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Maximilian Maurer

Mord macht einsam

Ein neuer Fall für Chief Inspector Hippolyt Gibbs

Kriminalroman

hockebooks

10. Kapitel:
Jeff Miller packt aus

Die Police Station in der Barton Street residierte in einem heruntergekommenen Backsteinbau, der sich hinter einer mehr als zwei Meter hohen Mauer versteckte. Den Eingang erreichte man über einen schlecht gepflasterten Hof. Das Unkraut quoll in dicken Büscheln zwischen den Steinen hervor und die Wurzeln der Bäume hatten an manchen Stellen das Pflaster hochgedrückt, als wollten sie sich nicht dem einengenden Diktat der Menschen unterwerfen. Gibbs belegte den einzigen noch freien Parkplatz und meldete sich beim wachhabenden Beamten.

Kurze Zeit später saß er mit Melanie in einem engen, stickigen Büro, das ihnen der Stationsleiter zur Verfügung gestellt hatte. Melanie berichtete ihm, dass sie sich gerade mit DI Curruthers auf den Weg machen wollte, um das Material aus dem Büro von Lady Glenmoore sicherzustellen, als sich ein Zeuge gemeldet hätte, ein gewisser Jeff Miller, aus dem aber nichts herauszubringen sei. Er wolle nur mit dem Mann aus London sprechen, wie er sich ausdrückte. Curruthers habe sich dann allein nach Glenmoore House aufgemacht.

»Der Zeuge wartet schon über eine Stunde hier«, beklagte sich Melanie. »Ich hatte meine liebe Not, ihn daran zu hindern, wieder wegzulaufen.«

»Das haben Sie gut gemacht, Sergeant. Wir können jede Hilfe gebrauchen. Na, dann herein mit ihm.«

Gibbs war über diese Neuigkeit sichtlich erfreut. Er wusste genau, dass sie eigentlich kaum eine Chance hatten, in dem Fall weiterzukommen, wenn sich nicht etwas Außergewöhnliches ereignen würde. Und vielleicht brachte gerade dieser Zeuge etwas Licht ins Dunkel. Gibbs sollte recht behalten.

Als Jeff Miller von Melanie in das Büro gebracht wurde, hatte es sich Gibbs an einem quadratischen Besuchertisch mit Stahlrohrbeinen und Resopal-Auflage bequem gemacht und tat so, als lese er seine Notizen durch. Jeff Miller, das konnte man auf den ersten Blick sehen, war an solche Begegnungen nicht gewöhnt. Mit hängenden Schultern stand er da. Die Kappe mit dem Tesco-Schriftzug hielt er mit beiden Händen vor sich, als gelte es, sich notfalls hinter ihr zu verstecken. Melanie Poulsen blieb nahe der Tür stehen und wartete ab. Nach einer Weile sah Gibbs von seinen Notizen auf und schien Miller erst jetzt zu bemerken.

Er sprang mit einem Lächeln auf und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

»Sie sind also Mr Miller? Das freut mich aber. Man sagte mir, Sie hätten im Zusammenhang mit dem Glenmoore-Fall eine wichtige Aussage zu machen?«

Jeff Miller hatte vermutlich eine völlig andere Art der Begrüßung erwartet. Trotzdem sah man ihm an, wie unwohl er sich in seiner Haut fühlte. Er nickte schüchtern und drehte dabei seine Mütze, als wäre es ein Autolenkrad.

»Ich bin Chief Inspector Gibbs. Ich bearbeite diesen verzwickten Fall«, stellte sich Gibbs leutselig vor. »Nehmen Sie doch bitte Platz, Mr Miller, dann können wir in Ruhe über alles reden.«

Gibbs rückte den Besucherstuhl zurecht und bat Miller, Platz zu nehmen. Der dreht sich um und schaute mit fragendem Blick auf Melanie, die ihn hereingeführt hatte.

»Keine Sorge, Mr Miller, meine Kollegin wird uns nicht stören.«

Auf einen Wink hin verließ Melanie das Büro. Miller setzte sich. Er saß ganz vorne auf der äußersten Kante des Stuhls. Die Kappe legte er vor sich auf den Tisch. Als wäre ihm plötzlich der Gedanke gekommen, dass man seine Kopfbedeckung nicht so mir nichts dir nichts auf den Tisch legt, nahm er sie plötzlich wieder weg und deponierte sie auf seinem Schoß.

»Was darf ich Ihnen anbieten, Mr Miller? Tee, Kaffee, Wasser?«

Gibbs redete, als wäre der Herzog von Buckingham zu Besuch gekommen. Miller schüttelte bloß den Kopf.

