Eric-Emmanuel Schmitt
Die Rache der Vergebung
Erzählungen
Aus dem Französischen von Marlene Frucht
FISCHER E-Books
Eric-Emmanuel Schmitt, geboren 1960 in Sainte-Foy-lès-Lyon, studierte Klavier in Lyon und Philosophie in Paris. Anfang der 90er Jahre begann er, als Autor für Theater, Film und Fernsehen zu arbeiten und Bücher zu schreiben. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Schmitt lebt in Brüssel.
Eine Frau besucht den Mörder ihrer Tochter über Jahre im Gefängnis. Ein früherer Soldat quält sich mit dem Gedanken, im Krieg das Flugzeug von Antoine de Saint-Exupéry abgeschossen zu haben. Zwei Zwillingsschwestern lieben und hassen sich, bis es zum Äußersten kommt. Was treibt sie an? In seinen raffinierten Geschichten erkundet Eric-Emmanuel Schmitt, wie wir uns dem Leben stellen, wenn es uns an Abgründe führt. Ein starker Band über die dunkelsten Gefühle, geschrieben mit ergreifender Empathie, wie sie nur Eric-Emmanuel Schmitt besitzt.
FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel ›La vengeance du pardon‹ bei Albin Michel, Paris
Copyright © Éditions Albin Michel, 2017
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH,
Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Die Passage aus dem Brief Saint-Exupérys an Pierre Dalloz wurde zitiert nach: Antoine de Saint-Exupéry, ›Nachtflug. Roman. Die Geschichte seines Lebens in Bildern‹, übersetzt von Hans Reisiger. Fischer Taschenbuch Verlag 2015.
Die Sätze aus ›Der kleine Prinz‹ wurden zitiert nach: Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz. Neu übersetzt von Peter Stamm. Fischer Taschenbuch Verlag 2015.
Covergestaltung: Sonja Steven, Büro KLASS
Coverillustration: Marcelino Truong
ISBN 978-3-10-490886-1
Wenn das Paradies auf Erden ein Dorf ist, dann heißt dieses Dorf Saint-Sorlin.
Entlang der gepflasterten Straßen, die in sanfter Neigung zum Fluss hinunterführten, war jede Fassade ein Garten. Während oben der Blauregen seine kleinen, blassvioletten Laternen herunterhängen ließ, loderten vor den Fenstern Geranien, im Erdgeschoss leuchtete wilder Wein, hinter den Bänken wucherte Fingerhut, Maiglöckchenzweige ragten zwischen den Steinen hervor und machten ihre winzige Größe durch ihren betörenden Duft wett.
Wer schon einmal in Saint-Sorlin-en-Bugey gewesen war, dachte stets an einen Ort zurück, der nur eine einzige Jahreszeit kannte: einen immerwährenden Mai. Lebendige, überbordende, vorwitzige Blütenpracht überall, deren Vorherrschaft die Häuser zu bloßen Stützvorrichtungen macht. Unter dem arglos blauen Himmel waren die Mauern überrankt von einer verschworenen Gemeinschaft der Rosen; rosafarbene, üppig erblühte Rosen, wie überreife Früchte, strotzend vor Gesundheit, welche fleischige Blütenblätter hervorbrachten, die zum Berühren oder Küssen aufforderten, züchtige schwarze Rosen, die kaum merklich erröteten, rote Rosen, rank und drahtig, gelbe Rosen, die ganz leicht nach frisch gemahlenem Pfeffer dufteten, orangefarbene Rosen, duftlos und stumm, kurzlebige, scheue weiße Rosen, zu rasch enttäuscht, schon wieder welk. Hier und da, wie Wilde, die gekommen waren, um in der Stadt ein Lager aufzuschlagen, winzige Heckenrosensträucher mit hartem Laub und rötlichen, runden, kleinen Früchten, aus denen die Dorfbewohner Marmelade herstellten. Buschige, violette Hortensien standen um das Waschhaus herum und verliehen dem Ort bürgerliche Würde. Überall, von der Kirche Sainte-Marie-Madeleine bis an die Ufer der Rhône, wucherte in Saint-Sorlin die Vegetation prachtvoller als irgendwo sonst.
Auf der Place de la Halle schritt Lily Barbarin ihres Weges, eine alte Dame, deren Äußeres auf das Beste mit den koketten kleinen Sträßchen harmonierte. Die lächelnde, zierliche Dame mit dem zarten Teint, sehr gerader Nase und klarem Blick strahlte große Güte aus. Wenn Saint-Sorlin das Paradies symbolisierte, dann war Lily ohne Zweifel die Verkörperung der idealen Großmutter! Entgegenkommend, stets darum besorgt, ihren Mitmenschen zu helfen, schien sie aus dem Altwerden ein höfliches Zurücktreten, gepaart mit Selbstlosigkeit zu machen. Dabei hätte sie, so wie ihr Leben verlaufen war, eigentlich genügend Gründe gehabt, um zu hassen und nichts als Groll zu empfinden. War es nicht so, dass ihr jahrzehntelang zugesetzt worden war? War sie nicht verachtet, kritisiert, verraten und gehasst worden? Und vor allem, müsste sie nicht am nächsten Tag wegen Mordes vor Gericht erscheinen?
So wie das so idyllisch anmutende Dorf seinen Anteil an Missgunst, Eifersucht und Verbrechen beherbergt hatte, hatte auch diese Dame unter ihrer glatten und frischen Maske mehrmals Bekanntschaft mit der Hölle gemacht. Nur: Hatte sie sie auch betreten? Hatte sie das nicht Wiedergutzumachende begangen?
Ihr Ankläger, Fabien Gerbier, beobachtete sie von seiner Schusterwerkstatt aus. Er war ein stämmiger, groß gewachsener, düster dreinblickender Mann, der seinen Hammer mit einer Wucht auf die Sohlen niedersausen ließ, die eigentlich Lily Barbarin galt. Ungeachtet des Alters der Dame, ihrer Gebrechlichkeit und der Unschuldsvermutung fand er es unerträglich, dass sie auf freiem Fuß war und ihr von ihren Mitmenschen so viel Nachsicht entgegengebracht wurde. Er war es gewesen, der einen Verdacht geäußert, die Polizei darauf angesetzt und ein Gerichtsverfahren angestrengt hatte, und er war auch für die elektronische Fußfessel an ihrem Knöchel verantwortlich, nachdem die allzu nachgiebigen Behörden sich geweigert hatten, sie bis zur Verhandlung in Gewahrsam zu nehmen.
Morgen würde Fabien Gerbier zum Prozess nach Bourg-en-Bresse fahren. Morgen würde er die Justiz in Aktion erleben. Morgen würde endlich alles ans Licht kommen.
Schon seit Wochen gab es für die Bewohner von Saint-Sorlin kein anderes Thema, als Fremden oder ihren Gästen beim Essen die Geschichte von Lily Barbarin zu erzählen. Oder vielmehr die Geschichte der Barbarin-Schwestern, denn auch wenn nur eine von ihnen überlebt hatte, war es unmöglich, über die eine zu sprechen, ohne die andere zu erwähnen.
