Hélène Gestern
Der Duft des Waldes
Roman
Aus dem Französischen
von Brigitte Große
und Patricia Klobusiczky
FISCHER E-Books
Neben dem Schreiben lehrt Hélène Gestern an der Pariser Elite-Universität École Normale Supérieure Literatur. Ihr großes Thema ist Fotografiegeschichte sowie das autobiographische Schreiben. »Der Duft des Waldes« ist ihr vierter Roman. Gestern lebt in Paris und Nancy.
Brigitte Große wurde für ihre Übersetzungen aus dem Französischen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt übersetzte sie Sorj Chalandon »Mein fremder Vater«, Amélie Nothomb »Töte mich«, Gaël Faye »Kleines Land« (zusammen mit Andrea Alvermann).
Patricia Klobusiczky übersetzt aus dem Französischen und Englischen, unter anderem Werke von Sophie Divry, Valérie Zenatti, William Boyd und Petina Gappah.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Elisabeths Leben steckt in einer Sackgasse, als sie unerwartet ein Bündel alter Briefe und dazu ein verwunschenes Haus fernab von Paris erbt. Die junge Historikerin taucht ab in die rätselhaften Briefe, die Alban von der Front des Ersten Weltkriegs seinem Dichterfreund Anatole schrieb. Ohne Zweifel, die Freunde verband ein Geheimnis. Um dieses zu lüften macht sich Elisabeth auf und findet erhellende Geschichten, aber vor allem Menschen, die ihr wieder Lebensmut schenken. Ihre Recherche führt sie von Paris über Brüssel nach Lissabon und immer wieder zurück in ihr Landhaus und schließlich zu einer Liebe, die ihre Sehnsucht nach Halt zu stillen vermag. »Der Duft des Waldes« ist ein bewegender Roman über die Kraft der Erinnerung, ohne die unser Jetzt und unsere Zukunft seelenlos bliebe.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Beide Übersetzerinnen danken dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Förderung ihrer Arbeit.
Die Sonette in den Kapiteln 62, 104 und 168 übersetzten Juliette Aubert und Mirko Bonné.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›L'odeur de la forêt‹ bei Arléa, Paris
© Arléa, Paris 2016
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung: plainpicture/whatapicture
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490612-6
Berthe Auroy, Jours de guerre. Ma vie sous l’Occupation, Paris, Bayard, 2008.
Hélène Berr, Journal, Paris, Tallandier, 2008.
Patrick Modiano, Dora Bruder, Paris, Gallimard, 1999.
»Und seit diesem Tag weiche ich meinen Schatten.«
JULES SUPERVIELLE, Les Amis inconnus
Ich werde von schrillen Stimmen geweckt, einem viel zu lauten Lachen über eine Anekdote, die ein Mann lallend erzählt. Dieser Lärm, der um drei Uhr morgens von der Straße dringt, durchbricht die Nachtruhe, Fragmente der Gegenwart mischen sich mit Fetzen meines Traums, so dass der gespenstische Alban in meinem Innenhof erscheint, wo er nichts zu suchen hat. Das Gelächter, die knallenden Fensterläden von unsanft geweckten Nachbarn verscheuchen endgültig den Schlaf, in den ich ein paar Stunden zuvor gesunken bin, von Medikamenten betäubt. Wie fast jede Nacht wälze ich meine Schlaflosigkeit hin und her und denke an dich. Wärst du hier gewesen, hätte ich mich an deinen Körper geschmiegt, mein Wachsein nach und nach vom Rhythmus deines Atems einlullen lassen, in der warmen Geborgenheit unseres gemeinsamen Bettes. Heute teile ich mir das Bett nur noch mit der nächtlichen Kälte, die mir in die Schultern beißt, die Beine, den Bauch, eigentlich alles, obwohl ich mich unter so vielen Decken verkrieche und auf den Anbruch eines neuen Tages warte, eines neuen Tages ohne dich.
Joigny, 22. August 1914
Mein lieber Anatole,
hoffentlich erreicht Dich mein erster Feldpostbrief ungehindert. Ich hätte Dir gern früher geschrieben, aber wir werden hier ständig auf Trab gehalten. Wir ziehen von Dorf zu Dorf, dabei marschieren wir nachts (gestern vierzehn Kilometer!), ehe wir biwakieren, um nicht angegriffen zu werden. So werden wir eben im Morgengrauen beschossen.
Die deutschen Truppen sind wendig und schnell. Vorgestern haben sie uns rücklings angegriffen und Fahrradsoldaten auf uns losgelassen, bei diesem Gefecht ist der Oberleutnant der Reserve ums Leben gekommen. Wir haben zwölf Mann verloren. Die Burschen in meiner Truppe sind tapfere Leute, fast alle Bauern, die harte Landarbeit gewohnt sind – und daher deutlich kräftiger als ich.
Es gibt auch ein paar Dickköpfe, aber der Krieg wird sie schon zur Vernunft bringen. Tatsächlich wissen wir alle nicht, was uns erwartet. Die Erschöpfung, die uns nach diesen rastlosen Tagen befällt, hat immerhin den Vorteil, uns an allzu vielen Grübeleien zu hindern.
Ich wüsste gern, wie es Dir geht, mein Lieber, und erwarte Deine Antwort voller Ungeduld.
Mit den herzlichsten Grüßen
Willecot
»Und?«, fragte meine Gastgeberin.
Mit ihren fleckigen Händen goss sie goldenen Tee in die Tasse aus Sèvres-Porzellan. Das Alter hatte sich ihnen bis in die kleinste Falte eingegraben, aber sie zitterten nicht. Behutsam faltete ich den Brief entlang des brüchigen Falzes zusammen und steckte ihn in das Album zurück, in dem er sonst ruhte. Das Papier war gefährlich dünn, obwohl es zum ersten Mal seit hundert Jahren wieder dem Licht ausgesetzt wurde. Ich zog die Handschuhe aus und fing den Blick von Alix de Chalendar auf.
»Und?«
Ich rieb mir den Nacken. Ich war es gewohnt, Fotoarchive unter die Lupe zu nehmen, bei meinem Beruf gehörte das zur Routine. Wenn ich Privatgutachten erstellte, geschah das häufig im Auftrag naiver oder geldgieriger Familien, die überzeugt waren, eine wahre Kostbarkeit zu besitzen; meistens entpuppte sie sich aber als eine Ansammlung von wertlosen Aufnahmen, ganz banalen Bildern, die höchstens in den Bestand eines Regionalarchivs Eingang finden würden. Das war hier nicht der Fall. Mir lag das Album eines poilu vor, eines Frontsoldaten, der während des Ersten Weltkriegs zweieinhalb Jahre lang Postkarten und selbstaufgenommene Fotos vom Alltag in den Schützengräben verschickt hatte. Außerdem hatte er fast jede Woche seiner Schwester geschrieben und dem berühmten postsymbolistischen Dichter Anatole Massis, der offenbar sein bester Freund gewesen war. Der Fundus war von unschätzbarem historischem Wert, ein solcher Schatz war mir im Lauf meines Berufslebens nur zwei- oder dreimal untergekommen. Das Institut musste diese Gelegenheit unbedingt beim Schopf ergreifen.
