María Cecilia Barbetta
Nachtleuchten
Roman
FISCHER E-Books
María Cecilia Barbetta wurde 1972 in Buenos Aires, Argentinien, geboren und wuchs in dem Viertel Ballester, in dem der Roman spielt, auf. Sie studierte Deutsch als Fremdsprache und kam 1996 mit einem DAAD-Stipendium kam nach Berlin und blieb. Vor dem Erscheinen des ersten Romans erhielt sie 2007 das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste und nahm an der renommierten Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin teil. 2008 erschien ihr erster Roman »Änderungsschneiderei Los Milagros« und wurde mit wichtigen Debüt-Preisen ausgezeichnet, dem aspekte Literaturpreis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis. 2013 wurde ihr ein Stipendium für einen Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom verliehen. 2017 erhielt sie für das Manuskript des zweiten Romans, »Nachtleuchten«, den Alfred-Döblin-Preis. María Cecilia Barbetta schreibt auf Deutsch und lebt in Berlin.
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Poetisch und sinnlich beschwört María Cecilia Barbetta die elektrisierte Atmosphäre am Vorabend eines politischen Umsturzes. Sie sind aus der ganzen Welt gekommen und haben in Buenos Aires, in dem Viertel Ballester, ihr Leben gefunden. Die zwölfjährige Teresa trägt eine schutzspendende Plastikmadonna von Tür zu Tür, die Männer der Autowerkstatt hoffen auf die richtigen Lottozahlen und verehren Evita. Sie träumen von Aufbruch, Revolution und Befreiung – doch politische Spannungen zerreißen das Land, und paramilitärische Gruppen lassen Menschen verschwinden.
Mit virtuoser Sprachkraft und Magie erzählt die argentinische Autorin María Cecilia Barbetta davon, dass es die hochfliegenden Träume sind, die jeden Einzelnen am Leben halten.
Dieser Roman wurde gefördert durch die ROBERT BOSCH STIFTUNG (Arbeitsstipendium 2012), die DEUTSCHE AKADEMIE ROM, VILLA MASSIMO (Studienaufenthalt im Jahr 2013), den BERLINER SENAT (Literaturstipendium 2014), den DEUTSCHEN LITERATURFONDS (Stipendium 2014/15) und die AKADEMIE DER KÜNSTE, BERLIN (Alfred-Döblin-Preis 2017)
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
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ISBN 978-3-10-490410-8
Meinen Großeltern Dominga Scagliola und Juan El Haibe
Elvio Gianelli tastete die Taschen seines Regenmantels nach Streichhölzern ab. Als er mit einer brennenden Zigarette im Mundwinkel das Haus verließ, ertönten die Kirchenglocken, die das Erwachen seiner Tochter einläuteten.
Noch ahnte Teresa nichts von den Veränderungen, die ihnen bevorstanden, doch als der Vater sich wenig später mit der üblichen Sonntagszeitung und einer Kinderzeitschrift – einem handfesten Beweis seines schlechten Gewissens – zu ihnen gesellte, war sie über die anderen Umstände bereits unterrichtet.
Anstatt sich beim Frühstück wie sonst über die Wirren der Politik auszulassen oder sich mit dem Geisterfahrer zu beschäftigen, der am Vortag, dem 9. März 1974, auf einer der Hauptverkehrsadern von Buenos Aires für chaotische Zustände gesorgt hatte, wollte Elvio Gianelli von seiner Tochter hören, ob sie die Neuigkeit erwartet habe und ob sie sich freue.
Teresa antwortete mit Nein und Ja, während sie den Gimmick vom Cover ihres Magazins Anteojito zu lösen versuchte. »Aber nicht doch«, platzte sie heraus. Sie war weiß Gott unvorsichtig gewesen, das Papier war eingerissen, die Hälfte der Buchstaben auf der glänzenden Titelseite waren von der Bildfläche verschwunden, so dass es von nun an nur noch Ojito heißen würde: Achtung. Unfug, dachte Teresa verärgert. Als nützte es etwas, im Nachhinein mit einer Warnung behelligt zu werden. Ojito bedeutete auch Äuglein, doch die halfen nicht immer weiter. Der Vater, neuerdings beim Lesen auf eine Brille angewiesen, hatte seinem Kind vorsorglich eine Sehhilfe mitgebracht. Teresa befreite das Vergrößerungsglas vom letzten Tesastreifen wie zuvor ihre Augen vom Schlaf, als sie nicht hätte sagen können, ob der Schatten, der in Zeitlupe den Schlüsselbund von der Wand abgehängt und die Eingangstür hinter sich geschlossen hatte, Bestandteil ihrer Träume gewesen war oder nicht. Die Mutter war ebenfalls noch nicht aufgestanden, als sie mit belegter Stimme »Teresa« gerufen hatte, »Liebling, bist du schon wach?«
Wache hatte die Tochter wie so oft in der Nacht gehalten. Mit ihrer kleinen Statuette in der Hand hatte sie an der Schlafzimmertür der Erwachsenen gestanden und das Ohr so lang dagegen gepresst, bis sie feststellen konnte, dass Frieden herrschte und sie nicht einschreiten musste. Jetzt ruhte sie etwas beduselt auf ihrem Ausziehsofa im Wohnzimmer, sie streckte und reckte sich, bevor sie beherzt die Decke zurückschlug. Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln, stolperte über die Riemchenschuhe und ein paar Schritte weiter über die Schultasche. Jeden Abend ließ der Vater sämtliche Jalousien herab. Jalousie ist Französisch und bedeutet Eifersucht, wusste Teresa. Durch die Jalousien hindurch konnte die Tochter beobachten, wie verwandelt der Vater wirkte, sobald er sich morgens aus dem Familienhaus stahl. Nun steckte sie den Kopf durch den Türrahmen des elterlichen Gemachs und musste die Augen zusammenkneifen. Sie wurde von der hereinfallenden Sonne geblendet, die den Raum überflutete und alles darin in eine beißende Helligkeit tauchte. Teresa blinzelte, dabei wechselten Hell und Dunkel so oft, bis ihre Augen sich an die Lichtfülle gewöhnten und nicht länger schmerzten. Die Mutter hatte den Rücken mit einem Kissen gestützt; um sie herum erstreckten sich geheimnisvolle Stofflandschaften, schattige und goldene Bahnen liefen in abgelegene Gefilde aus, dazwischen warfen sich Falten auf, es waren ihrer so viele wie bei einem kostbaren Umhang. Wie eine Erscheinung kam die Mutter der Tochter vor, wie die wohltätige weiße Madonna in der Grotte, wo die Quelle des Lichts nur sie sein kann, die strahlende Mutter, die einen über die Entfernung ruft und zu der man pilgert, weil sie Wärme und Trost spendet, weil man sich seiner Fehltritte schämt und um Verzeihung bitten möchte. Die Mutter lächelt gütig und winkt die Tochter zu sich heran. In solchen Augenblicken geschehen Wunder, denn durch dieses unmissverständliche Zeichen vergisst die Tochter die Beschwerden und Strapazen des Weges, die nächtlichen Stunden der Trennung, das Wachen an der Schwelle der Kindheit, das Bangen um die Mutter, die erdrückende Ungewissheit im Herzen und den Alb in den Träumen, den unerträglichen Durst mitten in der Nacht, das Aufstehen und sich Vorantasten im Halbdunkeln, das Aufhorchen in der Nähe des Badezimmers, das Aussetzen des Atems und das Lauschen an der Tür, die eiskalten Kacheln, die nackten Füße wie Mondsicheln und die aufkommende Reue, denn heute erinnerte Teresas Mutter mit ihrem offenen Gesicht und ihren zurückgesteckten schwarzen Haaren an die Santísima Virgen del Monte, an die Heilige Jungfrau auf dem Berge, oder auch an die wunderschöne Virgen del Cerro, Unsere liebe Frau am Hügel, vor der die Pilger gern hinknien, um die am Wegesrand gepflückten Blumen abzulegen und mit ihnen die ganze Müdigkeit und die Sorgen.