»Sind Sie der Beamte von Scotland Yard?«

»Ja, der bin ich«, antwortete Gibbs und legte zum Beweis seine Dienstmarke vor Miller auf den Tisch. Der hatte so etwas noch nie gesehen und machte große Augen.

»Wissen Sie Sir, ich glaube, ich hätte da etwas, womit Sie Ihren Mörder im Handumdrehen an der Angel haben.«

Jeff Miller nickte heftig und strahlte über das ganze Gesicht.

»So, so«, sagte Gibbs nur, »na, dann heraus damit! Ich bin schon sehr neugierig.«

Miller rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her.

»Also«, begann er zögernd, »also, die Sache ist die. Ich meine, ich frage ja nur, aber ich bin extra mit dem Bus von Bourton herübergefahren. Das kost’ mich ’nen halben Tag, ich meine ich hab’ ja auch Verdienstausfall und so. Es ist doch bestimmt eine Belohnung ausgesetzt, nicht wahr?«

Daher also wehte der Wind. Miller wollte sich sein Wissen versilbern lassen.

Doch Gibbs tat so, als hätte er die Bemerkung Millers nicht verstanden. »Also, Mr Miller, eine Belohnung ist in diesem Fall bislang nicht ausgesetzt worden. Aber als aufrechter Staatsbürger werden Sie doch sicherlich stolz darauf sein, der Polizei bei der Aufklärung eines derart brutalen Mordes helfen zu können.«

»Das schon«, erwiderte Miller, jetzt mutiger geworden, »aber ich habe mal gehört, dass die Polizei für gute Informationen was springen lässt. Bei der Presse würde ich bestimmt einen guten Preis bekommen.«

»Vergessen Sie das, Miller, wenn Sie ein wichtiges Beweismittel unterschlagen, kann Sie das mehr kosten, als Ihnen die Freunde von der Presse dafür bieten. Aber ich mache Ihnen ein faires Angebot, damit Sie wenigstens Ihre Kosten wieder hereinbekommen.«

Gibbs zog seine Geldbörse aus der Tasche und legte zwei Zehn-Pfund-Noten zwischen sich und Miller auf den Tisch. Er sah, wie die Augen von Miller zu leuchten begannen, als er das Geld sah. Das war immerhin die Summe, die er an einem guten Tag im Supermarkt verdiente. Schon wollte er danach greifen, aber Gibbs war schneller und legte die Hand drauf.

»Nicht so hastig, mein Freund, zehn Pfund gibt es sofort und die anderen zehn, wenn Ihre Information wirklich etwas wert ist. Außerdem lasse ich Sie von der Kollegin heimfahren. Dann sparen Sie auch noch den Bus. Okay?«

Miller nickte und Gibbs schob ihm eine der beiden Banknoten zu. Miller nahm das Geld, um es in seinen Geldbeutel zu stecken, und fischte dabei aus einem der Fächer den kleinen gefalteten Zettel hervor, den er nun schon seit mehr als vierzehn Tagen mit sich herumtrug. Er reichte ihn dem Chief Inspector. Gibbs sah sofort, dass das Stück Papier für die Spurensicherung längst verloren war. Trotzdem faltete er es vorsichtig auseinander. Er kannte diese Merkzettel. Sein Arzt in London verteilte ähnliche an seine Patienten. »Dr. John Peters, Moore Rd., Bourton-on-the-Water« stand auf der Vorderseite. Das Feld, in dem Termin und Uhrzeit eingetragen werden konnten, war leer. Gibbs drehte den Zettel um. Die Rückseite war eng mit Kugelschreiber beschrieben. Gibbs las:

»Hallo Olivia, muss dich dringend sprechen. ALLEIN! Es geht um Mary. Bin heute den ganzen Tag unterwegs und komme erst gegen Abend zurück. Bitte erwarte mich Punkt 9.00 Uhr an der Einfahrt. Es ist sehr wichtig.
Liebe Grüße, John«

Das Wort »Allein« war zwei Mal unterstrichen und hinter den Namen hatte der Schreiber der Nachricht ein Herzchen gemalt. Gibbs pfiff leise durch die Zähne.

»Woher haben Sie das?«, fragte er Miller, der gespannt auf eine Reaktion des Chief Inspectors zu warten schien.