In solchen Fällen äußerte ich höfliches Interesse, ohne mich wirklich festzulegen, als würde ich jenen, die mich zurate zogen, einen Gefallen tun, wenn ich anbot, den Fundus in unser Depot aufzunehmen. War die Begehrlichkeit geweckt, wurde es Zeit – und zwar erst dann –, das Ansehen des Instituts für Fotogeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts hervorzuheben, seine hochmodernen Methoden der Konservierung, seine erstklassigen Wissenschaftler. Früher hatte mir dieses Spiel mit Unterstützung des Institutsleiters Eric Chavassieux viel Spaß gemacht. Alix de Chalendar hatte aber ein Alter erreicht, in dem zum Spielen keine Zeit bleibt, und ich steckte damals in einer Lebensphase, in der mir dazu jede Lust abhandengekommen war.
»Dieses Archiv ist einmalig«, sagte ich. »Es zeigt den Krieg ganz unmittelbar. Es ist aber auch eine Fundgrube für alle, die an Leben und Werk von Massis interessiert sind. Wissen Sie, wo die Antwortbriefe des Dichters abgeblieben sind?«
Porzellanklirren.
»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie 1933 vernichtet wurden, als das Gutshaus von Othiermont brannte. Das Haus wurde danach wieder aufgebaut, aber meine Mutter sagte gern, dass das Feuer uns bis auf die Grundmauern alles geraubt hatte. Das war sicher ein bisschen übertrieben. Ich werde in einem anderen Haus nachsehen, das unserer Familie gehört, es liegt im Allier. Ich fahre sowieso nächsten Monat dorthin.«
Ich fragte mich, wie Alix de Chalendar, die so gebrechlich war, dass sie sich allem Anschein nach kaum auf den Beinen hielt, es überhaupt wagen konnte, ihre überheizte Wohnung in der Rue Pierre-Ier-de-Serbie zu verlassen.
»Und wie ist dieser Teil der Korrespondenz in Ihren Besitz gelangt?«
»Durch meine Mutter. Blanche. Nach dem Tod von Massis hat sie seine Kinder dazu gedrängt, ihr sämtliche Briefe von Alban zu übergeben. Und auch alle anderen, denen er geschrieben hatte. Sie erklärte, das sei das Einzige, das ihr von ihrem Bruder bleibe, seine Fotos und seine Briefe.«
Alix hob erneut die Teekanne und blickte mich fragend an. Ich nickte. Als sich ihre Hand um den Henkel schloss, trat ein bläuliches Geflecht von Adern hervor und ließ das bisschen Fleisch verschwinden, das noch die Knochen bedeckte.
Die alte Dame nahm den Faden wieder auf: »Madame Bathori, ich bin neunundachtzig Jahre alt und weiß nicht, ob ich den nächsten Sommer noch erleben werde. Machen Sie mir einen Vorschlag.«
Ich überlegte. Viermal hatte ich Alix aufsuchen müssen, bevor sie sich bereit erklärte, mir die Bilder und die Korrespondenz ihres Onkels zu zeigen. Nun wollte sie offensichtlich ein Geschäft abschließen.
»Das Institut kann Ihnen die bestmögliche Konservierung garantieren. Unser Archivarenteam würde ein Inventar erstellen und jedes Dokument verschlagworten. Die Briefe würden digitalisiert werden, um eine möglichst sparsame und schonende Handhabung zu gewährleisten.«
Eine Vorführung schien nun angebracht. Alix sah zu, während ich mit dem Finger über mein Tablet wischte und Fotos von Manuskripten aufrief, die ich auf dem Touchscreen vergrößerte oder durchblätterte. Das Schauspiel langweilte sie schon nach wenigen Sekunden.
»Wer bekommt diese Briefe zu sehen?«
Eine erstaunliche Frage. An diesem Punkt hätte ich eher damit gerechnet, dass wir über Geld reden.
»Der Konservator, der das Inventar erstellt. Anschließend können interessierte Forscher von Fall zu Fall Einsicht beantragen, die Anträge legen wir Ihnen zur Genehmigung vor. Sie können auch für bestimmte Dokumente eine Sperrfrist verhängen und deren Dauer frei bestimmen.«
»Und nach meinem Tod?«
»Da empfiehlt es sich, einen Testamentsvollstrecker zu benennen, der auf die Einhaltung Ihrer Bestimmungen achtet.«
Die alte Dame schwieg nachdenklich.
Ich fühlte mich verpflichtet, ihr noch diesen Hinweis zu geben: »Massis ist einer der bedeutendsten französischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Sobald Sie den Verkauf von Briefen, die an ihn gerichtet sind, bekanntgeben, wird es Angebote hageln. Es gibt da amerikanische Bibliotheken, die bereit wären, Ihnen ein hübsches Sümmchen zu zahlen.«
Die alte Dame deutete ein Lächeln an.
»Sehr nett von Ihnen, aber ich denke nicht daran, die Briefe meines Onkels nach Amerika wegzugeben. In meinem Alter kommt es aufs Geld nicht mehr an.«
Normalerweise hätte ich diese Bemerkung höflich übergangen, aber seit du weg bist, denke ich manchmal laut. »Worauf kommt es denn an?«
Alix nahm offenbar keinen Anstoß an dieser unpassenden Frage. Sie fuhr fort, als hätte sie mich nicht gehört: »Schließen wir die Sache ab. Ich stifte diesen Fundus Ihrem Institut. Maître Terrasson, mein Notar, wird sich bei Ihnen melden. Aber nur unter zwei Bedingungen: Ich möchte eine verbindliche Zusage, dass das Inventar von Ihnen erstellt wird. Und Sie müssen bereit sein, als meine Testamentsvollstreckerin zu fungieren.«
Vor Verblüffung blieb mir der Mund offen stehen. Ich hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit.
»Warum ich?«
»Ich habe nur noch einen Enkel, und der taugt nichts. Er hat seiner Mutter so viel Kummer bereitet, dass sie daran gestorben ist. So, wie ich ihn kenne, würde er die Fotos und Briefe meines Onkels verkaufen, um seine Spielschulden zu begleichen. Es ist mir nicht gelungen, meine Tochter vor ihm zu schützen. Aber ich werde nicht zulassen, dass dieser Nichtsnutz unser historisches Erbe verscherbelt.«
Sie hielt kurz inne und sagte dann: »Außerdem möchte ich, dass sich jemand an Alban und an meine Lieben erinnert. Das werden Sie viel besser machen als Alexandre.«
Als hätte ich nicht schon genug mit meinen eigenen Erinnerungen zu tun. Erinnerungen, die meine Nächte belasten, meine Tage auffressen, jede einzelne Stunde zersetzen. Erinnerungen, die ich manchmal am liebsten mit Hilfe von Tabletten auslöschen und dem Vergessen anheimgeben würde. Die Stimme von Alix de Chalendar drang zu mir durch. Seltsamerweise war sie deutlich sanfter geworden.