Der Platz des Vaters war leer und sein Pyjama zusammengeknüllt. Die Tochter stieg auf das Ehebett, um auf Augenhöhe mit dem Gemälde der Heiligen Familie sich Sankt Christophorus anzuvertrauen, einen Fuß zwischen die langgestreckten Beine der Mutter zu setzen und mit dem nächsten Schritt die andere Seite zu erreichen. Während der Überquerung wanderten die Blicke der Mutter über das Nachthemd der Tochter. Durch den lichten Stoff hindurch erkannte die Mutter ihren eigenen zarten Körper von einst wieder; die Mutter konnte sich an den dünnen Gliedmaßen nicht sattsehen, nicht an den schmalen Schultern ihrer Tochter, nicht an dem kleinen flachen Brustkorb, der sich im exakt gleichen Rhythmus wie der ihre hob und senkte, hautnah. Sie drückte ihr Fleisch und Blut so eng an sich, dass die elfjährige Teresa »Aua!« schrie und »Mamá, du tust mir weh«.
»Obwohl ich dich so sehr liebe. Verzeih mir, mein Engel.«
»Wie weit erstreckt sich deine Liebe, Mamá?«
»Bis zum Himmel und wieder zurück, Teresa.«
»Wie lang hält deine Liebe an?«
»So lange wir beide leben und darüber hinaus: eine Ewigkeit.«
»Eine Ewigkeit«, beteuerte die Tochter. Nach einem schrecklichen Zank hatte sie fiebrig an diesem Gelöbnis laboriert, bis jede ersonnene Frage und Antwort festgestanden hatte und sie an jenem Abend zu später Stunde von der Mutter ins Bett und zugleich von dem Glauben getragen worden war, durch das wiederholte Aussprechen des Schwures würde die traute Zweisamkeit für immer unverbrüchlich sein.
Die Mitteilung über die Schwangerschaft kam aus heiterem Himmel und zerstörte die Idylle mit einem Schlag. Unzumutbar empfand Teresa weniger die Tatsache, dass sie aufhören würde, das Ein und Alles der Mutter zu sein (des Vaters, so angespannt, so abwesend), denn egal, was Erwachsene erzählten und wie professionell sie ihre Begeisterung für das Neue im Zaum zu halten vermochten, die Rechnung würde nicht mehr aufgehen und Teresa mit einer zweiten Realität umgehen müssen. Durcheinander brachte sie vielmehr ein Bild, das sich in ihr ausbreitete und unverbrämt das Augenmerk auf das lenkte, was sich hinter der Nachricht des sogenannten Kindersegens verbarg. Das Bild war unanständig zudringlich. Es zeugte von nackten Tatsachen. Dabei ging es um die Körper der Eltern. Obwohl es unscharf blieb, verletzte es die Netzhaut. Die Augen tränten. Teresa weinte nicht. Die Beine, die Arme, die Hände, die Füße, die Elternteile waren verschwommen und ließen sich nicht länger auseinanderhalten. Ein wahrer Albtraum. Die Mitteilung über den Nachwuchs sollte über das unwiderlegbar Anzügliche hinwegtäuschen, sollte Verwandte, Freunde und Bekannte hinters Licht und in die Irre führen, alles war so konfus, dass man unmöglich klar denken konnte. Clara schwieg, und Teresa empfand ein tiefes Unbehagen, wogegen sie mit größter Not ankämpfte. In ihren Augen war dieser Sachverhalt beunruhigend, beleidigend und über die Maßen kränkend. Ich bin krank, Mamá. Hat Papá heute wieder Bereitschaftsdienst? Denn auf einmal ist mir schlecht, mir ist schwindlig, nein, du kannst doch nichts dafür, es geht gleich vorbei. Teresa rang mit einer inneren Stimme, bis sie begriff – urplötzlich, wie bei einer Offenbarung –, dass an diesem vertrackten Tatbestand etwas war, das der Geschichte eine unerwartete Wendung gab. Bevor der Vater ihr mit der Kinderüberraschung kam, sie das zweitklassige Vergrößerungsglas auf seine Tauglichkeit hin prüfte und die drei Scheinheiligen zur Tagesordnung übergingen, hatte die Mutter sie restlos aufgeklärt. Als hätte es sich bei diesem unbeholfenen Wortaufwand um eine Prüfung gehandelt, gelang es Teresa, darin ein Vorzeichen zu sehen, welches sie in ihren Vorstellungen und Zukunftsvisionen geradezu bestärkte.
Ein aufblitzender Gedanke hatte sie bis auf weiteres besänftigt: Noch ehe sie im engeren Familienkreis die Feier ihres zwölften Geburtstags begehen sollte, würde sie Schwester werden, Schwester Teresa, und das hörte sich – um bei der Wahrheit zu bleiben – gar nicht so übel an.
Das Stadtviertel, das Elvio, Clara und Teresa Gianelli ihr Zuhause nannten, liegt im Nordosten der Provinz Buenos Aires, eine knappe Autostunde von der Hauptstadt entfernt. Ballester ist ein überschaubarer Außenbezirk mit einer langen Geschichte, aus der einige wenige Anekdoten herausragen, kleinstädtische Vorfälle, die in dem damals kostenlos verteilten Ballester Lokalanzeiger zu Großereignissen ausgeschmückt wurden und eine Handvoll traditionsbewusster Familien mit Stolz erfüllten.
