Über Anneliese Mackintosh

Anneliese Mackintosh ist Absolventin der Universität von Nottingham und hat einen Master in Creative Writing. Sie lebt in Manchester und Cornwall. 2016 erschien im Aufbau Verlag ihr preisgekrönter Erzählband »So bin ich nicht«. »Verdammt perfekt und furchtbar glücklich« ist ihr Romandebüt. Mehr zur Autorin unter www.anneliesemackintosh.com

Gesine Schröder, geb. 1976, studierte in Kiel und Berlin. Sie übersetzte u.a. Kim Edwards und Curtis Sittenfeld aus dem Englischen.

Informationen zum Buch

»Jane Austens Emma, in Alkohol getränkt.« The Guardian

Ottila McGregor möchte glücklich werden und zwar verdammt perfekt und furchtbar glücklich. So erklärt sie es ihrem Therapeuten. Noch aber hat sie eine zerstörerische Affäre mit ihrem Chef, verschickt nachts verzweifelte Nachrichten, nur um es hinterher zu bereuen, und trinkt zu viel. Viel zu viel. Um den Tod ihres Vaters zu vergessen, und dass sie ihre Schwester im Stich gelassen hat.

Bis sie Thales begegnet und sich verliebt. Aber er ist nicht die Lösung der Probleme. Im Gegenteil, mit ihm fängt die Auseinandersetzung erst an.

»Verdammt perfekt und furchtbar glücklich« ist eine mitreißende Tragikomödie der Generation Smartphone.

»Man muss dieses Buch lieben, vor allem das Bild dieser funkelnden Großstadt-Singlefrau, die versucht, diesmal alles richtig zu machen – witzig, direkt, warmherzig, oft alles auf einmal.« The Daily Mail

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Anneliese Mackintosh

Verdammt perfekt und furchtbar glücklich

Roman

Aus dem Englischen von
Gesine Schröder

Inhaltsübersicht

Über Anneliese Mackintosh

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Am Schwarzen Brett der ambulanten Chemotherapie

Mitschnitt einer Therapiesitzung

Das kleine Buch vom Glück

Was Sie tun können, statt zu trinken

Maggie’s Centre

Burns Supper

Nachricht in einer Sandwich-Packung

Das Treffen auf neutralem Boden

Das kleine Buch vom Glück

Nach vorn schauen kann nur, wer sich vergibt

In eine Trauerratgeberbroschüre eingeheftete Notiz

Luperkalien

Mitschnitt einer Therapiesitzung

Aus dem Gästebuch des Manchester Museum

Das kleine Buch vom Glück

Exposé

Mantra der Woche

Anamnese zu Frau Mina McGregor

Kapitel 2

Paralleluniversum

Eine frühe Erinnerung

Maggie’s Centre

Brief an Thales

Seite 41 des FoodSaver-Handbuchs für Wein-Fans 2014

Das kleine Buch vom Glück

Mitschnitt einer Therapiesitzung

Brief vom Manchester Museum

Erinnerung an Grace

Totenschein

Blogbeitrag von TeamEdward247

Mantra der Woche

Info-Broschüre zur Elektrokrampftherapie

Statusbericht

Schuld

Das kleine Buch vom Glück

Mitschnitt einer
Therapiesitzung

Klettern

Kapitel 3

Eine Erinnerung

Mit wem verbringen Sie Ihr Leben?

Maggie’s Centre

Brief an Mina

Alter Brief von Mina

Google-Suchanfragen

Der Kuss

Mitschnitt einer
Therapiesitzung

Das kleine Buch vom Glück

Seite 32 meines Notizbuchs

Porträt von Delyth

Ottilas Förderantrag, erster Entwurf

Mantra der Woche

Das kleine Buch vom Glück

Haushaltsplan

Jambalaya-Zutatenliste

Thales’ Förderantrag, erster Entwurf

Brief an Mina

Was ich noch gar nicht wusste

Antwort des BFUK

Das kleine Buch vom Glück

Von Thales mit Kühlschrankmagneten geschrieben

Auf einer Zugfahrkarte nach Stockport

Alter Brief von Reatha

Antwort der Arts Grants Inc.

Brief von Thales

Manchmal tut es einfach gut zu weinen

Kapitel 4

Notfall?

Familientreffen

Mitschnitt einer
Therapiesitzung

Was ich noch alles nicht wusste

Brief von Thales

Das kleine Buch vom Glück

Erinnerung an Ben

Nachricht von Ben

Mantra der Woche

Ben

Sei brav. Mir zuliebe.

Mailbox-Nachricht an Mum

Mailbox-Nachricht von Mum

Das kleine Buch vom Glück

Schadensbegrenzung im Fall der Fälle

Ungeöffneter Brief von Mina

Danach

Maggie’s Centre

Brief an Mina

Mitschnitt einer Therapiesitzung

Das kleine Buch vom Glück

Tod eines Wikingers

Brief an Dad

Erinnerung an Dad

Kapitel 5

Drehbuch

Maude

Das kleine Buch vom Glück

Bewerbung

Post für Thales

Das kleine Buch vom Glück

Maggie’s Centre

Ottilas Antrag

Das kleine Buch vom Glück

Lieblingskreaturen aus dem Monsterhandbuch

Was Sie tun können, statt zu trinken Aufputschpillen zu nehmen

Eine neuere Erinnerung

Das kleine Buch vom Glück

Nachricht in einer Sandwich-Box

Steine

Weihnachtskarte an Thales

Bericht der Pflegedienstleitung

Brief von Mina

Neujahrsvorsätze

Postkarte von Thales

Mitschnitt einer
Therapiesitzung

Der Beginn eines ganz neuen Kapitels

Gruß

Das kleine Buch vom Glück

Danksagungen

Impressum

1

Glück ist der Sinn und Zweck menschlichen Lebens, das höchste Gut und das Endziel, nach dem alles strebt.

ARISTOTELES

SMS an André

Di. 31.12. 22:41

Du bist verheiratet und MIR REICHTSS
ich will dich nie wieder sehen außer bei der Arbeit verdmmt

SMS an Mina

Mi. 01.01. 00:41

Scheiß drauf andre. Ich will dich<3<3

SEX EMOJIIS!

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SMS an Mina

Mi. 01.01. 00:48

Oooops sorry schweste. .das war fr meinen chef. FROHS NEUESS!! Hoffe die gehts in 2014 besser
Wodka is nixxgut xxx

Am Schwarzen Brett der ambulanten Chemotherapie

Dryuary – Weltweit entscheiden sich immer mehr Menschen einen Monat lang für Selters statt Sekt.

In den USA heißt es Dryuary, in Finnland Tipaton tammikuu, und wir kennen es als Trockener Januar, Janopause, Neinuar oder einfach Trockenzeit. Aber egal, wie man es nennt, das Ergebnis ist dasselbe: Wer 31 Tage lang die Finger von der Flasche lässt, startet glücklicher und gesünder ins neue Jahr.

