Jane Robins begann ihre Karriere als Journalistin beim Economist und der BBC. Sie hat bisher Sachbücher und über True-Crime-Fälle geschrieben.
Wolfgang Thon lebt als freier Übersetzer in Hamburg. Er hat viele Thriller, u. a. von Brad Meltzer, Joseph Finder und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.
Manchmal kann man zu sehr lieben
Callie liebt Tilda, ihre Zwillingsschwester, der als glamouröse Schauspielerin die Welt zu Füßen liegt. Als ihre Schwester an Felix gerät, einen vermögenden, aber offenbar brutalen Mann, glaubt Callie, sie retten zu müssen. Im Internet gerät sie an eine Gruppe von Frauen, die sich darüber austauscht, wie man sich gegen gewalttätige Ehemänner wehren kann. Und dann stirbt Felix tatsächlich – und Callie hat einen furchtbaren Verdacht.
»Der perfekte Thriller.« Elle
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White Bodies
Thriller
Aus dem Englischen
von Wolfgang Thon
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Über Jane Robins
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Danksagung
Impressum
Für Carol
Die Indizien lassen darauf schließen, dass Felix geduscht hat. Darüber hinaus weiß ich so gut wie nichts über seine letzten Stunden auf dieser Welt. Ich habe nichts in der Hand als einige seltsame Details und ausschnitthafte Wahrnehmungen Anwesender. Es ist wie im Theater – ich sehe zur Bühne und erkenne nur die Nebendarsteller, das Bühnenbild und das Spiel der Schatten. Alle wichtigen Elemente fehlen. Es gibt keine Hauptrollen, keine Regie und kein Textbuch.
Die Rezeptionistin sagte, an Felix’ letztem Morgen sei es frisch und kalt gewesen. Der Rasen vor dem Hotel war von Raureif überzogen, und dahinter hing der Nebel am Waldrand. Sie habe beobachtet, wie Felix aus dem Hotel gejoggt, den Kiesweg hinuntergelaufen und am Tor schließlich nach links abgebogen sei. »Ich kam gerade zur Arbeit und rief laut ›Guten Morgen!‹«, sagte sie. »Er grüßte nicht, sondern lief einfach weiter.«
Vierzig Minuten später kam er außer Atem und mit hängendem Kopf zurück; er keuchte und schwitzte. Als er sich aufrichtete, bemerkte er endlich die Rezeptionistin und erzählte ihr, dass er ganz bis hinüber zum Golfplatz gelaufen sei, das Gelände umrundet habe und den langen Weg durch den Wald zum Hotel zurückgelaufen sei. Es sei magisch gewesen, wie die Sonne durch die Bäume brach, so als ob das Leben gerade erst beginne. (Wie ungewöhnlich, dass ausgerechnet er so etwas gesagt haben soll!). Dann lief er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal.
Er kam nicht zum Frühstücken herunter und bestellte sich auch nichts nach oben, nicht einmal das kalte Frühstück, das im Zimmerpreis inbegriffen war. Sein Kollege Julio gab an, er sei überrascht gewesen, dass Felix nicht zur ersten Konferenzsitzung auftauchte. Er sei vormittags in der ersten Pause mit einer Tasse Kaffee und einem Keks zu seinem Zimmer hochgegangen, habe dort das »Bitte nicht stören«-Schild an der Tür hängen sehen. Er habe gedacht, Felix fühle sich nicht wohl und schlafe, also habe er den Kaffee selbst getrunken und den Keks gegessen. »Beim Mittagessen haben wir ihn auch vermisst«, gab er an, »und dann ebenfalls in der Nachmittagssitzung. Gegen fünfzehn Uhr habe ich mehrmals bei ihm angerufen, bin aber jedes Mal auf dem Anrufbeantworter gelandet.« Julio beschlich ein ungutes Gefühl. Eine solche Unzuverlässigkeit sah Felix überhaupt nicht ähnlich, also ging er ein weiteres Mal nach oben und hämmerte an die Tür. Schließlich rief er den Hotelmanager, der mit dem Hauptschlüssel kam.
Im Raum empfing die beiden Männer eine unnatürliche Stille. Alles wirkte unwirklich. Julio erzählte, dass die Szene wie ein lebendes Bild arrangiert worden sei oder zumindest geplant wirkte, mit Felix als Mittelpunkt, der auf dem Rücken in einer eigenartigen, ballettartigen Pose auf dem Bett lag. Sein rechter Arm ruhte ausgestreckt über dem Oberbett, sein linkes Bein war gebeugt, der Bademantel wie ein Cape entfaltet, und seine grauen Augen starrten an die Decke. Der linke Arm hing seitlich am Bett herunter, die Finger schwebten knapp über dem Boden. Der Hotelmanager, der einen Abschluss in Kunstgeschichte hatte, fühlte sich an ein präraffaelitisches Gemälde erinnert, das den Suizid Thomas Chattertons darstellte. Nur dass es hier nicht nach einem Selbstmord aussah. Es gab keine Pillenfläschchen, Rasierklingen oder irgendwelche anderen Hinweise darauf.
Doktor Patel traf ein, und die Rezeptionistin stand dabei, als die Ärztin ihre Untersuchung durchführte. Sie kam zu dem Schluss, dass Felix nach seinem Morgenlauf einen Herzinfarkt oder vielleicht einen Schlaganfall erlitten hatte. Dann ging sie wieder, und die Rezeptionistin fotografierte Felix und das Zimmer – den Nachttisch, das peinlich saubere Badezimmer, die geöffnete Tür der Dusche, den Blick aus dem Fenster und schließlich das unberührte Begrüßungsbukett. »Ich weiß, es war eigenartig«, sagte sie. »Aber ich hatte das Gefühl, es wäre sinnvoll, alles zu dokumentieren.« Vielleicht dachte sie, ihre Fotos könnten wichtig werden, falls aus ihnen hervorginge, dass an der Szenerie irgendetwas nicht stimmte. Sonst hatte niemand ein eigenartiges Gefühl. Als die Befunde aus der Pathologie vorlagen, stimmten sie mit den Erkenntnissen von Doktor Patel überein: Felix’ Tod war auf eine Herzkrankheit zurückzuführen.
Er war schlicht und einfach zusammengebrochen und gestorben – und eine Zeitlang schien es, als sei er einfach verschwunden. Die Welt war über ihn hinweggespült wie die auflaufende Flut.
Doch dann kam die Beerdigung. Ich fuhr an jenem Tag aus London zu einem hübschen Städtchen in Berkshire mit einer normannischen Kirche inmitten vieler Grabsteine und verwehtem, kupferrotem Laub. Als ich es sah, kam es mir vor, als sei die letzte Stunde von Felix, der in Amerika geboren und aufgewachsen war, überaus englisch, obwohl die Trauergäste, die in kleinen, ernsten Grüppchen eintrafen, von seinen Verbindungen in alle Welt zeugten. Seriöse Männer in perfekt geschnittenen Anzügen, zarte, elegante Frauen in High Heels. Ich beobachtete sie aus der Entfernung – genau genommen von einer kaputten Bank an der Kirchenmauer aus, wo ich mich zu beruhigen versuchte. Schließlich huschte ich in die Kirche und blieb ganz hinten stehen.