»Nicht zu fassen!«
Die Barbarin-Schwestern erblickten das Licht der Welt am selben Tag. Während die Geburt der ersten Tochter Bewunderung hervorrief, sorgte die der zweiten, als das Baby eine halbe Stunde später zwischen den Beinen der erschöpften Mutter auftauchte, für allgemeine Verblüffung. Damit hatte niemand gerechnet. Zu einer Zeit, als die Ärzte die Bäuche ihrer Patientinnen kaum untersuchten, offenbarte sich Geschlecht und Anzahl der Kinder erst bei der Geburt.
»Zwei, Madame Barbarin! Das war es also, was Sie heimlich für uns vorbereitet haben: zwei wunderhübsche Mädchen!«, rief die Hebamme begeistert aus.
Die Barbarin-Schwestern glichen einander wie ein Ei dem anderen, von den himmelblauen Augen bis zu den Falten zwischen ihren Zehen, und erfüllten ihre Eltern mit großem Stolz. Ein Baby hervorzubringen, das war ja an sich schon eine außergewöhnliche Sache, aber gleich zwei auf einmal, und noch dazu zwei vollkommen identische, das grenzte doch an ein Wunder!
»Was für wunderschöne Kinder!«
Die anwesenden Erwachsenen waren so fasziniert, dass sie nicht weiter über die Heftigkeit nachdachten, mit der sich das zweite Mädchen seinen Weg gebahnt hatte, und auch nicht über den entrüsteten Schrei, den die Kleine ausstieß – als würde sie es den Menschen übelnehmen, dass niemand mit ihr gerechnet, geschweige denn auf sie gewartet hatte.
»Wie wollen Sie sie nennen?«
Ohne zu zögern gaben die Eltern dem dreißig Minuten älteren Kind den Namen »Lily«, wie sie es geplant hatten. Was die unvermutet aufgetauchte kleine Schwester betraf, so waren sie einen Augenblick lang ratlos. Schließlich schlugen sie »Moïsette« vor, denn hätten sie einen Jungen bekommen, so hätten sie ihn Moïse genannt.
Lily und Moïsette … Diejenigen, die sich darüber wunderten, wie verschieden die Namen klangen, der erste hübsch und fein, der zweite ungewohnt, sorgten sich zu Recht. Ein aus Verlegenheit vergebener Vorname, das konnte kein gutes Vorzeichen für einen beginnenden Lebensweg sein …
Die ersten vier Lebensjahre von Lily und Moïsette waren das ungetrübte Glück. Die Familie Barbarin hatte ihre helle Freude an ihrer aufsehenerregenden Zwillingshaftigkeit, und machte sich einen Spaß daraus, diese zusätzlich hervorzuheben: Die Mädchen wurden niemals voneinander getrennt, gleich angezogen, und es war stets von »den Zwillingen« die Rede.
Bevor sie anfingen, die Sprache ihrer Umgebung anzunehmen, hatten Lily und Moïsette ihre eigene Sprache, ein fließendes, artikuliertes Geplapper, das ohne Unterbrechung von der einen auf die andere übergehen konnte, vermischt mit Gesumm und Gebrabbel, und das ihnen beiden ebenso klar verständlich war, wie es dem Rest der Welt unverständlich blieb.
»Wie gut sich die beiden verstehen!«, riefen die Nachbarn oft aus, wenn sie feststellten, dass die Kinder zur gleichen Zeit robbten, spielten, aßen, schliefen, umherrannten oder Selbstgespräche führten.
In Wirklichkeit und bei genauerem Hinsehen jedoch verstanden sie einander nicht im eigentlichen Wortsinn, denn um einander zu verstehen – sich äußern, zuhören, etwas erwidern –, muss man zu zweit sein. Lily und Moïsette wuchsen Seite an Seite auf, ohne dass sie das Gefühl hatten, voneinander abzuweichen. Es war ganz offensichtlich so, dass den Schwestern ganz zu Anfang ihres Lebens nicht bewusst war, dass sie zwei waren – sie waren ein und dieselbe Person, eine Einheit mit zwei Körpern, ein Lebewesen mit vier Armen, vier Beinen und zwei Mündern. Wenn eine von ihnen eine Geste begann, führte die andere sie zu Ende. Als würde eine unsichtbare Plazenta sie noch immer miteinander verbinden, badeten sie in Harmonie, geborgen in einer schützenden Blase, einer mit Fruchtwasser gefüllten Höhle, in der sie sich friedlich bei gleichbleibender Temperatur entwickelten und in vollkommener Eintracht miteinander gediehen.
Wodurch wurde diese Blase zerstört? Woher kam das Messer, welches die Schwestern voneinander trennte?
Am Morgen ihres vierten Geburtstags legten die Barbarins Lily ein blaues, Moïsette ein rotes Päckchen in die Hände. Voller Vorfreude betrachtete jedes der beiden Mädchen zunächst sein eigenes Geschenk und beugte sich dann vor, um ebenso freudig das der Schwester zu untersuchen. Moïsette legte das rote Päckchen zur Seite und griff nach dem blauen, das ihr verlockender erschien, und Lily hatte nichts dagegen. Da mischten sich die Eltern ein:
»Nein! Das blaue gehört Lily, das rote Moïsette.«
Sie tauschten die Geschenke wieder zurück. Vier Sekunden später tat Moïsette unbeirrt noch einmal das Gleiche.
»Moïsette, du verstehst nicht: Deins ist das rote, nicht das blaue.«
Moïsette runzelte die Stirn. Sie fand die Farbe blau schöner als die Farbe rot und verstand nicht, warum ihr das Paket wieder weggenommen wurde. So griff sie erneut danach.
Ein leichter Klaps auf ihr Handgelenk stoppte sie. Sie verstand die Welt nicht mehr.
»Na los, Mädchen, nun packt schon eure Geschenke aus!«
Moïsette beobachtete genau, wie Lily das blaue Geschenkpapier aufriss und einen Karton zum Vorschein brachte, in dem sich eine Puppe befand.
»Oh!«, machten beide Mädchen im Chor.
Genau wie Lily war auch die jüngere Schwester hingerissen von der wunderschönen, blonden Kreatur im weißen, glänzenden Kleid, die sich sitzend in der Schachtel befand.
»Ist die schön!«, flüsterte Lily.
»Oh ja!«, stimmte Moïsette ihr zu.
Vorsichtig hob Lily den Plastikdeckel ab, nahm die Puppe heraus und stellte sie aufrecht hin. Moïsette schaute ihr gebannt zu, als wäre sie direkt an der Szene beteiligt.
Als Nächstes, von Moïsette dazu ermuntert, streichelte Lily das goldene Haar der Puppe. Dann küsste Lily die Puppe auf ihre rosigen Wangen, und Moïsette wurde rot, als hätte der Kuss ihr gegolten.