Die Gründung des Wohnviertels geht auf das Jahr 1889 zurück. Noch bevor mit Hilfe argentinischen, französischen und britischen Kapitals der Bahnhof in Betrieb genommen wurde, der den ursprünglich toten Erdenfleck durch die Anbindung an die Innenstadt zum Leben erweckte, wurde das Fundament für die Konstruktion einer Kirche gelegt. Der Bauplan im neogotischen Stil stammte von einem ausländischen Architekten, einem Bewunderer der Schauerliteratur von Horace Walpole und seines Anwesens Strawberry Hill, einem aufmerksamen Leser der Burg von Otranto, der taumelnd vor Ehrgeiz sich daranmachte, mitten im Nichts seinen gekünstelten Visionen und hochfliegenden Träumen Gestalt zu verleihen. Ursprünglich mit drei Schiffen und zwei Türmen konzipiert, aus Geldknappheit, nach unüberbrückbaren Differenzen und einem mehrjährigen Baustopp letztendlich unter der Leitung eines neuen, selbstzufriedenen Architektenkollegen mit nur einem Schiff und einem Turm von immerhin fünfunddreißig Metern Höhe vollendet, erhob sich heute an der beampelten Kreuzung von Lamadrid und Lacroze die Parochialkirche NUESTRA SEÑORA DE LA MERCED.
Ihre drei Glocken schlugen seit den Anfängen morgens, mittags und abends, doch keiner der Besucher der ersten Stunde wäre auf die Idee gekommen, dem mittelprächtigen Geläut eine Aufweckung des gotischen Geistes zuzutrauen – anders die hellhörigen Nachkommen dieser alten Geschlechter, der Montpelats und der Marengos, der Falugues und der Rigantis, der Scápolas und der Meninis; ihre zartbesaiteten Urenkelinnen, die ein streng getaktetes Mädchendasein in der unweit gelegenen Privatschule INSTITUTO SANTA ANA fristeten und sich bei der Messe am Sonntag über weite Strecken zu Tode langweilten, vermuteten unter ihren Füßen geheime Korridore, von flackerndem Kerzenschein illuminierte Katakomben, mit Spinnweben durchzogene Kellergewölbe und Galerien, enge Treppen und zwielichtige Verliese, ein ausgeklügeltes System von Sackgassen und falschen Fährten, in dessen Bau das ganze viele Geld hineingeflossen sein musste, das einst auf dem Papier für den absenten Turm und die beiden fehlenden Kirchenschiffe eingeplant gewesen war, an die sich im Jahre 1974 keine Menschenseele in dieser Gegend mehr erinnern wollte. Läge es im Bereich des Möglichen, Ballester einen Spiegel vorzuhalten, sähen die Alteingesessenen ein paar blinde Flecken auf der verstaubten Oberfläche, während die herausgeputzten Mädchen des SANTA ANA alles dafür gäben, einen Schritt weitergehen zu dürfen, hinter den Spiegel zu treten, wo sich erwartungsgemäß ein Schacht auftäte, der am anderen Ende mit einer Überraschung aufwarten würde, ein Tunnel durch die Zeit, der Raum zwischen den Zeilen, eine unterirdische Passage, an deren Schluss – ach, du heilige Doppelmoral des Katholizismus – die Konsternierten erkennten, dass sie einzig und allein dazu ersonnen worden war, über mehrere Häuserblocks hinweg die beiden bestangesehenen Institutionen ihres Stadtviertels miteinander zu verbinden, zwischen denen es ihnen ja ohnehin erlaubt war, hin und her zu pendeln.
Nach dem sonntäglichen Gottesdienst ging es für ein Drittel der Schülerinnen ins INSTITUTO SANTA ANA zurück. Die Internen saßen im selben Boot. Vom Chorraum aus schauten sie dabei zu, wie die Externen sich wie Fische im Wasser bewegten, wenn sie das Gebetshaus, in dem sie sich nach Lust und Laune ihrer Mütter und Großmütter verteilt hatten, wieder verließen. Sie brachten die Tür in ihren Angeln zum Knarren und gingen an der Brillenschlange vorbei, die auf dem Absatz der Freitreppe bestrebt war, eine lückenlose Anwesenheitsliste zu führen, wofür sie ihre Gläser ununterbrochen auf- und wieder absetzte. Sobald die kurzsichtige Aufsichtsschwester ein Zeichen gab, waren die Internatsschülerinnen dran. Damit nichts aus dem Ruder lief, waren sie gehalten, sich zwischen Skylla und Charybdis aufzureihen, zwischen der Schwester Pförtnerin und der Mère Supérieure. Die Mädchen setzten sich schweigend in Bewegung. Sie schritten würdevoll durch das Kirchenschiff. Sie schritten wie die Nereïden. Sie schritten wie die Begleiterinnen des Poseidon, wie die verspielten Bewohnerinnen der Höhlen in der Tiefe des Ozeans, sie schritten selbstvergessen wie die Beschützerinnen der Schiffbrüchigen, die edlen Töchter des Nereus und der Doris, Naturgottheiten, anmutige Nymphen, die auf Namen hörten, die wie Meeresrauschen klangen und an Schaum erinnerten, sie schritten wie Glauke, Eudora und Ligea, wie Eurydike, Klio und Xantho, wie Galateia, Kalypso, Thetis und Arethusa. Die Jungfrauen des SANTA ANA schritten, als erschlösse sich ihnen die Sprache der Delphine, Seesterne und Hippokampen. Bevor sie sich am Ausgang umdrehten, um ein letztes Mal zum heiligen Altar zu blicken, bevor sie bußfertig in die Knie gingen, um ein Kreuz zu schlagen, tauchten sie zerknirscht eine nach der anderen ihre Fingerkuppen in das Becken mit dem Weihwasser, das sie von den lässlichen Sünden und der Flut heidnischer Bilder reinzuwaschen versprach, weil es lebendiges Wasser ist, das die Erinnerung wachruft an das Wasser in der Bibel: an das Wasser des Jordan und der Taufe Jesu, an das Wasser des Nils, an dessen Ufer Mose ausgesetzt wird und von wo ihn die Tochter des Pharao errettet, an das Wasser der Arche Noah, an das Rote Meer der aus Ägypten fliehenden Israeliten, an den See Genezareth, über den Jesus geht und über den Petrus ihm entgegenkommt, an den See von Tiberias, in den die Jünger auf Anweisung des Auferstandenen ihre Netze werfen, um sie voller Fische an Land zu ziehen. Wie der Wal, der Jona verschlingt und wieder ausspeit, entließ NUESTRA SEÑORA DE LA MERCED nach gefühlten drei Tagen die mit allen Wassern gewaschenen Schülerinnen des SANTA ANA. So kurz vor dem Ziel erwähnten sie mit keinem Wort, dass das Wassermann-Zeitalter, von dem sie unlängst Wind bekommen hatten, vor der Tür stand – der Mond im siebten Himmel, Jupiter mit Mars in einer Linie.