Alle hatten nur Augen für meine Schwester Tilda. Sie ging langsam wie eine melancholische Braut den Mittelgang hinunter. Ich bemühte mich sehr, mir vorzustellen, was sie in diesem Augenblick empfand, wahrscheinlich eine Flut sehr gemischter Gefühle – tief empfundene Trauer, aber auch Erleichterung und ein Gefühl von Befreiung. Doch nichts davon fühlte sich richtig an. Stattdessen irritierte sie mich, wie immer, und am Ende starrte ich nur noch auf ihre kostspielige Kleidung – das schwarze Seidenkleid und die maßgeschneiderte Jacke hatten bestimmt tausend Pfund gekostet, wenn nicht mehr. Ich beobachtete, wie sie in der leeren ersten Bankreihe Platz nahm. Zu ihrer Rechten vor dem Altar stand Felix’ Sarg unter einer Kaskade weißer Lilien, und links daneben auf einem Holzständer befand sich ein riesiges Foto mit seinem lächelnden Gesicht. Ein paar Minuten später rutschten Felix’ Mutter und Vater neben Tilda in die Bank, dann folgte sein Bruder Lucas. Sie nickten unmerklich in Richtung meiner Schwester, die völlig ruhig dasaß und zu Boden blickte.
Der erste Choral war eine dürftig dargebotene Version von »Der Herr ist mein Hirte«, aber ich zog es vor, nicht mitzusingen. Stattdessen lehnte ich mich gegen die hintere Wand, mir war schwindelig, und ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe – das alles nahm mich zu sehr mit. Nicht unbedingt, weil ich um Felix trauerte, obwohl der Anblick seiner gramgebeugten Familie ergreifend war, sondern eher, weil es mich fertigmachte, dass ich zu viel wusste. An seinem Todestag hatte ich damit gerechnet, dass die Polizei in meiner Wohnung oder im Buchladen aufkreuzte. Und auch am Morgen, an dem die Obduktion stattfand. Selbst jetzt, bei der Beerdigung war ich mir sicher, dass draußen vor der Kirche Polizisten auf mich warteten, mit den Füßen stampften, um sich warm zu halten, heimlich eine Zigarette rauchten, und dass ich, sobald ich ins Licht der trüben Herbstsonne hinaustrat, meinen Namen hören würde: Callie Farrow? Haben Sie einen Moment Zeit?
Die Zweige vor meinem Fenster sind dürr und kahl. Tilda steht in der anderen Ecke des Zimmers. Sie sieht aus wie eine Obdachlose. »Wie hältst du das nur aus?«, fragt sie. »All diese abgebrochenen Finger, die an die Scheibe klopfen.« Sie öffnet die Tür und ist schon halb draußen. »Jedenfalls möchte ich, dass du heute Abend in die Curzon Street kommst. Ich bestelle Thaifood und eine DVD. Der Fremde im Zug. Ist von Alfred Hitchcock.«
»Ich weiß.«
»Komm gegen acht. Es wird auch noch jemand anders da sein. Ich möchte, dass du diesen jemand kennenlernst.«
Die Einladung klingt harmlos, ist sie aber nicht. Es fängt schon damit an, dass Tilda für Filmnächte sonst immer in meine Wohnung kommt. Und dass sie mich ihren Freundinnen vorstellt, habe ich bei ihr auch noch nie erlebt. Eigentlich spricht sie fast nie von ihnen. Namentlich sind mir nur zwei geläufig, und das sind Mädchen, die sie seit ihrer Kindheit kennt. Page Mooney und Kimberley Dwyer. Es würde mich wundern, wenn sie die beiden öfter als einmal im Jahr sieht, deshalb bin ich neugierig und will schon fragen: »Wer?«, doch sie geht weiter, während sie redet, und verschwindet im Treppenhaus.
*
Ich habe meine Flasche Cider fest im Griff, als ich die Curzon Street erreiche. Ich weiß genau, dass Tilda keinen hat. Und Brownies habe ich auch mitgebracht.
Sie wartet im zweiten Stock an ihrer offenen Wohnungstür. »Callie!« Sie begrüßt mich mit untypischem Überschwang und küsst meine Wangen. Hinter ihr in der Küche steht ein blonder Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und holt etwas aus dem Küchenschrank. Er kommt an die Tür, um hallo zu sagen, und hält mir seine schmale Hand hin. Mir wird klar, dass er es gewohnt ist, hier zu sein, so selbstbewusst und selbstverständlich steht er da. Tilda wirft ihm einen kurzen, besitzergreifenden Blick zu, lässt ihn über sein Haar, seine Schultern, seine nackten Unterarme gleiten. »Callie, das ist Felix«, sagt sie. »Felix Nordberg.«
»Ich mache gerade eine Flasche Wein auf«, sagte er. »Möchtest du ein Glas?«
»Nein, danke, Cider reicht mir.« Ich halte die Flasche Strongbow zur Inspektion hoch und stelle sie dann auf den Küchentresen. Felix scheint hier alles im Griff zu haben, denke ich. Die Küche, den Wein. Dann stellt er, mit leiser, distinguierter Stimme, die mich an Superjachten und Privatinseln denken lässt, höfliche Fragen. Wo ich wohne. Ob ich gerne im Buchladen arbeite. Ich erkundige mich nach seinem Beruf. Er arbeitet bei einem Hedgefonds in Mayfair.
»Ich weiß nicht mal, was das bedeutet. Nur, dass es etwas Ähnliches wie Wetten ist.«
Er lacht. »Da hast du recht, Callie. Aber unsere Klienten möchten es lieber Investment nennen, also sagen wir ihnen, was sie hören wollen.«
Ich habe das Gefühl, dass er mit mir dasselbe tut, und sehe ihm zu, wie er uns mit kontrollierten Bewegungen bedient, das Etikett eines französischen Chablis überprüft und darauf achtet, das Glas bis zum perfekten Füllstand einzuschenken. Und auch mit meinem Cider gibt er sich Mühe und behandelt ihn wie kostbaren Nektar, obwohl die Plastikflasche einen riesigen Aufkleber hat, auf dem £3.30 steht. Er reicht Tilda ihren Wein, und sie lächelt ihm kurz zu, als ihre Hände sich berühren. Dann wendet er sich wieder den Küchenschränken zu, holt Teller und Schüsseln heraus, wischt sie mit einem Tuch ab, stapelt sie aufeinander und erklärt mir gleichzeitig, was Leerverkäufe sind.