»Und dein Geschenk, Moïsette?«
Es dauerte ein Weilchen, bis Moïsette bewusst wurde, dass ihre Eltern sie meinten. Sie ließen nicht locker:
»Bist du denn gar nicht neugierig?«
»Mir gefällt die Puppe.«
»Du hast recht: Sie ist sehr schön.«
»Sie gefällt mir.«
»Ja, aber sie gehört Lily.«
Moïsette ignorierte die Bemerkung und streckte den Arm aus, damit Lily ihr die Puppe gab.
Die Eltern beschlossen, hart zu bleiben.
»Nein, Moïsette, das ist Lilys Puppe!«
Sie rissen Moïsette das Spielzeug, das diese gegen ihre Brust drückte, aus der Hand und zwangen Lily, es wieder in Empfang zu nehmen.
»Sie gehört dir: Du behältst sie.«
Moïsette überlegte ein paar Sekunden, dann streckte sie Lily ihre geöffnete Hand hin, und diese gab ihr die Puppe. Die Eltern gingen dazwischen. Die Stimmung wurde immer gereizter.
»Das reicht jetzt! Es wird nicht mehr getauscht. Lass Lilys Geschenk los. Und jetzt pack endlich deins aus.«
Angesichts des bedrohlichen Tonfalls fing Moïsette reflexartig an zu weinen.
»Was bist du nur für ein Dummchen! Man gibt dir ein Geschenk, und du beachtest es gar nicht. Da fragt man sich ja, wozu man sich die Mühe überhaupt gemacht hat …«
Moïsette verstand überhaupt nichts, außer, dass sie auf einmal nicht mehr das Recht hatte zu tun, was sie wollte. Lily stürzte auf sie zu, schlang die Arme um sie und ließ sich von ihrem Geheule anstecken. Daraufhin beruhigte Moïsette sich ein wenig, vergoss noch ein paar Tränen und nahm die Situation in Augenschein: Ihre Mutter hielt ihr hartnäckig das rote Päckchen hin.
Wohl oder übel riss Moïsette mit verschlossenem Gesicht das Geschenkpapier auf und brachte einen wunderschönen Teddybären zum Vorschein.
»Oh, das ist aber ein schöner Bär!«, riefen ihre Eltern aus, um sie zu animieren.
Moïsette blickte mürrisch auf das Geschenk.
»Gefällt er dir?«
Sie drehte sich zu ihrer Schwester um, die begehrliche Blicke auf das Kuscheltier warf, und flüsterte:
»Ja.«
Da sie der Meinung war, dass sie ja nun getan hätte, was von ihr erwartet worden war, schnappte sie sich die Puppe.
Die Auseinandersetzung eskalierte. Die Eltern, mit ihrer Geduld am Ende, wurden laut, Moïsette fing erneut an zu weinen, und Lily brüllte aus Solidarität mit.
»Du nicht, Lily! Hör auf, sie zu ermutigen! Und stell du dich nicht auch noch genauso blöd an wie Moïsette!«
Es hagelte Beschimpfungen, die Tür wurde zugeschlagen, die Eltern verschwanden und ließen die beiden schluchzenden kleinen Mädchen auf dem Fußboden zurück, inmitten des zerknüllten Geschenkpapiers.
Dieser Geburtstag hatte die Einheit der Zwillinge zerschnitten: Jede hatte nunmehr eine diffuse Ahnung davon, dass irgendwo zwischen ihr und der anderen eine Grenze verlief. Mit vier Jahren waren sie noch einmal neu geboren worden, diesmal jedoch als zwei Wesen. Zwei verschiedene Lebewesen. Lily und Moïsette.
Für Lily war dies eine Information; für Moïsette war es ein Verlust. Nicht genug, dass sie nicht ihre Schwester war, sondern sie war allein. Darüber hinaus wurde sie schlechter behandelt. Jeder von uns hat irgendwann in seiner Kindheit ein einschneidendes Erlebnis: Auf einmal bemerkt man den Abstand zwischen sich selbst und dem Rest der Welt, und einem wird klar, dass man für sich existiert, verschieden, ein einzelner Körper inmitten von unbekannten Körpern, als ein einzigartiges, in sich abgeschlossenes Selbst. Die Ungerechtigkeit des Bewusstseins … Für die einen ist jene Bewusstwerdung eine vielversprechende Überraschung, für die anderen ist es ein Abstieg. Während sich für die einen ein Vorhang vor der Welt öffnet, tut sich vor den anderen plötzlich eine Mauer auf, die sie in ein Gefängnis sperrt. Die Einsamkeit ist ein Königreich, in dem die einen den Thron sehen, die anderen die Grenzen.
Für Lily war es ein schönes Gefühl, die Natur um sich herum zu entdecken, und darüber hinaus hatte sie auch noch eine Zwillingsschwester! Moïsette dagegen, die gekränkt und misstrauisch durch eine Welt wandelte, die ihr feindselig erschien, merkte, dass die Anwesenheit ihrer Schwester ihr etwas von ihrem Einfluss, ihrer Wichtigkeit, ihren Vorrechten nahm … An diesem vierten Geburtstag hatte Lily eine Schwester hinzugewonnen, Moïsette dagegen hatte entdeckt, dass sie eine Rivalin hatte.
Von diesem Tag an waren die Zwillinge in den Augen des Dorfes zwar nach wie vor eine Einheit, in ihren eigenen Augen jedoch nicht mehr.
Nach wie vor taten sie sich wie gewohnt bei allen möglichen Gelegenheiten zusammen – gegenüber den Eltern, den Lehrern, ihren Freunden. Wenn ihre Mutter bei ihrer Rückkehr nach Hause auf eine zerbrochene Lampe stieß, war aus den Schwestern nichts herauszubekommen. »Ich war’s nicht!«, verkündete Lily. »Ich auch nicht!«, fügte Moïsette hinzu. Da konnte man warten, solange man wollte, keine würde die Schuldige verraten. Immer wenn eine Autoritätsperson sich in ihren Bereich hineinwagte, schweißte sie das noch enger zusammen. Darum blieben die Strafen entweder aus, oder sie richteten sich gegen beide. Es machte ihnen wenig aus, wenn sie keinen Nachtisch bekamen, wenn ihre Lehrerin sie stundenlang nachsitzen ließ, wenn sie nicht zu dem Jungen eingeladen wurden, der seit ihrem Besuch seine Murmeln vermisste, ihr Duo zählte mehr als die Wut oder die Rüge fremder Leute. Sie bildeten eine verschworene Einheit.
Wenn sie jedoch unbeobachtet waren, wurde diese Einheit brüchig. Während es in körperlicher Hinsicht nur ein einziges Kilo war, das auf einen Unterschied verwies – Lily war etwas runder –, zeigten sich auf der mentalen Ebene Risse.