Miller erzählte ihm lang und breit von seinem Erlebnis auf dem Tesco-Parkplatz. Von seinem Freund Iwan Karpow, der ein ungehobelter Klotz sei und nicht einmal grüße, wenn er mit dem Moped an ihm vorbeifahren würde. Als der Name Iwan Karpow fiel, sah Gibbs kurz von seinen Notizen auf und wollte schon eine Frage stellen. Doch Miller war jetzt so richtig in Fahrt. Er berichtete von den beiden Frauen mit dem vollen Einkaufswagen und von der Brünetten, die den Zettel gefunden und weggeworfen habe und auch, wie das Fahrzeug zwei Stunden später noch mal zurückgekommen sei und wie die eine der beiden, vermutlich Lady Glenmoore, nach dem Zettel gesucht habe und er ihn ihr doch eigentlich geben wollte, gegen ein kleines Trinkgeld natürlich, und wie sie dann aber davonfuhren, noch bevor er das Auto erreichen konnte.

Auf die Frage, woher er denn gewusst habe, dass es sich bei der Dame um Lady Glenmoore handelte, berichtete Jeff von seinem Gespräch mit dem Praktikanten. Außerdem habe er am Tag nach dem Mord in den Abendnachrichten im TV ein Bild von ihr gesehen. Gibbs hörte aufmerksam zu und unterbrach Miller auch nicht, als der auf seine Probleme mit dem Müll in den Einkaufskarren zu sprechen kam und dass es kaum Leute gab, die ihren Wagen selbst zum Haupteingang zurückbrächten. Auf Gibbs’ Frage, warum Miller den Zettel nicht der Polizei übergeben habe, schaute ihn Jeff etwas verdutzt an.

»Wie denn? Ja, ich habe darüber nachgedacht. Aber dann kam ja schon die Meldung, dass man den Fall aufgeklärt habe. Da dachte ich, der Zettel hätte vielleicht doch gar nichts mit der Sache zu tun. Erst als dann in der Zeitung stand, dass die Polizei mal wieder fürchterlich danebengelegen hatte, wurde mir klar, wie wichtig die Mitteilung war. Aber den Typen von der örtlichen Schmiere hätte ich den nie gegeben. Die hätten mich doch nur in die Mangel genommen. Ich bin doch nicht blöd. Nein, aber zu Ihnen, Sir, zu Ihnen habe ich Vertrauen. Sie sind bestimmt ’ne große Nummer beim Yard. So wie einst Jerry Cotton.«

»Danke, Mr Miller, wir wollen aber mal nicht übertreiben. Außerdem war Jerry Cotton beim FBI und nicht beim Yard. Jedenfalls haben Sie sich die zwanzig Pfund redlich verdient.«

Gibbs schob ihm den zweiten Zehner über den Tisch.

»Um eines muss ich Sie jedoch noch bitten. Ich lasse jetzt meine Assistentin kommen. Sie wird mit uns ein Protokoll machen. So was brauchen wir nun mal bei der Polizei. Notfalls werde ich Sie auch vor Gericht als Zeugen brauchen. Aber keine Angst. Dann kommen Sie ganz groß raus, Miller, ehrlich.«

Miller schien seine Zweifel daran zu haben, ob er wirklich »ganz groß rauskommen« wollte und ein Protokoll wollte er eigentlich auch nicht unterschreiben. Aber als Gibbs Melanie Poulsen hereinholte und sie sich mit einem überaus charmanten Lächeln am Nachbartisch an die Schreibmaschine setzte, da waren Jeffs Bedenken im Nu verflogen. Gibbs diktierte Melanie die Aussage, die Jeff Miller gemacht hatte. Zwischendrin fragte er Miller immer wieder, ob das alles so richtig sei. Der nickte. Als alles fertig und unterschrieben war, zeigte Gibbs Melanie das Beweisstück.

»Ich nehme an, das wird uns ein ganzes Stück weiterbringen, nicht, Sir?«, bemerkte Melanie hoffnungsvoll.

»Das hoffe ich auch. Ich weiß zwar, dass es wenig Sinn macht, aber geben Sie das Stück Papier dennoch ins Labor. Man weiß ja nie. Machen Sie zuvor aber bitte ein paar Kopien für unsere Ermittlungen. Und dann noch was. Ich habe Miller versprochen, ihn nach Hause bringen zu lassen. Würden Sie das bitte übernehmen? Anschließend überprüfen Sie bitte diesen Doktor. Vielleicht haben die hier ja was über ihn im Archiv. Ich werde inzwischen zu Curruthers nach Glenmoore House fahren. Wir treffen uns später im Hauptquartier.«

*

Als Gibbs kurze Zeit später in Glenmoore House eintraf, begannen gerade einige Polizeibeamte unter Anleitung von DI Curruthers damit, Kartons mit den Unterlagen aus Lady Glenmoores Büro in einen Transporter zu verladen. Madigan stand mit grimmiger Miene dabei, doch die Polizeibeamten beachteten ihn nicht. Als er Gibbs erblickte, kam er wild gestikulierend auf ihn zu.