»Das kannst du dir so vorstellen: Ich verkaufe dir diesen Teller zum aktuellen Preis von zehn Dollar und verpflichte mich, ihn dir in drei Monaten zu liefern. Und dann, kurz bevor die drei Monate um sind, kaufe ich ihn selbst für neun Dollar. Verstehst du? Ich wette darauf, dass die Tellerkurse sinken, und mache einen Profit von einem Dollar.«
»Das ist ein teurer Teller.«
»Felix mag teure Dinge«, bemerkt Tilda vom Sofa aus. Sie hat sich dekorativ in Szene gesetzt und die Füße hochgelegt, in einem Arm hält sie ein Samtkissen, mit der anderen Hand ihr Glas. Sie beobachtet uns, um herauszufinden, wie wir miteinander auskommen.
Ich blicke zu Felix, um zu sehen, ob er Deshalb mag ich deine Schwester sagt, doch das tut er nicht. Er grinst nur, als wollte er sagen: Jetzt hast du mich erwischt!; er öffnet die Besteckschublade, nimmt die Messer und Gabeln heraus und poliert sie. Ich verzichte auf einen Kommentar. Stattdessen frage ich Felix, woher er kommt und wie lange er schon in London ist. Seine Familie komme aus Schweden, antwortet er, er sei aber in Boston, USA aufgewachsen und halte sich gern für einen Weltbürger. Ich kichere über den Begriff, und er erzählt uns, dass er versuche, sich an England und London zu gewöhnen.
»Woran? An das Schlangestehen, das Vorsicht an der Bahnsteigkante, das ständige sich für alles Mögliche Entschuldigen und so?«
»Ja, all das. An die Selbstironie, an die Art, wie ihr in jeder Situation einen Scherz parat habt, und daran, wie schwer es euch fällt, Komplimente anzunehmen … Wusstest du, Callie, dass deine dunkle Augen sehr geheimnisvoll und seelenvoll sind?«
Er macht eine ernste Miene und schaut mir direkt ins Gesicht. Ich werde verlegen, weil er so attraktiv ist und so dicht bei mir steht. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass er sich über mich lustig macht, sondern mich in den Scherz einbezieht.
»Wenn du meinst.«
Ich laufe rot an und rücke etwas von ihm weg. Während ich mir mehr Cider eingieße, denke ich, dass er intelligent und witzig ist und dass ich ihn mag.
»Jetzt kommt schon und lasst uns den Film ansehen«, sagt Tilda. Ich nehme mein Glas und steuere zum anderen Ende des Sofas. Ich will es so machen wie bei den Filmnächten in meiner Wohnung, wo wir uns auch immer jeder an ein Ende setzen, die Brownies hin und her reichen und kurze Bemerkungen einstreuen wie: »Da sieht Keanu Reeves aber traurig aus«, oder: »Was für ein Regen draußen, es schüttet wie aus Eimern.« Nichts, was zu einem Gespräch führt, aber gerade genug, um ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, so als ob wir wieder Kinder wären. Aber ich bin zu langsam. Noch bevor ich es mir gemütlich machen kann, lässt sich Felix schon auf den Platz neben Tilda fallen und gibt mir unmissverständlich zu verstehen, dass ich auf den alten Lehnsessel verbannt werde. Also lümmele ich mich hinein und lege die Beine auf den Couchtisch, während Tilda auf der Fernbedienung den Start-Knopf drückt.
Felix und ich haben Der Fremde im Zug noch nie gesehen, aber der Film gefällt uns beiden, der beruhigende Effekt, der von den Schwarzweißbildern ausgeht, die zackigen Stimmen und die Manierismen der 1950er Jahre, und im Verlauf des Films trägt jeder seine Kommentare bei. Tilda sagt mehr als Felix oder ich, denn sie ist Schauspielerin und so etwas wie Hitchcock-Expertin. Hitchcock stellt seine Bösewichte links ins Bild, erklärt sie uns, und die Guten nach rechts. Ich lache. »Dann bin ich die Böse, weil ich hier drüben sitze. Und du die Gute.«
»Ich bin der Interessanteste«, sagt Felix. »Ich bin in der Mitte und kann in jede Richtung gehen. Wer weiß, was ich im Schilde führe?«
»Oh, seht euch Ruth Roman an!« Tilda ist plötzlich abgelenkt. »Die Art, wie ihre Lippen ganz leicht geöffnet sind, ist so vielsagend.«
Ich brumme skeptisch, schürze die Lippen, und Felix zieht eine Braue hoch. Aber Tilda lässt sich nicht bremsen.
»Und Robert Walter ist als Psychopath unglaublich. Er macht diese raffinierte Sache mit den Augen, das lässt ihn so berechnend aussehen. Wusstet ihr, dass er kurz nach diesem Film gestorben ist, weil er betrunken war und ihm sein Arzt Barbiturat injizierte?«
»Der andere Typ benutzt seine Handgelenke«, bemerke ich. »Er spielt quasi aus dem Handgelenk.« Tilda lacht.
»Ich mag es, wie sich die Story entwickelt«, sage ich.
»Ja, Patricia Highsmith … sie hat den Roman geschrieben, auf dem der Film basiert.«
Es geht darum, dass zwei Fremde sich in einem Zug begegnen und ihre Morde tauschen. Der Psychopath mit dem berechnenden Blick bietet dem Handgelenk-Typen an, seine Frau umzubringen, die ihm zur Last geworden ist, wenn der Handgelenktyp im Gegenzug den verhassten Vater des Psychopathen ermordet. Die Polizei würde die Verbrechen nie aufklären, weil beide Mörder keinerlei Verbindung zu ihrem Opfer hätten. Es gäbe kein erkennbares Motiv.
»Das ist eine brillante Filmidee«, sage ich, »aber in der Praxis würde das nie funktionieren. Ich meine, falls man einen Mord planen und es so durchziehen wollte.«
»Wie meinst du das?« Tilda kuschelt sich an Felix.
»Tja, man müsste zum Beispiel ständig mit der Bahn fahren, wenn man versuchen will, mit jemandem ins Gespräch zu kommen, der sich auch wünschte, dass jemand ermordet wird. Aber das ist höchst unwahrscheinlich.«
»Ach, jeder kennt doch irgendwen, den er am liebsten ermorden würde«, sagt sie.