Ob Sie Ihr Gewicht reduzieren, Ihren Cholesterinspiegel senken, Schlafstörungen bekämpfen oder Ihr Sozialleben verbessern wollen – von diesem guten Vorsatz hat wirklich jeder etwas!*

Übrigens mindert ein Verzicht auf Alkohol Nebenwirkungen wie Übelkeit und Schleimhautschäden bei der Chemotherapie!

Sprechen Sie mit unserer Mitarbeiterin Linda an der Rezeption und gönnen auch Sie sich einen Trockenen Januar.

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* Wenn Sie befürchten, Sie könnten alkoholabhängig sein, lassen Sie sich vor der Teilnahme UNBEDINGT VON IHREM HAUSARZT BERATEN. Ein kalter Entzug könnte lebensbedrohlich sein.

Mitschnitt einer Therapiesitzung

PAT.: Ich heiße Ottila. O, Doppel-T, I  ja, genau. Bisschen komisch, ich weiß. Mein Vater hat mich immer »die Hunnin« genannt, weil der Name so ähnlich klingt wie König Attila.

THERAP.: Beginnen wir doch damit, was Sie hergeführt hat, Ottila, wie wäre das?

PAT.: Okay, aber  ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.

THERAP.: Wo immer Sie wollen. Lassen Sie sich Zeit.

PAT.: Also  tja. Das war vor anderthalb Wochen, kurz nach Silvester. Ich habe so eine  eine Art Affäre mit meinem Chef. Ich arbeite im Maggie’s Centre, dem Beratungszentrum für Krebsbetroffene im Christie-Krankenhaus.

THERAP.: Das klingt nach einer befriedigenden Arbeit.

PAT.: Ist es auch. Das Maggie’s ist großartig. Man muss gar nicht selbst Krebs haben, um da Hilfe zu bekommen. Es ist für alle, die irgendwie betroffen sind, auch Angehörige und Freunde. Ich bin hingegangen, als mein  ein paar Wochen lang, nur um wieder klarzukommen. Und jetzt, zwei Jahre später, arbeite ich selbst da. Marketing und Unternehmenskommunikation.

THERAP.: Und was war nun mit Ihrem Chef?

PAT.: Als ich damals Hilfe brauchte, hat er mich beraten, aber im Oktober habe ich dann den Job bei ihm angenommen, und nach ein paar Wochen haben wir  ich habe echt versucht, mich nicht drauf einzulassen. Aber irgendwie, so ein verheirateter Mann  keine Ahnung. Anscheinend liebe ich das Chaos.

Kurz vor Weihnachten hat er sich ohne Vorwarnung von seiner Frau getrennt. Damit waren die ganze Spannung und das Risiko weg. Aber jedes Mal, wenn ich Schluss mache, besaufe ich mich, und dann geht wieder alles von vorne los. Dabei ist es gleich mehrfach idiotisch, was mit André zu haben. Nicht nur weil er mein Chef ist und weil er vorher mein Trauerbegleiter war. Er ist außerdem vierundvierzig und ein eingefleischter Konservativer. Tory-Mitglied sogar. Im Urlaub macht er Zorbing.

THERAP.: Das klingt, als hätten André und Sie beide schwere Zeiten durchgemacht. Aber wenn er Ihr Chef ist 

PAT.: Er hat mich angesteckt.

THERAP.: Angesteckt?

PAT.: Mit einer Geschlechtskrankheit. Bakterielle Vaginose. Kann man das überhaupt von einem Mann kriegen? Ich habe es jedenfalls gekriegt, und es war eklig, und ich glaube, er war schuld.

THERAP.: Sind Sie damit beim Arzt gewesen?

PAT.: Ja, klar. Musste ich ja. Der Geruch  Und das ist mein Problem: Ich muss Tabletten nehmen, Metro-blabla-zol. Und sie hat gesagt, also die Ärztin, dass ich währenddessen auf gar keinen Fall trinken darf. Mindestens zehn Tage lang.

THERAP.: Hat sie erklärt, warum?

PAT.: Sie hat gesagt, es ist wie bei Antabus, was Alkoholiker kriegen, damit sie nicht rückfällig werden. Wenn man dann den kleinsten Schluck trinkt oder auch nur Parfüm auf die Haut sprüht, ist direkt Sense.

THERAP.: Also, ganz so extrem 

PAT.: Jedenfalls, davor hatte ich versucht, einen Trockenen Januar zu machen, aber keine Chance. Davon stand was am Schwarzen Brett bei der Arbeit, und ich dachte, ich probiere es mal. Ich bin dreißig. Ich kann nicht ewig so weitermachen mit der Sauferei, mit den falschen Männern, und dann schicke ich Sexnachrichten an meine Schwester. So erbärmlich. Aber leider hatte ich niemandem erzählt, dass ich das mache, vor allem Grace nicht 

THERAP.: Grace?

PAT.: Meine beste Freundin. Ich bin immer wieder eingeknickt und mit ihr feiern gegangen. Ehrlich gesagt habe ich auch zu Hause ohne sie gesoffen. Als die Ärztin dann meinte, ich dürfte auf keinen Fall zu den Tabletten Alkohol trinken, dachte ich, okay, das war’s jetzt. Zehn Tage muss ich durchhalten, egal, was kommt.

THERAP.: Und wie war es?

PAT.: Am ersten Abend hatte ich verschwitzte Hände und Herzrasen, aber ich wollte es durchstehen und bin zu Hause geblieben. Ich hab mich ins Bett verkrochen und Zeichentrickfilme geguckt, die ich als Kind mochte, GRAF DUCKULA und CAPTAIN PLANET. Es war die schlimmste Nacht seit Langem.

Am nächsten Morgen bin ich zur Arbeit. André zu sehen war nicht gerade schön, und es ging mir immer noch dreckig wegen dieser Infektion, und als ich nach Hause kam, stand da Wein im Kühlschrank. Er gehörte Laurie, meinem Mitbewohner. Und der war nicht da.

Ich musste so kotzen, dass mir die Rippen wehtaten. Als ich den Notarzt angerufen habe, wusste ich meine Adresse nicht mehr.

Irgendwie haben sie mich gefunden und mich mit Nadeln und Schläuchen und Fragen malträtiert. Als ich in den Wagen verladen wurde, kam Laurie nach Hause. Er hat mir zugenickt, »gute Besserung« gesagt und ist reingegangen. Dann war ich erst mal weg und bin im Krankenhaus wieder aufgewacht. Ich hing am Tropf und hatte einen Riesenhass auf mich.

THERAP.: Das muss beängstigend gewesen sein.

PAT.: Am nächsten Tag habe ich mich krankgemeldet. Und André von der Geschlechtskrankheit erzählt. Er hat sich gleich testen lassen, und es hat mich fast geärgert, dass da nichts war. [ Pause. ] Entschuldigung, könnte ich ein Glas Wasser haben? [ Gedämpfte Geräusche. Die Aufnahme wird gestoppt und wieder gestartet. Weitere Geräusche. ]

THERAP.: Bitte sehr.