Wären die Musterschülerinnen nicht eingehend vor den Einflüsterungen des gefallenen Engels gewarnt worden, würden sie glauben, dass diejenigen Erziehungsberechtigten, die sich in ihrer Jugend an die Ordensgemeinschaft der Töchter von Santa Ana gebunden hatten, es aus größter Not taten, weil sie nämlich keinen Mann an der Angel gehabt hatten. Angenommen, es wären, von dem Himmlischen abgesehen, jemals andere Kandidaten vorhanden gewesen, die sie in die Wüste hätten schicken können, waren die Verehrer wahrscheinlich viel zu früh gestorben, Opfer der aberwitzig weitverbreiteten Gutgläubigkeit an die vermeintlich gute Luft von Buenos Aires. Oder sie waren an einen entlegenen Ort gebracht worden, eventuell in ein Lungensanatorium auf einem Berg, ein beschwerlicher Weg mit unzähligen Stufen, und auf dem Plateau: gleich die Himmelsleiter, eine allerletzte Station in der Provinz Salta oder Tucumán, auf jeden Fall sehr weit weg, so dass jeglicher Annäherungsversuch zwischen den Liebenden zum Scheitern verurteilt war. Es muss sich um ein schlimmes Übel gehandelt haben, das die jungen Frauen von damals dazu getrieben hatte, sich den strikten Regeln von Armut, Keuschheit und Gehorsam zu unterwerfen. Heute führten die Schwestern von SANTA ANA ein ruhiges, geordnetes Leben. Jedes Jahr vor Weihnachten spendeten sie Trost und Geld an die Leprosarien. Sie klagten nie, vertraten aber offenherzig die Meinung: Früher war alles besser. Keine Frage. Ihre Schutzbefohlenen konnten sich das sehr gut vorstellen, denn inzwischen war die Mère Supérieure mit ihren sechzig Jahren überfordert und mit ihren neunzig Kilo übergewichtig, Sœur Inmaculada war auf ein Hörgerät angewiesen und Sœur Encarnación so alt wie Methusalem, ihre Schildkröte. Sœur Concepción kämpfte gegen Hitzewallungen, obwohl sie es nicht zugeben wollte, denn Koketterie ist eine hässliche Sünde. »Sehr hässlich«, behauptete Sœur Asunción, die eine Vorliebe für bittere Kräutertees hatte, die sie mit einer Blasenschwäche kombinierte. Sœur Rosario hatte alle vierzehn Tage Mundgeruch und Sœur Remedios Warzen, die sie erfolglos besprach. Sœur Dolores schlurfte, und Sœur Auxiliadora roch stark nach Desinfektionsmittel. Sœur Trinidad schien sich mit ihrem Geschick abgefunden zu haben und pflegte einen dezenten Damenbart. Sœur Consuelo war die Brillenschlange und Sœur María eine absolute Ausnahmeerscheinung. Die Nummer zwölf unter den Nonnen war wie das vierblättrige Kleeblatt mitten auf der Wiese. Durch und durch glückverheißend.
»Gütiger Himmel«, wisperten die Mädchen, außerstande, die Augen von der Schwester abzuwenden, die von einem Tag auf den anderen in ihrer Schule aufgetaucht war.
»Sie ist bildhübsch!«
»Und blutjung!«
»So wie wir, quasi!«
Erst als die Neue anfing, mit aller Selbstverständlichkeit bei ihnen ein und aus zu gehen und sie en passant zu begrüßen, konnten die Schülerinnen dem Gedanken Glauben schenken, dass diese Nonne offensichtlich gekommen war, um zu bleiben. Nachdem die aufkeimende Hoffnung innerhalb einer Woche zur unverrückbaren Erkenntnis gereift war, waren sie noch lang nicht in der Lage, ihr Glück zu fassen.
Demütig holten die Lernenden ihre Tagebücher heraus, um dort Eingebungen und Mutmaßungen über Sœur María festzuhalten, deren Eltern sie womöglich bestraften, weil sie unstandesgemäß liebte, einen Dahergelaufenen, den Postboten oder den Zeitungsjungen. Das würde erklären, weshalb sie ihre Tochter bei der Mère Supérieure abgeliefert hatten, im Schutz der Nacht musste es passiert sein, denn keines der Mädchen hatte etwas mitbekommen. In ihre Gebete schlossen die Verträumten sogar eine Stiefmutter ein, einen furchtbaren Drachen, der es nicht ertragen konnte, mit der personifizierten Schönheit unter einem Dach zu leben – anders als sie im SANTA ANA. Sie selbst hatten Übung in der Anbetung wahrer Schönheit. Zu ihren Pflichten gehörte das Praktizieren der Vita contemplativa, wofür sie freitags die Annenkapelle besuchten und vor der überwältigenden Altarikone eine halbe Stunde niederknieten.
Das Refugium der Stille lag etwas abseits auf dem weitläufigen Gelände, das zur Straße hin durch einen Zaun und ein doppelflügeliges Tor abgeschirmt wurde, dessen ziselierte Gitterstäbe gleich Sonnenstrahlen ein Kreuz einfassten. Derlei eingekesselt blieben das zweistöckige hufeisenförmige Gebäude, das Kloster und Schule in einem war, und der Schulhof, der in den Obstgarten überging und dieser wiederum in den Gemüse-, den Kräuter- und den Blumengarten, welcher irgendwann mutatis mutandis zur Kleewiese wurde, auf der seit einigen Jahren erst die Kapelle thronte, die der Mutter Marias geweiht war, als deren direkte Nachfahren sich die Nonnen von SANTA ANA seit eh und je begriffen. Darin, zur Verehrung ausgestellt, hing die Reproduktion einer byzantinischen Wandmalerei aus dem achten Jahrhundert nach Christus, auf der die heilige Anna den Zeigefinger vor dem Mund hielt, als wollte sie die Besucherinnen erinnern, dass sie eine Schweige- und Kontemplationsstätte betreten hatten. Die Erhabenheit und Anmut der Dargestellten verschlug ohnehin allen, die sie erblickten, die Sprache. Zurück auf dem profanen Pflaster des Schulhofs, weit weg von der Kleewiese, wagten die Schülerinnen, die Ahnungen in Worte zu fassen, die sie seit Anbeginn gehegt hatten. Sie ahnten, dass irgendetwas nicht stimmte mit den angeblichen Verwandtschaftsbeziehungen. Sie konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Nonnen, die sich Töchter von Santa Ana nannten und die auf jedes Papier und jedes Comuniqué den Stempel mit der weißen Lilie, den Institutsinitialen und dem Signet Hijas de Santa Ana drückten, von dieser erhabenen Frau abstammen sollten. Die Mädchen kultivierten ihre Ahnungen. Sie vermuteten, dass dieser Sachverhalt nicht familiärer, sondern theologischer Natur war. Die Sache war paradox und womöglich dogmaverdächtig. Die betagten Nonnen kamen ihnen wie Jesu Großmütter vor, aber partout nicht wie die Töchter der zeitlosen Schönheit an der Wand. Die Schülerinnen wähnten vielmehr, dass die Kapellenheilige ihnen eine Schwester sein könnte, eine, die sich sehen ließe und zu der sie gern hinaufschauten, eine große Schwester, die ihnen vom Altar aus antrug, sich ein Beispiel an ihr zu nehmen und – Ahnungen hin oder her – sich in Schweigen zu hüllen, darüber, dass einzig und allein Sœur María der Sankta wie aus dem Gesicht geschnitten schien. Dass strenggenommen niemand anders Anspruch erheben dürfte, in direkter Ahnenlinie mit ihr zu stehen. Dass die Annenkapelle, so gesehen, ihre Ahnenkapelle sei. Dass Sœur María höchstwahrscheinlich im Bilde sei und dass die göttliche Vorsehung – die nicht so unergründlich war, wie die alten Nonnen immer vorgaben – die verlorene Tochter daher zu ihnen geführt habe. Dass man sich nicht gleich in Unkosten zu stürzen brauche, weil sie wiedergefunden wurde, aber dass es in der Bibel ganz klar geschrieben stehe, man solle das feiern.