Felix legt sich Tilda zurecht, so dass ihre Beine über seinem Schoß liegen. Seine Hand liegt auf ihren schmalen Knien, und mir fällt auf, wie schön sie beide sind – mit ihrem schmalen Körperbau, der weißen Haut und dem blonden Haar sehen sie aus, als seien sie die Zwillinge. Sie stoppen den Film, um die nächste Flasche des gleichen französischen Weins zu öffnen. »Was diese Mordgeschichte betrifft, hast du natürlich recht, Callie«, sagt Felix dabei. »Aber heutzutage bräuchte man nicht mehr Eisenbahn zu fahren, um andere Mörder kennenzulernen. Man könnte einfach im Internet jemanden suchen, in einem Forum im Darknet oder einem Chat-Room.«
»Das werde ich mir merken.«
»Ich glaube, das ist wirklich so«, sagt Tilda. »Psychos finden einander übers Internet.«
*
Wir sehen uns den Schluss des Filmes an, und hinterher sage ich, dass ich nach Hause muss, aber zuerst noch auf die Toilette. Es ist nur ein Vorwand; eigentlich muss ich gar nicht pinkeln. Sobald ich die Tür abgeschlossen habe, stöbere ich stattdessen herum und entdecke zwei Zahnbürsten in einem Plastikbecher und das Rasierzeug eines Mannes im Schrank über dem Waschbecken. Außerdem ist der Abfalleimer voll: leere Shampooflaschen, kleine Seifenreste, Wattepads, benutzte Rasierer, halbvolle Lotionfläschchen. Also hat Felix nicht nur die Küche neu organisiert, sondern auch die Unordnung in Tildas Badezimmer beseitigt. Ich bin froh, dass sich jemand um sie kümmert und bei ihr ausgemistet hat. Dann grabe ich mich tiefer in den Müll und ziehe eine Plastiktüte heraus, in die etwas Hartes gewickelt ist. Ich sitze auf der Toilette, wickle es aus und erwarte etwas ganz Normales, einen alten Nagellack oder Lippenstift vielleicht. Stattdessen fördere ich eine kleine benutzte Spritze mit einer dünnen Nadel hervor und bin so entsetzt und perplex, dass ich sofort ins Wohnzimmer laufe und mit dem Ding herumfuchtele. »Was zum Teufel ist das?«
Tilda und Felix sehen einander an und wirken beide etwas betreten. »Du hast unser Geheimnis entdeckt«, erklärt Tilda ihre Mienen. »Wir setzen uns Vitamin-B12-Spritzen – das hilft uns, leistungsfähig zu bleiben. Leben auf der Überholspur und all das.«
»Wie bitte? Das ist verrückt. Ihr solltet euch schämen!« Ich kann es kaum fassen und halte immer noch entrüstet die Spritze hoch.
»Willkommen in der Welt der Hochfinanz«, sagt Felix.
»Also ehrlich!« Tilda lacht mir in mein perplexes Gesicht. »Ganz ehrlich, es gibt keinen Grund zur Sorge. Das machen viele erfolgreiche Leute. Schauspieler tun es … Banker tun es … du kannst es ja googeln, wenn du mir nicht glaubst.« Dann stutzt sie. »Aber … wieso zum Teufel durchsuchst du eigentlich meinen Mülleimer?«
Darauf fällt mir keine Antwort ein, also zucke ich hilflos mit den Schultern und sage, dass ich jetzt besser nach Hause gehen sollte. Tilda sieht mich von der Seite mit einem Blick an, der meint: Du bist unverbesserlich!, und holt mir den Mantel.
Felix sagt, er hoffe, mich bald wiederzusehen, und umarmt mich zum Abschied, kurz und freundlich, wie große, Rugby spielende Männer ihre Nichten und Neffen umarmen.
*
Zu Hause fahre ich meinen Laptop hoch und google nach Vitaminspritzen. Tilda hat recht, stellt sich heraus, und ich bin überrascht, was für seltsame Dinge Karrieretypen tun, um zu »erreichen, was sie sich vorgenommen haben«. Ich beschließe, es dabei bewenden zu lassen und zu akzeptieren, dass Tilda und Felix in einer anderen Welt leben als ich. Dann fange ich an, mir Notizen über die beiden zu machen. Dabei arbeite ich in einer Datei, die ich mein »Dossier« nenne. Das ist eine Angewohnheit aus meiner Kindheit: Tilda im Auge zu behalten, sie zu beobachten und mich zu vergewissern, dass es ihr gutgeht.
Felix wirkt sehr speziell. Er kann einem ein Gefühl vermitteln, als habe man sich irgendwie mit ihm verschworen und mache sich mit ihm zusammen über den Rest der Menschheit lustig. Ich bin überrascht, dass sie uns vorgestellt hat, und nachdem ich ihn jetzt kennengelernt habe, freue ich mich, dass sie einen passenden Partner gefunden hat und er sich so gut um sie kümmert.
Am Mittwoch ruft meine Schwester an und lädt mich zum Abendessen ein. Ich bin überrascht, weil ich dachte, sie sei wegen des Vorfalls mit dem durchwühlten Mülleimer noch sauer, aber sie erwähnt das mit keinem Wort. Als ich in die Curzon Street komme, erwartet mich Rehpfeffer mit Wacholderbeeren und Rotwein, von Felix zubereitet, dazu eine Zitronentarte.
»Du bist ein Genie!«, sage ich, und er belohnt mich mit einem anzüglichen Blick, der sagt: Mich hättest du wohl gern.
»Felix hat die Tarte selbst gemacht«, sagte Tilda. »Er hat ein Händchen für Gebäck – und lange kalte Finger.«
Er wackelt mit den Fingern, während wir ihm gestehen, uns noch nie an Gebäck und Torten versucht zu haben und sie immer fertig kaufen. Wie ich feststelle, hat Felix ein Faible dafür, noch während er in der Küche arbeitet, alles hinter sich aufzuräumen, deshalb gibt es nichts zu tun, als ich nach dem Essen helfen will. Alle Flächen sind aufgeräumter und sauberer, als ich sie je gesehen habe, alle Töpfe und Pfannen stehen wieder in den Schränken. »Wie machst du das?«, frage ich. »Das ist Zauberei.«
»Ein angeborenes Talent … Aber jetzt denk mal nicht ans Saubermachen, Callie, und überzeuge Tilda davon, dass es romantisch wäre, am Sonntag mit dem Boot die Themse hinunterzufahren. Bis nach Windsor und Bray, wo die Schwäne sind.«
»Mit was für einem Boot?«
»Einem einfachen Holzboot. So richtig englisch.«
»Schon gut«, sagt Tilda, »ich bin dabei.«
Sie sieht ihn von unten durch den Vorhang ihres Haars hindurch an; es ist ein weicher, verklärter Blick, und irgendwie tut es mir weh, zu sehen, wie total verliebt sie in ihn ist. Sie merkt, dass ich sie beobachte, und sagt: »Du solltest mitkommen, Callie. Wäre das nicht herrlich?«
Diese überschwängliche Art passt überhaupt nicht zu ihr, und ich kann es mir nicht verkneifen, sie ein bisschen auf den Arm zu nehmen. »O ja, das wäre ganz herrlich … ganz herrlich.«
*
Am Sonntag mietet Felix einen schnittigen roten Peugeot, und wir packen Sachen für ein Picknick in Berkshire ein. Es ist nicht weit, die Fahrt dauert eine Stunde, aber als wir ankommen, sind wir in einer anderen Welt. Der Fluss ist so breit und beeindruckend, das dichte Unterholz erwacht frühlingshaft mit ersten winzigen Blättern und Knospen zum Leben. Das Boot ist genau, wie Felix es sich gewünscht hatte – klein und offen mit Heckmotor, der Holzrumpf hat einen schadhaften roten Anstrich. »Perfekt«, sage ich, bewundere, wie es an der Leine dümpelt, und mustere die drei Sitzbänke und das Notpaddel.
