ISBN: 978-3-95764-229-5
1. Auflage 2018, Altenau (Deutschland)
© 2018 Hallenberger Media GmbH, Altenau
Covergestaltung: Sabrina Gleichmann unter Verwendung von Bildern von depositphotos.com
Alle Rechte vorbehalten.
„Du hast ein Geheimnis, junge Menschenfrau. Dein Blut ist anders, als das der Menschen, die bisher das Pech hatten, mir zu begegnen.“
„Alles nimmt Aufstellung!“, brüllte der diensthabende Offizier vom Schießstand aus. Innerhalb weniger Sekunden standen alle Rekruten in einer Linie. Im Innenhof des Schlosses wehte eine kühle Brise, doch in voller Kampfausrüstung merkten die Jugendlichen davon nichts. Der Offizier, dessen Namen Caylee bereits wieder vergessen hatte, schritt vor ihnen auf und ab. Er war erst vor einer Woche gekommen und würde wahrscheinlich in zwei oder drei Monaten schon wieder verschwunden sein. Soldaten und Offiziere wurden immer an der Front gebraucht und waren selten längere Zeit im Schloss beschäftigt.
„Die heutige Übung wird euch herausfordern und euch bis an eure Grenzen gehen lassen. Nicht mehr lang, und ihr erreicht das 18. Lebensjahr. Was auch immer ihr für Kräfte entwickelt, ihr müsst im Kampf auch ohne sie auskommen können. Das andere Team wird eine ähnliche Aufgabe bekommen. Wer gewinnt, bekommt heute einen freien Abend. Die Verlierer absolvieren eine extra Runde im Boxring.“
Niemand verzog das Gesicht, doch Caylee wusste, dass alle Rekruten innerlich aufstöhnten. Der Boxring war ein Raum im Schloss, der für den Nahkampf genutzt wurde. Dachte man bei der Bezeichnung Schloss an ein altertümliches Gebäude mit Zinnen und Wehrtürmen, entsprach Caylees Zuhause dieser Vorstellung so gar nicht. Zumindest nicht das Innere des Gemäuers, das vor etlichen Jahren restauriert und mit allerlei hochmoderner Technik ausgestattet worden war. Normalerweise hatten sie in besagtem Raum zwei Stunden Unterricht am Tag. Doch in letzter Zeit nahm dieser Teil ihrer Ausbildung eine noch größere Rolle ein und somit mehr Zeit in Anspruch. Und strapazierte Muskeln, geprellte Rippen und blutige Nasen waren die Folge. Die freien Abende waren rar und für die Rekruten kostbar.
„Teamkapitän wird Caylee sein.“ Jetzt konnte sie tatsächlich auch ein leises Stöhnen der anderen vier hören. Doch der Offizier bekam davon zum Glück nichts mit.
„Ihr bekommt einen ganz besonderen Auftrag. Sucht den verwundeten Soldaten und schafft ihn aus der Gefahrenzone.“
Caylee bekam eine Karte mit detaillierten Umgebungsdaten in die Hand gedrückt. Da sie wie die anderen Rekruten den Blick nach vorn gerichtet hielt, konnte sie noch nicht mehr erkennen.
„Ich erwarte, dass ihr alle unverletzt am Punkt X ankommt, und zwar mit dem verwundeten Soldaten. Solltet ihr gegen die anderen fünf Rekruten der gegnerischen Gruppe verlieren, werdet ihr in den nächsten Tagen am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn man sich wünscht, sterben zu wollen.“
Der Offizier sah jedem Rekruten einzelnen in die Augen, dann brüllte er: „Irgendwelche Fragen?“
Stille beantwortete die Frage, die eigentlich keine war. Schon früh hatten sie gelernt, dass es unklug wäre, tatsächlich etwas zu fragen. Der Offizier verzog die Lippen zu etwas, das man ein halbes Lächeln nennen konnte.
„Gut. Los geht es!“ Im lockeren Laufschritt liefen die Jugendlichen ins Innere des Schlosses. Es gab einen Raum, der fast den gesamten rechten Flügel des Gebäudes einnahm. Hochmoderne Technik war darauf getrimmt worden, die Rekruten in echt wirkenden Gefechten zu testen. Leichte Verletzungen standen bei diesen Übungen auf der Tagesordnung. Doch diesmal war es für Caylee anders. Sie hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Nervös umfasste sie die Karte in ihrer Hand noch fester.
Nachdem sie im Trainingsraum angekommen waren und die Tür hinter ihnen verriegelt worden war, richteten sich vier Augenpaare auf sie. Sie waren allein und kein Soldat würde innerhalb der nächsten Stunden eingreifen. Außer natürlich, einer der Rekruten starb. Obwohl sie alle seit ihrem fünften Lebensjahr im Schloss zusammen lebten und ausgebildet wurden, waren sie weder Verbündete noch Freunde. Der allgegenwärtige Rivalitätswahn hatte jede freundschaftliche Regung schon im Keim erstickt.
„Und Caylee, denkst du, du schaffst es, uns alle am Leben zu erhalten?“, fragte einer der Jungs herablassend. Doch sie ließ sich von Cole nicht aus der Ruhe bringen.
„Wenn du dich diesmal an die Anweisungen hältst, dann schon“, entgegnete Caylee kühl. Sie musterte die anderen Rekruten und hoffte inständig, dass sich ihr ungutes Gefühl nicht bewahrheiten würde. Neben ihr war Anna das einzige andere Mädchen in ihrer Gruppe. Doch seit dem Tag, an dem herausgekommen war, dass Caylee die Tochter des Königspaares war, hatte sich Anna ihr gegenüber nur noch zurückhaltend und feindselig verhalten. Die drei Jungs hielten noch weniger mit ihrem Spott und ihrer Verachtung hinterm Berg. Ihrer Meinung nach war es unfair, dass Caylee mehr Freiheiten besaß als die anderen. Wobei sie ihnen nicht einmal einen Vorwurf daraus machte. Sie hatte nicht um eine Bevorzugung gebeten, auch wenn das nur ein größeres Zimmer und den Zutritt zur Küche bedeutete. Caylee biss die Zähne zusammen und studierte die Karte in ihrer Hand.