PAT.: Danke. Tut mir leid.

THERAP.: Kein Problem. Dann war es die Sache mit den Tabletten, die Sie hergeführt hat? Deswegen wollen Sie mit dem Trinken aufhören?

PAT.: Damit hat es angefangen, aber es ist auch alles andere. Die Cuts, die ich mir zur Strafe in die Waden geritzt habe, als ich Lauries Wein getrunken hatte. Die fangen gerade erst an zu heilen. Oder dass mir im Krankenhaus klar wurde, dass meine Freunde lieber gefeiert haben, als mich zu besuchen. Und dass ich eigentlich weiß, dass ein Trockener Januar nicht reicht. Ich muss weiter gehen. Ich muss für immer trocken bleiben.

THERAP.: Sie wollen also selbst die Kontrolle übernehmen, statt dass der Alkohol Ihr Leben kontrolliert?

PAT.: Ich will endlich wieder wissen, wer ich bin. Morgens probiere ich immer irgendwas zu machen, das mir guttut. Eine Banane essen, meditieren, Fotos von Leberzirrhose googeln. Manchmal schreie ich auch in mein Kissen.

THERAP.: Hilft es Ihnen?

PAT.: Ach, weiß nicht. Wenn ich richtig mit André Schluss machen könnte  Vielleicht kann ich nicht anders, als ständig mein Glück zu sabotieren.

THERAP.: Sie haben die Hände zu Fäusten geballt. Könnten Sie mir beschreiben, wie Sie sich gerade fühlen?

PAT.: Ich habe in letzter Zeit an eine Sache denken müssen, die mir im Studium passiert ist. Das klingt jetzt vielleicht nicht wichtig, oder als wäre ich total verwöhnt 

THERAP.: Erzählen Sie.

PAT.: Nach dem ersten Studienjahr sollen die Studenten nicht mehr auf dem Campus wohnen. Man soll sich was Eigenes suchen und wie ein richtiger Erwachsener leben. Meine Freunde und ich haben die Wohnungssuche ewig vor uns her geschoben. Wir hatten andere Sorgen, zum Beispiel wo wir donnerstags hin sollten – in den Indie-Club oder den Goth-Schuppen? Also haben wir nur in einem wirklich miesen Stadtteil was gefunden. Nachts hat man Schüsse gehört, und als Beth einmal morgens loswollte, waren Blutflecken vor unserer Tür.

Zum Campus waren es zwei Stunden zu Fuß. Ich habe im ganzen nächsten Jahr keine Neun-Uhr-Seminare besucht. Es gab auch einen Bus, aber der kam nicht immer, und ich fand ihn sowieso zu teuer. Meine Ernährung bestand aus einem Becher Nudeln mit Soße für sieben Pence pro Tag, den Rest habe ich für Fosters und Wodka-Cola ausgegeben. [ Kaum hörbarer Seufzer. ] Den Weg zur Uni habe ich gehasst, jede einzelne Sekunde. Und das Studium mochte ich auch nicht und habe mich dafür geschämt. Ich wusste, was für ein Privileg es war. Mum und Dad waren stolz auf mich, meiner Schwester ging es immer schlechter, und ich musste die Gesunde sein, nur deshalb habe ich es nicht hingeschmissen.

THERAP.: Gab es etwas Bestimmtes, von dem Sie erzählen wollten?

PAT.: Ja, einmal  es war gar kein besonderer Tag, bisschen regnerisch und bedeckt. Als ich da total verkatert zur Uni losgelaufen bin, an einer Seitenstraße vorbei, die mit Polizeiband abgesperrt war, dachte ich: Entscheide dich doch einfach, Ottila. Entscheide dich dafür, den Weg nicht mehr schlimm zu finden. Beschließe, damit klarzukommen. Und das tat ich dann auch. Keine Ahnung, wie es funktioniert hat, aber von dem Moment an hat mir der Weg zur Uni nie wieder was ausgemacht. Ich bin ihn sogar gern gegangen.

Ich dachte, so könnte ich es auch mit meinem Leben ohne Alkohol machen. Damit klarkommen. Keine Hibbeligkeit mehr, keine dauernde Fehlersuche, keine Affären. Einfach klarkommen. Deshalb sitze ich heute hier. Weil ich nie wieder trinken werde und nur noch monogamen Sex haben will. Keine Seitensprünge, und zwar von jetzt an für alle Zeit. Ich will ein guter Mensch sein. Und glücklich. Verdammt perfekt und furchtbar glücklich.

Dafür könnte ich Hilfe brauchen.

Wer das Glück sucht, muss sich selbst den Weg leuchten.

CHARLES EDWARD JERNINGHAM

Das kleine Buch vom Glück

Liebes glückliches kleines Dreckstück,

wer kommt denn bitte auf so was wie Das kleine Buch vom Glück? Warum nicht über das Glück, und wieso klein? Als mir dein blasierter Titel auf dem Regal entgegengrinste, wusste ich gleich, dass ich dich scheiße finden würde.

Kleines Buch vom Glück. Als könnte man alles über das Glück in so ein blödes kleines Bändchen stopfen. Trotzdem musste ich dich heute Morgen aus dem Regal ziehen und durch die halb leeren Seiten mit den debilen Sprüchen blättern. Und trotzdem musste ich dich einstecken und von der Arbeit mit nach Hause nehmen. All die Krebspatienten, die jetzt meinetwegen nicht den Weg ins Nirwana finden!

Es tut mir nicht besonders leid, dich geklaut zu haben. Dass ich angefangen habe, deine Seiten rauszureißen, schon eher. Aber es ist für einen guten Zweck – das habe ich im Maggie’s Centre gelernt, als ich noch Besucherin war. Ich mache ein Trauer-Scrapbook aus dir. Nur dass niemand gestorben ist, zumindest nicht in der letzten Zeit. Ich trauere um den Alkohol, vielleicht reicht das ja schon als Grund.

Um mich auf die Füße zu stellen, braucht es mehr als ein dummes, glückliches Buch, also pimpe ich dich mal ein bisschen. Kleb dir neue Seiten ein, lass dich eine Weile von meinem Scheißleben erzählen. Wenn ich fertig bin, bist du das DICKE FETTE BUCH VOM VERDAMMT PERFEKTEN GLÜCK, und ich werde dann seit einem ganzen Jahr keinen Alkohol mehr getrunken haben. Wirst schon sehen, Freundchen, wirst schon sehen.

