir beabsichtigen zu kündigen. Ist das klar?«

»Ja, Mutter«, antworteten Liesel und ich wie aus einem Munde.

»Gut.« Unsere Mutter versuchte zu lächeln, aber sie hatte so wenig Übung darin, dass es eher einer Grimasse glich. »Geht euch das Gesicht waschen, und sprecht euer Abendgebet.«

Liesel sagte kein Wort, während wir in dem engen Badezimmer abwechselnd das Waschbecken benutzten, uns auszogen und dann in unsere schmalen, durch einen Nachttisch voneinander getrennten Betten schlüpften. Ich hätte den Arm ausstrecken und meine Schwester berühren können, aber ich lag nur reglos da und starrte an die Decke. Als ich dann Mutter in der Diele mit Lappen und Bohnerwachs hantieren hörte, flüsterte ich. »Warum tut sie das? In ihrem Alter?«

Meine Schwester seufzte. »Sie ist erst achtunddreißig. Herr von Losch ist Leutnant bei den Grenadieren, genau wie Papa. Er ist ganz sicher ein ehrenwerter Mann.«

»Achtunddreißig kommt mir so alt vor«, gab ich zurück. »Und woher sollen wir wissen, dass er ehrenwert ist? Was weiß Mutter über ihn, außer wie viel Stärke sie für seine Hemden benutzt? Außerdem ist Dessau so weit weg.«

»Lena.« Liesel wandte sich mir zu, ihre Augen schimmerten im Halbdunkel. »Sei nicht so hart mit ihr. Sie will nur das Beste für uns.«

Aus irgendeinem Grund bezweifelte ich das. Einen Fremden zu heiraten und unser Leben auf den Kopf zu stellen schien mir für niemanden das Beste zu sein – außer vielleicht für sie und Herrn von Losch.

»Eine alleinstehende Frau ist etwas Schreckliches«, fuhr Liesel fort. »Du verstehst das nicht, aber Witwe zu sein mit zwei halbwüchsigen Töchtern – das verlangt einer Frau viel ab.« Damit wandte sie sich ab und zog ihre Decke bis zum Kinn. Innerhalb weniger Minuten schnarchte sie.

Liesel würde keinen Einspruch erheben – was Mutter auch sagte oder tat, Liesel war einverstanden. Ob sie hier oder anderswo säße, war ihr vollkommen einerlei.

Doch bei mir war es anders. Ich hatte ein Geheimnis.

Die Fäuste um meine Decke gekrampft, konnte ich lange nicht einschlafen.

Kapitel 3

Missgelaunt schleppte ich mich durchs Wochenende. Mutter bemerkte es wohl oder übel, vor allem als Liesel mir auch noch zuflüsterte: »Jetzt schau doch nicht so finster drein!«, aber ich wurde nicht bestraft. Nachdem wir die ganze Wohnung einschließlich der Böden und Fenster auf Hochglanz gebracht hatten, erfuhren wir, dass Onkel Willi doch nicht kommen würde. Stattdessen verkündete Mutter zu meiner großen Freude, dass wir ihn in Berlin besuchen würden.

Ich liebte die Berliner Prachtstraße Unter den Linden mit ihren luxuriösen Warenhäusern, wo sich auch Onkel Willis Uhren- und Schmuckgeschäft »Conrad Felsing« befand. Er freute sich sehr, uns zu sehen, und führte uns zuerst in eine Confiserie, um uns mit Vanilletörtchen und Marzipan zu verwöhnen, von dort ging es zu heißer Schokolade ins Café Bauer in der Friedrichstraße. Ich war schon immer eine Naschkatze gewesen, und trotz Mutters Unnachgiebigkeit bei Tisch war sie diesem Laster gegenüber nachsichtig – wenn ein Mädchen ordentlich Fleisch auf den Knochen hatte, galt das für sie als Beweis, dass es aus einer guten, wohlhabenden Familie kam. Aber diesmal futterte ich die Leckereien nicht nur selbst, sondern wickelte heimlich auch ein paar Marzipanpralinen in mein Taschentuch und ließ das Päckchen – unter den entsetzten Blicken meiner Schwester – in meiner Tasche verschwinden, als Onkel Willi die Rechnung bezahlte.