„Irgendetwas stimmt hier nicht“, sagte sie nachdenklich. Nun warf auch Anna einen Blick auf die verschlungenen Linien, die den Weg durch einen Dschungel zeigen sollten.
„Sieht so aus, als ob es mehrere Fallen geben wird. Selbst einen Hinterhalt beim Verwundeten können wir nicht ausschließen.“
Nachdem das lebensechte Hologramm eines dichten Waldes entstanden war und die Luft beißend und stickig warm wurde, machten sie sich auf den Weg.
„Hier müsste sich ein Rebellenlager befinden. Dort können wir uns mit Waffen eindecken“, sagte Caylee, während sie eine kurze Rast auf einer Lichtung machten und auf die Karte schauten. Lästige Stechinsekten nutzten jeden Flecken freier Haut, um die Rekruten in den Wahnsinn zu treiben. Aber in Wirklichkeit gab es natürlich keine Stiche, obwohl es sich sehr echt anfühlte. Sie wurden seit zwölf Jahren darauf trainiert, sich durch nichts und niemand im Kampf aufhalten zu lassen.
Caylee wischte sich den Schweiß von der Stirn und steckte die Karte wieder ein. Bisher hatten die anderen auf sie als Anführerin gehört, doch sie blieb weiterhin wachsam. Die Anspannung schärfte ihre Sinne und ließ sie beim kleinsten Geräusch aufhorchen. Sie erreichten das von schwerem Geschütz zerstörte Dorf. Überall lagen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Körper herum, die einmal lebendige Menschen gewesen waren. Kinderspielzeug lag verkohlt oder zertrümmert herum. Wie so oft zuvor sagte sich Caylee immer wieder, dass das alles nur eine Illusion war. Auch wenn sie den Verwesungsgeruch nicht länger ignorieren konnte, war das alles nicht echt. Noch nicht. Denn sobald alle zehn Rekruten ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert hatten, würden sie an die Front geschickt werden. Daraus wurde nie ein Geheimnis gemacht. Sie hatten noch genau sechs Monate, um sich darauf vorzubereiten. Durch Handzeichen verständigten sie sich, während sie in den Trümmern der Häuser nach Waffen suchten.
„Ab und zu wäre es schön, wenn man uns bewaffnet auf eine Mission schicken würde“, murrte Anna nicht weit von Caylee entfernt. Wegen ihrer drahtigen Figur und der blonden Haare konnte man fast vergessen, dass Anna mit einigen wenigen Hieben selbst den stärksten Mann in die Knie zwingen konnte. Ihre Leidenschaft galt allerdings den Maschinengewehren und den kleineren Waffen, mit denen sie ebenfalls trainierten. Diesmal musste Caylee ihr recht geben. Die trügerische Stille konnte nicht verbergen, dass ein Surren in der Luft lag. Und das kam nicht von den nervigen Insekten. Nein, das kam von der Ahnung, dass ihre Mission nicht mehr lange so ruhig bleiben würde.
Als die ersten Schüsse fielen, ließen sich die Rekruten auf den Boden fallen oder sprangen in Deckung. Caylee verteilte die Rekruten, da das gegnerische Feuer nur von einer Stelle kam. Doch je näher sie heranrückten, desto misstrauischer wurden sie. Und genau das rettete Cole davor, eine Kugel in der Schulter abzubekommen. Jetzt wurde von drei weiteren Standorten das Feuer auf sie eröffnet. Es kostete sie weitere wertvolle Zeit, alle Schützen zu eliminieren. Und auch hier waren es nur menschlich aussehende Roboter, die allerdings verdammt schnell waren und einen fiesen rechten Haken besaßen. Caylee schlug gerade dem letzten Angreifer mit einem Überbleibsel einer Hauswand den Schädel ein, als Anna rief: „Ich habe eine Truhe mit Waffen gefunden.“
„Schnappt euch alles Notwendige und dann verschwinden wir von hier“, ordnete Caylee an. Normalerweise hätte einer der Jungs sie mit dem Namen Prinzessin aufgezogen, doch in einer Kampfübung rissen sie sich in der Regel zusammen. Caylee steckte sich eine Machete in den Hosenbund und nahm sich zusätzlich eine kleine Waffe heraus, deren Zweck es war, den Gegner mit einem Elektroschock unschädlich zu machen. Schusswaffen waren nie ihr Ding gewesen, auch wenn sie natürlich wusste, wie man damit umging und noch wichtiger – wie man damit sein Ziel traf.
Sie kamen die nächsten drei Stunden ohne weitere Angriffe durch den Dschungel voran. Die hohen Laute der Vögel schienen sie schließlich fast zu verhöhnen, als sie den verletzten Soldaten fanden. Er war lebensbedrohlich am Bein verwundet, was die Rettungsmission stark erschwerte.
„Eric, leiste du dem Soldaten Erste Hilfe. Marcus und Cole, ihr holt genug Material, um eine Trage zu bauen. Anna und ich halten währenddessen Wache. Sobald ihr wieder da seid, füllen wir unsere Wasserreserven am Fluss auf, den wir vor einigen Minuten passiert haben.“
Ohne Widerworte machte sich das Team an die Arbeit. Während Eric das Bein schiente und verband, stieß der Roboter Laute des Schmerzes aus. Zum Glück wurde er nach kurzer Zeit bewusstlos. Caylee beobachtete Eric und den Verletzten. Ohne das ungute Gefühl in ihrem Magen wäre es ihr vielleicht gar nicht aufgefallen.
„Was ist?“, fragte Eric irritiert, als sie sich neben den Verletzten kniete und sein Gesicht musterte. Schweißperlen liefen über seine Stirn nach unten. Doch am auffälligsten waren seine Augenringe.