Lily war die Forschere der beiden. Sie wurde zur Botschafterin der Zwillinge, traute sich was, gefiel sich in der Rolle der Vorhut und war diejenige, die die Initiative zu Begegnungen, Spielen oder Ausflügen ergriff. Weil sie auf die Leute zuging, schlossen diese sie zuerst ins Herz. Bald schon war es zu einer Gewohnheit geworden, dass sie spontan die Rolle der Chefin einnahm, und man hörte die Leute öfter von »Lily« oder »den Zwillingen« sprechen als von Moïsette, manche beschränkten sich darauf, »die andere« zu sagen, und viele vergaßen ihren Vornamen.
Moïsette kam nicht auf die Idee, diese quasi natürliche Ordnung in Frage zu stellen, und folgte ihrer großen Schwester, nicht ohne jedoch den Schatten wahrzunehmen, den diese auf sie warf. In den darauffolgenden zwei Jahren war sie deswegen niemals böse auf ihre Schwester, ihre ewige Schwester, die sie in ihrer Nähe brauchte, um sich vollständig zu fühlen; sie gab vielmehr den Erwachsenen die Schuld, die gedankenlos, gleichgültig oder vergesslich waren. Darüber hinaus war Lily stets auf ihrer Seite, sobald Moïsette sich über die Rücksichtslosigkeit dieser oder jener Person beschwerte, und nahm sie immer in Schutz.
Da die Mädchen zu Weihnachten und zum Geburtstag von nun an stets unterschiedliche Geschenke bekamen, hatten sie eine Strategie entwickelt: In der Öffentlichkeit täuschten sie allgemeine Begeisterung vor, sobald sie jedoch allein waren, schritten sie zur Umverteilung. Moïsette, die regelmäßig von ihren Geschenken enttäuscht war, beanspruchte Lilys Geschenke für sich, die ihr diese ohne zu zögern überließ und sich noch nicht einmal beschwerte, wenn Moïsette sich später weigerte, sie ihr auszuleihen.
Als sie ungefähr sieben Jahre alt waren, bekam ihre Einheit durch die Grundschule einen Sprung. Moïsette fiel das Lernen schwer, da sie langsamer und nicht so gründlich war wie ihre Schwester. Die Lehrerinnen wiesen die Eltern darauf hin. Nach jener Unterredung spürte Moïsette eine schwarze Wut in sich: Ihr Lerntempo, das dem des unteren Drittels der Klasse entsprach und nicht schlechter war als das ihrer Freundinnen, hätte niemandes Aufmerksamkeit auf sich gezogen, hätte sie nicht eine brillante Schwester an ihrer Seite gehabt. Eigentlich war sie eine ganz normale Schülerin, aber da sie mit Lily verglichen wurde, wurde sie nur als mittelmäßig wahrgenommen! Sie nahm es ihrer Schwester übel, dass sie diesen Vergleich heraufbeschwor, verfluchte sie im Stillen dafür, begabter zu sein, und gewöhnte sich an, wenn sie eine schlechte Note bekam, stets Lily die Schuld zu geben.
Mit ungefähr zehn Jahren geschah das Unausweichliche: Eine Lehrerin machte den Vorschlag, die Zwillinge zu trennen, damit jede in eine Klasse käme, die ihrem Niveau entspräche. Die Pädagogin konnte noch so sehr auf den Vorteilen der Verschiedenheit herumreiten, bessere Entfaltungsmöglichkeiten versprechen, von der Wirksamkeit einer individuell zugeschnittenen Herangehensweise schwärmen, Moïsette senkte den Kopf und musterte Lily angewidert.
Von da an verwüstete sie regelmäßig das Zimmer ihrer großen Schwester, misshandelte ihre Bücher, zerbrach ihre Stifte, zerstörte ihre Zeichnungen, zerlöcherte ihre Kleider. Aber Lily räumte auf und reparierte stillschweigend, um ihre jüngere Schwester zu schützen. Es kam ihr nicht in den Sinn, sie auszuschimpfen, da sie fand, dass Moïsette oft zu kurz kam.
Mit ihrem ruhigen und beherrschten Verhalten verhinderte Lily, dass die unrühmlichen Taten ihrer Schwester ans Licht kamen. Wenn sie einmal allzu sehr unter deren Aggressivität zu leiden hatte, reagierte sie auf raffinierte und besonnene Weise. So hatte sie sich zur Kommunion ein paar ganz bestimmte Dinge gewünscht, und als der Tag gekommen war, ging sie frühmorgens zu dem Tisch, auf dem die Geschenke aufgebaut waren, und vertauschte die Etiketten, so dass sie am Abend, als Moïsette in der Verschwiegenheit der Nacht ihre Geschenke vertauschte, die in Empfang nehmen konnte, die sie sich ursprünglich gewünscht hatte.
Als die beiden Mädchen zwölf Jahre alt waren, wandelte sich die Harmonie erneut. Eines Morgens blickte Moïsette Lily an und verkündete:
»Du siehst komisch aus.«
Verblüfft musterte Lily sie ebenfalls.
»Du auch.«
Als sie sich beide vor den Spiegel stellten, sahen sie, dass sie recht hatten: Ihre Gesichter veränderten sich.
Eine Woche später blieb Moïsettes Blick an Lilys Hüften hängen:
»Du solltest aufhören, so viel zu mampfen: Sonst wirst du noch so dick, dass an deinem Rock die Nähte aufplatzen.«
»Du auch.«
Und wieder bestätigte das Spiegelbild ihnen ihr gemeinsames Desaster. Wie eine im Verborgenen agierende Armee waren die Hormone in ihre Körper eingefallen und hatten begonnen, sie zu verändern.
Es verging kein Morgen mehr, an dem der einen an der anderen nicht irgendein Makel auffiel, den sie gleich darauf auch an sich selbst entdeckte, ein Pickel auf der Nasenspitze, die Andeutung von Brüsten, Haare an Stellen, wo vorher keine gewesen waren, Speck an den Oberschenkeln, ölig glänzende Haut, ein neuer, unbekannter Geruch … Sie hatten von den Ufern der Kindheit abgelegt und waren auf dem Weg zum Kontinent der Frauen, schipperten momentan aber noch auf den Wassern der Unansehnlichkeit umher.
Lily fand es spannend, ihre Zwillingsschwester zu beobachten und ihren neuen Körper an ihr zu entdecken. Moïsette dagegen ertrug es nicht, dass ihre Schwester ihr den Anblick dieses aus dem Gleichgewicht geratenen Körpers ständig vor Augen hielt. Wer würde freiwillig vierundzwanzig Stunden am Tag vor einem Spiegel verbringen? Sie nahm es Lily übel, dass diese ihr pausenlos die eigene Hässlichkeit unter die Nase rieb; kurz, da Lily sie ständig auf ihre Fehler stieß, fühlte sie sich derart von ihr bedrängt, dass sie begann, sie zu verabscheuen.
Am Ende, als die Hormone ihre Übernahme abgeschlossen hatten und die Veränderung vollendet war, stellte sich wundersamerweise heraus, dass die Barbarin-Schwestern hübsch geworden waren. Und zwar beide gleich hübsch.
Moïsette war überglücklich.