»Madame Bathori, in meinem Alter geht es darum, den Abschied vorzubereiten. Es ist nur folgerichtig, vom Leben nichts mehr zu erwarten. In Ihrem Alter ist das allerdings eine unverzeihliche Sünde. Sie sollten es sich gut überlegen, ehe Sie mir eine Absage erteilen.«
Jean-Raphaël Terrasson, Alix’ Notar im Allier, rief mich an einem Dienstagabend an, um mich über ihren Tod in Kenntnis zu setzen. Sie war im Juli gestorben, in ihrem Haus in Jaligny, in der Nähe der Besbre und der Bäume, die von ihrer Mutter gepflanzt worden waren. Das entsprach genau ihrem Wunsch, wie sie mir anvertraut hatte. Hoffentlich war sie friedlich entschlafen. Während ich das Inventar erstellte – sie hatte darauf bestanden, dass ich es in ihrem Beisein in der Rue Pierre-Ier-de-Serbie tat –, war mir diese Frau ans Herz gewachsen. Ihre stoische Haltung, die vielleicht mit dem hohen Alter zu tun hatte, die Ironie, mit der sie ihre Einsamkeit überspielte, ohne sich je zu beklagen, rührten mich. Darum stand ich an diesem Donnerstag im Morgengrauen auf und holte mein Auto aus der Tiefgarage. Ich war schon seit Monaten nicht mehr damit gefahren, und das Armaturenbrett war mit grauem Staub überzogen. Mir fielen die Kilometer ein, die wir gemeinsam zurückgelegt hatten, deine Hand, die eine CD in den Player schob und dann zärtlich mein Knie berührte. Die Erinnerungen, allgegenwärtig, unberechenbar, brachen sich mit verstörender Wucht Bahn, auch jetzt noch. Es war sechs Uhr morgens, über der noch leeren Stadtautobahn ging die Sonne auf, und ich fuhr in die Mitte Frankreichs, um eine uralte Dame zu begraben, mit der ich nur ein paar Monate lang Kontakt gehabt hatte. Doch um nichts in der Welt hätte ich mir diese Gelegenheit entgehen lassen, von ihr Abschied zu nehmen.
Ich fuhr bis Vichy. Die Landschaft des Bourbonnais tanzte im Licht, ein grünes Feuerwerk zu Ehren des Sommers. Ich folgte den Anweisungen meines Navis und fand auf Anhieb den Weg ins Dorf Jaligny. Am Eingang des Friedhofs wartete ein Küster, insgesamt waren wir etwa fünfzehn Trauergäste. Die meisten Freunde von Alix waren bestimmt schon tot, dachte ich. Da waren ein uraltes Ehepaar, einige Leute unterschiedlichen Alters, die vermutlich im Dorf wohnten, und ein schlecht rasierter Fünfzigjähriger mit unstetem Blick, dessen Anzug sich über den fülligen Leib spannte. Wahrscheinlich der ehrlose Enkel. Der Pfarrer, der die Familie offenbar gut gekannt hatte, hielt eine kurze Ansprache und brachte mit einfachen Worten zum Ausdruck, dass Alix eine aufrechte und mutige Frau gewesen war und dass sie die schweren Prüfungen, die ihr Leben prägten, mit Würde bewältigt hatte. Er erwähnte ihren Mann Louis und Jane, ihre innig geliebte Tochter, der sie nun ins Jenseits folgte. Bevor der Sarg in der Erde verschwand, warf jeder von uns eine weiße Rose darauf. Die Blumen hatten sich in der Morgensonne erwärmt und verströmten bereits einen penetranten Duft.
Als ich mit meiner Rose am Rande des Grabs stand und einer Frau, die ich kaum kannte, die letzte Ehre erwies, die ich dem Mann, den ich so gut kannte, nicht hatte erweisen dürfen, empfand ich sowohl Zerrissenheit als auch eine gewisse Ruhe.
Nach der Bestattung kam ein recht junger, hochgewachsener Mann auf mich zu, der sich vorhin noch ein Jackett über das cremefarbene Hemd geworfen und einen Schlips umgebunden hatte. Er trug einen blonden Dreitagebart und hätte ohne seine auffallend elegante, geradezu englische Haltung schlaksig gewirkt. Er stellte sich vor: Jean-Raphaël Terrasson, Notar. Obwohl ich seine Stimme von unserem Telefonat her wiedererkannte, konnte er mir die Verblüffung wohl an den Augen ablesen.
»Ich weiß, ich entspreche nicht dem Bild, das man sich von unserem Berufsstand macht.«
Ich hätte sein Lächeln gern erwidert, aber es gibt Tage, an denen es mir noch schwerer fällt als sonst, den passenden Gesichtsausdruck aufzulegen. Ich reichte ihm einfach die Hand.
»Elisabeth Bathori. Ich habe für Madame de Chalendar gearbeitet.«
Der Notar lächelte abermals.
»In den letzten Monaten hat Alix oft von Ihnen gesprochen.«
Seine Worte wärmten mir das Herz. Denn trotz der Sonne und der inzwischen schon drückenden Hitze hatte ich allmählich eine Art innere Kälte verspürt. Terrasson bat mich, ihn zu entschuldigen, und wandte sich ab, um sich vom Pfarrer zu verabschieden, der im Aufbruch begriffen war; dieser gab mir im Vorbeigehen die Hand, ohne einen Anflug von Neugier zu verhehlen. Der ungepflegte Fünfzigjährige wartete in einer Ecke, offensichtlich wollte er mit dem Notar reden, sobald dieser mit mir fertig wäre. Als der Pfarrer weg war, wandte sich Terrasson wieder mir zu.
»Sie fahren doch nicht gleich nach Paris zurück?«
Eigentlich wusste ich noch gar nicht, was ich tun würde. Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich biete Ihnen an, das Testament heute Nachmittag um 14 Uhr zu verlesen.«
»Aber was habe ich damit zu tun?«
Terrassons Augen schienen zu funkeln.
»Wenn Sie kommen, werden Sie es schon erfahren.«
Für einen Notar war er tatsächlich alles andere als konventionell. Ein paar Schritte von uns entfernt zeigte der Enkel deutliche Anzeichen von Ungeduld.
»Hören Sie«, sagte der junge Mann, »ich rede jetzt kurz mit Monsieur Arapoff, und dann lade ich Sie zum Mittagessen ein, wenn Sie mögen. Einverstanden?«
Darauf war ich nicht gefasst. Das letzte Mal, dass ich mit einem Unbekannten gespeist hatte, war schon lange her. Angesichts meines Zögerns entschied er für mich.