„Kommt dir an dem Verletzten nicht etwas seltsam vor?“, fragte Caylee. Eric war der Analytischste unter ihnen. Er folgte ihrem Beispiel und musterte den Soldaten.
„Er sieht ziemlich echt aus“, fing Eric an. „Seine Haut ist bleich und fasst sich wie die einer wirklichen Person an. Der Bart lässt ihn, glaube ich, älter erscheinen.“ Caylee nickte. Wenn man sich den Bart wegdachte, dann konnte er gut und gerne in ihrem Alter sein. Nun betrachtete Eric sein Gesicht noch genauer. Dabei entfuhr ihm ein ziemlich derber Fluch.
„Was zum Geier ist hier los? Das ist kein Roboter, oder? Das ist ein Mensch.“
„Roboter haben zumindest keine Augenringe.“ Die Technik der Menschen war hochmodern, doch Schattierungen unter der Haut waren nach wie vor nur sehr schwer und für viel Geld zu imitieren. Und das Militär hatte definitiv nicht die Mittel, einen A1-Roboter für einen Übungseinsatz zu nutzen.
„Die Frage lautet also, warum liegt hier ein verwundeter Rekrut der anderen Gruppe?“, fasste Caylee die Schlussfolgerung zusammen.
„Ihr meint wirklich, dass das ein Rekrut der anderen Gruppe ist?“, fragte nun auch Anna, die bisher den Mund gehalten hatte. Eric nickte zustimmend, bevor er erklärte: „Er trägt die gleiche Ausrüstung wie wir. Der Bart täuscht den Betrachter nur im ersten Moment. Wenn ich raten dürfte, dann würde ich sagen, dass das hier der Hinterhalt ist, den wir vermutet haben.“ Caylee dachte dasselbe. Ein kurzer Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk sagte ihr, dass Cole und Marcus schon eine Weile unterwegs waren. Sie hatten nicht mehr als eine halbe Stunde für ihren Auftrag zur Verfügung. Und die Frist lief in zehn Minuten ab.
„Cole und Marcus müssten gleich zurück sein. Wir sichern unseren Standort. Doch der Auftrag bleibt bestehen. Wir bringen den Verwundeten zum vereinbarten Treffpunkt.“
Caylee bezog einige Meter entfernt vom verletzten Rekruten Stellung. Ihr war bewusst, dass jetzt jede Minute zählte. Die Wunde am Bein war tief und tödlich, wenn sie ihn nicht schnell zu einem Arzt brachten. Die Dynamik der ganzen Übungsmission hatte sich damit verschoben. Der Krieg war nun bitterer Ernst. Ein Knacken im Unterholz warnte Caylee vor dem Messer, das auf sie zugeflogen kam. Es erwischt sie an der Wange. Doch sie beachtete die kleine Schnittwunde nicht weiter und ging hinter einem Baum in Deckung. Etwas wurde geworfen und im nächsten Moment wurde den Rekruten die Sicht durch Rauch genommen. Schnell setzte sich Caylee ihren Mundschutz und die Spezialbrille auf. Sie war nur für wenige Sekunden ohne Sicht. Als sich das Bild in der Brille digitalisiert schärfte, war sie nicht überrascht, Cole vor sich zu sehen. Er hielt eine Glock in der Hand. Die Waffe war nicht unter denen gewesen, die sie im Lager gefunden hatten, da war Caylee sich sicher. Ihr reiner Überlebenswille brachte sie dazu, im richtigen Moment in Deckung zu gehen. Die Kugel erwischte sie dennoch an der rechten Schulter. Beißender, heißer Schmerz schoss durch ihren Körper. Doch sie wollte und konnte Cole nicht die Gelegenheit geben, einen weiteren Schuss abzufeuern. Also warf sie sich nach vorn. Als Frau lag ihr Schwerpunkt niedriger als der eines Mannes. Jahrelange Übung brachte ihren Körper dazu, einfach zu reagieren. Als sich der Rauch wieder lichtete, lag Cole am Boden. Caylee hielt die Waffe auf ihn gerichtet.
„Bist du verletzt?“, rief Eric ihr zu, nachdem er bemerkt hatte, dass der Angreifer kampfunfähig am Boden lag.
„Nein“, log Caylee. Ihre Weste verdeckte die Wunde, doch sie spürte das warme Blut, das ihren Körper hinunterlief. Cole lag mit stoischer Miene am Boden. Die rechte Hälfte seines Gesichts verfärbte sich bereits blau.
„Was geht hier nur vor sich?“, fragte Anna mehr verwirrt als beunruhigt.
„Ich gehe davon aus, dass Cole zur anderen Gruppe übergelaufen ist. Der verletzte Rekrut hat dort ja immerhin eine freie Position hinterlassen.“
An Cole gewandt sagte Caylee: „Wo ist Marcus?“ Doch wie erwartet, schwieg er.
Die Schmerzen waren kaum noch zu verheimlichen, also wandte Caylee sich ab und gab vor, die Umgebung zu betrachten. Wenn noch ein Verräter in ihrem Team war, dann wäre es taktisch unklug, ihre Verletzung zuzugeben. Außerdem würde es dann ihr Offizier erfahren. Die Soldaten, die die Rekruten beschützten – oder bewachten, wie Caylee eher vermutete – klopften immer wieder dumme Sprüche. Unter anderem erzählten sie auch Geschichten von Rekruten, die im Training so schwer verletzt worden waren, dass im Anschluss niemand mehr etwas von ihnen gesehen hatte. Keiner der Soldaten wusste, was mit den Jugendlichen geschah, die für weitere Trainingseinheiten untauglich wurden. Und Caylee hatte keine Lust, das jetzt rauszufinden. Schon gar nicht, da sie doch so kurz vor dem Ziel stand. Mit achtzehn durften die Rekruten das Schloss endlich verlassen. Und diese Chance würde sie sich auf keinen Fall entgehen lassen.