Deine

Ottila McGregor, die ab jetzt alles anders macht

Was Sie tun können, statt zu trinken

1. Ein Buch lesen   KANN MICH NICHT KONZENTRIEREN

2. Autofahren   KEIN FÜHRERSCHEIN

3. Sport treiben   WAHRSCHEINLICH!

4. Tanzen, als ob niemand zuschaut   DA KRIEG ICH LUST AUF ALK

5. Die Katze streicheln IST TOT

6. Ihre Mutter anrufen   HAT KEINE ZEIT

7. Einem Kind etwas vorlesen   VOLL CREEPY!

8. Jemanden im Altenheim besuchen   NOCH CREEPIER..

9. Eine Stunde lang in Reimen reden   ULTRACREEPY

10. Das Bad putzen   ALS OB

11. Marmelade kochen   VERPISS DICH

12. Spazieren gehen   SELBER

13. Musik hören   DA KRIEG ICH LUST AUF ALK

14. Ein Schaumbad einlassen   SCHADET MEINER MÖSE

15. Gemüse einwecken   WER BIST DU ÜBERHAUPT?.

16. Eine/n Freund/Freundin besuchen   UND SAUFEN

17. Eine Maniküre machen   DANN DOCH LIEBER SAUFEN

18. Ein Gedicht schreiben   LIEBER SAUFEN

19. Die Wäsche waschen   1000 MAL LIEBER SAUFEN!

20. Sich frisch verlieben
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Namensschild

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Maggie’s Centre

Maude ist um die achtzig. Sie hat rheumatoide Arthritis und einen Hirntumor Grad drei und kommt reingestürmt, als wäre nichts dabei. »Guten Morgen, ulubieńcu«, sagt sie und setzt Wasser auf.

Maude ist gar keine Polin, sondern war mit einem Polen verheiratet. Ihr Mann ist vor Jahrzehnten gestorben – keine Ahnung, woran, aber Maude ist deshalb in den Neunzigern nach England zurückgekommen. Von dem Mann habe ich sie nur einmal reden hören, aber in Maudes leckeren pierniki toruńskie und ihren polnischen Vokabeln lebt er weiter. Der Tumor schlägt ihr aufs Gedächtnis, aber mit den polnischen Wörtern hat sie nie Probleme. Manchmal glaube ich, dass sie damit ihre englischen Gedächtnislücken kaschiert.

Heute hat sie keine von ihren Thorner Lebkuchen mitgebracht. Vielleicht ist es das erste Mal, dass ich sie ohne eine Tupperdose voller Backwaren hier reinmarschieren sehe. Während das Wasser heiß wird, beugt sie sich runter, macht ihren Einkaufstrolley auf und kramt ein Päckchen raus, das in Papier eingewickelt ist.

»Was glaubt ihr wohl, was ich hier habe?« Sie stützt eine Faust auf die Hüfte und schaut herausfordernd in die Runde. Allerdings besteht diese Runde nur aus zwei Personen. Ich mache gerade Pause, und ein neuer Besucher namens Rajesh kauert ein Stück entfernt auf einem der Sofas und liest eine Infobroschüre. Vor zehn Minuten hat er noch geweint, und seitdem sitzt er da und liest.

Eine der Besonderheiten aller Maggie’s Centres ist ihre schöne Architektur. Große Fensterflächen, viel Holz, viele ungeteilte Räume. Es gibt Rückzugsmöglichkeiten, falls man sie braucht, aber ansonsten möglichst wenig Wände. So fühlt man sich nie allein, wenn nur irgendwo anders im Gebäude irgendjemand ist. Bei meinen vorigen Jobs bin ich in den Pausen, so weit ich konnte, vor dem Büro geflüchtet. Jetzt fühle ich mich bei der Arbeit manchmal wohler als anderswo. Zumindest war das so, bis das mit André angefangen hat.

»Keine Ahnung, was da drin ist«, sage ich, nehme das Päckchen und betaste es.

Maude zuckt zusammen »Oh, da wär ich vorsichtig! Wie wär’s mit einem Tee?«

Ich stelle das Päckchen auf den Tisch. »Sehr gern.« Eigentlich sollte ich ihr Tee anbieten, aber Maude würde nur sagen, ich solle mich auf meine vier Buchstaben setzen.

Sie hängt Teebeutel in zwei Becher, legt ihre Jacke über eine Stuhllehne und streicht sie glatt. Dann geht sie zum Sofa, setzt sich neben Rajesh und spricht ihn an. »Ich bin Maude«, sagt sie. »Schön, dass Sie hier sind.«

Rajesh schaut von der Darmkrebs-Broschüre auf.

»Ein Tässchen Tee, przyjaciel?«

Rajesh schüttelt den Kopf.

Maude ergreift seine Hand und tätschelt sie. »Ich bin jedenfalls hier, wenn Sie mich brauchen.«

Manchmal vergisst man, dass Maude nicht zum Personal gehört. Sie ist unsere ausdauerndste Besucherin: Seit sieben Jahren kommt sie schon ins Maggie’s Centre. 2007 hatte sie Brustkrebs, wurde nach einer doppelten Mastektomie wieder geheilt und kam trotzdem weiter her, um andere Besucher zu unterstützen. Und dann, vor zwei Jahren, wurde bei ihr der Hirntumor diagnostiziert. Das Leben ist manchmal so ungerecht. Obwohl, was heißt schon ungerecht. Wir müssen alle leiden.

Maude reibt sich die Schläfen und kommt zurück in den Essbereich. »Erzähl mal, Ottila«, sagt sie, gießt den Tee auf und setzt sich zu mir an den Tisch. »Hast du schon mit diesem Jungen geredet, in der Cafeteria im Hauptgebäude?«

Ich versichere mich, dass André nicht da ist. Vertrauliche Gespräche funktionieren hier logischerweise nicht so gut, also nicke ich nur und werde rot.

»Braves Mädchen. Und, was denkst du, hat er eine dziewczyna?«

»Ich habe diese Woche vier Sandwiches gekauft, um so viel wie möglich rauszukriegen.« Überraschend viel sogar, dafür, dass wir nur so kurz geredet haben. Thales schreibt in seiner Freizeit Drehbücher. Ich habe ihm erzählt, dass ich schon Erzählungen und Stücke geschrieben habe, und er meinte, sein Lieblingsautor sei Pessoa. Den kenne ich nicht mal, und das ist toll. Gestern habe ich es geschafft, zur selben Zeit Pause zu machen wie er, und wir haben wie zwei alte Kumpel in Winterjacken in der Sonne gesessen und gequatscht. Ich habe mein Alkoholproblem erwähnt, und er ist supernett damit umgegangen. Total natürlich und unkompliziert.

Außerdem weiß ich, wo er wohnt – was nicht creepy klingen soll –, und das ist ganz bei mir in der Nähe. Nicht, dass das irgendwie wichtig wäre, denn wenn wir zusammen wären – total voreilig, ich weiß, aber wenn –, würde ich quer durch den Großraum Manchester zu Fuß laufen, um mich mit ihm zu treffen. Zufällig wohnt er aber in Chorlton, keine drei Straßen von mir entfernt. Wenn ich aus meinem Wohnzimmerfenster schaue, kann ich fast das Dach seines Hauses sehen. Und was noch besser ist: Es gibt einen Zufahrtsweg, der von meiner Straße über die Chandos Road und die Ellesmere Road bis zur Egerton Road North führt, bis direkt bei ihm gegenüber. Ich bin probeweise mal da durchgelaufen und war in vier Minuten drüben.