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle, ich bin gleich wieder da.«
Ich sah ihn mit großen Schritten auf den Enkel zugehen, mit dem er ein paar Worte wechselte. Unterdessen betrachtete ich die Gräberreihen mit ihren marmornen Kanten, die im Sonnenlicht glänzten. Die Stille wurde ab und an von Vogelgezwitscher unterbrochen, während der Duft des angrenzenden Waldes sich mit dem Geruch von Schnittblumen und Erde vermengte. Die Betrachtung der Toten, die in ihren Gräbern ruhten, ließ mich wieder an dich denken. Was hatte sie mit dir gemacht? Ruhtest du auch an einem so hübschen und friedlichen Ort? Oder hatte man dich im Gegenteil in alle Winde verstreut, und wenn ja, wo? Ich empfand nichts, weder Hass noch Schmerz, nur eine innere Stille, gepaart mit einem Gefühl, das ich nicht sofort benennen konnte, einer Spur von Linderung, so widersinnig es auch anmutete, mitten im Juli, unter der sengenden Sonne, die bis in meine leere Seele vordrang.
R…, 26. September 1914
Mein lieber Anatole,
nun sind wir in R… angekommen, nachdem wir bei der Durchquerung der Ardennen schwere Verluste erlitten haben. So ist auch unser Hauptmann bei der Offensive von ■■■■■■■■ gefallen. Wir halten die Linien durch unermüdlichen Einsatz, den uns manche Saxonen erschweren, weil sie unserer Sprache mächtig sind. Sie versuchen uns durch trügerische Rufe zu übertölpeln, was an den Nerven der Truppe zehrt. Gestern Nacht tauchte aus dem Nichts eine feindliche Angriffslinie auf und bewarf uns unter tierischem Geheul mit irgendwelchen Leuchtkugeln. Das Spektakel verfehlte seine Wirkung nicht.
Die Männer erweisen sich als sehr tapfer. Ihre meist jungen Gesichter zeugen von so viel Kampfgeist und Entschlossenheit, dass ich mir doch wieder ein rasches Ende dieses Krieges erhoffe. Darf ich Dir überhaupt gestehen, lieber Anatole, wie lange er mir schon zu währen scheint?
Und wie geht es Dir, teurer Freund? Lassen Dir Deine neuen Aufgaben genug Zeit, um das Werk fortzusetzen, das Du mir vor meiner Einberufung gezeigt hast? Und hast Du Nachrichten aus Othiermont? Dem Postmeister zufolge hakt es derzeit bei der Beförderung von Sendungen. Blanche und Diane, die junge Freundin, von der ich Dir erzählte, haben mir vielleicht geschrieben, ohne dass ich es weiß.
Ich sehe Deiner Antwort mit Ungeduld entgegen.
Mit brüderlichem Gruß
Willecot
Terrasson führte mich zu einem kleinen Hotel-Restaurant, dem einzigen im Dorf, allem Anschein nach war er dort Stammgast. Der Glutsommer, den uns die Meteorologen versprochen hatten, war tatsächlich eingetreten, und die Gäste waren auf der Suche nach Kühlung ins Innere geflüchtet. Neben der Tür ließ ein Kind sein Spielzeugauto rollen und ahmte dabei einen brummenden Motor nach, weiter hinten unterhielt sich ein älteres Paar auf Englisch. Wir setzten uns in die Ecke, die uns am kühlsten erschien, besser gesagt am wenigsten stickig. Kaum hatten wir den Friedhof verlassen, hatte der junge Notar sein Jackett ausgezogen. Er bestellte einen Martini auf Eis, ich ein alkoholfreies Bier. Bei dieser Gelegenheit fragte ich die Wirtin nach einem freien Zimmer. Ich hatte mich dagegen entschieden, abends nach Paris zurückzukehren, denn ich war zu müde, um bei dieser Hitze zu fahren.
»Weise Entscheidung«, sagte Terrasson. »So können Sie sich die Gegend ansehen, sie ist wunderschön.«
Ich war es nicht mehr gewohnt, Konversation zu machen. Ich gab mir einen Ruck und fragte aus reiner Höflichkeit: »Stammen Sie von hier?«
Der junge Mann streckte seine langen Beine unter dem Tisch aus.
»Durch meinen Vater. Meine Mutter kommt aus Dover. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich zehn war, und ich habe einen Teil meiner Jugend in England verbracht. Nach meinem Jurastudium in Clermont-Ferrand habe ich das Amt meines Vaters übernommen.«
Wir tranken ohne Hast. Auf einmal schläfrig geworden, drehte ich eine Olive an ihrem Holzspieß hin und her. Diese Anfälle von Schlaflust, die mich seit Monaten unvermittelt überkamen, waren auch eine Art, den Tag um ein paar Stunden zu verkürzen. Terrasson hatte mein ersticktes Gähnen bemerkt.
»War wohl eine lange Fahrt.«
Wir hatten noch gar nicht bestellt, als die Wirtin uns zwei Teller brachte. Die Portionen waren gewaltig. Ich dachte an diese Kindermärchen, in denen üppige Speisen von allein auf den Tischen erscheinen. Terrasson lächelte die Wirtin an – zweifelsohne ein Stammgast.
»Du meinst es gut mit uns, Antoinette.«
Dann sagte er zu mir: »Essen Sie; Antoinette hat den besten Gemüsegarten weit und breit.«
Ich hatte überhaupt keinen Hunger, aber ich zwang mich, eine Tomate auf die Gabelspitze zu nehmen. Sie schmeckte wunderbar, in der Tat, mit einer Spur von fruchtigem Essig angemacht. Unter knackigem Gemüse verbargen sich confierte Entenbrustfilets, gekrönt von einer Handvoll Trüffelspänen. Solche ausgeklügelte Aromen war ich auch nicht mehr gewohnt. Wann hatte ich das letzte Mal eine Mahlzeit zubereitet, die diesen Namen verdiente? Mein Tischgenosse hingegen schien sich überhaupt keine kulinarischen Gedanken zu machen, sondern aß mit gesundem Appetit. Dann ergriff er wieder das Wort.
»Alix war eine Freundin meines Großvaters Louis Terrasson. Böse Dorfzungen behaupten sogar, sie sei mehr als eine Freundin gewesen. Was durchaus nachvollziehbar wäre, denn als junge Frau sah sie wohl umwerfend aus. Wussten Sie, dass sie gegen Kriegsende in London einen Schönheitswettbewerb gewonnen hat?«
Verblüfft fragte ich: »Sie war Engländerin?«
»Nein, aber sie hatte sich 1942 dem weiblichen Freiwilligencorps angeschlossen. Als aufgeklärte Protestantin hielt ihre Mutter Blanche Hitler schon lange vor dem Krieg für einen gefährlichen Irren. Louis de Chalendar, ein enger Freund der Familie, war einer der Ersten, die sich in London einfanden, ein paar Tage vor dem Aufruf vom 18. Juni. Alix war offenbar in ihn verliebt, sie wollte zu ihm, mit siebzehn, mitten im Krieg. Blanche war dagegen, und so ist Alix praktisch von zu Hause ausgerissen und hat sich irgendwie nach England durchgeschlagen. Chalendar war älter als sie, hatte in Frankreich bereits eine Ehefrau, aber es war wohl für beide wahre Leidenschaft. Er ließ sich ihretwegen scheiden und heiratete Alix. In den sechziger Jahren ist er gestorben, an einer Gehirnhautentzündung. Ihrer Tochter zufolge ist Alix nie über seinen Tod hinweggekommen. Sie hat nicht wieder geheiratet.«
Das erklärte, wieso die alte Dame mich so gut durchschauen konnte, obwohl ich ihr nichts Persönliches anvertraut hatte. Die unsichtbaren Spuren der Trauer kannte sie in- und auswendig.