„Wir werden Marcus suchen gehen, dann sehen wir zu, dass wir den Verletzten zum vereinbarten Punkt bringen.“ Anna zuckte gelangweilt mit den Schultern, Eric nickte zustimmend.
So machten sie sich mit der Trage und Cole als Gefangenem auf die Suche nach dem fünften Rekruten ihrer Gruppe. Es dauerte zum Glück nicht allzu lang, bis sie ihn an einen Baum gefesselt und vor Wut schäumend fanden.
Caylee hatte unbemerkt etwas auf die Wunde gestopft, damit die Blutung aufhörte. Während des Rückwegs fühlte sie sich wie hinter einer Wand aus leichtem Nebel. Ihr wurde kalt, dann mal wieder heiß.
Als die Mission beendet war, verschwanden die Bilder des Dschungels um die herum.
„Gab es irgendwelche Probleme?“, fragte der Offizier Caylee mit forscher Stimme. Sie erzählte ihm vom Hinterhalt und ihrer Entdeckung, dass der Verletzte kein Roboter war, doch er ließ sich nicht anmerken, was er darüber dachte. Bei der Erwähnung der Schusswaffe, mit der Cole sie hatte töten wollen, verzog er allerdings den Mund zu einem schmalen Schlitz. Er war sichtlich wütend, doch auch hier behielt er seine Gedanken für sich.
„Gibt es Verletzungen unter den Rekruten?“ Der Offizier sah Caylee direkt in die Augen und erst da fiel ihr ein, dass er von der Schusswunde wissen musste. So ein Mist! Im Stillen schalt sie sich eine Närrin. Das Programm, das für den Dschungel und die nervigen Insekten verantwortlich war, überprüfte natürlich auch die Vitalfunktionen der Rekruten. Was sollte sie nun also tun? Kurz entschlossen antwortete sie: „Keine nennenswerten, Sir.“ Sie spielte mit dem Feuer und das wusste Caylee auch. Der Offizier sah sie einige Sekunden lang schweigend an. Dann nickte er und die Jugendlichen waren entlassen. Caylee war sich sicher, dass es für Cole keine Konsequenz gab. Sie befanden sich im Krieg und wenn die Rekruten untereinander solche Spielchen spielten, dann mussten sie eben auch mit dem Ergebnis leben. Sie waren auf sich gestellt und jeder kämpfte für sich selbst.
Da sie nicht zum Training in den Boxring geschickt wurden, vermutete sie, dass ihre Gruppe gewonnen hatte. Doch letztendlich war das schwer zu sagen. Keiner aus ihrer Gruppe hatte bis jetzt die andere Gruppe gesehen. Der Verletzte war der erste fremde Rekrut, den sie zu Gesicht bekommen hatten.
Anna, Marcus und Eric gingen alle in Richtung ihrer Zimmer. Sie bewohnten jeweils zehn Quadratmeter, Caylee hatte einen Raum mit zwanzig Quadratmetern zugeteilt bekommen. Doch obwohl die Schmerzen mittlerweile kaum noch auszuhalten waren, schlug sie den Weg zur Kantine an. So wurde der ehemalige Ballsaal des Schlosses genannt, weil hier die Rekruten, die Soldaten und ihre Vorgesetzten mit Nahrung versorgt wurden. An den Tagen, an denen Caylees Freundin Gnah keinen Dienst hatte, konnte man das Essen wirklich nur als Nahrung bezeichnen. Es war geschmacklos und sah meistens wie eine nicht zu definierende Masse aus. Doch wenn Gnah den Kochlöffel schwang, verputzte man auch noch den letzten Krümel, selbst wenn er auf den Boden gefallen war.
Caylee schleppte sich durch den riesigen Raum bis nach hinten zur Küche. Die Tür hörte sich unnatürlich laut in ihren Ohren an, als sie öffnete. Caylee hatte das Gefühl, dass der Boden mit einem Mal nicht mehr fest, sondern wabbelig war.
„Caylee?“, hörte sie schon die fragende Stimme ihrer Freundin. Stöhnend ließ sie sich auf einen Hocker fallen. Und dann kam Gnah auch schon angestapft. Als Trollin besaß sie die typisch knollige Nase, die strohigen Haare und die ledrige Haut. Doch sie war laut eigener Aussage auch noch besonders breit, worauf Gnah wirklich stolz war. Und es stimmte, sie war dreifach so breit wie Caylee. Doch am wichtigsten war, dass sie das gütigste Lebewesen war, das Caylee kannte. Seit sie als kleines Mädchen ins Schloss gebracht worden war, wachte Gnah über sie. Und im Laufe der Jahre war eine besondere Freundschaft gewachsen, von der allerdings niemand wusste.
„Sind wir allein?“, fragte Caylee mit zusammengebissenen Zähnen. Die Trollin nickte und ihre talergroßen Augen schauten das Menschenmädchen vor sich besorgt an.
„Ja. Keiner da. Warum? Warum riecht Gnah Blut?“ Mit zitternden Fingern öffnete Caylee ihr Oberteil und entfernte dann die Schussweste, die sie darunter trug. Die Kugel hatte genau die Stelle getroffen, an der die Weste endete.
„Cole hat mich in einer Übung angeschossen.“ Gnah hatte schon leichtere Verletzungen behandelt, die Caylee sich im Training zugezogen hatte. Obwohl sie unter Menschen aufgewachsen war, besaß sie ein Buch ihrer Mutter, in dem viele Heiltränke und alte Magien standen, die der Heilung dienten. Die Tränke konnte sie zubereiten, die magischen Heilmittel blieben ihr allerdings verwehrt. Alle Trolle, die bei den Menschen lebten oder gegen ihre Gesetze verstießen, bekamen eine Fußfessel um, die sie daran hinderte, ihre Magie zu nutzen. Der besorgte Blick, den Gnah auf die Wunde warf, gefiel Caylee ganz und gar nicht.