»Er ist frisch getrennt«, sage ich zu Maude. »Ich habe vier Tage lang gegrübelt, wie ich ihn nach seinem Beziehungsstatus fragen soll, ohne total plump rüberzukommen. Dann hat er es ganz von selbst erzählt. Seine Freundin ist vor Kurzem bei ihm ausgezogen und hat die Hälfte seiner Sachen mitgenommen.«

»Na, das klingt ja, als wäre die Bahn frei. Dann solltet ihr euch schleunigst verabreden.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht braucht er noch ein bisschen Zeit.« In Wahrheit muss ich an André denken. Vielleicht bin ich es, die Zeit braucht. Ich habe immer noch nicht offiziell mit ihm Schluss gemacht. Dafür ignoriere ich seit fast einer Woche sehr verantwortungsvoll seine SMS. Ich weiß, dass es nicht die hohe Schule des Feminismus ist, sich einen netten neuen Mann zu suchen, damit er einem das Leben repariert, aber das hier fühlt sich irgendwie ganz anders an. Vielleicht, weil ich mit Thales nur nüchtern geredet habe und es trotzdem richtig Spaß macht mit ihm.

Überhaupt ist er so viel mehr als eine Ablenkung vom Trinken. Wie schwer es mich erwischt hat, merke ich schon daran, dass ich mir seit Tagen leise seinen Namen vorsage. Seine Eltern sind Griechen. Für Griechen habe ich schon immer was übriggehabt. Sie haben ihn nach einem der Sieben Weisen benannt.

»Papperlapapp. Rüber mit dir in die Cafeteria, und schmeiß dich ran. Das Leben ist kurz, kann ich dir leider sagen.« Maude wirft einen Blick auf Rajesh. Er hat die Broschüre beiseitegelegt und das Gesicht in den Händen vergraben. Mairi, eine der Betreuerinnen, wird bald hier sein und mit ihm reden. Sie kann sehr gut trösten; ich hoffe, er kommt klar.

»Ich könnte ihn natürlich mal fragen. Oder ich schreibe ihm stattdessen was, also eine Art Einladung, aber in Form einer Geschichte oder so.«

»Das wäre dann die feige Variante.« Maude pustet in ihren Becher und nippt an dem Tee. Ich frage mich, was sie sagen würde, wenn sie von meinem Alkoholproblem wüsste. Wenn sie wüsste, dass ich mir jeden Abend zu Hause die Fingerknöchel wund beiße, um die Leere zu ertragen, die nur Whisky oder Wein wirklich füllen können.

Als ich Maude beim Teetrinken zuschaue, fällt mir auf, wie eng ihr Ehering sitzt. Ihre Finger sind geschwollen, und der Ring verschwindet fast in einer Falte. Dann fällt mein Blick auf ihr Päckchen auf dem Tisch. »Was ist denn jetzt eigentlich da drin?«

»Wie? Ach ja, natürlich!« Sie nimmt das Päckchen behutsam hoch. »Hat jemand gestern auf dem Discovery Channel NAKED AND MAROONED gesehen?«

Dass Rajesh sich angesprochen fühlt, bezweifle ich. Ich jedenfalls schüttele den Kopf.

»Das ist eine Survivalshow auf einer bezludna wyspa  wie heißt das gleich? Einer einsamen Insel. So ein Jüngelchen hat sich da aussetzen lassen, splitterfasernackt, und muss sechzig Tage überleben.« Sie wickelt das Papier auseinander und holt eine Pappschachtel daraus hervor. »Und wisst ihr, was er dort gegessen hat?«

»Kokosnüsse?«, rate ich.

»Geckos!« Maude fischt eine Echse aus der Schachtel und wirft sie mir in den Schoß.

Ich rutsche so hektisch rückwärts, dass die Stuhlbeine auf dem Holzboden quietschen. Das Tier fällt mir vor die Füße.

Maude bricht in ein keckerndes Lachen aus. »Erwischt!«

Die Echse ist natürlich nicht echt.

»Meiner Enkelin habe ich denselben Streich gespielt, und sie hat genauso reagiert wie du!«

Ich schiele zu Rajesh hinüber, in der Hoffnung, dass er auch so gutgläubig gewesen ist wie ich, aber es kommt sogar noch viel besser: Er lacht genauso dreckig wie Maude.

Burns Supper

Hey Thales, alte Sexbombe. Ich weiß, ich weiß, wir haben uns erst sechsmal unterhalten, oder sechseinhalbmal, wenn man mitzählt, dass ich dich einmal vor der Hautkrebsstation gegrüßt habe, aber du hast meine Einladung auf ein Eis für heute Abend angenommen, und da solltest du fairerweise wissen: Ich habe noch eine Menge mit dir vor.

Am Samstag will ich nämlich mit dir Burns Supper feiern. Ich habe stundenlang dazu recherchiert, und Folgendes ist der Plan. Erst mal werden wir mit Wachsmalstiften eine Schottlandflagge malen und sie über das Loch kleben, das deine Ex – die dir hoffentlich nichts mehr bedeutet – mit der Faust im Putz hinterlassen hat, unter dem Poster von dem Hund (oder der Krake? ich weiß es nicht mehr), das du mal in einem Wettbewerb gewonnen hast, mit der Aufschrift »Heute wird ein guter Tag«.

Dann suche ich auf Spotify nach möglichst verführerischer Dudelsack-Musik, und wir fangen schon mal an zu kochen. Ab und zu lassen wir die Rüben sinken und küssen uns, und diese Küsse sind so schön, dass uns die Lippen kribbeln. Wenn alles im Ofen ist, plündern wir deinen Kleiderschrank und suchen nach der bestmöglichen Annäherung an Schottenkaros, finden zwei karierte Schlafanzughosen und marschieren damit durchs Wohnzimmer wie zwei Clowns.

An den Tisch setzen können wir uns nicht, weil deine total unmögliche Ex ihn mitgenommen hat, die Stühle auch und das Bett und den Fernseher, die alle, wie ich aus verlässlicher Quelle weiß, eigentlich deine waren, also hocken wir uns aufs Sofa, stellen die Sachen auf eine Kiste und räuspern uns.

Wir machen alles in der richtigen Reihenfolge.

Erst kommt die Hausherrenrede. Wir werden bei dir essen (wo mein nerviger Mitbewohner uns nicht stören kann), also gebührt dir folglich auch das erste Wort. Ich erwarte den ganz großen Wurf, ein Epos über unsere Vorväter, über die Männer, die sie niedergemäht, und die Mädels, die sie begattet haben, damit wir heute hier sein können. Über das Verlangen in deinem painch und thairm, das Ziehen in deinen hurdies, das Brodeln in deinem weel-swall’d kyte. Über das unersättliche, kreatürliche Begehren, das du für mich hegst, tief wie ein Abgrund und hoch wie die funkelnden Sterne. Notfalls reicht auch »Schön, dass du gekommen bist«.