Teresa kontrollierte jede Nacht beim Zubettgehen den Zustand ihrer Füße. Immer noch keine Blase. Mit einer Verformung hätte sie so schnell nicht gerechnet, auch eine Gelenkentzündung wäre zu viel verlangt, aber es gab nicht einmal eine Quetschung oder einen zerdrückten Nagel. Das machte ihr zu schaffen. Sie untersuchte aufs Neue gewissenhaft Sohle, Rücken, Knöchel, Spann und Zehen nach irgendwelchen Einrissen, Verfärbungen oder Austrocknungen, doch die inspizierte Haut sah an etlichen Ecken und Enden rosig aus. Vor einigen Wochen war sie zuversichtlich gewesen, in der nahen Zukunft könnte dies anders werden. Mittlerweile war der Status quo ihr ein Dorn im Auge. Griesgrämig, weil kein sichtbares Zeichen der Veränderung sich einstellen wollte, verstaute sie ihre Lupe unter dem Kopfkissen.
Unterwegs war Teresa Gianelli, seitdem in ihrer Familie ein Brüderchen (behauptete die Mutter) oder ein Schwesterchen (entgegnete der Vater) unterwegs war. Da in jedem Fall Herausforderungen auf sie zukamen, scheute sie keine Mühe, ihnen entgegenzutreten. Diese Aufbruchsstimmung entsprach dem Lernstoff im INSTITUTO SANTA ANA. Von dem Moment an, in dem Sœur María Unterrichtsstunden übernommen hatte, drehte sich alles um das Zweite Vatikanische Konzil und seine weitreichenden Folgen. Die Nonne sprach vom aggiornamento, einer italienischen Vokabel, die en vogue zu sein schien. Während Teresa sich an die Spitze der propagierten Erneuerung phantasierte, musste die Schwester den armen Teufeln, die nichts mitbekamen und hinterherhinkten, die Botschaft des Zweiten Vatikanums aber und abermals verkünden. Ein Konzil, so wurde sie nicht müde zu erklären, sei ein Jahrhundertereignis. Das erste habe 1870 die Unfehlbarkeit des Papstes zum Dogma erhoben, das zweite sich Anfang der 1960er Jahre vorgenommen, fortschrittlichere Wege zu beschreiten, wenngleich sämtliche bekanntermaßen nach Rom führten. Teresa war noch nie in der heiligen Stadt gewesen, sie wusste aber, dass Jesus in grauer Vorzeit Petrus auserkoren hatte, auf einem bestimmten Felsen seine Kirche zu bauen. Jetzt sah es ganz danach aus, als sollte die vorangeschrittene Petrifizierung, die Versteinerung der römisch-katholischen Kirche, wieder rückgängig gemacht werden. Wahrscheinlich deshalb nannte die Schwester das Zweite Vatikanum eine Revolution, ja, eine radikale Umwälzung. »Wir erwarten, dass das Konzil frische Luft hereinweht«, verkündete Sœur María mit ernüchterndem Pragmatismus. Sie trat ans Fenster, öffnete es sperrangelweit und klemmte den Tafelwischer ein, um das Zuschlagen zu verhindern. Es gehe darum, präzisierte sie, die Herzen zu öffnen, die Köpfe; die Kirche müsse nach der Vorgabe des Zweiten Vatikanums zu den Menschen. Nachdem es viel zu lang umgekehrt gewesen sei, müsse sie die Wahrheit des Evangeliums in der Nachfolge der ersten Jünger Jesu hinaustragen. Als Ariadna Viamonte Rey, Tochter aus gutem Hause, aus ihrer Lethargie erwachend, den Mund aufmachte und »Wohin denn, Schwester?« wissen wollte, hieß es: zu den Unterdrückten, Ariadna, zu unseren Armen und Ausgesetzten, zu den Verleugneten und auf das tote Gleis Geschobenen; höchste Eisenbahn für die gesamte Christenheit, eine Antwort auf die brennende soziale Frage zu finden, Verantwortung zu übernehmen, auszuziehen und das Fürchten in der Welt von heute bezwingen zu lernen. So etwas in der Art sagte Sœur María, als es zur Pause läutete. Aber anstatt die Mädchenschar mit der altbewährten Formel zu verabschieden, tat sie es mit: »Maria, Braut Christi, lenke eure Schritte gnädig auf den Weg des Friedens.«
Die ungewohnte Benediktion teilte die Klasse wie einst der Allmächtige das Rote Meer. Im gleichen Maße wie sie die Externen anspornte, den Auftrag des Herrn zu übernehmen, traf sie die Internen schwer. Nachdem die Wasser sich getrennt hatten, schritten die einen, kommandiert von Teresa Gianelli, trockenen Fußes voran, während die anderen missgelaunt zurückblieben, denn noch nie war ihnen das Aussichtslose ihrer Lage so klar vor Augen geführt worden; wie bei einem Sit-in verharrten die Internen demonstrativ auf ihren Plätzen, bis die Schwester sie mit einem »Raus mit euch« hinauskomplimentierte. Auch dies: zweifelsohne eine weitere Novität im Geiste der von den Konzilsvätern verordneten Neuausrichtung des täglichen Lebens, denn bis zu dieser schismatischen Unterrichtsstunde wurde ihnen gewünscht: »Maria, Braut Christi, gebe euch das Bewusstsein der Geborgenheit.«
An jenem Tag hatte Sœur María in ihren Schülerinnen ein Gespür für die Existenz einer Zweiklassengesellschaft innerhalb des SANTA ANA geweckt. Teresa Gianelli, die bis dato geplant hatte, über Rückzug und Stille ins Paradies zu gelangen, würde schleunigst umdisponieren müssen. Auf die Bitte ihrer Verwandten hin würde sie nun den Umweg in Kauf nehmen und die Cousins an der staatlichen Schule aufsammeln. Nichts war mehr in Stein gemeißelt, so dass Teresa erkannte, wie viel Seelenheil in dieser ihr zugemuteten Aufgabe steckte. Um auch künftig ihren Ruf als verantwortungsvolles Familienmitglied zu wahren, um weiterhin guten Gewissens ihre Füße unter den Tisch ihrer Bezugspersonen zu strecken, um sich ohne jedes Schuldgefühl mit apfelgrüner Götterspeise belohnen zu lassen, galt es ab sofort, sich anstandslos mit den Hungernden und Benachteiligten zu solidarisieren. Über diese kopernikanische Wende grübelte Teresa Gianelli, als sie in einer Traube von Externen die angesehene Lernanstalt für junge Mädchen verließ.