„Glatter Durchschuss. Böse Entzündung. Riecht süßlich. Tippe auf Gift.“ Ein Schauer erfasste Caylees Körper und hätte Gnah sie nicht aufgefangen, wäre sie zu Boden gestürzt.
„Dieser Schweinehund hat nicht nur versucht, mich zu erschießen? Er geht auch noch auf Nummer sicher und vergiftet mich?“ Die Trollin nickte, sagte aber nichts weiter. Stattdessen drehte sie sich weg, um in einer Truhe mit Lebensmitteln zu wühlen. Sie holte einige Blätter Kohl heraus, zog eine Raspel aus der Tasche und benutzte diese, um ihre Nägel damit in Pulverform auf den Blättern zu verstreuen. Caylee verschwamm immer wieder die Sicht. Sie schreckte auf, als Gnah ihr die Blätter auf die Wunde drückte. Sie wollte lieber nicht daran denken, dass sich nun auch geraspelte Fingernägel einer Trollin in ihrer Wunde befanden. Zuerst wurde das Brennen stärker, dann wurde es besser und der Schmerz wurde immer dumpfer. Als Gnah ihren überraschten Gesichtsausdruck sah, sagte sie: „Wirkung hält nur zwei oder drei Stunden an. Müssen das Gift aus deinem Körper holen.“
„Kannst du das denn?“
Gnah schüttelte bedauernd den Kopf. Pure Verzweiflung erfasste Caylee. Sie hatte so viele Jahre getrennt von ihrer Familie überlebt, um zu etwas ausgebildet zu werden, das ihrem Land im Krieg gegen die Nachbarstaaten und die Dämonen helfen sollte. Und nun würde sie an einer Vergiftung sterben. Und das Schlimmste war: hier im Schloss und nicht draußen im Kampf.
„Soll Gnah Offizier verständigen? Vielleicht kann er helfen?“
Caylee schüttelte den Kopf. Er hätte ihr bereits geholfen, wenn er gewollt oder dazu in der Lage gewesen wäre. Sie wusste nicht, ob der Computer die Vergiftung ebenfalls registriert hatte. Wenn ja, dann wartete er nur darauf, dass sie ihren letzten Atemzug tat. Sie traute ihm nicht und war nicht bereit, ihre letzten Stunden auf Erden in seine Hände zu geben.
„Gnah kann vielleicht helfen.“
„Ich dachte, du kannst das Gift nicht aus meinem Körper ziehen?“
„Kann Gnah auch nicht. Caylee muss versprechen, nicht böse zu werden.“
„Gnah, was ist los? Was möchtest du mir sagen?“
Die Trollin ließ die Schultern hängen, was bei diesem ein Meter sechzig großen Wesen sehr seltsam aussah. So hatte sie ihre Freundin noch nie gesehen. Nicht mal, als sie einen Monat lang ohne Salz hatte kochen müssen, weil die Lieferung auf dem Weg zum Schloss von Dämonen angegriffen worden war.
„Gnah war nicht artig. Hat das Schloss mehrfach verlassen, obwohl sie das nicht darf. Dabei hat sie Freunde gefunden. Die können Caylee bestimmt helfen.“
Seitdem die Menschen den Krieg gegen die Dämonen und natürlich auch gegen sich selbst führten, hatten sie Trollkinder, die von ihren Familien im Krieg getrennt worden waren, aufgenommen. Doch das war nicht so eigennützig gewesen, wie es klang. Die Trollkinder wurden untersucht, beobachtet und sogar mit einer Fußfessel daran gehindert, ihre Magie zu wirken. Caylee wusste nicht, wie es im Rest des Landes gehandhabt wurde, aber im Schloss durften die arbeitenden Trolle nicht einfach nach Gutdünken durch die Gegend laufen. Gnah durfte die Mauern des Schlosses genau wie die Rekruten nicht verlassen. Diese Ungerechtigkeit hatte schon immer weiteres Salz in die Wunde gestreut, die Caylee verspürte, weil man den Jugendlichen nur so wenige Informationen gab.
„Ich würde nie böse auf dich sein, Gnah. Wenn es einen Weg gäbe, dass du das Schloss für immer verlassen könntest, um frei zu sein, wäre ich eher sauer, wenn du die Chance nicht ergreifen würdest.“
Die Trollin schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. „Nein, Gnah gehört nicht nach draußen. Hier drinnen ist Sicherheit. Draußen warten Schmerz und Tod.“
Caylee legte beruhigend ihre Hand auf Gnahs Arm. „Okay. Und du kannst mich zu deinen Freunden bringen?“
Die Trollin nickte heftig, sodass ihre Haarmähne wild mitwippte. „Komm“, antwortete Gnah.
Caylee versuchte, mit der schwerfälligen Trollin Schritt zu halten, doch die Wunde forderte ihren Tribut. Auch wenn die Schmerzen zu einem leichten Pochen abgeflaut waren, schwanden ihre Kräfte zusehends. Nachdem sie die Küche und den Essenssaal hinter sich gelassen hatten, wobei Gnah sich im Schatten hielt, verlor sie die Geduld. Ohne Probleme hob sie Caylee einfach kurzerhand auf den Arm. Trolle waren dafür bekannt, auch schwere Lasten ohne Probleme zu meistern, und doch kam sich Caylee als ausgebildete Kämpferin so wehrlos wie noch nie in ihrem bisherigen Leben vor. Wobei sie sich natürlich nie als Schwerlast sehen würde.
„Wir müssen an Soldaten vorbei“, sagte Gnah, als sie durch eine Tür nach draußen schielte.