»Jane war ihre einzige Tochter«, fuhr Jean-Raphaël fort. »Leider ging sie eine schlechte Ehe ein, mit Valentin Arapoff, einem Betrüger, der sich als Nachfahre von Weißrussen ausgab. Ihr gemeinsamer Sohn erweist sich nun als unwürdiger oder vielmehr würdiger Erbe seines Vaters.«
»Das war also er, vorhin beim Begräbnis?«
»Richtig. Alexandre Arapoff. Hat Alix über ihn gesprochen?«
»Kaum. Und sie war auch nicht gut auf ihn zu sprechen.«
»Verständlicherweise. Wäre mein Vater nicht eingeschritten, hätte Jane seinetwegen buchstäblich auf der Straße gesessen. Arapoff ist ein erfolgloser Schauspieler und dazu noch spielsüchtig. Außerdem ist er jähzornig. Es könnte nachher durchaus unangenehm werden.«
Während der junge Notar redete, stocherte ich weiter in meinem Teller herum. Beim Essen hatte ich aber doch ein bisschen Appetit bekommen und genoss Trüffel und Entenbrust, die diesem sommerlichen Mahl einen völlig unerwarteten festlichen Beigeschmack verliehen.
»Laden Sie die Bekannten Ihrer Klienten immer zum Essen ein?«
Noch während ich diese Frage stellte, wurde mir bewusst, wie taktlos sie wirken mochte. Terrasson stieß sich jedoch nicht daran.
»Keineswegs. In unserem Dörfchen bekommt man aber selten ein neues Gesicht zu sehen. Und ich muss gestehen, dass ich auf Sie neugierig war. Alix hat Sie sehr geschätzt.«
»Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Wie gut kannten Sie Alix?«
»Bevor meine Mutter sich scheiden ließ, war sie eng mit ihr befreundet. Eine junge Engländerin, die sich ins Bourbonnais verirrt hatte – das hat Alix bestimmt an ihre ruhmreiche Londoner Zeit erinnert.«
Er warf einen Blick auf seine Uhr.
»Sie müssen unbedingt Antoinettes Birnentarte probieren, sonst ist sie beleidigt. Und einen Kaffee?«
Ich nickte. Normalerweise kann ich Leute nicht leiden, die für mich bestellen, doch diesmal fand ich es angenehm, mich um nichts kümmern zu müssen. Obwohl ich gar keinen Hunger mehr hatte, naschte ich ein bisschen von der Tarte, die köstlich war, und ließ mir den bitteren Kaffeegeschmack auf der Zunge zergehen. Ich dachte an Alix, die bestimmt hin und wieder in diesem Restaurant gegessen und mich auf ihre eigentümliche Weise hierhin gelotst hatte. Diese leicht entrückte Mahlzeit mit einem Unbekannten, weit weg von Paris, frei von zeitlichen und anderen Zwängen, wäre sicher Anlass zur Freude gewesen, hätte ich mich in meiner Existenz nicht so haltlos gefühlt wie in zu großen Kleidern.
Ein paar Wochen später sollte ich mich an diesen Moment erinnern. Und ich erkannte, dass ich da zum ersten Mal aus dieser entsetzlichen, nicht enden wollenden Benommenheit herausgerissen worden war, die mich seit der Nachricht von deinem Tod erfasst hatte.
Im Gegensatz zu seinem Besitzer entsprach das Büro von Jean-Raphaël in jeder Hinsicht dem gängigen Bild einer Notarskanzlei in der Provinz. Schwere Regale aus gewachstem Holz enthielten meterweise Akten mit sonnenvergilbten Rücken. In den Bücherschränken standen reihenweise juristische Nachschlagewerke, von denen die meisten sicher längst veraltet waren, während eine Serie verblasster Stiche die Wände zierte. Von einigen Dalloz-Gesetzessammlungen mit knallrotem Plastikeinband und einer Architektenlampe auf dem Schreibtisch aus Eichenholz abgesehen, schien der junge Mann den Raum in dem Zustand übernommen zu haben, in dem sein Vater ihn hinterlassen hatte.
Wir befanden uns zu dritt dort: Alix’ Enkel, Terrasson und ich. Alexandre Arapoff wartete bereits vor der Tür der Kanzlei, als wir angekommen waren, und obwohl wir auf die Minute pünktlich eintrafen, schimpfte er wegen unserer vermeintlichen Verspätung. Von nahem betrachtet, war der Mann ein richtiges Wrack. Ich begriff, warum Alix so wenig von ihm hielt. Sein Gesicht war vom Verzehr fettiger Speisen aufgedunsen, die blutunterlaufenen Augen zeugten von starker Trunksucht, und seine Rasur war so schlampig wie sein Hemdkragen speckig. Er nahm sofort und demonstrativ im rechten Sessel Platz und musterte mich feindselig. Nur seine zitternden Händen verrieten, wie nervös er war. Terrasson schlug in aller Seelenruhe eine Akte auf und erklärte mit einem feierlichen Ernst, den man einem so jungen Mann nicht unbedingt zugetraut hätte:
»Ich habe Sie beide hierher gebeten, um Ihnen das Testament von Alix Marie Bénédicte Laizan de Barges, verheiratete Chalendar, zu verlesen.«
Der Enkel tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab, obwohl die Kanzlei zum Teil durch geschlossene Jalousien gegen die Hitze abgeschirmt war. Als Terrasson den handgeschriebenen Text vorlas, hörte ich sehr bald Alix’ Ton heraus, ihren so makellosen wie altmodischen Stil, den die steife Kanzleiprosa nicht ganz hatte ausmerzen können. Sie hatte verfügt, dass ihre Wohnung in der Rue Pierre-Ier-de-Serbie an die medizinische Stiftung gehen sollte, die ihr dafür eine Leibrente gezahlt hatte; die Gesamtheit der Archive, die wir gemeinsam sortiert hatten, war bereits als Schenkung an das Institut gegangen. Wie einige Monate zuvor besprochen, sollte ich darüber befinden, wer Einsicht erhalten durfte. Der Enkel erbte ein Haus namens »Les Fougères« in Othiermont im Departement Ain. »Dieses Vermächtnis dürfte ihm selbst im Notfall ein Dach über dem Kopf garantieren«, hatte Alix angemerkt. Gerade als ich mich wieder fragte, warum ich eigentlich hier war, hörte ich zum zweiten Mal meinen Namen. »Elisabeth Bathori hinterlasse ich mein Haus in Jaligny-sur-Besbre samt Inventar. Ich hoffe, dass sie gern dort verweilen wird, und bitte sie, an jedem 23. Juni auf das Grab meiner Tochter Jane Rosen aus meinem Garten zu legen.« Alix hatte mir außerdem eine beträchtliche Geldsumme hinterlassen, um das Haus instand zu halten. Tatsächlich reichte diese Summe auch noch für die Erbschaftssteuer.