Wir klettern an Bord, tuckern auf dem Fluss herum und lassen uns die Sonne ins Gesicht scheinen. Es ist herrlich, die flüchtige Wärme im Gesicht zu spüren. Minutenlang liebkost uns goldenes Sonnenlicht, dann entzieht es sich wieder. Ich lehne mich über den Bootsrand, lasse die Finger durchs schwarze Wasser gleiten und fröstele. »O Gott, ist das kalt!«
Wir fahren an offenen Feldern vorbei, an Schloss Windsor, an weißgekalkten Stadtrandvillen mit Rasenflächen, die bis ans Wasser reichen, und ich entdecke einen Reiher am anderen Ufer.
Felix steuert am Heck und sagt: »Lasst uns schwimmen.« Wir befinden uns gerade in einem breiten Flussabschnitt, ein dichtes Waldgebiet auf einer Seite, ein flaches, leeres Feld auf der anderen. Ich halte nach Leuten Ausschau, aber da sind keine.
»Es ist zu kalt!«, protestiere ich. »Und nicht sicher. Sind nicht sogar schon Leute in der Themse ertrunken?«
Aber Felix und Tilda hören nicht auf mich. Stattdessen bindet Felix das Boot an einem überhängenden Ast fest, und die beiden reißen sich begeistert die Kleider vom Leib, als wollte jeder der Erste sein. Dann stehen sie beide völlig nackt auf, und das Boot schaukelt wie verrückt, als sie in Position gehen, um ins Wasser zu springen. Zwei schlanke, bleiche Körper. Tilda packt Felix plötzlich am Arm. »Mir ist jetzt schon furchtbar kalt! Ich kann nicht.«
»O doch, du kannst!«
Mit einer ausladenden Bewegung nimmt er meine Schwester in die Arme und drückt sie sich an die Brust. Jetzt sehe ich erst, wie muskulös und kräftig er ist. Sie schreit: »Nein! Nein!« und strampelt mit den Beinen, als er sie über Bord ins Wasser schleudert. Dann hechtet er selbst hinein. Einen ganz kurzen erschreckenden Moment lang verschwinden sie beide im Dunklen, dann tauchen sie wieder auf und spritzen herum. Tilda schreit, und ich weiß nicht, ob sie aufgeregt oder wütend ist. »Komm schon, Callie«, ruft sie dann jedoch. »Es ist toll!«
»Ich weiß doch, dass du es auch willst!« Felix drückt das Boot an der Seitenwand tiefer ins Wasser, als sei er ein Monster, das mich holen will, und schnappt nach meinem Knöchel.
»Nein!«
Aber ich überlege fieberhaft, was ich tun soll. Ich will mich nicht vor ihnen ausziehen – mein rundlicher, rosafarbener Körper ist mir peinlich, und ich habe Angst, dass sie über mich lachen. Gleichzeitig stelle ich mir vor, wie herrlich es wäre, auf den Grund des Flusses zu sinken und vom eisigen Wasser verschluckt zu werden. Mir steigt auch zu Kopf, dass sie mich einbeziehen, was ich als Kompliment betrachte, und aus irgendeinem Grund, den ich selbst nicht richtig verstehe, möchte ich Felix beeindrucken. Also setze ich mich auf eine der Bänke, ziehe meinen Parka, mein Sweatshirt, Jeans und Socken aus. Dann springe ich im T-Shirt ins Wasser und sinke gleich tiefer, wie ich es gewollt hatte, ich bin leicht benommen und im Kälteschock. Ich kann gar nicht denken, so hämmert es in meinem Kopf. Meine Füße berühren den Grund, die dicke Schleimschicht, aus der ein paar harte Kanten hervorstehen. Ich zucke zusammen und schieße an die Oberfläche.
Plötzlich steht Felix neben mir. Das Wasser reicht ihm bis zur Brust. Er beugt sich zu mir und legt die Hände um meine Taille. »Jetzt habe ich dich in der Hand«, sagt er und hebt mich aus dem Wasser. Ich stütze mich mit den Händen auf seine Schultern und tue so, als würde ich mich wehren. Dann schleudert er mich rückwärts ins Wasser zurück, wieder gehe ich unter und sinke bis zum Grund. Als ich hochkomme, schreie und lache ich plötzlich genauso wie Tilda vorhin. Am liebsten würde ich: »Noch mal! Noch mal!« rufen, wie ein kleines Kind.
Doch Felix hat sich schon Tilda zugewandt. Ich sehe, dass er ihren schlanken Körper viel höher als meinen in die Luft heben und sie viel weiter ins Wasser werfen kann. Als ihr Kopf auftaucht, drückt er sie einfach mit der Hand wieder hinunter. Es geht so rasch, dass sie nicht mal Zeit hat zu protestieren. Plötzlich ist nichts mehr von ihr zu sehen, da rudern keine Arme, da plätschert nichts im Wasser, und ich habe Angst, dass er sie viel zu lange in die Tiefe und den gefährlichen Schlamm drückt. »Hör auf! Das ist zu lang!«, schreie ich.
Er lässt sie los, sie taucht ganz benommen auf und spuckt Wasser. Ihre Schultern zucken krampfartig. Diesmal nimmt er sie zärtlich in die Arme und trägt sie zum Boot zurück. »Das hättest du nicht tun sollen …«, sagt sie und krächzt die letzten Worte so geschwächt, dass ich sie kaum hören kann. Ihr Kopf ruht an seiner Brust, und ihr Arm hängt seitlich schlaff herunter.
Felix wuchtet sie über den Rand ins Boot. »Du lebst doch noch. Jetzt lass uns anziehen und was essen gehen.«
Ich schwimme zum Boot und ziehe mich am Bootsrand hoch, um hineinzusehen und mich zu vergewissern, dass es ihr gutgeht. Unsere Blicke treffen sich, und sie blinzelt langsam. Sie wirkt erschreckt, als ob sie nicht wüsste, was sie sagen soll. Es hat etwas Insektenartiges, wie sie sich in der Ecke zusammenkrümmt, als wäre sie schwer angeschlagen. Ich will gerade vor Sorge losschreien, da ändert sie ihren Gesichtsausdruck. Es geht so schnell wie bei einem Zaubertrick, sie lacht und fordert uns auf, ins Boot zu kommen, bevor wir uns noch tot frieren.