Ihre bevorstehende Heirat erwähnte Mutter mit keinem Wort, jedenfalls nicht in unserer Gegenwart. Allerdings ging ich fest davon aus, dass sie Onkel Willi längst informiert hatte. Sie hielt nichts davon, ihre Entscheidungen mit uns zu besprechen, und natürlich stand es uns auch nicht zu, diese in Frage zu stellen.

Die anstehenden Veränderungen ließen in mir eine neue Aufsässigkeit aufbrodeln, so dass ich in der Schule nun offen um Mademoiselles Aufmerksamkeit buhlte. Als Erste präsentierte ich meine fehlerfreien Hausaufgaben, als Erste meldete ich mich auf jede Frage, die sie stellte, ohne auf die bösen Blicke meiner Mitschülerinnen zu achten, wenn sie mich für meinen Fleiß lobte.

»Nehmt euch ein Beispiel an Marie«, empfahl sie der Klasse und schenkte mir ihr Lächeln. »Sie hat gezeigt, dass man mit der richtigen Einstellung und dem nötigen Fleiß Französisch lernen kann.«

Da inzwischen fast alle den Verdacht hegten, ich hätte schon von Anfang an einen Vorsprung gehabt, machte ich mich natürlich nicht beliebter, aber auch das war mir gleichgültig. Es ging mir nur um Mademoiselles Wohlwollen, um ihre Zuwendung. Das Marzipan, das ich heimlich mitgenommen hatte, wickelte ich in kleine Stückchen Spitzenstoff, schmückte das Päckchen mit einer Mohnblume und legte jeden Tag eines davon beim Hinausgehen auf Mademoiselles Pult. Wenn sie dann sagte: »Wie aufmerksam von dir!«, murmelte ich bescheiden, mit gesenktem Blick: »De rien, Mademoiselle.« Natürlich waren die Marzipanpralinen vom Aufenthalt in meiner Tasche aus der Form geraten, aber das machte nichts – es zählte allein die Geste meiner Wertschätzung.

In der nächsten Woche lud Mademoiselle mich ein, nach der Schule einen kleinen Spaziergang mit ihr zu machen. Es war der Tag, an dem Mutter später nach Hause kommen würde, weil sie nach Dessau gefahren war, um von Loschs Haus in Augenschein zu nehmen. Obgleich ich versprochen hatte, sofort heimzugehen und Liesel bei der Hausarbeit und der Zubereitung des Abendessens zu helfen – wie nicht anders zu erwarten, war das Hausmädchen mal wieder entlassen worden –, nahm ich die Einladung an und wartete nach dem Unterricht vor dem Schultor auf Mademoiselle. Sie erschien, die Mappe wie immer prall gefüllt mit Büchern, auf dem Kopf einen Strohhut.

»Wollen wir?«, fragte sie, und ehe ich michs versah, schlenderte ich neben ihr den Boulevard hinunter, wo in Korsagen geschnürte Damen mit Sonnenschirmen, begleitet von Herren mit Bowlern, denen die goldenen Uhrketten aus den Westentaschen baumelten, ihre kleinen Hündchen spazieren führten und müde Gouvernanten ihre unwilligen Schützlinge hinter sich herschleppten. Es war gut möglich, dass mich jemand erkannte. Schöneberg war noch immer eine kaiserliche Garnisonsstadt, jeder kannte hier jeden. Ich senkte den Kopf, zog die Mütze tief ins Gesicht und hoffte, dass meine Schuluniform als Tarnung ausreichte. Zu meiner großen Erleichterung schenkte uns niemand viel Beachtung – die Herren zogen den Hut, die Damen murmelten guten Tag.

»Lass uns ins Café gehen«, schlug Mademoiselle vor, und als sie eines mit Marmortischchen im Freien entdeckte, steuerte sie darauf zu. Als ich ihr gegenübersaß, fiel mir auf, wie hübsch sie bei Tageslicht war: braune Augen mit grünen Sprenkeln, die Lippen so rosarot wie das Band an ihrem Strohhut. Ein paar ihrem Knoten entwischte Haarsträhnen klebten an ihrer Wange, und um der Versuchung zu widerstehen, sie davon zu befreien, musste ich die Hände auf dem Schoß verschränken.