»Mr Gibbs, ich protestiere mit allem Nachdruck gegen diese Durchsuchung. Gestern Abend haben Sie mir noch versichert, ich könnte endlich mit den Umbaumaßnahmen beginnen. Was soll dieser Unfug? Meine Tante ist ermordet worden. Sie war keine Verbrecherin. Warum wird zwei Wochen nach ihrem Tod immer noch in ihren Sachen herumgestochert. Das ist unerträglich. Ich fordere eine Erklärung, notfalls werde ich mich persönlich über diese Maßnahme beschweren.«

Gibbs war stehen geblieben und hörte sich gelassen Madigans Tirade an.

»Es bleibt Ihnen unbenommen, Mr Madigan, sich bei meiner vorgesetzten Dienststelle im Yard zu beschweren. Aber ich kann Ihnen versichern, es hat alles seine Ordnung. Ich habe einen rechtlich einwandfreien Durchsuchungsbeschluss. Aber zu Ihrer Erklärung: Es haben sich einige neue Fakten ergeben, die diese Vorgehensweise nicht nur rechtfertigen, sondern sogar unbedingt notwendig machen. Aus ermittlungstechnischer Sicht darf ich Ihnen leider nichts Näheres dazu sagen. Aber betrachten Sie es doch einmal von der guten Seite. Wenn wir hier fertig sind, können Sie nach Herzenslust Ihren Umbauplänen frönen. Versprochen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss mich um die Aktion kümmern. Wir wollen schließlich nichts mitnehmen, was nicht unbedingt vonnöten ist.«

Damit ließ Gibbs Madigan stehen und ging ins Haus. In Lady Glenmoores Büro traf er auf Curruthers. Er gab ihm Anweisung, was er alles einpacken lassen sollte, und wählte einiges aus, was hierbleiben konnte. Dann ging er in die Halle hinunter, um Holmes zu suchen. Er fand ihn Zeitung lesend im Dienstbotenzimmer.

»Guten Tag, Mr Holmes. Ich will Sie nicht stören, aber ich benötige Ihre Hilfe. Wären Sie so freundlich?«

Holmes faltete die Zeitung zusammen und stand auf.

»Womit kann ich dienen, Inspector? Möchten Sie etwa die Küche beschlagnahmen?«

Gibbs nahm die Anspielung mit Humor und lachte.

»Nein danke, Mr Holmes, das ist Ihr Fall, da mische ich mich nicht ein.«

Holmes verzog das Gesicht, konnte aber ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken.

Gibbs fuhr fort.

»Mr Madigan sagte mir, Sie hätten sich darum gekümmert, was mit Lady Olivias Sachen geschehen ist, die sich in ihren Räumen befanden. Darf ich fragen, wo sich der Krempel jetzt befindet?«

»Die Kleidung wurde einem karitativen Zweck zugeführt. Schmuck und Bargeld hat Mr Madigan an sich genommen, der Rest steht unten im Keller.«

»Das ist gut, Mr Holmes«, bemerkte Gibbs, »ich würde gern einen Blick darauf werfen.«

Holmes bat Gibbs, ihm zu folgen, und gemeinsam stiegen sie, zum zweiten Mal in dieser Woche, in den Keller hinunter. Gibbs war überrascht von der riesigen Dimension dieser Gewölbe, die sich unter dem gesamten Haus hinzogen. Holmes ging durch mehrere Gänge und blieb schließlich vor einer grauen Stahltür stehen. Er nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche und sperrte auf. Drinnen standen die zerlegten Möbel aus Lady Glenmoores Zimmern. Man konnte einen Kleiderschrank im Stil der 60er Jahre erkennen und ein zerlegtes Doppelbett. Eine Matratze stand, staubdicht in Folie verpackt, senkrecht an der Wand. Wie wenig doch von einem Menschen übrig bleibt, dachte Gibbs bei sich. In einer Ecke waren mehrere Kartons aufeinandergestapelt, die sein Interesse weckten.

»Ich nehme an, in den Kartons befinden sich die persönlichen Sachen der Verstorbenen?«

Holmes nickte.