Jean-Raphaël hatte das Testament kaum auf die lederne Schreibunterlage zurückgelegt, als Arapoffs zornige Stimme ertönte.
»Was soll das? Othiermont ist unbewohnbar, das Haus muss von Grund auf renoviert werden! Diese Ruine ist keinen Pfifferling wert!«
»Kommen Sie, es handelt sich immerhin um ein voll möbliertes Gutshaus mit sechzehn Zimmern«, sagte Terrasson, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen.
»Die Pariser Wohnung steht mir zu! Sie hatte kein Recht, sie dieser Stiftung zu überlassen!«
»Ihre Großmutter war offenkundig anderer Ansicht, Monsieur Arapoff.«
Arapoff zeigte mit dem Finger auf mich.
»Und was ist mit der da? Warum bekommt ausgerechnet sie Jaligny? Sehen Sie denn nicht, dass meine Großmutter einer Erbschleicherin auf den Leim gegangen ist?«
Sein Gesicht war puterrot angelaufen, und er deutete immer noch mit seinem wütenden Zeigefinger auf mich. Terrasson bewahrte Ruhe.
»Bevor sie dieses Testament aufsetzte, ließ sich Madame de Chalendar vorsorglich von zwei Ärzten untersuchen. Wir haben uns lange über ihren Letzten Willen ausgetauscht, und ich habe nicht den geringsten Grund zur Annahme, dass die Erblasserin von wem auch immer manipuliert wurde.«
»Ich werde hier regelrecht um meine Erbschaft gebracht. Und Sie haben das Ganze ausgeheckt! Ich warne Sie, ich werde dieses Testament anfechten!«, bellte Arapoff.
Der Notar änderte seinen Ton nicht. Er wurde allenfalls eine winzige Spur schärfer.
»Es ist sicher nicht ratsam, einen Juristen zu verunglimpfen, Monsieur Arapoff. Aber nichts hindert Sie daran, ein Verfahren einzuleiten, wenn Sie es denn wünschen. Madame de Chalendar hat übrigens mit dieser Reaktion gerechnet und mich beauftragt, Ihnen das hier zu überreichen.«
Der Notar schob Arapoff mit den Fingerspitzen ein Dokument zu, das der Enkel sogleich ergriff. Die roten Äderchen, die seine Wangen überzogen, wurden dunkler, und er stieß einen Pfiff hervor.
»Die alte Schlampe.«
Offenbar hatte Alix posthum einen perfekten Racheakt vollbracht. Arapoff setzte sich mit einem lauten Schnauben wieder hin. Er atmete schwer, und sein Gesicht war nun scharlachrot. Wenn er so weitermachte, würde er bestimmt nicht alt werden. Aber das Dokument, das er in Händen hielt, würde ihn vorerst davon abbringen, das Testament anzufechten. Jean-Raphaël betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Auch wenn er sich nichts anmerken ließ, war ich mir sicher, dass ihm diese Wendung ziemlich gut gefiel.
Und ich besaß nun ein Haus in diesem Dorf, von dessen Existenz ich bis vor wenigen Wochen nichts geahnt hatte. Ich dachte an das Mittagessen von eben zurück, an dieses schwebende Gefühl weit weg von Paris, an den Rosenduft und an die Auflage, das Grab einer geliebten und verlorenen Tochter zu schmücken. Alix hatte alles genauestens geplant, um ihren Enkel von hier zu vertreiben und mich dort anzusiedeln. Dieses Vermächtnis und die damit verknüpfte alljährliche Verabredung waren für mich auch eine Botschaft, die mich zum Weitermachen anhielt.
20. Oktober 1914
Mein lieber Anatole,
ich hoffe, dass Du Dir wegen meines Schweigens nicht allzu viele Sorgen gemacht hast, dass Du wohlauf bist und die Härten des Krieges im Hinterland weniger zu spüren sind. An der Front werden die Kämpfe immer schwieriger: Beide Armeen graben Löcher und verkriechen sich in Schützengräben, die einander direkt gegenüberliegen, mit höchstens ein paar hundert Metern Abstand. Irgendwann müssen wir schließlich angreifen und aus den Gräben klettern, während von allen Seiten Geschütze abgefeuert werden und die Granaten mit ohrenbetäubendem Lärm explodieren. Beim ersten Mal hatte ich solche Angst, dass mir die Knie weich wurden, ich dachte, gleich sterbe ich.
Und weißt Du, was das Schlimmste ist, Anatole? Man gewöhnt sich daran. Man gewöhnt sich an diese Routine, die daraus besteht, dem Tod entgegenzugehen oder den Tod zu bringen. Nach den ersten paar Tagen springen wir nun alle mit Geschrei aus unseren Löchern, als hätten wir ein Leben lang nichts anderes gemacht.
Im Quartier lese ich nachts, wenn die anderen schlafen, immer wieder die Verse von Laforgue, die wir uns so gern gegenseitig vorgetragen haben. Könntest Du mir ein Exemplar der Illuminationen schicken und einen Band von Mallarmé? Ich wage nicht, nach Deinen noch unveröffentlichten Gedichten zu fragen, aber wenn Du einige beifügen könntest, würde mich das sehr freuen.
In brüderlicher Freundschaft
Willecot
Ich besichtigte das Haus noch am selben Nachmittag, nach einem kleinen Muntermacher, wie Jean-Raphaël den Whisky nannte, den wir in seinem Büro tranken. Arapoff war türenknallend gegangen, nachdem er uns beiden juristische Schritte angedroht und einige saftige Beleidigungen an den Kopf geworfen hatte.