Sie bestellte. Der Kellner runzelte die Stirn. »Kaffee für das Fräulein?«

»Wie dumm von mir«, lachte Mademoiselle. »Marlene, möchtest du lieber eine heiße Schokolade? Oder vielleicht eine Limonade?«

»Nein, danke«, antwortete ich und richtete mich auf. »Ich nehme gern einen Kaffee.«

Ich hatte noch nie Kaffee getrunken. Mutter trank stets Tee, wie es sich für eine anständige Dame gehörte. Ungeachtet seiner Beliebtheit war Kaffee ihrer Meinung nach nicht mehr als eine fremdländische Unsitte, die einen bitteren Nachgeschmack im Mund hinterließ.

Während wir auf unsere Bestellung warteten, nahm Mademoiselle mit einem Seufzer den Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, wodurch sich noch mehr Strähnen aus dem Knoten lösten und ihr ums Gesicht flirrten. Dann sah sie mich an und kam ohne Vorwarnung zur Sache: »Also, sag mir, was dich so quält.«

Ich erschrak. »Was mich quält? Nichts, Mademoiselle.« Außer dass ich Angst hatte, jemand, der Mutter kannte, könnte uns entdecken.

»Nein, nein.« Sie drohte mir mit dem Finger. »Ich habe genügend Erfahrung mit jungen Mädchen, um zu merken, wenn eine Schülerin etwas vor mir verbirgt.«

»Erfahrung?«

»Ja.« Sie nickte, als der Kellner zwei Tassen mit dem dunklen Gebräu vor uns auf den Tisch stellte, goss sich aus einem kleinen Krug Sahne in ihre und streckte mir dann den Krug entgegen. »So schmeckt er milder. Nimm ruhig auch ein bisschen Zucker.« Ich bediente mich, und sie fuhr fort: »Ehe ich die Stelle an deiner Schule bekommen habe, war ich Gouvernante in einem großen Haus. Ich hatte drei Kinder zu betreuen, deshalb sehe ich es sofort, wenn ein junger Mensch nicht wagt, über das zu sprechen, was ihm durch den Kopf geht.«

Für einen lähmenden Moment dachte ich, sie wäre mir auf die Schliche gekommen und ich hätte mich mit meinen Marzipangeschenken und meiner Gier nach Aufmerksamkeit verraten. Doch dann erkannte ich, dass sie weder verärgert noch beunruhigt wirkte, sondern ihren Blick so offen und direkt auf mich richtete wie eh und je. »Ich verspreche dir, dass ich alles für mich behalte, was du mir erzählst«, fügte sie hinzu.

»Wie … wie bei einem Geheimnis?«, fragte ich. Dann nippte ich an dem Kaffee, der schmeckte wie süßer geschmolzener Samt.

»Ja. Un secret entre nous. Alles, was du mir anvertraust, wird unter uns bleiben.«

Mein Französisch war zwar gut, nicht aber gut genug, um meine Gefühle in diesem Moment zu beschreiben, die so neu und aufregend waren. Noch nie hatte jemand mich gefragt, wie ich mich fühlte, geschweige denn, welche Gedanken mir durch den Kopf gingen. Als wäre Mutter an meiner Seite, hörte ich ein scharfes Wispern in meinem Ohr: Wir zeigen unsere Gefühle niemals in der Öffentlichkeit.

Ich wandte meinen Blick von ihr ab. »Es ist wirklich nichts«, murmelte ich.

Ihre Hand legte sich auf meine. Ihre Finger waren warm, ich spürte die Wärme bis in die Zehen. »Bitte. Ich will dir helfen. Wenn ich kann.«

War ich so leicht zu durchschauen? Oder lag es daran, dass bis zu diesem Moment niemand sich dazu herabgelassen hatte, mich als einen Menschen mit Gefühlen wahrzunehmen?