Schluss mit der Ungleichheit, welche die Schule hervorgekehrt hatte, nun waren sie wieder gleich!
Wider Erwarten brachten ihre ersten Flirts sie einander näher. Erschrocken vor den eigenen Begierden, ungeduldig, ihre soeben neu erworbenen Kräfte auf die Jungen anzuwenden, fasziniert vom Spiel der Verführung, berieten sie sich pausenlos miteinander und wurden zu einer verschworenen Einheit, auch wenn ihre Verbundenheit sich eher mit der Solidarität unter Soldaten vergleichen ließ, die sich einer bis dahin unbekannten Gefahr gegenübersehen, als mit echter Freundschaft. Sie waren Waffenschwestern. Sie erzählten einander von ihren Vorstößen, ihren Niederlagen, ihren Erfolgen, so dass Moïsette, die nicht ganz so kühn war wie Lily, von den Rückschlägen ihrer älteren Schwester profitieren konnte, um sich ihrerseits geschickter anzustellen und besser anzukommen.
Zuweilen machten sie sich einen Spaß daraus, die Jungen hinters Licht zu führen, indem die eine für einen flüchtigen Kuss oder ein romantisches Geplänkel die Stelle der anderen einnahm. In einem Alter, in dem viele junge Frauen sich vor Übergriffen der Männer fürchten, traten sie selbstbewusst auf, stolz darauf, Herrinnen über den Schein zu sein und ihre Verehrer im Griff zu haben.
Liebten sie einander? Es war offensichtlich, dass Lily ihre Schwester vergötterte, sie wollte sie glücklich sehen, war glücklich, wenn sie es war, und unglücklich, wenn sie es nicht war. Moïsette zählte genauso viel wie sie, wenn nicht sogar mehr. Zu der körperlichen Nähe, die schon seit ihrer Geburt dagewesen war, war von Lilys Seite eine tiefe, fundamentale Zuneigung hinzugekommen.
Was Moïsette anging, so handelte es sich für sie eher um Gewohnheit als um Liebe. Zwar verspürte sie ein beinahe körperliches Verlangen nach Lily, aber es bereitete ihr keinen Kummer, wenn es dieser schlechtging, sie setzte sich nie besonders für sie oder ihre Gemeinschaft ein, bezog die Ältere nicht in ihre Zukunftsträume mit ein, und manchmal freute es sie sogar, wenn diese in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte.
»Das ist Fabien.«
Es war ein brütend heißer Nachmittag, als Lily Moïsette mit einer Handbewegung einen braunhaarigen, jungen Mann mit dunklen Augen vorstellte, der einen kräftigen Oberkörper und einen so breitbeinigen Gang hatte, als wäre er soeben von einem Pferd heruntergestiegen.
Seit sie ihn eine Woche zuvor kennengelernt hatte, redete Lily ununterbrochen von Fabien und hatte Moïsette nicht verheimlicht, dass sie zum ersten Mal verliebt war.
Moïsette, die ungeduldig und aufgeregt war, dass die Liebe nun in das Leben der Schwestern getreten war, musterte Fabien und konnte Lilys Empfindungen angesichts des groß gewachsenen, schlanken jungen Mannes gut nachvollziehen, der gleichzeitig elegant und eine Spur dreist wirkte, mit seinem lockigen, etwas zu langen Haar, den grünen Augen, deren geweitete, schwarze Pupille zu verraten schien, dass er von den beiden Mädchen wie hypnotisiert war. Er wirkte wie jemand, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, irgendwo zwischen idealem Schwiegersohn und Schlitzohr, und auf seinen vollen Lippen lag ein rücksichtsloses, unbeschwertes Lächeln.
Moïsette spürte seinen Blick und wurde rot, denn sie las darin, wie groß die Verblüffung über die perfekte Ähnlichkeit der Schwestern war, und wie groß das Verlangen … Es war nicht zu übersehen, dass dem jungen Mann die Barbarin-Zwillinge gefielen. Sofort senkte Moïsette den Blick. Gefahr!, warnte eine Stimme in ihrem Innern. Ihr Herz schlug heftig, sie ballte die Fäuste, sie fühlte, wie sie unter den Achseln zu schwitzen begann, und fürchtete schon, ihr aufwallendes Blut könnte die Adern an ihrem Hals zum Platzen bringen.
Den ganzen Nachmittag über, den sie zu dritt verbrachten, überließ Moïsette es Lily, zu entscheiden, womit sie sich die Zeit vertrieben, welche Route sie für ihren Spaziergang wählten, wann und welche Sorte Tee sie trinken wollten, welche Kekse sie dazu essen und in welchem Winkel des Gartens sie sich dazu niederlassen wollten … Sie wurde wieder so schüchtern und zurückhaltend wie als Kind, beinahe unsichtbar, lachte nur, wenn ihre große Schwester lachte, und öffnete den Mund nur, um ihr beizupflichten. Der junge Mann verwirrte sie so, dass ihr Denken sich verlangsamte, und eine angenehme Benommenheit überkam sie. Die Situation gefiel ihr nicht. Sie spürte, dass ihre Schwester sich mehr und mehr zu Fabien hingezogen fühlte, und gleichzeitig meldeten sich auch in ihr widersprüchliche, überreizte Gefühle: Einerseits konnte sie Lilys Begeisterung verstehen; auf der anderen Seite wusste sie, dass es nicht gut war, wenn sie ebenso empfand. Daher stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus, als Fabien sich endlich verabschiedete, denn die Anspannung hatte sie vollkommen erschöpft.
»Und, wie findest du ihn?«, wollte Lily sofort wissen.
»Wie du!«, antwortete Moïsette wie aus der Pistole geschossen.
»Ich gefalle ihm doch, oder?«
Moïsette dachte an Fabiens verzücktes Gesicht, immer wenn er Lily betrachtet hatte.
»Das ist nicht zu übersehen!«
Vor Freude fing Lily an umherzuwirbeln. Moïsette behielt es für sich, dass Fabien sie genauso angesehen hatte.
Als Lily wieder aufgehört hatte, um den Tisch herum zu tanzen, kratzte Moïsette sich am Kopf und fragte:
»Ist das zwischen euch eher eine körperliche Sache?«
»Nicht nur.«
»Es hat mit einem Blick angefangen.«
»Das stimmt. Ich habe ihn nicht über Briefe kennengelernt …«
»Und auch nicht am Telefon …«
»Auch nicht am Telefon! Ja, du hast recht, Moïsette: Der erste Blick war wie ein Stromschlag. Dreihundert Volt. Nein, tausend Volt. Ein Blitz.«
»Dann ist es also vor allem körperlich.«
»Nein, Moïsette, so hat es angefangen. Aber dann kommt noch der ganze Rest hinzu … Oh ja, der ganze Rest …«
Träumerisch wiederholte Lily dieses »der ganze Rest« noch ein paarmal mit einem wunderlichen Tonfall in der Stimme.