Wir nehmen die Leinendecke, die fürs Picknick bestimmt war, als Handtuch und trocknen uns damit der Reihe nach ab. Als ich Tilda dabei zusehe, wie sie sich abtrocknet, kommt es mir vor, als sei sie noch ganz schön mitgenommen, aber ich bin mir nicht ganz sicher.
Schon bald kuscheln wir uns in unsere trockenen Kleider, essen Sandwiches und trinken schwarzen Kaffee aus der Thermoskanne. Tilda lächelt. »So ist das mit Felix immer, einfach nur aufregend! Und ich freue mich so, dass du mitgekommen bist.« Felix pflichtet ihr bei. Er freue sich auch, dass ich gekommen sei, sagt er, beugt sich vor und berührt meinen nackten Knöchel, nur eine Sekunde lang. In diesem Moment wirkt alles klarer, freundlicher und intensiver als je zuvor. Der Himmel, die Bäume, das Wasser – sogar der Sandwichbelag.
Später, zu Hause, öffne ich mein Dossier.
Tilda hat sich in Felix verliebt, notiere ich, und ich finde ihn auch ganz toll – als ihren Freund, natürlich. Er ist so attraktiv und clever und romantisch. Ich hatte richtiges Herzklopfen, als er sich nackt auszog und ich seinen weißen, muskulösen Körper sah, bevor er in den Fluss sprang. Ich habe gestaunt, dass er direkt vor meinen Augen so eine große Nummer abzieht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so einen aufregenden Tag erlebt zu haben. Ich wünschte nur, er hätte Tilda nicht so lange unter Wasser gedrückt und festgehalten.
Es ist der heißeste, sonnigste Tag aller Zeiten, und wir laufen so schnell wir können einen steilen Hügel hinunter, irgendwo in Kent. Das Gras auf dem Hügel wächst in Büscheln und bildet auch kleine Erdklumpen. Ich versuche, das Gleichgewicht zu halten, und sehe gleichzeitig nach unten, zum Fuß der Anhöhe, wo es sich ein Stück entfernt die Erwachsenen gemütlich gemacht haben. Sie sitzen auf einer Decke und reichen eine Flasche von Hand zu Hand. Mom hält sich etwas abseits der Gruppe auf, trinkt Wein, raucht und zieht sich den Rock ihres langen gelben Kleides zurecht, das sie am vorangegangenen Abend genäht hat.
Sie blickt auf, um unser Rennen zu beobachten, und legt zum Schutz vor der Sonne die Zigarettenhand an die Stirn, wir laufen immer schneller, bis wir durch den blauen Himmel in die Wiese purzeln, meine Beine sind so schnell, als wären sie außer Kontrolle, so dass ich mit einer Million Meilen pro Stunde an den Picknickern vorbeischieße, deren Stimmen ich plötzlich hören kann.
»Komm schon, Tilda!«, ruft Mom, weil meine Schwester mit einem Mädchen namens Precious kämpft und sie Kopf an Kopf auf die Ziellinie zustürmen. Tildas blonder Schopf peitscht ihr um den Kopf, und ihre Ellenbogen pumpen, bis sie knapp in Führung liegt und kreischt: »Ich bin Siegerin! Ich bin Siegerin!« Einen Moment bin ich am Boden zerstört, aber dann ruft Mom: »Du läufst toll, Callie«, und ich bin wieder froh. Obwohl ich heraushöre, dass sie mich trösten will, weil ich Letzte sein werde. Unten am Hügel lassen sich die anderen Kinder einfach hinfallen, aber ich rase zwischen ihnen hindurch, beschleunige, anstatt zu stoppen, und stürze schließlich Hals über Kopf in die schwarze, stachelige Hecke, die die Picknickwiese von der Weide dahinter abtrennt, auf der Kühe grasen.
Die Sonne scheint nicht bis hierher. Ich stecke auf Knien mitten im Gestrüpp. Meine Hände drücken auf die Erde, und ich versuche aufzustehen, was aber nicht geht, weil ich im Gewirr der Äste feststecke, die mir in den Rücken pieken. Ich denke, ich kann mich vielleicht irgendwie aufrichten und Stück für Stück rückwärts herauskriechen, deshalb bringe ich meine Hände in eine gute Position. Dabei drückt meine rechte Hand auf etwas Hartes, das auf der Erde liegt. Als ich es anfasse, höre ich Lachen. »Nun seht euch Callie an!«, sagt jemand. Alle kommen zum Busch gelaufen, um mir zuzuschauen. Ich bin neugierig, was ich da für einen Gegenstand in der rechten Hand habe, und halte ihn gut fest, während ich mich langsam durch die piekenden Äste ans Licht zurückarbeite, bis ich schließlich rückwärts aufs Gras rolle. Das von einer abbröckelnden Erdschicht bedeckte Ding in meiner Hand hat eine helle Farbe. Ich wische den Dreck mit den Fingern weg und lege Mulden und Wülste frei. In der Hand halte ich den Schädel eines kleinen Tieres, und mir schießen sofort Tränen in die Augen.
»Das ist ja eklig«, sagt Precious. »Was ist das denn?« Alle drängeln sich heran, um einen Blick darauf zu werfen. Tilda meint, es könnte ein Kalbsschädel sein, wegen der Kühe auf der Nachbarwiese, und Precious stellt fest, dass ich weine. »Das machst du nur, weil du Letzte geworden bist«, sagt sie. Ich wische die Tränen weg, aber richtig verstehen kann ich es nicht. Vielleicht bin ich aufgebracht, weil ich Letzte wurde, vielleicht beneide ich auch meine siegreiche Schwester, oder vielleicht denke ich an das tote Tier. Ich habe bisher noch nicht erwähnt, dass das alles an Tildas und meinem Geburtstag geschieht. Wir sind jetzt sieben.
Tilda sagt: »Mach dir keine Gedanken, komm mit zum Picknick, dann essen wir unseren Kuchen.« Ich nehme ihre Hand, aber in der anderen Hand halte ich den Schädel und drücke ihn mir an die Brust. Ich gebe ihn Mom, die ihn beschaut und in ein Papiertaschentuch wickelt. Sie meint, er könnte von einem Lamm stammen, und es sei ein wunderschöner Fund, den sie eines Tages in ein Gemälde einbauen wolle, doch zunächst müsse er gut abgewaschen werden, und dann dürfe ich ihn zum Naturkundeunterricht mit in die Schule nehmen. Ich strecke die Arme aus. Mom gießt Wasser aus einer Plastikflasche über meine Hände und trocknet sie an ihrem Rock ab. Die anderen Kinder stehen um uns herum und sehen zu, dann singen alle Happy Birthday. Ich liege auf dem Rücken, den Kopf in Moms Schoß, und sehe zu Tilda hoch, die breitbeinig dasteht und ihr Gesicht gen Himmel richtet. Sie singt, obwohl sie selbst eines der Geburtstagskinder ist. Die Sonne scheint durch ihr Haar und lässt es wie einen Heiligenschein schimmern. In diesem Moment bewundere ich sie so sehr, dass es schmerzt. Dann kniet Tilda sich hin, ich richte mich auf, und Seite an Seite blasen wir die Kerzen aus.