»Es … es ist meine Mutter. Sie will wieder heiraten.«

»Das ist alles? Ich hatte den Eindruck, es geht noch um etwas anderes.«

»Worum denn?« Ich hatte furchtbare Angst, was sie noch alles erraten haben mochte, und machte mich auf das Schlimmste gefasst: dass sie mir sagte, meine Zuneigung sei zwar schmeichelhaft, aber zwischen einer Schülerin und ihrer Lehrerin unpassend.

Stattdessen antwortete sie: »Ich dachte, es gäbe vielleicht einen Jungen, den du magst. Oder womöglich ein Frauenproblem?«

Ich verstand, was sie meinte, schüttelte jedoch den Kopf. Vor drei Monaten hatte ich meine erste Regelblutung gehabt.

»Dann geht es nur darum, dass deine Mutter wieder heiratet? Warum ist das so schrecklich? Magst du ihren Zukünftigen nicht?«

»Ich kenne ihn gar nicht. Mein Vater ist gestorben, als ich sechs war. Bis jetzt waren wir immer nur zu dritt, Mutter, meine Schwester und ich …« Ehe ich michs versah, erzählte ich ihr alles, von dem drohenden Umzug nach Dessau, von meinem Geigentalent und von Mutters Traum, mich auf die Musikhochschule zu schicken. Erst als ich kurz davor war, Mademoiselle zu beichten, dass auch sie mir Probleme bereitete, weil ich keine Worte für meine Gefühle fand, aber um jeden Preis in ihrer Nähe bleiben wollte, bremste ich mich.

Sie nippte an ihrem Kaffee. »Ich verstehe, dass man vor Veränderungen Angst hat«, sagte sie schließlich. »Aber ich habe den Eindruck, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Deine Mutter scheint eine anständige Frau zu sein, und jetzt hat sie einen Mann gefunden, der für sie sorgen will. Und du möchtest doch, dass sie glücklich ist, nicht wahr? Dessau ist nicht sehr weit weg, bestimmt gibt es dort gute Schulen und auch Mädchen, mit denen du dich anfreunden kannst.« Sie hielt inne. »Hier hast du keine Freundschaften geschlossen, dabei versucht das dunkelhaarige Mädchen neben dir – ich glaube, sie heißt Hilde – ständig, dich auf sich aufmerksam zu machen. Aber du verhältst dich, als wäre sie unsichtbar.«

Wirklich? Mir war das nicht aufgefallen. Andererseits achtete ich in der Schule derzeit auch auf nichts anderes als auf Mademoiselle.

»Ein Mädchen wie du, so hübsch und intelligent«, fuhr sie fort. »Wenn du wolltest, könntest du hundert Freundinnen haben. Aber du probierst es nicht einmal, oder?«

Jetzt hatte das Gespräch eine unangenehme Wendung genommen – ich wollte nicht über meinen Mangel an Freundinnen reden, sondern …

Mademoiselle deutete auf meine Tasse. »Du solltest den Kaffee trinken, ehe er kalt wird.«

Während ich den inzwischen lauwarmen Kaffee hinunterstürzte, betrachtete sie mich mit dieser irritierenden Kombination aus Offenheit und Einfühlungsvermögen, die mir das Gefühl gab, dass sie meine tiefsten Gedanken lesen konnte.

»Weißt du, was ein cinématographe ist?«, fragte sie auf einmal.

»Ein – was?« Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte.

»Na, wie sagt man gleich – bewegte Bilder. Film.«

Davon hatte ich schon gehört, war jedoch noch nie in einem Filmtheater gewesen, denn Mutter lehnte so etwas strikt ab.

»Du hast noch nie einen Film gesehen«, interpretierte sie mein Schweigen. »Wundervoll! Ganz hier in der Nähe gibt es ein Lichtspielhaus – es ist zwar nicht so eindrucksvoll wie die Filmpaläste in Berlin, aber dafür auch nicht so teuer. Möchtest du hingehen? Ich liebe das Kino, das ist die Zukunft. Heute wird In Nacht und Eis gezeigt. Sagt dir der Untergang der Titanic etwas?«

Ich nickte. »Die Titanic ist auf einen Eisberg aufgelaufen und gesunken.« Ich erinnerte mich noch gut an das Unglück, zwei Jahre war es her, und sämtliche Zeitungsjungen hatten die Schlagzeilen tagelang durch die Straßen gebrüllt.