»Es handelt sich im Wesentlichen um den Inhalt der Schubladen und Regale.«

»Hat jemand aus dem Haus diese Sachen bereits untersucht?«

»Nicht dass ich wüsste, jedenfalls wurde ich nicht um den Schlüssel gebeten.«

Gibbs hatte den größten der Kartons geöffnet. Er enthielt ausschließlich Bücher. Vor allem Reiseführer und Kunstbände. Auch ein zweiter, kleinerer Karton war mit Büchern angefüllt. Seichte Unterhaltungsliteratur und ein paar Kriminalromane. Einer fiel Gibbs wegen seines reißerischen Umschlags besonders ins Auge. »Deads can’t be killed« lautete sein Titel. Allerdings von einem total unbekannten Autor. Als Gibbs den dritten Karton öffnete, stieg ihm der Duft von Kosmetika in die Nase. Offensichtlich handelte es sich hier um den Inhalt der Badezimmerschränke. Ein weiterer Karton wurde von Gibbs geöffnet und gleich wieder verschlossen. Er war vollgestopft mit Handtaschen, Gürteln und sogar einigen Perücken. Ganz unten lugte eine Porzellanpuppe hervor, die ihn mit traurigen Augen anstarrte. Blieb ein letzter, ebenfalls sehr großer Karton übrig. Neugierig sah Gibbs hinein. Er enthielt einige Mützen und Schals, ein Gerät zum Blutdruckmessen und ein paar typisch weibliche Kleinigkeiten. Gibbs wollte ihn schon wieder schließen, als er unter einem Seidenschal eine Holzkiste durchschimmern sah. Er zog sie heraus. Sie war etwas größer als eine Schuhschachtel und mit einem Schiebedeckel verschlossen. Vorsichtig zog Gibbs den Deckel auf. Die Kiste war randvoll mit Fotos. Obenauf lag ein kleines Buch mit einem groben Leineneinband. In der rechten unteren Ecke war ein Symbol aus Messingblech aufgebracht, das eine stilisierte Schreibfeder mit einer soeben gezogenen geschwungenen Linie zeigte. Gibbs öffnete das Buch und pfiff leise durch die Zähne. Es handelte sich ohne Zweifel um Lady Glenmoores Tagebuch. Zufrieden legte er es zurück und verschloss die Kiste.

»Das wär’s dann, Holmes. Dieses Kästchen werde ich wohl mitnehmen müssen. Danke für Ihre Hilfe.«

Holmes nickte, schwieg aber und verließ hinter Gibbs den Kellerraum.

Gibbs kam gerade rechtzeitig nach oben. Curruthers hatte seine Aktion abgeschlossen. Der Polizeitransporter war abfahrbereit. Von Madigan war weit und breit nichts zu sehen.

»Am besten, Sie lassen das Zeug nach Gloucester bringen. Tut mir leid, es wird uns einiges an Zeit kosten, das alles zu sichten. Fahren Sie schon mal voraus. Ich will noch mit Mrs Hunter sprechen, dann komme ich nach.«

Curruthers verabschiedete sich und Gibbs deponierte seinen Fund im Fahrzeug. Dann ging er in die Halle zurück. Er sah gerade noch, wie Holmes mit Tee und Plätzchen im Salon verschwand und wartete geduldig, bis er wieder herauskam.

Holmes schien überrascht, Gibbs noch anzutreffen.

»Kann ich noch etwas für Sie tun, Sir?«

»Ja, das können Sie, ich würde gern noch einmal kurz mit Mrs Hunter sprechen, wenn sie Zeit hat. Würden Sie mich bitte anmelden?«

»Sehr wohl, Sir.«

Holmes verschwand wieder im Salon und kam alsbald zurück.

»Mrs Hunter lässt bitten.«

Gibbs fand Mary Hunter im Salon vor, wo sie bei einer Tasse Tee am Kartentisch saß. Vor sich hatte sie eine schwarze Lederunterlage ausgebreitet, auf der einige Briefmarken und eine Lupe lagen. Sie bat Gibbs, Platz zu nehmen. Den angebotenen Tee nahm Gibbs dankend an.

»Was kann ich für Sie tun, Chief Inspector?«, begann Mary Hunter und schob die Unterlage mit den Briefmarken etwas aus der Reichweite der Teetassen. »Sie sehen aus, als gäbe es etwas Neues.«

»In der Tat, Mrs Hunter. Das kann man wohl sagen. Unsere Ermittlungen kommen voran.«

Mit einem Blick auf die Briefmarken fuhr er fort.

»Ein selten gewordenes Hobby, das Sie da pflegen.«

»Oh ja«, pflichtete ihm Mary Hunter bei, »die Menschen haben heutzutage nicht mehr die Geduld, sich intensiv mit solchen Kleinodien zu beschäftigen. Die Zeit ist zu schnelllebig geworden. Dabei ist die Beschäftigung mit den Marken beruhigend und spannend zugleich.«

Sie griff mit der Pinzette nach einer unscheinbar aussehenden Marke. »Sehen Sie sich zum Beispiel diese Marke an, Inspector. Sie stammt aus dem Jahr 1890. Der Rahmen zeigt schon Elemente des beginnenden Art nouveau. Und die Dame ist unsere Queen Victoria, die zu dieser Zeit schon 53 Jahre regierte. Aber die Farbe stimmt nicht. Laut Katalog müsste sie schwarz sein, aber sie ist braun. Doch in dieser Ausführung ist sie nicht einmal im Fehlfarbenkatalog zu finden. Könnte sein, dass es sich um etwas ganz besonders Wertvolles handelt.«

Gibbs holte sein Notizbuch heraus.