Moïsette nickte: Sie sah nicht so recht, was es mit »dem ganzen Rest« auf sich haben sollte. Zwei Stunden lang hatte die Unterhaltung aus nichts als Gemeinplätzen bestanden, aus abgedroschenen Phrasen, altbekannten Scherzen und verlegenem Schweigen, unterbrochen von übertriebenem Gelächter; ihr war das umso stärker aufgefallen, als sie sich kaum an der Plauderei beteiligt und die meiste Zeit über nur zugehört hatte. Von seinen Interessen her stellte Fabien sich als Allerweltsjunge heraus, ein bodenständiger, nicht besonders geistreicher Kerl, dessen hervorstechendste Eigenschaft sein unbedingter Wille war, zu gefallen. Zwar machte er durchaus einen aufgeweckten Eindruck, aber sein Geist schien ihr träger als sein aufreizender Blick.
Moïsette behielt ihre Einschätzung für sich, beglückwünschte sich insgeheim für ihren Scharfblick und war sich ganz sicher, dass sie ihrer Schwester damit um Längen voraus war.
Fabien verbrachte die zweimonatigen Sommerferien nicht weit entfernt in Ambérieu. Er konnte frei über seine Zeit verfügen und fuhr auf einem Mofa herum, das sein Patenonkel ihm überlassen hatte; so kreuzte er von da an regelmäßig bei den Barbarins auf.
Die Temperatur zwischen Lily und Fabien stieg genauso rasch wie in jenem brütend heißen Sommer das Quecksilber in den Barometern. Ende Juli ließ Lily Moïsette wissen, dass sie nicht länger warten würde: Sie wollte bald mit Fabien schlafen.
»Ohne zu heiraten?«
»Ja!«
»Und ohne euch zu verloben?«
»Da pfeif ich drauf.«
»Was?«
»Komm schon, Moïsette. Natürlich möchte ich mein ganzes Leben mit Fabien verbringen, weil ich ihn liebe. Aber wie kann man sich darauf verlassen, dass es auch so kommt? ›Das ganze Leben‹ … ziemlich abstrakt, oder? Außerdem ist er nur diesen Sommer über hier: Im September geht er zurück nach Lyon. Mein Leben ist jetzt, nicht morgen. Und überhaupt, tu nicht so erstaunt, wir haben doch hundertmal darüber geredet, wir beide, dass wir mit der Ehe eigentlich nichts anfangen können. Wenn’s passiert, umso besser. Wenn nicht, dann habe ich halt trotzdem mit Fabien geschlafen.«
Moïsette versuchte, sie lange und vehement davon abzubringen, stundenlang, tagelang. Sicher, im Gegensatz zu vorangegangenen Generationen forderte auch sie die Freiheit ein, zuerst Frau sein zu dürfen, bevor man zur Ehefrau wurde, aber eine trotzige Kraft trieb sie dazu, sich Lily zu widersetzen und ein Argument nach dem anderen anzuführen, um sie zu bremsen. Was war das für eine Kraft? Es war eine vielschichtige Angst, die Angst, ihre Schwester zu verlieren, die Angst, wieder in die zweite Position zurückzufallen, die der »anderen«, der Zwillingsschwester, der Kleinen, Zuspätgekommenen, der Langsamen … das Dummerchen eben! Indem sie Lily davon abhielt, sich Fabien in die Arme zu werfen, kämpfte sie nicht für Lily, sondern für sich selbst.
Mitte August beruhigte sie sich, denn Lily redete nicht mehr davon, sich Fabien hingeben zu wollen, und wechselte das Thema, sobald ihre Schwester sie darauf ansprach. Moïsette jubelte innerlich. Sie hatte Lily davon abgehalten, erwachsen zu werden. Besser war es, wenn zwei verpuppte Larven in diesem Haus lebten, als eine Raupe und ein Schmetterling.
Am Abend des 15. August, nach den traditionellen Feierlichkeiten zu Mariä Himmelfahrt, die allen zum Anlass gedient hatten, sich zu berauschen, hörte Moïsette zufällig unten vor dem schlafenden Haus Geflüster.
Gerade hatte es vom Kirchturm Mitternacht geschlagen.
Da sie sich Sorgen machte, stieg sie aus ihrem Bett und tappte leise zum Fenster. Unter einem rötlichen Mond stieg Lily soeben barfuß, ihre Sandalen in der Hand, hinter einem jungen Kerl mit Bomberjacke auf ein Mofa. Sie setzte sich auf den Gepäckträger, schlang die Arme um seinen Oberkörper und schmiegte sich in einer einvernehmlichen Bewegung an seinen Rücken, und Fabien nutzte den Hang und das Gewicht der Maschine aus und nahm seine Füße zu Hilfe, um mit ausgeschaltetem Motor bis zur Landstraße zu rollen, die durch das Dorf führte. Lautlos glitt das Paar um die Straßenecke; ein paar Sekunden später ertönte das Brummen der Zylinder, das kurz lauter wurde und dann in der Ferne verklang.
Die Stille deckte die Landschaft wieder mit ihrer bleiernen Decke zu.
Moïsette fröstelte. Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt.
Wo wollten sie hin? Sie hatte keine Ahnung. Aber was sie vorhatten, das konnte sie sich denken … Auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses saß eine Katze, die sie mit ihren in der Dunkelheit leuchtenden Augen anstarrte. Vor Wut biss Moïsette in ihre geballte Faust. Das war also der Grund dafür, dass ihre Schwester in letzter Zeit geschwiegen hatte, sie hatte sich längst entschieden. Lily machte sich gleich in doppelter Hinsicht über sie lustig: Sie hörte nicht auf sie, und sie entdeckte die Liebe vor ihr.
»Ich hasse sie! Ich habe sie noch nie so sehr verabscheut.«
Sie stellte sich ihre Schwester unter Fabiens nacktem Körper vor, der Hüften und Po bewegte.
»Eine Sau! Schlicht und ergreifend eine Sau!«
Als sie diese Worte zischte, erhob sich die Katze und reckte misstrauisch ihren Schwanz in die Höhe.
Moïsette zog sich ins Halbdunkel ihres Zimmers zurück und erblickte ihre lächerliche Gestalt in dem riesigen Spiegel des Kleiderschranks: ein dünner Wurm im Schlafanzug.
»Schlampe!«, wiederholte sie und meinte ihre Schwester damit.
Beleidigt flüchtete die Katze über die Dachziegel.
Am nächsten Morgen, wie auch an den darauffolgenden Tagen, registrierte Moïsette staunend, wie ihre Schwester sich veränderte. Lily leuchtete von innen heraus, schön wie die Morgenröte, majestätisch, respekteinflößend. Ihr Teint war leicht gebräunt, die Haare glänzten, als wären sie nass, rosarote Lippen, ein Glitzern in den Augen – aus Lily, die ein entzückendes Mädchen gewesen war, war eine schöne Frau geworden. Ständig spielte ein Lächeln um ihren Mund, ihre Bewegungen waren ruhiger und zugleich raumgreifender geworden: Sie ging nicht, sie sprang vorwärts, in den Momenten, wenn sie sich nicht bewegte, wurde sie zur Sphinx, und wenn sie sich auf einem Sofa ausstreckte, umgab sie eine flirrende Sinnlichkeit, als würde Aphrodite für einen unsichtbaren Bildhauer posieren. Es wirkte, als wäre sie aus irgendeinem Grund kaum merklich schwerer geworden, was sie nur noch anziehender, anmutiger, verführerischer machte … Steckte das Geheimnis der Leidenschaft dahinter?