»Wird er das Testament nun doch anfechten?«
»Seien Sie unbesorgt, Alix hat alles einwandfrei geregelt. Sämtliche Bestimmungen sind legal, auch wenn ihr Enkel gegenteiliger Ansicht ist. Und wenn man alle Spielschulden addierte, die sie beglichen hat, um dieser jämmerlichen Figur Ärger zu ersparen, würde der Vorempfang den Erbteil bei weitem überschreiten … Im Vergleich zu Othiermont ist Jaligny ohnehin nur eine kleine Hütte. Blanche de Barges, Alix’ Mutter, hat das Haus nach dem Ersten Weltkrieg gekauft, als sie in Vichy eine Kur gemacht hatte. Wollen Sie es mal sehen?«
Ich nickte, ohne recht glauben zu können, was da geschah. Wir gingen die Hauptstraße entlang, die gerade erst aus dem Dämmerschlaf eines drückenden Nachmittags zu erwachen schien. Nach achthundert Metern ließen wir die Häuser hinter uns und bogen in eine Allee mit dichtem Baumbestand ein, unter deren Blätterdach es herrlich frisch war. Aus dem Gehölz stieg ein starker Geruch nach Pflanzen auf, eine Mischung aus Humus, Baumsäften und Geißblatt. Am Ende wurde die Allee breiter und gab hinter einer Linde den Blick auf einen rechteckigen Kasten von bescheidener Größe frei, an dessen Wänden wilder Wein und Blauregen wucherten. Die Eingangstür und die hölzernen Fensterläden erinnerten mit ihrem Farbanstrich an die Fassaden von Hafenstädten oder bretonischen Dörfern.
Terrasson suchte eine Weile nach dem richtigen Schlüssel und betrat das Haus dann wie jemand, der sich dort auskannte. Es fühlte sich noch bewohnt an, als könnte die Hausherrin jeden Moment von einem Spaziergang zurückkehren. Als ich die sparsame, aber komfortable Einrichtung sah, erkannte ich die makellose Ordnung wieder, die in der Rue Pierre-Ier-de-Serbie herrschte. Der Salon war ziemlich weitläufig und offensichtlich der Lieblingsraum. Das Tageslicht fiel durch niedrige, aber breite Sprossenfenster. Auf der anderen Seite führte der Flur in eine kleine Küche und einen Raum mit geschlossenen Fensterläden, der wohl als Esszimmer gedient hatte. Dort lehnten eine Staffelei und Gemälde an den Wänden, die mit weißen Tüchern verhüllt waren. Überall roch es nach einer Mischung aus Stein, Bohnerwachs, Feuerholz, das über Jahrzehnte im Kamin verheizt worden war, und noch etwas anderem, das ich nicht einordnen konnte, es war jene einzigartige Duftmarke, die ein Haus von jedem anderen unterscheidet.
Wir kehrten in den Salon zurück, wo jeder Gegenstand von Alix’ Gegenwart zeugte. An einer Stuhllehne hing eine blassblaue Strickjacke. Ich sah mir den Titel des Buches an, das noch aufgeschlagen dalag: Albertine. Hinter einer Glastür war der Garten zu sehen, wo alte Rosensträucher ihre sommerliche Farbenpracht entfalteten: weiß, cremefarben, gelb mit rosarotem Rand. Mit der Fingerspitze berührte ich die Teekanne aus Sèvres-Porzellan, die auf dem Beistelltisch stand. Beim Gedanken, dass Alix und ich nie wieder zusammen Darjeeling trinken würden, schnürte mir Trauer die Kehle zu.
Jean-Raphaël führte mich in das obere Stockwerk und öffnete die Fensterläden. Der schmale Flur wurde schlagartig in Licht getaucht. Von ihm gingen auf einer Seite zwei Schlafzimmer ab, auf der anderen ein Arbeitszimmer mit Bibliothek. Ganz am Ende gab es noch einen schmalen Raum, offenbar ein altes Spielzimmer, das zum begehbaren Kleiderschrank umgewandelt worden war. Das größere der beiden Schlafzimmer war tatsächlich protestantisch karg möbliert, von zwei Porträts an der Wand abgesehen, um die sich ein paar kleinere gruppierten. Ich nahm mir die Zeit, diese zwei eingehender zu betrachten: Das eine zeigte einen Mann, das andere eine Frau, beide waren vermutlich um 1910 herum entstanden. Zwei stattliche Erscheinungen, die den Betrachter durch die Maske einer hundertjährigen Reglosigkeit ansahen.
Mein Blick blieb an den Augen der Frau hängen, so blau wie Delfter Porzellan, ihren runden Wangen, den vollen Lippen; sie war höchstens dreißig Jahre alt und trug ein türkisblaues Kleid, das zu ihren Augen passte und die helle Haut ihres Dekolletés und ihrer rundlichen Arme zur Geltung brachte. Der Mann trug eine Offiziersuniform. In der schmalen Hand, die auf seinem Knie ruhte, hielt er ein Paar gelbweißer Handschuhe. Mit seinen braunen, stark glänzenden Augen, dem schönen, fast weiblichen und ganz und gar bartlosen Gesicht wirkte er eher wie ein Dichter oder Schöngeist als wie ein Soldat. Obwohl er deutlich schlanker war als sie, hatte ich den Eindruck, dass sie sich vom Gesicht her ähnelten. Vielleicht lag es an der auffallend hellen Haut, der schmalen Nase oder aber an der Lippenlinie.
»Darf ich vorstellen? Blanche und Alban de Willecot«, ertönte hinter mir die Stimme des Notars.
Ich hatte mich in Bezug auf die Familienähnlichkeit also nicht getäuscht. Die Porträts zeigten Alix’ Mutter und ihren Onkel, den Verfasser der Briefe. Ich ließ meinen Blick über die Fotos schweifen, die ebenfalls an der Wand hingen. Eins war neueren Datums und zeigte einen rund vierzig Jahre alten Mann, groß, distinguiert, mit Schnurrbart, auch er in Offiziersuniform, vermutlich Alix’ Mann. Und noch ein Offizier in der Uniform des Ersten Weltkriegs, vielleicht ihr Vater? Dann ein kleines Mädchen, sechs oder sieben Jahre alt, mit Spitzenkleid, Söckchen und Lackschuhen. Das vergrößerte Foto einer jungen Frau (das kleine Mädchen von einst?), in einer Pose, die an das Porträt von Blanche erinnerte: die erwachsene Jane, wie ich sofort erriet. Sie war hübsch, mit ebenmäßigen Zügen, die Augen so blau wie die ihrer Großmutter. Ihren Mundwinkeln war aber eine versteckte Bitterkeit anzusehen, eine Traurigkeit, die das Studioporträt trotz gekünstelten Lächelns nicht verbergen konnte.
Hier hatte Alix also ihr persönliches Mausoleum eingerichtet, hier hielt sie allnächtlich Zwiesprache mit ihren Toten. Sie musste sich sehr einsam gefühlt haben, und ich fragte mich, ob ich mich selbst auch noch Jahre später mit meinen Erinnerungen und meiner Trauer einigeln würde. Der Notar und ich verließen das Zimmer, ohne ein Wort zu sagen.
»Sie mochten Madame de Chalendar«, stellte er fest, als wir die Treppe hinuntergingen.
»Wir hatten einiges gemeinsam.«
Zum Schluss drehten wir noch eine Runde im Garten. Ich staunte über die üppige Blütenpracht. Alix mochte einen Teil ihrer Zeit mit den Toten verbracht haben, aber sie hatte auch viel Lebendiges hervorgebracht. Ich roch gerade an einer Rose mit feinem Duft, als ich es im Gesträuch rascheln hörte. Ein weißes Kätzchen mit langem Fell sprang heraus und blieb am Rand des Rasens stehen. Es beobachtete uns neugierig.