»Dann hoffe ich für Sie, Mrs Hunter, dass es sich tatsächlich um etwas ganz Seltenes und Wertvolles handelt. Hätten Sie die Freundlichkeit und würden Sie mir bitte für einen Moment Ihre Lupe borgen?«

Mary Hunter war überrascht von dieser Bitte, reichte ihm aber das Gewünschte. Gibbs blätterte in seinem Notizbuch. Zwischen den Seiten hatte er eine der Kopien eingelegt, die Melanie von dem Zettel hatte anfertigen lassen, den ihnen Jeff Miller gegeben hatte. Er hielt das Papier ins Licht und studierte es mit der Lupe einige Minuten lang genau. Dann steckte er das Papier mit einem zufriedenen Grunzlaut wieder ein und gab Mrs Hunter die Lupe zurück.

»Danke, Mrs Hunter. Was so eine Lupe doch nicht alles ans Tageslicht bringt. Sagt Ihnen der Name John Peters was?«

Mary Hunter lächelte.

»Natürlich, Mr Gibbs. Dr. John Peters. Ein sehr guter Arzt. Sagt man wenigstens. Er ist Olivias Arzt. Gewesen«, fügte sie nach einer Weile hinzu. »Warum fragen Sie?«

»Kennen Sie diesen Dr. Peters persönlich?«

Mary Hunter zuckte mit den Schultern.

»Wie man es nimmt. Ich habe Olivia ein paar Mal begleitet, wenn sie einen Termin bei ihm hatte. Dabei habe ich ihn dann auch mal gesehen, vielleicht habe ich ihm sogar die Hand geschüttelt. Wenn Sie das unter persönlich kennen verstehen, dann kenne ich ihn persönlich.«

»Wann haben Sie Dr. Peters zuletzt gesehen?«

»Oh Gott. Keine Ahnung. Vor einem halben Jahr vielleicht oder vor einem Jahr. Ich erinnere mich nicht. Dazu müsste man vielleicht in Olivias Terminkalender nachschauen.«

»Ging Lady Glenmoore häufig zum Arzt?«

»Mit Sicherheit nicht, Olivia strotzte nur so vor Gesundheit. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich sie einmal begleitet habe, weil sie sich beim Tennis den Knöchel verstaucht hatte. Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Das war im letzten Herbst. Ich habe sie hingefahren, weil sie mit dem lädierten Fuß nicht Auto fahren konnte. Aber ansonsten …« Mary Hunter ließ den Satz offen. »Verraten Sie mir, warum Sie sich so für Dr. Peters interessieren?«

»Das werde ich gleich tun, Mrs Hunter. Vorher möchte ich von Ihnen aber noch wissen, ob es Ihrer Ansicht nach sein könnte, dass zwischen Lady Olivia und Dr. Peters ein engeres Verhältnis bestand als nur eine Arzt-Patienten-Beziehung? Freundschaft vielleicht oder sogar etwas Intimes?«

Jetzt lachte Mary Hunter laut auf.

»Also, das wäre mir neu, Chief Inspector. Und ich halte das für ganz und gar abwegig. Soweit ich weiß, ist Dr. Peters verheiratet und hat Kinder. Nein, das hätte mir auffallen müssen. Und selbst eine Freundschaft. So selten wie Olivia ihren Arzt besuchte, was sollte sich da wohl für eine Freundschaft entwickeln?«

Gibbs holte noch einmal sein Notizbuch heraus und entnahm ihm die Kopie mit der Nachricht an Lady Glenmoore.

»Als wir uns das erste Mal unterhielten, Mrs Hunter, haben Sie mir gesagt, dass Ihnen das Verhalten von Lady Glenmoore an jenem Abend, als sie ermordet wurde, seltsam vorkam. Sie sagten, Sie seien sicher, dass sie ganz bewusst um neun Uhr die Kartenrunde verlassen hätte und nach draußen ging, so, als wolle sie sich mit jemand treffen. Erinnern Sie sich?«

»Ja, natürlich erinnere ich mich, Chief Inspector. Das habe ich ja auch bei Mr Curruthers schon zu Protokoll gegeben. Warum fragen Sie?«

»Weil Sie mit Ihrer Beobachtung recht hatten. Und weil wir jetzt den Grund kennen, warum Lady Glenmoore das Haus verlassen hat.«

Gibbs legte ihr die Kopie der von Dr. Peters unterzeichneten Nachricht vor.