Moïsette hörte damit auf, sie zu kritisieren, so sehr beneidete sie sie. Alles, was sie wollte, war, ihr von neuem zu gleichen.
Also benahm sie sich sehr liebenswürdig, um wieder mit der Schwester ins Gespräch zu kommen. Mit ihrer Freundlichkeit und indem sie ihr zu verstehen gab, dass sie zwar wusste, was Nacht für Nacht geschah, aber trotzdem ihre loyale Komplizin blieb, gewann sie Lilys Vertrauen zurück, die im Übrigen ein großes Bedürfnis danach hatte, sich jemandem anzuvertrauen. Lily beschrieb ihr die Scheune, zu der Fabien mit ihr fuhr, das Sternenlicht auf ihren Gesichtern, wie sie erschauderte, wenn er sie auszog, wie viel der Blick des hingerissenen, erregten Mannes ihr über ihre eigene sexuelle Macht verriet, über ihre erotische Wirkung, die ihn geduldig und ungeduldig zugleich machte, zärtlich und ungestüm. Anschließend drängte Moïsette sie, bis ins Kleinste von ihren Liebesspielen zu erzählen, was er mit ihr machte, was sie mit ihm machte, woran sie langsam Geschmack fand, wovon sie gar nicht genug bekam, was sie bald ausprobieren wollte … Sie sprach von der Angst, die einen zunächst bremst, dann antreibt. Sie beschrieb die Veränderung, die das Schamgefühl durchmacht, wenn der Ekel, den man seit seiner Kindheit vor bestimmten Arten von Berührungen empfunden hat, schmilzt, wenn man verliebt ist, und sich in sein Gegenteil verwandelt, in Genuss, und man erkennt, dass dieser Ekel mit das Erste ist, das verschwindet, wenn man das kleine Mädchen, das man einmal war, hinter sich lässt.
Moïsette war vollkommen fasziniert von diesen Berichten, durch die sie indirekt ebenfalls zur Frau wurde, und fühlte sich fast wieder so untrennbar mit Lily verbunden wie in ihren allerersten Jahren. Nachts aber, wenn Lily auf Fabiens Mofa von zu Hause ausriss, lag Moïsette allein in ihrem Bett und fühlte sich zurückgelassen und verraten, so dass sie wieder anfing, auf sie zu schimpfen, voller Wut darüber, dass ihr nichts weiter blieb als die eigene Phantasie.
Am 31. August ereignete sich bei Familie Barbarin etwas Dramatisches. Während des Abendessens trommelte ein Cousin an die Tür und verkündete, die Großmutter Garcin liege im Sterben und verlange nach ihrer Tochter.
Von Panik erfasst beschloss Madame Barbarin, unverzüglich nach Montalieu aufzubrechen, das 15 Kilometer südlich lag. Monsieur Barbarin eilte in die Garage, um den Wagen zu holen und seine Frau zu ihrer Mutter zu fahren.
Kurz darauf wartete der Citroën bereits mit laufendem Motor vor der Außentreppe. Madame Barbarin trat, begleitet von ihren beiden Töchtern, aus der Tür und drehte sich abrupt zu Lily um.
»Du kommst mit.«
Lily machte einen Schritt zurück in den Hausflur.
»Ich?«
Obwohl sie sich Sorgen machte, was mit ihrer Großmutter geschah, dachte Lily an Fabien, der auch in dieser Nacht auf sie warten würde. Sie warf einen verzweifelten Blick auf Moïsette. Dann wiederholte sie:
»Ich?«
»Beeil dich! Los! Zieh deine Schuhe an.«
»Bist du sicher?«, stammelte Lily.
»Ja, komm mit und kümmere dich um deine Großmutter.«
»Warum ich und nicht Moïsette?«
Da sie verärgert und in Eile war, hielt die Mutter sich nicht damit auf, über ihre Formulierung nachzudenken, und rief, während sie ins Auto stieg:
»Weil deine Großmutter dich sehr lieb hat!«
Die Mädchen zuckten zusammen. Moïsette lehnte sich an die Flurwand hinter ihr – ohne diese Stütze im Rücken wäre sie umgefallen. Was? Dann hatte ihre geliebte Großmutter sie also nicht lieb? Sie bevorzugte Lily? Sie auch?
Lily ahnte, welch herben Schlag ihre Schwester da gerade hatte einstecken müssen, und blickte sie mitleidig an. Die Mutter fing den Blick auf und erkannte, wie ungeschickt sie sich eben gerade ausgedrückt hatte, doch anstatt sich zu entschuldigen, wurde sie wütend:
»Schluss jetzt, das reicht! Nun macht die Sache nicht komplizierter, als sie ist, ihr beiden. Nicht heute. Lily, du kommst mit mir. Moïsette, du passt auf das Haus auf. Bis morgen!«
Sie schlug die Tür zu. Lily blieben zwanzig Sekunden, um sich auf die Rückbank zu setzen. Dann raste das Auto davon.
Moïsette blieb noch eine Weile im Hauseingang stehen. Allein … Wieder mal allein … und außen vor bei den Dramen der Familie … Allein sollte sie auf das Haus aufpassen … Wie ein Hund … Ganz allein.
Da hatte sie auch schon entschieden, was sie tun würde. Sie ging nach oben in Lilys Zimmer, schloss sich im Badezimmer ein, wusch sich, machte sich fertig, sprühte sich mit dem Parfüm ihrer Schwester ein und zog eines von deren Kleidern an.
Als Fabien kurz nach Mitternacht auftauchte, wartete Moïsette bereits ungeduldig unter dem Vordach der Nachbarn, so wie Lily es getan hätte.
Sie sprang auf den Gepäckträger, zog Fabien an sich, schmiegte sich eng an seinen Rücken und ließ sich davontragen …
Zwei Stunden später war sie in seinen Armen zur Frau geworden. Sie hatte nicht alles wiedererkannt, wovon ihre Schwester ihr erzählt hatte, aber einen Teil davon. Zu Beginn hatte sie sich wahrscheinlich etwas zu sehr bemüht, Gefallen daran zu finden, zum Ende hin jedoch hatte sie endlich loslassen können und intensive Empfindungen gehabt.
Nun lagen sie nackt nebeneinander auf dem Rücken und betrachteten den Mond, der durch das Dachfenster schien. Heute waren besonders viele Sterne am Himmel zu sehen. Beide schwiegen erschöpft und warteten, bis ihr Atem wieder ruhiger ging.