Der folgende Tag ist ein Montag, das heißt Schule. Ich bringe den in eine Plastiktüte eingewickelten Schädel mit, und wir zeichnen Bilder von unserem Wochenende. Unsere Klassenlehrerin, Miss Parfitt, sieht mir über die Schulter. »Interessant, Callie. Ausdrucksstark.« Ich erkläre ihr, dass meine Kritzelei den Busch und den Schädel darstellt. Dann betrachtet sie Tildas Zeichnung von einem Geburtstagskuchen und einer gelben Spinne im Himmel, die die Sonne darstellt. »Sehr hübsch«, erklärt sie beiläufig. Meine Zeichnung ist so dunkel wie mein Haar und Tildas Bild so goldgelb wie ihres.
Miss Parfitt ist meine Lieblingslehrerin, und sie stellt den Schädel in die Mitte des Tisches mit den Anschauungsgegenständen aus der Natur, als sei er das beeindruckendste Ausstellungsstück. Das ist er auch, denn er ist besser als das knisternde alte Vogelnest und die Haufen alter Blätter und übertrifft auch die Eierschalen mit Gesichtern und Kressehaaren. Ich bin stolz.
Zwei Wochen später verschwindet der Schädel aus der Ausstellung, und ich weine im Klassenraum. Vorne steht Miss Parfitt mit verschränkten Armen und sagt: »Derjenige, der den Schafschädel genommen hat, soll ihn wieder auf den Tisch legen, dann lasse ich die Sache auf sich beruhen.« Die Tage verstreichen, doch nichts passiert.
Ich kann an nichts anderes mehr denken. Mom und Tilda wissen, wie sehr mich das beschäftigt und dass ich mich im Auftrag des toten Lammes und seiner Mutter um den Schädel gekümmert habe. Um mich aufzumuntern, malt ihn Mom eines Abends nach der Arbeit, aber ich muss so tun, als würde er mir gefallen, weil die Farben zu hell sind und das Bild nicht zärtlich genug. Und am Abend – wir liegen schon in unseren Betten – erzähle ich Tilda, dass ich Precious für die Hauptverdächtige halte, weil sie den Schädel nicht mag und mich auch nicht. Tilda sagt, sie würde Precious am liebsten eine knallen, Precious sei ein geltungssüchtiges Großmaul, und man müsse sie mal in die Schranken weisen.
»Du würdest für mich kämpfen?«, frage ich.
»Das auch. Ich bin dein Schutzengel.«
Ich kann ihr nicht ansehen, ob sie es ernst meint oder ob sie sich nur gern einbildet, etwas Besonderes zu sein.
Ein paar Tage lang verfolgen wir Precious auf dem Spielplatz und singen immer: »Wir wissen, wir wissen, was du gemacht hast.« Im Stillen denke ich: Und wir wissen auch, dass du Warzen an den Fingern hast und nach Zwieback riechst.
Precious rächt sich schließlich mit einem Spruch. »Du kannst wohl deiner durchgeknallten Schwester nicht entkommen, Tilda Farrow.« An dem Punkt haut ihr Tilda wirklich eine runter, und ich heule vor Liebe und Dankbarkeit, während Precious losläuft und bei Miss Parfitt petzt.
(Jahre später sagte Tilda: »Weißt du noch, wie gemein wir zu Precious Makepeace gewesen sind? Ich habe sie auf Facebook gesucht, aber sie hat keinen Account.«)
An jenem Abend – ich sitze allein in unserem Zimmer – nehme ich das rosafarbene Prinzessinnen-Notizbuch, das ich zum Geburtstag bekommen habe, und schreibe auf Seite eins: Mein Dossier. Das Wort habe ich von Mom gelernt, die ein Dossier über ihre Lieblingskünstler führt und sich dort Notizen über deren Techniken und Stile macht, um sie zu verstehen und (nach Moms eigenen Worten) »ihre Essenz zu absorbieren«, damit ihre eigenen Arbeiten besser werden. Dann fange ich an, über Tilda zu schreiben. Ich beschreibe alles, was sie tagsüber getan hat, wie sie aussah und was sie sagte. All die Kleinigkeiten. Wie sie lachte, als sie Precious schlug, und wie sie sich dann umblickte, um zu sehen, ob sie dabei Publikum hatte. Das Mitleid in ihrem Blick, als sie mich ansah – ihren Heulsuse-Zwilling. Sie ist tapferer als ich, schreibe ich. Und stärker. Ich streiche meine Worte wieder durch, weil mir klar wird, dass ich meine Schwester zwar vergöttere, sie aber ganz tief drinnen überhaupt nicht kenne. Wenn ich ihre Essenz absorbieren will, werde ich viel mehr schreiben müssen.
Als ich meine Arbeit am Dossier abschließe, sehe ich mir zutiefst befriedigt die Seiten an; es ist, als hätte sie weniger Macht über mich, wenn ich über sie schreibe.
Tilda lässt mich sehr intensiv an ihrer Beziehung teilhaben – komm doch mit hierhin, komm doch mit dahin, geh mit uns zum Bowling, geh mit ins Theater. Das ist eigenartig, weil ich meine Schwester früher nur alle drei bis vier Wochen getroffen habe, und dann meistens für Filmnächte. Das Neueste ist eine Einladung, mich mit ihr und Felix am Stadtteilmarkt zu treffen und ihnen bei der Suche nach einem französischen Käse namens Cancoyotte zu helfen, der anscheinend mit Champagner und Walnüssen serviert werden muss. Außerdem möchte sie Roggenbrot, Karamell mit Meersalz und ein Mini-Gewächshaus für die Fensterbank kaufen, um Rucola und Mangold anzupflanzen. Tilda erklärt ihre Einkaufsliste am Telefon in einem Tonfall, als handele es sich bei ihren Nischenprodukten um weltbewegende Neuigkeiten, aber ich glaube, eigentlich geht es nur darum, mich mehr Zeit mit Felix verbringen zu lassen. Ich sage sofort zu.
Die Aussicht, ihn bald wiederzusehen, steigert wieder meine Wahrnehmung der Welt um mich herum, und als ich zum Londoner Straßenmarkt unterwegs bin, erscheint alles in größter Klarheit: Magnolienbäume, rote Busse und Leute, die ihre Labradoodles ausführen (sie sind überall, diese Labradoodles!). Als ich auf dem Markt eintreffe, hat mich die kühle Luft gut durchgepustet, meine Haut kribbelt, und ich bin immer noch ganz aufgekratzt. Lange brauche ich nicht zu warten, denn schon bald sehe ich Tilda und Felix auf dem Bürgersteig auf mich zukommen. Felix lächelt mit den Augen, wie üblich, er umarmt mich so richtig fest, das ist so seine Art. Dann stürzen wir drei uns in die Menge, kämpfen uns zu den Marktständen durch und versuchen, an den Köpfen der anderen Kunden vorbei zu erkennen, was dort eigentlich verkauft wird.