»Hier, bitte lesen Sie selbst.«

Mary Hunter griff nach dem Papier und las. Dann gab sie es wortlos an Gibbs zurück. Gibbs faltete es zusammen und steckte es wieder in sein Notizbuch.

»Kennen Sie diese Nachricht, Mrs Hunter?«

Die Antwort kam ebenso prompt, wie überraschend.

»Ja!«

Gibbs hatte Mühe, sein Erstaunen zu unterdrücken.

»Wie das? Hat Lady Glenmoore Ihnen davon erzählt?«

»Natürlich nicht. Sonst hätte ich ja den Grund für ihr sonderbares Verhalten am Abend des Mordes gekannt und hätte sie nie und nimmer alleine da hinausgehen lassen. Nein, am Abend des Mordes hatte ich für Inspector Curruthers ein Foto aus Olivias Büro geholt. Als ich es am nächsten Tag zurückbrachte, fand ich auf ihrem Schreibtisch ein Stück Papier mit eben diesem Text. Der Schrift nach war er von Olivia geschrieben worden. Kann sein, dass es nicht ganz genau der gleiche Wortlaut war, aber der Sinn war der gleiche. Allerdings war er nicht unterzeichnet.«

»Dann wissen Sie also nicht, dass Lady Glenmoore diese Notiz unter ihrem Scheibenwischer vorfand, als Sie beide morgens beim Einkaufen im Tesco-Supermarkt waren?«

»Nein! Von einem Zettel unter dem Scheibenwischer ist mir nichts bekannt.«

»Wir haben das Original der Nachricht, die ich Ihnen gezeigt habe, von einem Zeugen erhalten. Der hat ausgesagt, dass Lady Glenmoore den Zettel gelesen hat, während Sie am Kofferraum beschäftigt waren, und dass sie ihn danach fortwarf. Gott sei Dank hat er ihn aufgehoben und aufbewahrt. Es scheint nun so, dass Lady Glenmoore zu Hause eine Abschrift aus dem Gedächtnis angefertigt hat.«

Mrs Hunter war plötzlich sehr nachdenklich geworden.

»Jetzt wird mir auch klar, warum wir nach der Mittagspause noch einmal zum Supermarkt zurückgekehrt sind. Olivia sagte, wir bräuchten noch Zutaten für eine Sangria. In Wahrheit wollte sie vermutlich noch mal nach dem Zettel suchen, während ich im Laden war.«

»Genau so hat es sich zugetragen, Mrs Hunter. Wo befindet sich diese Abschrift jetzt?«

»Ich habe sie weggeworfen. Ist das schlimm?«

»Nein!«, beruhigte sie Gibbs, »wir haben ja das Original.«

»Obwohl«, fuhr Gibbs mit einem leichten Lächeln fort, »es hätte natürlich unsere Arbeit sehr erleichtert, wenn Sie uns gleich nach dem Mord von Ihrem Fund berichtet hätten.«

»Das glaube ich nicht«, verteidigte sich Mrs Hunter energisch. »Auf der Notiz, die ich bei Olivia gefunden habe, stand wohl die Nachricht, aber kein Datum und keine Unterschrift. Ich konnte also gar nicht wissen, dass sich die Notiz auf den Abend davor bezog. Und schließlich habe ich der Polizei ja von meinem Verdacht, Olivia hätte eine Verabredung gehabt, berichtet.«

»Ja, ja. Es ist alles in bester Ordnung, Mrs Hunter. Da fällt mir noch etwas ein. Ist Dr. Peters nicht auch Ihr Arzt?«

Mary Hunter schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin bei einem Arzt in Great Rissington, wo ich früher mit meinem Mann gelebt habe. Und ich bin sehr zufrieden mit ihm. Warum sollte ich wechseln?«

Gibbs wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, das Gespräch weiterzuführen. Er stand auf und deutete eine leichte Verbeugung an. Er bedankte sich für die Auskünfte und versicherte, dass er alleine hinausfinden würde. Auf dem Weg zur Tür hielt ihn eine Frage von Mary Hunter zurück.

»Warum haben Sie eigentlich meine Räume nicht durchsucht, Chief Inspector? Darf ich daraus schließen, dass ich im Augenblick nicht zu Ihren Verdächtigen zähle?«

Gibbs drehte sich um.