Um einen altertümlichen Brunnen herum patrouillierten zwei Soldaten. Caylees Herzschlag setzte für einen Moment aus, als sie Naim sah. Der junge Soldat konnte nicht älter als achtzehn oder neunzehn sein. Er war seit einem Monat im Schloss stationiert. Sie wusste selbst nicht, warum er sie so faszinierte, aber irgendwie hatte Caylee das Gefühl, dass er anders war als die anderen. Mit seinen blauen Augen nahm er alles wahr, was in seiner Umgebung geschah. Doch dabei strahlte er nicht den unbedingten Willen aus, durch die Arbeit im Schloss die Karriereleiter hochklettern zu wollen. Er war stattdessen meist derjenige, der Streitigkeiten schlichtete, auch unter den Rekruten. Naim hatte sogar nette Worte für sie übrig. Das hatte es in all den Jahren zuvor noch nie gegeben. Und er verriet nie die anderen Soldaten, wenn er etwas mitbekam, das nicht den Vorschriften entsprach. Zigaretten und Schokolade wurden unter der Hand getauscht, was allerdings gegen die Regeln des Militärs verstieß. Er beteiligte sich nicht am Handel, verpfiff aber auch niemanden. Allerdings würde er nicht zulassen, dass Gnah sie aus dem Schloss brachte.
„Wo müssen wir hin?“, fragte sie die Trollin.
Gnah deutete auf den Brunnen. „Da runter.“
Caylees Augen wurden groß, doch sie sagte nichts. Auf die Idee, durch den Brunnen nach draußen zu gelangen, waren bestimmt schon andere gekommen. Auch sie selbst hatte als Kind mal einen Blick hineingeworfen. Man konnte gut vier oder fünf Meter nach unten schauen, dann war eine massive Holzplatte eingebaut worden, die den Brunnen versiegelte. Eigentlich war er nur noch ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, das niemand beachtete und bei dem sich auch niemand die Arbeit machte, es abzureißen. Die Frage war nun also, wie sie an den beiden Soldaten vorbei zum Brunnen kamen. Caylee vertraute Gnah so sehr, dass sie die Gefahr einer Entdeckung eingehen würde, obwohl sie nicht wusste, wie sie die Holzplatte aus dem Brunnen bekommen sollten.
Naim unterhielt sich gerade mit dem anderen Soldaten, als Caylee sich wieder auf ihn konzentrierte. Erstaunt sah sie zu, wie er etwas sagte, der andere Soldat nickte und dann Naim allein zurückließ. Noch erstaunter war sie allerdings, als er sich umsah und dann einfach in den Brunnen sprang. Ihre Finger krallten sich in Gnahs kalte Haut.
„Habe ich das eben richtig gesehen? Oder bin ich im Fieberwahn?“
„Hab es auch gesehen. Nicht gut, die Makropoden mögen keinen Besuch.“ Die Trollin kaute auf ihrer Unterlippe herum, sah vom Brunnen zu Caylee und dann wieder zum Brunnen. Als sie die Schultern straffte, wusste Caylee, dass Gnah eine Entscheidung getroffen hatte.
„Müssen das Risiko eingehen. Ohne Hilfe stirbt Caylee. Gnah wird ihre Freundin nicht verlieren.“
Caylee kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn Gnah rannte mit einem Mal mit ihren kurzen Beinen los. Am Brunnen angekommen, sprang sie behände in die Luft, um im schwarzen Loch des Brunnens zusammen mit Caylee im Arm zu verschwinden. Sie musste einen Schrei unterdrücken, doch als Gnah hart auf einer Wiese landete, wurde ihr die Luft aus den Lungen gepresst. Trotzdem musterte sie unbeirrt die Umgebung.
„Wo sind wir?“, fragte Caylee schließlich verblüfft. So weit das Auge reichte, sah man nur eine Wiese mit farbigen Tupfern von blühenden Wiesenblumen. Caylee konnte sich daran nicht sattsehen. Es war etliche Jahre her, dass sie eine Wiese gesehen hatte. Und mittlerweile war die Erinnerung daran fast verblasst. Das hieß natürlich, wenn man die Hologramme bei den Übungen nicht mitzählte.
„Ist Zwischenebene. Monster sollen hier leben, hab ich gehört.“
Bevor Caylee weiterfragen konnte, drehte Gnah sich um. Überraschenderweise befanden sich in dieser ansonsten leeren Landschaft zwei weitere Brunnen.
„Rechts geht nach oben ins Schloss, links weiter nach unten. Vorsicht, kann nass werden.“
Gnah setzte Caylee in einen übergroßen Eimer, der neben dem linken Brunnen stand, dann hob die Trollin ihn auf und ließ ihn an einem Seil nach unten. Die Schmerzen nahmen langsam wieder zu und Caylee hatte das Gefühl, dass ihre Zunge und ihre Lippen taub wurden. Von Naim war keine Spur zu sehen. Als Caylee schließlich den Boden erreichte, sprang Gnah ihr nach.
Beinahe wäre ihr die Kinnlade nach unten gefallen. Der Eimer war genau auf einem schmalen Felsplateau gelandet, neben dem ein Fluss nach unten in einen azurblauen See mündete. Über ihnen befand sich massives Gestein, sodass man das Gefühl hatte, in einer Höhle zu sein. Auch wenn Caylee keinen Himmel und keine Sonne sah, war es taghell. Sie konnte unten im See sogar bunte Fische sehen, so klar war das Wasser. Gnah tätschelte ihr den Kopf, als sie merkte, dass Caylee nicht einmal mehr aufstehen konnte.
„Bald wird es Freundin bessergehen. Caylee wird sehen.“ Die Trollin nahm sie wie zuvor in den Arm und lief mit ihr hinunter.
Die Pflanzen verströmten einen betörenden Duft und das Wasser lud geradezu dazu ein, ein Bad zu nehmen. Und genau das ließ alle Alarmglocken bei Caylee läuten. Auch wenn sie noch nie einen Dämon gesehen hatte, glaubte sie daran. Aber dieser Ort hier schien so unwirklich, dass die Rekrutin in ihr sogleich einen Hinterhalt vermutete. Gnah bekam von ihren Gedanken nichts mit. Sie stellte sich an den Rand des Sees und rief: „Nea, Freundin von Gnah braucht Hilfe!“ Ihre Stimme hallte durch diese unwirkliche Welt und brachte sogar die Fische im Wasser dazu, schnell das Weite zu suchen.