Intra muros hatte es geheißen, die Botschaft des Konzils sei unüberhörbar; jenseits der Mauern tönte das Tatütata, lang bevor aus dem Nichts das Blaulicht der Feuerwehr und der Rettungswagen auftauchte, die um die Ecke rasten; doch wer nun der Versuchung erlag, aufgrund des Getöses sich die Ohren zuzuhalten, weigerte sich offenkundig, sich dem Leid der Mitmenschen zu öffnen. Teresa vertraute sich Sankta Lucia an, die sich die Augen eigenhändig ausgerissen hatte. Der Legende nach waren der Unerschrockenen aus Syrakus neue gewachsen, die alten blutenden trug die Märtyrerin auf einem Tellerchen mit sich herum, als hätte sie ein zweites Gesicht. Wie diese geprüfte Heilige sah auch Teresa sich von Stund an genötigt, ihr Leben unter anderen Vorzeichen zu betrachten. Bis zum anvisierten Noviziat und der feierlichen Ablegung der Gelübde würde sie im Einklang mit dem Zweiten Vatikanum unermüdlich durchs Viertel ziehen und nicht einzig und allein sich selbst, sondern gleich ihre Nächsten erlösen, einschließlich ihrer jüngeren Verwandten aus der promisken Schule. Die Seelen ihrer armen Cousins waren – tatütata – zu retten, vor dem Fegefeuer der Eitelkeiten, vor den Feuerzungen des Unausgesprochenen zwischen den Geschlechtern und den Feuerflammen der Begierde, vor all den Schrecknissen, die Teresa – die Vorsehung sei gelobt – kaltließen und sie gegen jegliches Verkohlen in der Hölle immun machten. Teresa Gianelli, Einzelkämpferin und nach wie vor Einzelkind, das nach der letzten bitteren Desillusionierung geschworen hatte, niemals zu heiraten, sich niemand anderem als dem lieben Gott zu versprechen und insofern vom Nachwuchs abzusehen, würde dem Omen ihres Vornamens entgehen und nicht als Mutter nach Indien, sondern irgendwann als Missionsschwester nach Afrika aufbrechen, um dort als lichte Gestalt ein gottgefälliges Leben zu führen. Der weitreichende Plan stand. Bis dahin würde sie den Spagat meistern, den sie im Sportunterricht schaffte – unter den recht missgünstigen Blicken ihrer Klassenkameradinnen und ohne jegliche Unterstützung der theorieliebenden Schwestern: Sie würde im Hier und Jetzt aktiv sein und zugleich nach geistiger Erkenntnis streben. Anfänglich würde sie die unmittelbare Nachbarschaft erkunden und im Laufe der Zeit wie ein von Gottes Hand ins Wasser geworfener Stein immer größere Kreise ziehen, von Ballester bis ans Ende der Welt, weitab vom Schuss, von wo es hoffentlich schnurstracks gen Himmel ginge. Entschlossen, fortan jede Art hässlicher Entbehrungen in Kauf zu nehmen und keine Prinzessin auf der Erbse zu sein, verwarf Teresa den Gedanken, sich an eine Mauer zu lehnen, um einen Kiesel aus ihrem Schuh zu entfernen. Als sie schließlich das triste, klotzige Gebäude der staatlichen Schule erreichte, stellte sie fest, dass sie körperliches Unbehagen gut ertrug. Erhobenen Hauptes hielt sie Ausschau nach ihren Cousins. Während sie auf einem unübersichtlichen Gelände, in einem besorgniserregenden Einerlei aus Mädchen und Jungen, die Spreu vom Weizen trennte und durch das Heben der Hand ihre rettende Anwesenheit signalisierte, kam ihr die glorreiche Idee mit der Wandermuttergottes. Da wusste sie, wie sich ihr künftig alle Türen in Ballester auftun würden.
A fronte praecipitium, a tergo lupi. Vorn klafft der Abgrund, hinten lauern die Wölfe. Die Interne Marina Santiago war im Jahr zuvor sitzengeblieben, ein trauriger Fall und ein bedrückendes Drama, das nun drohte, sich erneut abzuspielen, und das die Mère Supérieure dazu bewogen hatte, die Externe Teresa Gianelli einzuspannen, und sie wiederum dazu, sich ein Herz zu fassen und mit Marina Santiago eigens ausgewählte Aspekte des Unterrichtsstoffes aufzufrischen. Nach Schulschluss spazierten die beiden im Schatten junger Mädchenblüte.
»Sœur María hat uns erzählt, wie umstritten die Pläne für das Konzil damals waren. Weißt du noch, was unser jetziger Papst Paul VI. über das Anliegen seines Vorgängers gesagt hat?«, fragte Teresa.
Die Klassenkameradinnen trugen ihre blauen Uniformjacken offen. Sie erfreuten sich an dem milden Wetter und gingen über die Kleewiese. Marina Santiago hüllte sich in Schweigen, auch nachdem sie die Annenkapelle weit hinter sich gelassen hatten.
»Dieser heilige alte Knabe merkt nicht, in was für ein Hornissennest er da sticht«, gab Teresa selber die Antwort.
»Hornissen haben wir hier zum Glück nicht«, kommentierte Marina, bevor sie in die Hocke ging. »Da bist du ja, heiliger alter Knabe!«
Methusalem kam des Weges gekrochen, und Marina Santiago zeigte sich hocherfreut. Während sie den Schildkrötenpanzer streichelte, ergänzte sie: »Dass wir keine Hornissen haben, verdanken wir Sœur Asunción, die ihr ökologisches Gift versprüht. Das Rezept ist eines der bestgehüteten Klostergeheimnisse.«
»Das weiß ich, Marina, das weiß ich. Weißt du zufällig noch, welche hilfreichen Worte der Heilige Geist Johannes XXIII. einflüstert, damit sein Vorhaben auf fruchtbaren Boden fällt?«
Methusalem war die Ruhe in Person. Methusalems Ruhe schien sich auf Marina Santiago zu übertragen. Gemächlich fing sie einen ihr entgegenschwebenden Panadero, sagte einen Kinderreim auf, dachte sich drei Wünsche aus, entfernte das Samenkorn und pustete den silbrig glänzenden Panadero wieder in die Luft. Methusalem hatte sich inzwischen Beachtliches vorgenommen. Er hatte den cremefarbenen Hibiskus im Visier und riss das Maul auf, als machte er Werbung für die Metro-Goldwyn-Mayer. »Leckermäulchen«, lobte Marina und bot der Schildkröte ein bereits angeknabbertes Rosenblatt an.