Den Selkirk-Tischsegen lassen wir weg, weil wir beide nicht religiös sind (oder doch? Das muss kein Hindernis sein) und erwähnen nur, wie schön wir beide das Wort »Selkirk« finden, und ich sage, dass es mich an weiche Spinnwebfäden denken lässt, obwohl das albern klingt, aber so ist es eben. Dann essen wir Cock-A-Leekie-Suppe. Es ist unser zweites Date, dieses Supper, unser zweites köstliches Date, und die Cock-A-Leekie-Suppe wird uns munden. Wir machen nur – ganz maßvoll – sechs, sieben Witze über »Cock«. Bei all dem Cock im Mund bleiben wir vernünftig.

Wenn die Schüsseln abgeräumt sind, wetzt du in der Küche den ceremonial dirk (das am wenigsten stumpfe Messer, das du finden konntest), und dann trägst du ihn feierlich vor dir her. Du bringst den Bräter mit dem braunen, weißen und gelben Pamps und stellst ihn auf die ächzende Tafel, also die Kiste in unserem Fall.

Dazu soll das »Super Top Hit Burns Supper Dudelsack-Medley« laufen, und ich springe dann auf und klatsche und jauchze übertrieben laut. Ich umarme dich flüchtig, und mir fällt auf, wie warm du unter dem Pullover bist, und ich frage mich, ob es an all der männlichen Brustbehaarung liegt, die ich ziemlich sicher darunter vermute.

Wir setzen uns und betrachten das Essen. Der braune Pamps ist der Haggis, der gelbe besteht aus Rüben und der weiße ist Kartoffelpüree. Es sieht nicht lecker aus. Es sieht aus wie Innereien. Und das ist es ja größtenteils auch.

Morgens im Büro werde ich Robert Burns’ Ansprache an einen Haggis ausgedruckt haben, ohne dass mein Chef es gemerkt hat (der übrigens so was wie mein Freund ist, also so was wie mein anderer Freund, was dir natürlich überhaupt nichts ausmacht, weil ich mir das alles hier nur vorstelle und die Vorstellung natürlich perfekt ist). Das lesen wir mit einem ultraschlechten, superpeinlichen schottischen Akzent laut vor –, ich weiß nicht, ob Akzente-Imitieren jetzt rassistisch ist – bis die Innereien mehr oder weniger kalt geworden sind. Bei der Zeile Sieh, wie der Bursch die Klinge wetzt zückst du das Messer, und wenn ich dann kreische Und dir behänd’ den Leib zerfetzt!, schlitzt du den Haggis von einer Seite bis zur anderen auf. Ein verführerisch duftender Dunst steigt von dem Schafsgekröse auf und kitzelt uns in den Nasen. Wir erheben feierlich die Gläser, in denen alkoholfreies Gingerbeer schwappt, weil ich bis dahin seit sechzehn ganzen Tagen trocken bin, und dann essen wir.

Und es wird das beste Festmahl, das wir je gegessen haben.

Bei diesem Festmahl lassen wir die Gedanken schweifen. Erst reden wir von der Arbeit, aber nur ganz kurz, denn mit Krebspatienten zu arbeiten kann deprimierend sein. Außerdem gehört Arbeit zu den Absurditäten, die Menschen sich nur antun, weil sie Geld brauchen, auch so eine Absurdität, mit der wir Dinge bezahlen müssen, dieses Festmahl zum Beispiel, und das ist nicht absurd – dieses Festmahl ist der Sinn und Zweck des Ganzen.

Dann werden wir über Pläne fürs Wochenende reden (uns den Park mit den Kettensägen-Skulpturen anschauen und unterwegs einen Eins-fünfzig-Kaffee an der Tanke holen) und über Pläne für den Rest des Lebens (du, nehme ich an, willst raus aus der Kantine und die Goldene Palme gewinnen, ich mit einem Erzählband einen Bestseller landen und die neue Marina Abramović sein), und kurz – aber nur kurz – streifen wir das Thema, wen wir verletzt und betrogen haben, erwähnen deine sauhässliche Ex und meinen anderen Typen, meinen Chef (im echten Leben, Thales, will ich dir auch von ihm erzählen, ganz bestimmt, und ich will mich auch von ihm trennen) und beschließen, dass dieser Abend ein Geheimnis bleiben soll.

»Jetzt bin ich mit meiner Rede dran«, sage ich, den Mund noch voller Haferkrümel. »Sie soll von Robert Burns’ Leben handeln. Von seiner Dichtung, seinem Vermächtnis.« Ich schaue dir in die Augen und denke an unser allererstes Gespräch, als ich ein Schinken-Käse-Sandwich und eine Packung Doritos bestellt habe. »Man nennt diese Rede die Unsterbliche Erinnerung.«

Ich werde von der ersten Frau berichten, in die Burns sich verguckt hat, als er sechzehn war und gerade auf dem Schulhof den Sonnenstand messen wollte. Von da an kreiste er ein halbes Jahr lang um seine eigene, neue Sonne. Genauer werde ich es auch nicht wissen, weil ich leider immer schneller scrolle, als ich lesen kann, aber dann erfinde ich eben ein paar Details. Dass das Mädchen schon verlobt war, zum Beispiel, ihr Auserwählter sie aber nicht entflammen konnte. Nur der Poet, der Barde, sorgte dafür, dass ihre Sonne brannte.

Dann bedankst du dich für die Rede, stützt dich beim Aufstehen sorgsam ab, um die Kiste nicht umzustoßen, um keinen Fluch auf deine stinkende, bucklige Ex-Freundin loszulassen, und schon sind die Trinksprüche dran.

Du willst darauf trinken, dass du noch nie einer Frau wie mir begegnet bist. Dass du ein sehr, sehr gutes Gefühl bei der Sache hast.

Ich antworte dann, dass es erst unser zweites Date ist und du schon jetzt mein Leben veränderst. Dass du so viel mehr bist als etwas, das ich tun kann, statt zu trinken. Dass du der Mensch bist, bei dem ich sein will, wenn ich nüchtern bin.

Anschließend stellen wir uns Schulter an Schulter auf, fassen uns an den Händen und schreittanzen zu den Klängen von »Auld Lang Syne« in Schlafanzughosen in deinem Wohnzimmer auf und ab. Es ist, wie gesagt, erst unser zweites Date, und vielleicht wird mir das Dudelsackgedudel zu Kopf gestiegen sein, aber ich werde dir aufrichtig sagen, dass dieser Abend genau das ist, was ich mir wünsche. Jetzt und für alle Zeiten.

Aber heute ist erst der erste Tag.

Wir schreiben den 23. Januar, und ich bin auf dem Weg in die Krankenhaus-Cafeteria, um dich zum Eisessen abzuholen. Wir haben uns noch nicht berührt. Haben nicht unseren Atem vermischt.