Caylee suchte misstrauisch die großen Gesteinsbrocken am Seeufer ab, doch keine Gestalt tauchte auf. Als sie ein Geräusch im Wasser hörte, drehte sie den Kopf und traute ihren Augen kaum. Aus der Tiefe kam ein Wesen angeschwommen, das oberhalb der Taille aussah wie eine Frau in einer silbernen Kampfausrüstung. Die Augen waren etwas zu groß und strahlend und die Haare trotz der Nässe weich und wie ein Wasserfall fallend. Doch das Verrückteste war die schuppige Flosse, die an eine Meerjungfrau aus einem von Caylees Kinderbüchern erinnerte. Man konnte sehen, dass die Schwanzflosse fächerartig weiterlief und auf ihr die verschiedensten Farben aufeinandertrafen.
Wäre sie dazu in der Lage gewesen, hätte Caylee den Dolch aus dem Halfter an ihrem Knöchel herausgezogen. Er durfte in den Übungen nicht genutzt werden, doch Caylees Vorgesetzte gestatten ihr zumindest, ihn zu ihrem Schutz zu tragen. Und der Blick, den die Kreatur ihr zuwarf, besagte, dass sie jetzt lieber nicht wehrlos sein sollte. Auch Gnah spürte die feindseligen Schwingungen.
„Caylee ist Gnahs Freundin. Keiner wird ihr ein Haar krümmen.“ Gnah und das Wesen lieferten sich ein Duell der Blicke, schließlich nickte die fremde Frau.
„Gut, fürs Erste. Aber ich habe dir gesagt, dass hier unten keine Menschen geduldet werden. Und jetzt sind es schon zwei.“
„Zwei?“, fragte Gnah irritiert.
Das Wesen nickte, zeigte mit dem ausgestreckten Arm und dem Zeigefinger auf einen Berg mit Geröll, ehe es sagte: „Der junge Mann, der sich dort verbirgt, war schon ein paarmal hier. Doch noch nie hat er gewagt, so nahe ans Wasser zu gehen. Allein das ist der Grund, warum er noch am Leben ist.“
Caylees Puls beschleunigte sich, als das Wesen sich an den Rücken griff, einen kleinen leuchtenden Ring hervorholte und ihn zu der erwähnten Stelle warf. Sie hörten ein dumpfes Aufstöhnen, dann kam Naim sichtlich widerwillig aus seinem Versteck hervor. Seine Beine schienen ihm nicht mehr zu gehorchen, während der Ring nun viel größer war und um seinen Oberkörper und seine Arme geschlungen war. Entsprechend hölzern kam er an den Rand des Wassers gelaufen. Seine Lippen waren starr aufeinandergepresst und er sah Caylee und Gnah nicht einmal an.
„Was Soldat Naim hier macht, weiß ich nicht. Aber Gnahs Freundin stirbt.“
Caylee sah ein Aufflackern in Naims Augen und endlich schaute er sie an. Ihre Lippen gehorchten ihr nicht mehr, also konnte sie kein Wort sagen. Eine bleierne Müdigkeit durchzog ihren Körper, doch trotzdem bemerkte sie die Sorge im Gesicht des Soldaten. Zum ersten Mal scheute Caylee den direkten Blickkontakt nicht. Und für den Bruchteil eines Augenblickes waren die Müdigkeit und der dumpfe Schmerz verschwunden. Wärme durchflutete sie. Es war seltsam, dass sie so etwas empfand, wenn sie Naim in die Augen schaute. Selbst aus dieser Entfernung sah sie gelbe Sprenkel in seinen haselnussbraunen Augen. Die Lachfältchen verrieten, dass er nicht zu der Sorte Mensch gehörte, der immer allzu ernst durch die Welt lief. Doch wenn er hier war, dann musste mehr hinter ihm stecken. Kein einfacher Soldat würde hier unten herumschnüffeln, ohne es zu melden. Selbst Caylee hätte ihrem Offizier Bescheid gegeben, hätte sie den Durchgang im Brunnen zufällig entdeckt. Sie war als Rekrutin dazu ausgebildet worden, auf das Wort ihrer Vorgesetzten zu hören und bei jedweder Gefahr Alarm zu schlagen.
Das fremde Wesen kam nahe ans Ufer heran und als es seine Hände ausstreckte, spürte Caylee die kalte Berührung auf ihrem Gesicht und auf dem heißen Fleisch um die Wunde herum, obwohl das Wasserwesen sie nicht wirklich berührte. Was war das für Zauberei?
„Das Gift arbeitet schnell. Wie ich sehe, hast du ihren Tod hinauszögern können. Aber sie ist jetzt schon sehr geschwächt. Sie kann ja nicht einmal mehr reden.“
„Kannst du helfen?“
Das Wasserwesen schüttelte den Kopf. „Das kann und das darf ich nicht. Sie ist ein Mensch. Der Feind eines jeden Dämons.“
Das Wesen war ein Dämon? Verwirrt schaute Caylee zu Gnah. Die Trollin schlich sich heimlich in die Unterrichtsstunden der Rekruten. So hatte sie die gleichen Bilder gesehen, dieselben Erläuterungen gehört. Dämonen waren Scheusale aus den Tiefen der Erde. Manche behaupteten, sie kämen aus der Hölle. Doch dieses weibliche Wesen sah weder abscheulich aus, noch hatte es sie bisher getötet. Das widersprach schon einmal zwei der Informationen, die den Rekruten und auch allen anderen Soldaten eingebläut wurden.