»Plötzlich entsprang in Uns eine Eingebung wie eine Blume, die in einem unerwarteten Frühling blüht. Unsere Seele wurde von einer großen Idee erleuchtet. Ein Wort, feierlich und verpflichtend, formte sich auf Unseren Lippen. Unsere Stimme drückte es zum ersten Mal aus – Konzil!«
»Eine Eingebung wie eine Blume«, plapperte Marina nach. »Das bringt mich auf eine Idee, Teresa! Komm mit, in den Rosengarten! Ich habe meiner Oma ein Bild davon gemalt und mir Ariadnas tolle Buntstifte ausgeliehen. Ich wollte die Blumen in genau den Farben wiedergeben, die Sœur Asunción bei der Anlage der Beete ausgewählt hat und die mit den glorreichen, freudenreichen und schmerzhaften Rosenkranzgeheimnissen harmonieren. Einen begehbaren Rosenkranzgarten hat bei meiner Oma Anahí in Salta noch niemand gesehen.«
Teresa blieb kurzentschlossen unter dem Johannisbrotbaum stehen, um einen abgebrochenen Ast aufzusammeln. Marina Santiago ging weiter und wäre am liebsten bis nach Nordargentinien gelaufen, hätte Teresa sie nicht zurückgerufen: »Wartest du mal, bitte?«
»Oh, eine Wünschelrute!«
»Ein Wanderstöckchen, Marina, damit wir etwas zielstrebiger vorankommen und uns nicht dauernd im Kreise drehen.«
Die Mädchen zogen eine zweite Runde über die Kleewiese. Marina Santiago hüllte sich abermals in Schweigen, um es dann mit einem »Pscht!« zu brechen. »Hörst du das auch? Wo kommt dieser Krach her?«
»Wo soll er denn herkommen, Marina? Von der anderen Seite. Von der Straße. Pass auf, ich lese dir weiter vor, okay? Es heißt, Johannes XXIII. hat das damalige Rom mit einem Bienenstock voller Menschen verglichen, aus dem ein ununterbrochenes Gesumm verworrener, nach Harmonie suchender Stimmen ertönt. Natürlich kannst du, die du den ganzen lieben langen Tag hier drinnen hockst, das nicht beurteilen, aber glaub mir, Marina: In Ballester ist es mittlerweile genauso laut wie in Rom.«
»Was sagst du, Teresa?«
»Ich sage, der Lärm soll uns nicht stören.«
Auf dem Gelände des INSTITUTO SANTA ANA ertönte klar vernehmlich Motorengebrumm.
»Das Gesumm kommt nicht von der Straße, Teresa.«
»Das ist kein Gesumm, Marina.«
»Nicht ich habe das Wort Gesumm gebraucht, sondern der Papst, und er ist seit dem Ersten Vatikanum unfehlbar.«
Teresa Gianelli war baff. Marina Santiago und sie beobachteten von der Kleewiese aus, wie das doppelflügelige Tor sich langsam öffnete. Es war noch nicht ganz aufgegangen, als eine blitzschnelle Vespa über den Hof brauste und durch das Portal fuhr.
»Da hat aber jemand Hummeln im Hintern!«, konstatierte Marina. »Macht einen ziemlichen Krawall, findest du nicht?«
Teresa fand so schnell keine Worte. Auf dem Roller – die Klassenbeste tippte auf ein unfrisiertes Fahrzeugmodell des italienischen Herstellers Piaggio – saß eine junge Frau. Sie hatte sich eine dünne Strickjacke um die Wespentaille geschlungen und trug, passend zu ihrem Gefährt, einen roten Helm. Darunter lugte das letzte Drittel eines schulterlangen Schleiers heraus und flatterte ausgesprochen lässig hinter ihr her.
Wenn der Verkehr erlahmte, konnte die Nonne am Steuer ihrer Vespa sich im Zickzack durchschlängeln und das, was ihr ins Gehege kam, ohne große Anstrengung hinter sich lassen. So ist es, und so soll es auf ewig sein, sagte sich Schwester María. Während die Autofahrer im Wageninneren ausharrten – eingesperrt wie gebändigte Löwen, Tiger, Leoparden oder Jaguare in ihren Käfigen –, heulte der Piaggio-Motor auf, und die Geistliche auf zwei Rädern sauste an ihnen vorbei, was nicht wenige als Bedrohung, Demütigung oder Herausforderung empfanden. Als die Motorisierte einmal mehr den Sitz ihres Rockes korrigieren musste, erwog sie, es Carlos Mugica gleichzutun, der auf einem Gilera-Motorrad unterwegs die umständliche Soutane gegen einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schwarze Lederjacke tauschte. Zusätzlich zu dem Helm durch eine Hose getarnt würde Schwester María keine Blicke mehr auf sich ziehen – zumindest auf der Straße nicht, in der Schule allerdings wäre nichts auffälliger und erklärungsbedürftiger als diese Kleiderwahl. Die Vespa überquerte den holprigen Bahnsteig von José León Suárez, bewältigte die sich häufenden Schlaglöcher im Slalom, rollte über Asphalt, bald über die geteerte Straße, die im Elendsviertel als Einkaufs- und Ausgehmeile galt und für die Bewohner von José León Suárez etliches versammelte, was den Alltagstrott in ein freundlicheres Licht rücken ließ. In der Dämmerung leuchteten an diesem Boulevard der Träume lange Ketten farbiger Glühbirnen auf, sie strahlten mit einigen Lücken über LASTWAGEN- UND AUTOTEILE grün, über FRISÖR rot, über KIOSKO gelb, SUPERMERCADO NORTE blau, VICTORIA MODA rot, EISDIELE PATAGONIA gelb, PARTYBEDARF LA CHICHARRA grün, LOTTO 48 rot, PLASTIK-HEIMAT blau, PIZZERIA-BAR LA MINA grün; ARBEITSBEKLEIDUNG UND SCHUHWERK IN ALLEN GRÖSSEN UND FARBEN wurden in dem letzten Schaufenster angepriesen, in dem sich überwiegend Gummistiefel stapelten, denn der Fluss Reconquista sorgte in dieser Gegend immer wieder für Überraschungen. So bezeichneten die Menschen, die es nach José León Suárez verschlagen hatte, die Überschwemmungen. Nachdem sie hier Fuß gefasst hatten, begannen sie zu glauben, sie seien von Gott entweder dazu bestimmt oder verdammt, sich ein Leben lang über Wasser zu halten.