Während ihr Körper sich wieder entspannte und ihr Herzschlag langsamer wurde, begriff Moïsette, die zunächst einfach nur glückselig gewesen war, dass ihr das Schwerste noch bevorstand: die Unterhaltung. Bis hierher hatten sie lediglich im Dorf ein paar leise Worte miteinander gewechselt, waren dann durch die Nacht gefahren und hatten sich nach ihrer Ankunft gleich auf dem improvisierten Lager zwischen den Heuballen aufeinander gestürzt.
Würde sie sich beim Plaudern verraten? Plötzlich fürchtete sie sich davor.
Fabien wandte sich ihr zu, stützte sich auf einen Ellenbogen, blickte sie an und strich über ihre Hüfte.
Sie lächelte ihn verlegen an. Er lächelte zurück.
»Und, Moïsette, hat’s dir gefallen?«
Sie hielt die Luft an, zögerte einen Moment, bis sie sich stark genug fühlte, ein Lachen hervorzustoßen, das nicht falsch klang.
»Ha, ha, ha … Warum sagst du denn Moïsette zu mir?«
Uff, sie hatte eine gute Tonlage getroffen: Das hatte genau wie Lily geklungen, die verblüfft auf einen gelungenen Scherz reagiert. Also fragte sie noch einmal:
»Warum sagst du Moïsette zu mir?«
»Weil du Moïsette bist.«
»Moïsette liegt in ihrem Bett und schläft, so wie jede Nacht.«
Fabiens Lächeln wurde breiter und hämisch.
»Willst du mich für dumm verkaufen?«
Moïsette schauderte, ließ aber nicht locker:
»Sag schon, Fabien, warum nennst du mich Moïsette?«
Fabien deutete gelassen auf die dunklen Flecken auf dem unteren Teil des Lakens.
»Weil man nicht zweimal seine Jungfräulichkeit verlieren kann.«
Moïsette wurde blass. Blutflecken! Im Eifer des Gefechts hatte sie nicht gemerkt, dass sie blutete.
»Wie bitte?«
»Dieses Blut da heute Abend, was war das?«
Voller Schrecken wurde ihr gleichzeitig klar, was geschehen war und was Fabien dachte, und sie zog die Knie an den Oberkörper, schob ihr Kinn dazwischen und machte sich ganz klein.
Spöttisch beobachtete er sie. Ihr Nacken brannte, sie traute sich nicht mehr, ihn anzusehen.
Mit träger, lasziver Stimme fuhr er fort:
»Ich hatte es mir schon gedacht. Und dann habe ich den Beweis bekommen.«
»Wann?«
Er zuckte mit den Schultern und deutete höhnisch auf die bräunlichen Flecken.
»Es hat nicht lange gedauert.«
»Und du hast trotzdem weitergemacht?«
»Du ja auch …«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, in dem ein entsetzter Ausdruck lag. Er kniff die Augen zusammen und bleckte lachend die Zähne.
»Wir können das jederzeit wieder tun.«
In Moïsette verkrampfte sich alles. Sie war alles andere als glücklich damit, wie sich die Szene entwickelte. Sie merkte, dass sie die Kontrolle verlor.
Sie sprang auf, schnappte sich ihre Kleidung und zog sich hastig an. Er blieb nackt, völlig ungerührt.
Als sie fertig war, packte er sie unsanft an den Knöcheln, brachte sie aus dem Gleichgewicht, drückte sie auf den Boden und schob sich über sie. Seine Stimme nahm einen metallischen Klang an:
»Im Ernst: Wir können das jederzeit wiederholen, du musst mir einfach nur ein Zeichen geben.«
»Was! Das würdest du meiner Schwester antun?«
»Was meinst du?«
»Sie betrügen!«
»Ja, das würde ich tun. Genauso wie du es ja auch getan hast.«
Moïsette wehrte sich und trat mit den Füßen nach ihm.
»Du Misthaufen! Dreckskerl! Lass mich los.«
Ihm gefiel, wie sie sich wehrte, und er lehnte sich stärker auf sie, überwältigte sie, bis sie sich nicht mehr bewegen konnte. Der Blick in seinen Augen, die nur wenige Zentimeter von ihren entfernt waren, wurde boshaft.
»Seht euch das an, jetzt will sie mir Moralpredigten halten! Erst klaut sie ihrer Schwester den Lover, und dann empört sie sich!«
»Lass mich los.«
»Ich habe wenigstens die Ausrede, dass ich euch verwechselt habe.«
Sie wandte das Gesicht ab. Abrupt ließ er von ihr ab, rollte sich auf die Seite und zog sich seelenruhig an.
Moïsette rieb sich die Handgelenke und musste daran denken, wie sie soeben gedemütigt worden war.
Nachdem er sich wieder hergerichtet hatte, tat er so, als würde er sie gerade erst entdecken, wie sie da auf dem Boden kauerte, und er reichte ihr hilfsbereit die Hand, um ihr aufzuhelfen.
»Wann du willst, wo du willst.«
Sie stand auf, ohne etwas zu erwidern. Spöttisch fügte er hinzu:
»Von mir aus auch mit deiner Schwester, wenn euch der Sinn danach steht.«
Moïsette beeilte sich, die Scheune zu verlassen. Gemächlich seine Zigarette rauchend ging er hinter ihr her.
Als sie auf dem Mofa saß und durch die feindselige, spürbar abgekühlte Nacht fuhr, wurde Moïsette klar, in welche Falle sie geraten war. Was sollte sie ihrer Schwester sagen? Nichts natürlich. Aber was, wenn er ihr morgen von dieser Nacht berichtete … Oder von einem Teil davon. Wie sollte sie sich dafür rechtfertigen? Was …
Sie erzitterte.
Das war ungerecht! Sie hatte so überwältigende, unglaublich intensive Dinge gefühlt und war auf dem Weg, sich zu einer richtigen Frau zu entwickeln, doch sie durfte sich nicht darüber freuen, und wer war daran schuld? Ihre verfluchte Schwester! Ihre Schwester, diese Spielverderberin, dieses Gift, diese Nervensäge, die sich ihrem Glück mal wieder in den Weg stellte!
Als Fabien Moïsette am Dorfeingang absetzte, kurz bevor die Straßenlaternen anfingen, baute sie sich vor ihm auf. Sie blickte ihn fest an und ihre Stimme schwankte nicht:
»Du wirst meiner Schwester nichts sagen.«
»Ach nein?«
»Du sagst meiner Schwester nichts, sonst verpfeife ich dich.«
»Was?«
»Ich erzähle ihr, dass ich runtergegangen bin, um dir zu sagen, dass sie wegen unserer Großmutter nicht kommen kann, und dass du mich überwältigt und vergewaltigt hast.«
»O ja, sehr glaubwürdig!«
»Allerdings, denn du hast ja selber zugegeben, dass dir der Körperbau der Barbarin-Schwestern gefällt. Daher … ob nun die eine oder die andere, was macht das für dich für einen Unterschied …?«
Er verzog das Gesicht.