Tilda und Felix haben einander die Arme um die Taillen gelegt und benehmen sich wie Turteltäubchen. Nach etwa einer Stunde latsche ich nur noch hinter den beiden her und bin kaum noch in ihre Unterhaltung einbezogen. Mein Gefühl schlägt um – ich bin nicht mehr angeregt, sondern meine Begeisterung schwindet zusehends. Ich komme mir allmählich plump und dumpf vor, als sei ich irgendwie in die Rolle eines dummes Schafes gerutscht, das ihnen blöde von Stand zu Stand folgt, während sie Chorizo, Salami und in seltene Olivenöle getunktes Brot kosten. Felix stellt Fragen zu den Herstellungsmethoden und den Geschmacksrichtungen, und mir fällt zum ersten Mal auf, dass er die Leute mit seiner distanzierten, leisen Art zu sprechen dazu zwingt, sich vorzubeugen, um ihn zu verstehen.
Bei einer Gelegenheit gibt er sich besondere Mühe um mich. »Probier den mal, Callie«, sagt er. »Hat der nicht einen herrlichen Beigeschmack, gleichzeitig salzig und sauer?« Dann schiebt er mir einen Krümel Ziegenkäse in den folgsam geöffneten Mund. Tilda hat sich verliebt bei ihm untergehakt, sieht mich an und wartet auf meine Reaktion. »Der ist bitter«, sage ich, »nicht wie Cheddar.« Dann ziehen wir weiter zu einem Stand, wo frisch gepresster Apfelsaft verkauft wird und ein Glatzkopf Saft in winzige Becher gießt.
»Hey, meine Schöne«, sagt er zu Tilda, »den musst du mal probieren.« Und schickt dann das Unvermeidliche: »Ich kenne dich, oder?« hinterher.
Wo sie geht und steht, wird Tilda als die Schauspielerin aus Rebecca wiedererkannt. Sogar wenn sie eine große Sonnenbrille trägt. Sie nippt an dem Getränk, sagt aber kein Wort, und als sie den Pappbecher zurückgibt, drängt Felix sie zum Weitergehen. Der Glatzkopf wendet sich an mich. »Wer ist der denn? Ihr Aufpasser?«
Wir nehmen ein Taxi in die Curzon Street, und Tilda und Felix gehen in die Küchenecke, um aus ihren Markteinkäufen ein Mittagessen zuzubereiten, während ich auf dem Sofa sitze und in dem Vogue-Heft herumblättere, das auf dem Beistelltisch liegt. Ich schnuppere an der beigelegten Parfümprobe und reibe mir den Duft auf die Handgelenke und hinters Ohr. Ich schaue auf und sehe, dass Felix Tilda mit liebevollem Blick dabei beobachtet, wie sie alles auf den Tellern anrichtet, dann blickt er ihr nach, als sie ins Schlafzimmer geht. »Sieht gut aus«, sagt er, als sie wieder herauskommt. Sie hat eine weite lachsfarbene Bluse angezogen, die fast durchsichtig ist, und ich bin mir sicher, dass er sie gekauft und ihr geschenkt hat. Sogar mit meinem unerfahrenen Blick erkenne ich, dass sie teuer war.
»Hübsch«, bemerke ich.
Sie stolziert durchs Zimmer wie Cara Delevingne über den Laufsteg. »Givenchy!«, verkündet sie.
»Wenn du das sagst.«
Ich sehe, wie sie die Arme um Felix legt und sich mit einem zärtlichen Kuss bei ihm bedankt, dann stellt sie sich so dicht neben ihn, dass ihre Arme sich berühren, während sie sich um das Essen kümmern.
Ich starre in die Vogue, doch ich lese nicht, sondern belausche ihre Unterhaltung, die hauptsächlich daraus besteht, dass Tilda Fragen stellt. »Was ist mit Julio?« – »Welche Strecke bist du heute Morgen gelaufen?« – »Gefallen dir meine Nägel?« – »Magst du diese Schuhe?« Was er von ganz banalen Dingen hält, ist offenbar so entscheidend, dass es die beiden zusammenschweißt, und die Stimmung in der Küche ist vertraulich. »O Mist!«, platzt Felix plötzlich wie aus heiterem Himmel aus. »Ich habe vergessen, Sprudel zu kaufen …«
Sein aggressiver Tonfall und seine wütende Miene lassen die Stimmung im Raum schockartig von heimelig zu frostig umschlagen, wie bei einer Dusche, die plötzlich eiskalt wird. Seine Reaktion wirkt völlig überzogen, schließlich ist das keine große Sache. »Mir reicht Leitungswasser«, erkläre ich. »Mir auch«, meint Tilda. Aber da ist er schon an der Tür. Er knallt sie hinter sich zu, und wir hören noch ein weiteres: »Mist!«
»Was hat das denn zu bedeuten?« Ich komme vom Sofa hoch und gehe zu meiner Zwillingsschwester in den Küchenbereich, wo sie am Kühlschrank lehnt, als hätte sie sich vor seiner Wut dorthin geflüchtet.
»Keine Ahnung … Offenbar kann Felix ohne Mineralwasser nicht.«
Ich spüre, dass Tilda mit den Tränen kämpft, was ebenfalls überzogen wirkt.
»Na komm, erzähl … es geht doch gar nicht ums Wasser, oder?«
Sie schüttelt den Kopf, zupft an ihren Ärmeln und zieht sie sich bis über die Handgelenke.
»Ich weiß, du möchtest, dass ich ihn mag«, sage ich, berühre sie flüchtig am Arm und sehe, dass sie zurückzuckt. »Das tue ich auch. Ich finde, er ist toll … aber das war seltsam. Ich meine, es ist doch nur Wasser, doch er ist aus heiterem Himmel so ausgerastet.«
»Er hat auf der Arbeit eine Menge Druck, und dann kommt manchmal so etwas dabei heraus. Dann dreht er einfach durch.«
»Das war aber ziemlich unangenehm.«
Tilda schüttelt den Kopf, wie um zu sagen, dass ich ihn nicht kritisieren soll, und sagt mit brüchiger Stimme: »Warte nur. Wenn er zurückkommt, ist er wieder okay.«
Ganz spontan beuge ich mich vor, ziehe ihr den seidenen Givenchy-Ärmel bis zum Ellenbogen hoch und entblöße weiße Haut voller gelber und blauer Stellen, die wie verwischte Tintenflecke aussehen.
Ich halte ihren Arm fest, um ihn mir genauer anzusehen.
»Hör auf damit!«, sagt sie. »Verdammt!«
»Tilda! Was geht da vor sich? Bitte sag es mir.«