ES LEBEN DIE TOTEN VON JOSE LEON SUAREZ – Das schwarzgepinselte Graffito erstreckte sich meterhoch über eine Außenwand des privaten Club Alemán, doch kaum einer sah, dass die Akzente auf den letzten drei hingeschmierten Wörtern fehlten, die den Ort beim Namen nannten, in dem das meiste abhandengekommen war. Vermisst wurden in José León Suárez Arbeit, Bildung, Nahrung und sauberes Trinkwasser, es mangelte an Wohnraum, Bekleidung, medizinischer Versorgung und Geborgenheit, es fehlte an Selbstachtung, Vertrauen, Glaube, Liebe, Hoffnung und Kontinuität. Die Buchstaben nahmen die komplette westliche Mauer des deutschen Sportvereins in Beschlag, an der Schwester María entlangratterte. Dort müssten knapp zwanzig Jahre zuvor, am Abend des 9. Juni 1956, die Polizeifahrzeuge vorbeigebraust sein mit den verhafteten Arbeitern und Anhängern Juan Domingo Peróns, der 1955 durch einen Militärputsch als Präsident gestürzt worden und ins Exil gegangen war. Jene Zeiten waren instabil und unübersichtlich, jegliche Nähe zum Peronismus war unter Strafe gestellt, doch seine Getreuen blieben aktiv. Während zwei aufständische Generäle den Versuch unternahmen, sich gegen das amtierende Militärregime aufzulehnen, hatte sich die Männerrunde unter dem Vorwand versammelt, den Boxkampf um den südamerikanischen Titel im Mittelgewicht im Radio zu verfolgen, den der Argentinier Eduardo Lausse und der Chilene Humberto Loayza im LUNA PARK austrugen. Auf Anordnung der illegalen Regierung Pedro Aramburus wurden Peróns Sympathisanten verhaftet und schlussendlich unweit besagten Sportklubs auf einer Brache, die in José León Suárez als Mülldeponie diente, erschossen. Der investigative Journalist Rodolfo Walsh hatte 1957 einen dokumentarischen Roman über das Massaker veröffentlicht.
Wunder gibt es und so auch Überlebende jener grausamen Nacht, die argentinische Geschichte schrieb. Einer dieser Untoten – ein Zurückgekehrter aus José León Suárez, der von seinen Henkern für tot gehalten worden war – spielte sich selbst in dem Film, der auf dem Buch von Rodolfo Walsh basierte und im September 1973 in den Kinos der Innenstadt Premiere hatte, just als ein anderer Zurückgekehrter – Juan Domingo Perón – nach achtzehn Jahren Exil kurz davorstand, erneut in das Präsidentenamt gewählt zu werden, das er seither wieder bekleidete, zur Freude jener Hilfebedürftigen, die Schwester María am Herzen lagen.
»Es steht geschrieben«, beteuerten die Armen und zeigten voller Stolz auf ihre Mauern mit dem Spruch PERÓN KEHRT ZURÜCK. Nicht nur in José León Suárez, überall hatten die Wände recht behalten, die Parolen wie Litaneien im Geiste wieder und wieder beschworen von Arbeitern, Studenten und Anhängern linker Gruppierungen. Das Wort war Fleisch geworden und der General, eine Legende zum Anfassen, nach Proskription und lang anhaltendem Kampf zum dritten Mal ihr Staatsoberhaupt. Dass ihr Anführer in vielerlei Hinsicht dem Tod näher war als dem Leben, wollten die meisten, die für ihn die Hand ins Feuer legten und dabei Kopf und Kragen riskierten, nicht wahrhaben.
Dinge änderten sich, mit der Zeit, mit jedem Meter, den man zurücklegte, mit dem Zug oder der Vespa ratzfatz, zu Fuß unmerklich langsam. Die Behausungen wurden prekär, die meisten waren schmal und aufeinandergetürmt, die Straßen aus Lehm gaben nach, wurden zu Pfaden, die sich verzweigten und verloren in einem nicht kartographierten, sich selbst überlassenen Territorium aus wandernden Sandhügeln, Brettern und verbrannten Autoreifen, einem Niemandsland aus Sackgassen mit streunenden Hunden und Wäscheleinen, aus Schuttbergen, in denen Splitter und Scherben vom Sonnenlicht bestrahlt glänzten. »Ein Armenviertel«, erklärten seine Bewohner, »ist ein Gefängnis. Hier kommt keiner ohne Hilfe wieder heraus.« Als brauchte es nichts als Vertrauen in das höhere Diktum Staub bist du und zum Staub wirst du zurückkehren, schlugen die Vespa und Schwester María den Weg ins Innere dieses geschlossenen Systems ein. Am Schluss einer Reise, die unterschiedliche Welten zueinanderführte, hatte eine dicke Staubschicht die Grenze zwischen Fahrzeug und Fahrerin zum Verschwinden gebracht. Es waren die gleichen Staubpartikel, die in den Kinos der Avenida Lavalle schwirrten wie in dem Tunnel einer Nahtoderfahrung, an dessen Ende ein helles Licht erscheint – und auf der Leinwand: der Überlebende von José León Suárez. Sobald Schwester María den Motor ausschaltete, bemerkte sie einen Wirbelwind, der ihr entgegenkam. Beim Laufen, Rennen, In-die-Luft-Springen versuchte ein Kind, das in ein viel zu weites Kleid gesteckt worden war, den sich lösenden Knoten eines um den Kopf geschlungenen Geschirrtuchs festzuziehen. Das kleine Mädchen rief freudetrunken, auch sie, Evita, trage wie ihre Mamá einen Schleier.
Teresa Gianelli hatte sich nach den Vorgaben des Zweiten Vatikanums zum Ziel gesetzt, die Kirche zu den Menschen zu bringen. Dafür unternahm sie eine professionelle Begehung vor Ort, wo sie sich eingestehen musste, dass die meisten potentiellen Requisiten sich in der Tat nicht von der Stelle bewegen ließen – das repräsentative Altarkreuz: festgenagelt, die drei von der Familie Montpelat gestifteten Vitraux Glaube-Liebe-Hoffnung: in das Gemäuer eingelassen, der mit Rubinen besetzte Kelch: hinter Schloss und Riegel … Mit der Erlaubnis von Pater Amaro ließe sich vielleicht eins der anderen Stücke abmontieren, aber so groß die Auswahl in der Kirche war, so bescheiden waren die Mittel, die der Zweck heiligte.
Wie sollte Teresa Gianelli sich für eine der dreizehn aufeinander abgestimmten Stationen der Via crucis entscheiden, wie ohne jede Hilfe entweder die tonnenschwere Statue der Kirchenpatronin Nuestra Señora de la Merced oder die unverhältnismäßig groß geratene Virgen de Luján mit sich führen? Sie schien vor einem unmöglichen Unterfangen zu stehen, bis ihr die Worte einfielen, die ihr Ansinnen in ein anderes Licht rückten. Wenn Teresa Gianelli sagte, sie wolle die Kirche zu den Menschen bringen, hatte sie in erster Linie die kleinen Leute vor Augen. Mit ihrem großen Vorhaben sollte niemand überfordert werden, weder die kleinen Leute noch die kleine Teresa. Sie erinnerte sich an die kleine Kopie der Virgen de Luján im Wohnzimmer ihres Zuhauses, eine handliche Statuette, die der Großvater ihr aus dem gleichnamigen Wallfahrtsort im Süden der Provinz Buenos Aires, sechzig Kilometer von Ballester entfernt, mitgebracht hatte, als er dort vor einigen Jahren auf die inständige Bitte der Großmutter hin das neue Auto hatte segnen lassen. Dafür INSTITUTOSANTAANAHerr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein DachDie Letzten werden die Ersten seinSANTAANA