„Wenn du nicht hilfst, stirbt Caylee.“
Erst Gnahs eindringlicher Tonfall machte ihr bewusst, dass ihre Worte stimmten. Sie würde sterben, und das nur, weil sie in einer Übung unachtsam gewesen war. Das Atmen fiel ihr nun immer schwerer und Caylee fragte sich, ob sie wohl einfach einschlafen oder ersticken würde. Als Gnah sie auf den Boden legte, spürte sie weder die Härte des Bodens, noch den Schmerz des spitzen Steins, der ihr in den Unterarm schnitt. Rotes Blut quoll aus der Wunde.
Gnah versuchte es noch einmal, diesmal mit zusammengefalteten Händen.
„Gnah bittet Freundin, andere Freundin zu retten.“
Doch das Wesen schien Gnah nicht mehr zuzuhören. Stattdessen war ihr Blick auf Caylees Blut geheftet, das in einem dünnen Rinnsal ins Wasser floss. Als die Fremde ihr schließlich in die Augen sah, konnte sie den Ausdruck darin nicht deuten.
„Du hast ein Geheimnis, junge Menschenfrau. Dein Blut ist anders als das der Menschen, die bisher das Pech hatten, mir zu begegnen.“
Was meinst du damit, fragte Caylee in Gedanken. Doch sie konnte nur stumm die Schwäche ihres Körpers verdammen, kein Laut drang aus ihrem Mund. Das Schicksal hatte sie dazu auserkoren, für ihr Land im Krieg zu sterben. Da hatte sie sich noch nie einer Illusion hingegeben. Vielleicht war das der Grund, warum sie jetzt nicht in Panik verfiel. Der Tod war stets ihr stummer Begleiter gewesen. Auch wenn sie gehofft hatte, zumindest etwas Nützliches in ihrem Leben vollbracht zu haben, bevor er sie holen kam.
Das Wesen kam bis an den Rand des Sees zu ihnen heran. Wieder wurde Caylee gemustert, diesmal fühlte sie sich dabei aber sehr unwohl.
„Du weißt es nicht einmal, nicht wahr?“
Caylee versuchte, den Kopf zu schütteln und anscheinend reichte der Versuch der Bewegung, um die Frage zu beantworten. Zu gern hätte sie gewusst, was das Wesen meinte. Caylee konzentrierte sich auf die großen Augen, da sie der Musterung ja eh nicht entkommen konnte. Verwundert bemerkte sie, dass sich die Farben darin änderten.
Schließlich sagte das Wesen überlegend: „Gnah hat meinen Namen ja bereits erwähnt, aber ich bin mir sicher, dass er dir nichts sagt. Also stelle ich mich hiermit offiziell vor. Mein vollständiger Name ist Nea Aliteah Kaldish. Ich bin die Dämonenfürstin der Makropoden. Mein Reich erstreckt sich unterhalb der Menschenwelt über viele tausend Quadratkilometer. Man sagt, ich handle immer im besten Wissen – für meine eigenen Zwecke. Und das stimmt auch.“
Die Dämonin nahm einen Stein vom Boden, fuhr sich damit quer über die Handfläche und sah Caylee gefährlich lächelnd an. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie hörte Naim, der sich gegen seine Fessel wehrte und genau wie sie kein Wort sagen konnte. Wie hypnotisiert starrte sie in die Augen, die so ungewöhnlich waren, dass die Umgebung um sie herum verblasste.
„Ich werde dir helfen können. Doch das hat seinen Preis. Allerdings wirst du diesen erst später erfahren. Ich könnte dich fragen, ob du mit dieser Bedingung einverstanden bist, aber du wärst nicht in der Lage, mir zu antworten. Und es wäre mir egal.“
Blitzschnell schoss die Dämonin aus dem Wasser. Dicke Tropfen der Flüssigkeit fielen auf Caylee, die noch immer am Boden lag. Mit dem Stein, den Nea noch immer in der Hand hielt, fügte sie Caylee eine Schnittwunde am Hals zu. Seltsamerweise spürte sie diesen Schmerz bereits nicht mehr. Ihr Körper stand kurz davor, ihr den Dienst zu versagen. Dann schnitt sich die Dämonin selbst in die Hand.
Aus den Augenwinkeln heraus sah sie Gnahs erschrockenen Gesichtsausdruck, doch die Bewegungen der Dämonin waren so schnell, dass die Trollin nicht dazwischengehen konnte. Eine kalte Hand fuhr ihr fast schon liebevoll über die Wange. Sie wanderte bis hinunter zu der Wunde, aus der das Blut in solchen Mengen ihren Körper verließ, dass sie normalerweise allein daran gestorben wäre. Und als sich ihr eigenes Blut mit dem der Dämonin mischte, fing die Wunde an zu brennen. Erst ganz leicht und kaum wahrnehmbar, doch es wurde so schlimm, dass sich Caylee am liebsten die Hand auf die Wunde gekrallt hätte. Das Brennen weitete sich vom Hals abwärts aus, bis ihre Welt nur noch aus Schmerzen bestand. Ihr wurde schwarz vor Augen, und doch war sie sich sicher, nicht in Ohnmacht gefallen zu sein. Wie aus weiter Ferne hörte sie Neas Stimme in ihren Gedanken.
„Ich habe dein Leben nur durch einen Blutpakt retten können. Du wirst noch früh genug herausfinden, was es damit auf sich hat. Wenn du das nächste Mal einen alten verlassenen Brunnen siehst, erwarte ich, dass du zu mir kommst. Tust du das nicht, werde ich den Pakt brechen und dein Tod wird schmerzvoller sein, als du es dir je vorstellen könntest.“
Und als die Hand noch einmal liebkosend über sie hinweggestrichen war, verblasste der Schmerz zu einer dunklen Erinnerung und Caylee versank in einen Schlaf, der sie für kurze Zeit vergessen ließ, in was für Schwierigkeiten sie steckte.„Du kannst dir vorstellen, wie erstaunt ich war, zehn Jugendliche etwa in meinem Alter zu finden, die zu reinsten Kampfmaschinen ausgebildet wurden.“