Heute, hoffe ich, essen wir Erdbeereis, gehen zu dir, und dann sehen wir fern und reden stundenlang. Du kochst Nudeln und zeigst mir deine Bücher, das signierte Exemplar von  hm, irgendwas Abwegiges und Intellektuelles, Nicholson Bakers ROLLTREPPE vielleicht. Ich sage dann, dass ich von ihm erst ein Buch gelesen habe und es mir nicht wirklich gefallen hat. Du findest, dass ich ihm eine zweite Chance geben sollte. Ich frage, welches Buch du mir empfehlen kannst. Du antwortest. Ich reagiere. Du lächelst breit. Ich lächele breit zurück.

Heute, Thales, heute warten wir, dass das alles beginnt.

Kassenbon

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Von allen Formen der Vorsicht ist kleinliche Vorsicht in der Liebe vielleicht am verhängnisvollsten für das wahre Glück.

BERTRAND RUSSELL

Nachricht in einer Sandwich-Packung

Überraschung! Wenn du das hier liest, habe ich es geschafft, Naomi zu überreden, dass sie dir dieses Sandwich ins Maggie’s Centre bringt. Tut mir leid, wenn du gerade keine Lust auf Thunfisch/Mayo hast. Es gab nur das oder Schmelzkäse mit ROHEN ZWIEBELN, und das mag keiner.

Ich wollte dir nur sagen, wie cool ich dich finde, und dir einen netten Tag wünschen. Der Samstagabend war ausgesprochen schön. Tut mir leid, dass ich keine karierten Schlafanzughosen hatte. Ich würde sagen, es war trotzdem alles sehr authentisch. Jedenfalls habe ich noch nie gesehen, wie jemand acht Kartoffelchips auf einmal in den Mund steckt, das ist bestimmt ein neuer Burns-Supper-Rekord. Und ärgere dich nicht, dass du keinen Haggis bekommen hast; ich überlebe sicher noch ein Jahr oder zwei, ohne Schafsmagen zu essen. Und noch was Ernsteres: Das mit der Geschichte, die du an der Uni geschrieben hast, hat mich sehr interessiert. Du meinst, du wärst unkreativ geworden, aber ich glaube das nicht.

Wir kennen uns noch nicht besonders gut, aber ich will dir etwas gestehen. Das wollte ich schon am Wochenende, aber da haben wir so viel gelacht, und es war irgendwie nie der richtige Moment. Also  Ich bin auch auf Entzug. Bis vor Kurzem hing ich voll am Codein. Ich habe sieben verschiedene Apotheken immer abwechselnd abgeklappert und mir da die Höchstmenge Paramol gekauft. Beeindruckend, oder? Nicht ganz so Rock ’n’ Roll wie Alk. Ich habe mit Schmerzmitteln und Essen meine Depression bekämpft. Jetzt bin ich durch damit, aber es war nicht leicht, davon runterzukommen. Hatte ganz schön was zu verdauen, sozusagen.

Und, schmeckt das Sandwich?

Thales x

PS: Tut mir leid, dass ich so dick bin.

SMS von André

Mo. 27.01. 11:05

Heißer Schottenrock heute, Babe. Soll ich uns ein Zimmer im Marriott besorgen? Zur Feier unseres dreimonatigen Jubiläums? Deine kalte Schulter in letzter Zeit macht mich so was von geil.

E-Mail an Grace

Von: Ottila McGregor

An: Grace Shotts

Datum: Fr. 31.01.2014 19:12

Betreff: Re: Ey Mann, wo bist’n du?

Shottsy!

Wie isses? Ich hoffe, dir geht’s gut, und im Hallé läuft alles rund. In den Manchester Evening News stand was über eine Strauss-Konzertreihe. Ein Auftritt war in der Bridgewater Hall. Bist du da dabei?

Es tut mir echt, echt leid, dass ich mich wochenlang nicht gemeldet habe. Als wir uns zuletzt gesehen haben, war ich gerade dabei, so einen Typen im Funkademia zu überreden, dass er mit mir die Jeans tauscht, und du lagst unter einem Stapel Jacken und hast den Text von »Pick up the Pieces« mitgebrüllt. Oder warte, war das vor oder nach dem Vierer-Zungenkuss im Walrus? Ich muss doch sehr bitten, junge Dame. Jedenfalls tut es mir leid, dass ich nicht mit dir zusammen losgegangen bin. Als mir Kotze aus der Nase lief, hat der Türsteher mich rausgekickt. Zu Hause habe ich sechs Burger in den Ofen getan und mir eine Reißzwecke ins Knie gerammt. Die Burger hat Laurie morgens gefunden, als sie langsam mit dem Blech verschmolzen, und ich bin voll bekleidet im Wohnzimmer aufgewacht und hatte eine Menge blutiges Geschmier am Bein. Normalerweise würden wir über so was lachen. Aber wenn ich ehrlich bin, wenn ich richtig ernsthaft ehrlich bin, muss ich sagen: Ich kann das nicht mehr.

Du schaffst es immer irgendwie, keine Ahnung, wie – du gehst feiern, spielst am nächsten Tag ein abartig schönes Geigensolo, und keiner ahnt, dass du noch um drei Uhr morgens völlig zugekokst am Tresen einen eingerollten Igel imitiert hast. Aber ich  ich kann so nicht weitermachen. Ich muss mich am Riemen reißen. Ist dir aufgefallen, dass alle unsere alten Saufkumpanen längst abgesprungen sind? Nur du und ich und Saz sind übrig, manchmal Kameko, aber selbst die macht einen auf vernünftig, seit sie diese neue Frisur hat.

Ich weiß auch nicht, was ich damit sagen will. Schätze, ich will mal eine Weile ruhiger machen bzw. ganz aufhören, erst mal. Was meinst du, hasst du mich dann? Hältst du mich für eine Lusche? Oder können wir trotzdem mal einen Kakao trinken oder so? Rollerskaten gehen? Ins Kino? Ich höre dein Stöhnen schon bis hier.

Wär jedenfalls schön, dich zu sehen. Bei mir war ziemlich was los. Ich wollte am Montag mit André Schluss machen (schon wieder, ja, ich weiß!), weil  na ja, weil er mir nicht gut tut und so, aber es gibt da auch noch einen anderen  das erzähle ich gleich. Die Trennung ist nicht so gut gelaufen. Ich bin mit André zum Reden in eins der Einzelberatungszimmer gegangen, aber sobald die Tür zu war, wurde mir klar, dass ein geschlossener Raum nicht super hilfreich ist. Das wird jetzt übel klingen, aber kennst du diese Kopftücher, die manche nach der Chemo tragen, wenn ihnen die Haare ausgefallen sind? Nicht lachen, ja, es war nämlich wirklich übel. Also, da stand eine Kiste voll von den Dingern unter dem Tisch, die Delyth manchmal benutzt, wenn sie einen Workshop darüber macht, wie man sie knoten kann, damit es gut aussieht, und  na ja, ich wollte schon immer mal gefesselt werden. André dachte anscheinend, er könnte mich zurückkriegen, wenn er einen auf Dom macht. Was so mittelgut klappt, wenn man dabei weint. Im Ernst, er hatte Tränen in den Augen. Ihm geht es zurzeit ziemlich mies. Und er tut mir so leid, aber ich muss irgendwie auch meine Würde wahren. Ich weiß selbst nicht, warum ich nicht aufhören kann. Nicht, dass groß was passiert wäre, nicht wirklich. Also, nicht viel. Es fällt mir sauschwer, den Schlussstrich zu ziehen. Irgendwie fühle ich mich für André verantwortlich. Er hat meinetwegen Jennifer verlassen. Eine Zeitlang fand ich es toll, ihn glücklich zu machen. Besonders, nachdem Ben mich abgesägt hatte, weil ich angeblich so »wartungsintensiv« bin. Da tat es gut, mal wen anders zu warten. André ist wahrscheinlich der einzige Mensch auf Erden, der noch armseliger ist als ich, was ich natürlich super sexy finde. Außerdem ist er sportlich. Aber auch ein Vollarsch. Ärks. Morgen treffen wir uns in der Öffentlichkeit, auf neutralem Boden. Dort werde ich mit ihm Schluss machen, ein für allemal.