»Na du«, sagte ich und ging in die Hocke.
Das Tierchen musterte mich einige Sekunden lang, in denen wir beide vollkommen regungslos verharrten, dann kam es Schritt für Schritt auf mich zu und sah mich dabei unverwandt an, immer noch darauf bedacht, einen Sicherheitsabstand zu wahren. Es war höchstens ein Jahr alt und hübsch, wenn auch ein bisschen dürr, wie es bei streunenden Katzen oft der Fall ist. Eine feine, längliche Schnauze, goldbraune Augen, weißes Fell, an Pfoten und Schwanz grau unterlegt. Am Ende dieser Beobachtungsphase, in der ich den Atem angehalten hatte, kam die kleine Katze vorsichtig näher, um meine ausgestreckte Hand zu beschnuppern. Dann miaute sie kurz und lief in den Wald zurück.
Vier Wände, Blumen, eine Katze. Da dachte ich, dass es zwar gar nicht so ungewöhnlich ist, ein Haus zu erben, man aber nur selten einen Ort geschenkt bekommt, und das auch noch schlüsselfertig, an dem es sich leben lässt.
Bald würde ich nach Jaligny zurückkehren. Paris hatte sich während dieses Jahrhundertsommers in einen Glutofen verwandelt, der all jene Städter stumpf vor sich hin schwitzen ließ, die nicht rechtzeitig in die Ferien aufgebrochen waren. So kurz mein Juliaufenthalt im Bourbonnais gewesen war, hatte die Hausbesichtigung, an die ich häufig denken musste – eines Nachts hatte ich sogar davon geträumt –, genügt, um mir vor Augen zu führen, wie unerträglich es war, in der Hauptstadt auszuharren.
Kurz nach deiner Verlegung in eine weit entfernte Stätte für Patienten im Endstadium war ich aus unserer gemeinsamen Wohnung in der Rue P. im zehnten Arrondissement geflohen. Ich hatte mir ein Hotelzimmer genommen und war schließlich wieder in die kleine Wohnung in der Rue Gabriel-Lamé gezogen, die ich gekauft hatte, bevor wir uns kennenlernten, und zunächst nur ein Jahr lang bewohnen sollte. Dort blieb ich und konnte mich nicht aufraffen, all die Habseligkeiten zu holen, die ich zurückgelassen hatte. Meine ganze Garderobe bestand aus zwei Jeans, einer Handvoll T-Shirts und ein paar Pullis. Eine Pappschachtel diente mir als Nachttisch, und ich schlief auf einem Futon, den ich im Internet bestellt hatte. Die Vorstellung, ein neues Bett zu kaufen, kam mir immer noch abwegig vor. Die nackten Wände, die Gesichtslosigkeit der austauschbaren Möbel, die ich hastig in einem dieser gleichförmigen schwedischen Einrichtungshäuser erstanden hatte, linderten meinen Kummer. Mehr hätte ich wohl nicht ausgehalten.
Nach meiner Rückkehr von Alix’ Beerdigung fand ich auf meinem Anrufbeantworter eine Nachricht von Liliane vor. In Gedanken nenne ich sie »die Hexe«. Es gibt auf der Erde praktisch niemanden, den ich hasse, mit Ausnahme deiner Exehefrau. Allein wenn ich ihre Stimme höre, wird mir übel. In einem süßlichen Ton sprach Liliane deinen »Nachlass« an, um den sie mir eine regelrechte Schlacht lieferte, es fing damit an, dass sie die Schenkung anfocht, die du mir unmittelbar nach Erhalt deiner Diagnose gemacht hattest. Ich war die Sache leid und hatte meine Anwältin zu Beginn des Sommers angewiesen, die Segel zu streichen und meinen Anteil an unserer gemeinsamen Wohnung zu verkaufen. Lilianes Nachricht endete mit der Aufforderung, die Wohnung schleunigst zu räumen, damit dein Sohn sie zum Verkauf anbieten könne. Für mich stand fest, dass besagter Sohn sich viel eifriger darum bemühen würde, die Früchte dieser Transaktion zu ernten, als er sich bemüht hatte, dich zu besuchen, als die Welt dir langsam, aber sicher abhandenkam.
Obwohl die Hexe mich schon seit Wochen bestürmte, war ich bisher auf keine ihrer Forderungen, die allmählich zu Mahnungen wurden, eingegangen. Es schien mir unerträglich, unsere Wohnung wieder zu betreten, durch die Zimmer zu gehen, in denen du und ich gelebt, geredet, geschlafen und uns geliebt hatten. Und ich wollte mir erst recht nicht das Ende in Erinnerung rufen, den Moment, in dem alles gekippt war.
In Jaligny hatte sich allerdings etwas verändert. Eine winzige Verschiebung auf der Ebene der Wahrnehmung, ein unmerklicher Energieschub, die Möglichkeit, wieder irgendwo anzudocken, mich aus diesem Zeitsumpf herauszuziehen, in dem ich seit Monaten versank. Zum ersten Mal brachte ich den Mut auf, die Hexe zurückzurufen, und hinterließ ihr meinerseits eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Gleich danach nahm ich Kontakt zu einer Umzugsspedition auf und gab einen Kostenvoranschlag in Auftrag.
Zwei Wochen später klingelte ich in der Rue P., mit den Schlüsseln in der Hand. Die beiden Möbelpacker, die vor dem Haus eine Zigarette geraucht hatten, während sie auf mich warteten, gingen mit mir hinein. Liliane war da, elegant wie immer, und schon die dominante Note ihres Parfüms löste bei mir Brechreiz aus. Diese Frau nahm bereits mit ihrem Duft alles in Beschlag. Sie sah schlecht aus, ihr Gesicht war noch hagerer, ihre Miene noch mürrischer als bei unserer letzten Begegnung. Auch dein Sohn war da, den ich im Lauf von sieben Jahren nur dreimal getroffen hatte. Das war aber nur zu verständlich, denn er arbeitete im Londoner Finanzsektor und hatte keine Zeit zu verlieren, schließlich musste er unbedingt aus Geld noch mehr Geld machen. Mit fünfundzwanzig hatte er schon Fett angesetzt und gab trotz kostspieliger Uhr und maßgeschneiderten Anzugs keine gute Figur ab. Mit zwanzig Jahren mehr auf dem Buckel und ein paar tausend Euro weniger in der Tasche hätte man ihn leicht für einen Doppelgänger von Alexandre Arapoff halten können. Was beide in unterschiedlicher Ausprägung gemein hatten, war die Vulgarität derjenigen, die ihr Erbe gar nicht schnell genug antreten konnten.
»Nimm dir, was du willst«, sagte Liliane grußlos. »Wir mussten dein Zeug einsammeln, weil du es ja nicht abgeholt hast.«