Tja, keine Ahnung  was denkst du? Bin ich einfach zu blöd? War das Leben besser, als ich über so was gar nicht nachgedacht habe? Und dann ist da noch der andere, den ich gerade kennenlerne und der richtig, richtig nett zu sein scheint. Ein Grieche, echt schlau und echt süß. Er arbeitet auch im Maggie’s, in der Cafeteria. Vielleicht kann es mit ihm was werden, wenn ich mich nicht wieder nur auf seine Schwächen konzentriere, bis ich ihn mir ausgeredet habe. Wahrscheinlich sollte ich besser erst mal Single bleiben.

Mir geht’s so dreckig, Grace, im Ernst. In mir hockt so ein tiefer, fieser Schmerz.

Tut mir leid, dir nach so langer Zeit mit einem Stimmungskiller zu kommen. Keine Sorge – wenn wir uns treffen, wird alles Honigkuchen mit Sahne.

LG

O-Dog x

Das Treffen auf neutralem Boden

»Ottila! Hier!«

André sitzt schon am Tisch und winkt. Er trägt ein neues Hemd, und das ist kein gutes Zeichen. Es ist hellblau mit einem dezenten geometrischen Blumenmuster. Ich versuche, mich von seinen hoffnungsvollen Blicken abzulenken, indem ich auf das Blumenmuster starre, aber das hilft nicht. Es macht alles nur schlimmer.

Bei der Begrüßung streifen seine Lippen meine Wange. Ich drehe mich schnell weg, wie um mich umzuschauen, obwohl das Restaurant fast leer ist, und setze mich hin.

»Schön, dass du gekommen bist«, sagt er und setzt sich mir gegenüber. Ich kann ihn riechen. Sein hoffnungsvolles Parfüm, das wahrscheinlich irgendwas mit »Eros« heißt, steigt mir in die Nase und versucht, an meine Sexrezeptoren anzudocken.

»André, ich  die Sache mit uns in dem Beratungszimmer, das …« Ich nehme mir die Speisekarte und überfliege die Liste der Grillgerichte. »Das hätten wir …«

»Ich weiß, Ottila. Ich weiß, was du sagen willst.«

Seine Wimpern sind so dunkel und feucht. Hat er wieder geweint? Sie stehen ihm ganz schön gut, diese Wimpern.

»So was können wir echt nicht machen«, sagt er. »Deshalb wollte ich das Marriott buchen, ein Vier-Sterne-Hotel, und stattdessen landen wir im Beratungszimmer! Das geht nicht. Ich bin dein Chef. Wir müssen uns Grenzen setzen.«

»Genau das finde ich auch. Du bist mein Chef, und wir dürfen …«

»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«

»Das Vergnügen? Also echt, André.«

Mein super peinlicher, super attraktiver Chef grinst mich an, und ich muss daran denken, wie ich geschrien habe, als diese blendend weißen Zähne meine Klitoris zu fassen hatten. Das war unser erstes Mal mit etwas, was er als Adam bezeichnet und was der Rest der Welt Ecstasy nennt. Er wollte es erst an mir testen, bevor er es zu Hause benutzte, um die letzten Funken Liebe zu Jennifer wieder anzufachen, bevor sie ganz erloschen. Von da an nahmen sie und er eine Zeitlang jedes Wochenende weiße Pillen mit eingepressten kleinen Blitzen. Wir haben einander einfach nur gestreichelt, stundenlang, berichtete er, als wir kurz darauf nach der Arbeit auf dem Parkplatz fickten. Es war so spirituell. Wenn du mich nicht willst, vielleicht haben Jennifer und ich dann doch noch eine Chance.

André zieht die Augenbrauen hoch, und mir schießt durch den Kopf: Du heißt in Wahrheit Brian. Egal, wie süß du aussiehst, wenn du so die Augenbrauen hebst – in Wahrheit heißt du Brian und bist auch kein Franzose.

»Ich will doch nur sagen, dass wir jetzt Feierabend haben und uns ein bisschen amüsieren können.«

Ich unterdrücke ein Schaudern. Eine Kellnerin, auf deren Namensschild »Peggy« steht, kommt an den Tisch und fragt, ob wir gewählt haben.

»Ich nehme das Hähnchen im Speckmantel«, antwortet André sofort. Bestimmt nimmt er immer das Hähnchen im Speckmantel. Bestimmt isst er hier jeden Abend, seit er Jennifer verlassen hat und ins Premier Inn gezogen ist. Unser gesamtes Sexleben spielt sich in Hotels und Hospitälern ab. Gott sei Dank ist das hier unser erstes Date im Little Chef.

»Ich nehme den vegetarischen Hackauflauf«, sage ich, weil ich dem Fleisch hier nicht traue. Snobistisch, ich weiß. Andererseits esse ich das Zeug im Chunky Chicken, wenn ich samstags total zerstört aus der Mint Lounge komme 

»Gern.« Peggy ist so routiniert, dass sie unsere Bestellung nicht einmal aufschreiben muss. Als sie den Blick senkt, um sich alles einzuprägen, sieht man zwei dezente blaue Lidschattenkleckse. »Und was darf’s zu trinken sein?«

»Ein Pilsner«, sagt André. »Und für dich, Ottila? Rotwein?«

Ich drehe die Speisekarte um. »Hier gibt es Alkohol?«

Die Kellnerin lacht. Ab jetzt hasse ich sie. »Ja, den gibt es.«

»Ich  ich will keinen …« Schon bei den Namen auf der Karte läuft mir der Sabber im Mund zusammen. Carling. Pilsner Urquell. Merlot. Sauvignon Blanc. Warum haben alkoholische Getränke nur so schöne Namen? »Ich nehme eine Robinsons-Limo.«

André klappt der Unterkiefer runter.

»Welche Sorte?«, fragt Peggy.

»Tropenfrucht.«

»Geht’s dir nicht gut, Süße?«, fragt André, als Peggy wieder geht.