»Dafür gibt es zwei Gründe, Mrs Hunter. Erstens. Der Durchsuchungsbeschluss umfasste nur die Räume von Glenmoore House, die Mr Madigan gehören. Zweitens. Es gibt im Moment keinen Grund für mich zu vermuten, dass sich in Ihren Räumen etwas befinden könnte, was der Aufklärung des Mordes an Lady Glenmoore dienlich wäre. Mit etwaigen Verdachtsmomenten hat das nichts zu tun. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Damit drehte sich Gibbs um und verließ den Salon. Draußen in der Halle stand Holmes und wedelte mit einem Mob den Staub von den Bilderrahmen. Gibbs fragte ihn, ob er nach Fingerabdrücken suche und ob Mr Madigan im Haus sei. Als Holmes dies verneinte, winkte ihm Gibbs freundlich zu und verließ das Haus.

*

Im Polizeihauptquartier traf er auf Melanie und Curruthers. Melanie teilte ihm unverzüglich mit, dass der Doktor aus Sicht der Polizei ein völlig unbeschriebenes Blatt sei.

»Da habe ich aber eine weitaus interessantere Neuigkeit«, verkündete Curruthers voller Stolz: »Wir haben etwas über den Zettel herausgefunden.«

Gibbs winkte ab.

»Wenn Sie mir sagen wollen, dass es sich um eine Fotokopie und nicht um ein Original handelt, dann weiß ich das schon.«

Curruthers’ Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.

»Woher wissen Sie das, Sir?«, fragte er enttäuscht.

Melanie grinste und murmelte etwas von Spielverderber.

»Ganz einfach«, erwiderte Gibbs, »einen ersten Verdacht hatte ich schon, weil auf dem Papier, das uns Miller übergeben hatte, keine Reste einer Gummierung zu finden waren. Wenn Sie einen Zettel von einem Block abreißen, bleibt an der Abrisskante fast immer ein kleiner Rest der Gummierung hängen, die den Block zusammenhält. An Jeff Millers Zettel war die Kante aber völlig glatt und sauber. Außerdem habe ich mir das Ganze noch unter der Lupe angesehen. Das Original war schon einmal verwendet worden. Das Datumsfeld war ursprünglich beschriftet gewesen. Derjenige, der den Zettel angefertigt hat, hat vor dem Kopieren diesen Eintrag überklebt. Dabei hat er aber nicht ganz sauber gearbeitet. Unter der Lupe sieht man deutlich eine Spur des Originaleintrags. Nur zwei ganz kurze Striche unterhalb der vorgegebenen Zeile. Zuerst hatte ich das für einen Fehler im Druck gehalten, aber unter der Lupe sieht man deutlich, dass es der Rest eines alten Eintrags ist. Und noch etwas ist mir aufgefallen. Am oberen Rand sind zwei schwarze Punkte zu sehen. Das könnten zwei kleine Löcher sein. Möglicherweise war der Originalzettel irgendwo festgetackert.«

Curruthers sah man die Enttäuschung richtig an.

»Nehmen Sie es nicht tragisch«, tröstete ihn Gibbs, »wenn Sie erst einmal so lange im Geschäft sind wie ich, dann wird Ihnen so was auch auffallen. Aber vielleicht könnten Sie sich mal Gedanken machen, was das zu bedeuten hat. Ich habe nämlich im Augenblick keinen blassen Schimmer. Und nun werden wir diesem Dr. Peters mal auf den Zahn fühlen. Ich würde Sie gerne mitnehmen, Curruthers, aber ich fürchte, wenn wir zu dritt dort auftauchen, schüchtern wir den Mann nur unnötig ein.«

11. Kapitel:
Ein Arzt gerät in Verdacht

Die Praxis von Dr. John Peters lag im ersten Stock einer modernen Doppelhaushälfte. Auf einem ordentlich polierten Messingschild am Eingang standen die Sprechstunden. Gibbs schaute auf die Uhr. Es war knapp siebzehn Uhr.

»Da kommen wir ja gerade recht.«

Melanie und ihr Chef betraten die Praxis. Ein langer schmaler Gang mit Türen rechts und links öffnete sich in einen Wartebereich mit mehreren Stühlen und einem Garderobenständer. Auf einem niedrigen Tischchen lagen einige zerfledderte Magazine. Auch eine Spielecke für Kinder gab es, aber die war so sorgfältig aufgeräumt, dass Gibbs vermutete, dass nur wenige Kinder zu Peters’ Patienten zählten. Offensichtlich wollte im Augenblick auch niemand von den Erwachsenen die Dienste von Dr. Peters in Anspruch nehmen, denn das Wartezimmer war leer. Auf der dem Wartezimmer gegenüberliegenden Seite saß eine junge Dame hinter einem Tresen und sortierte Patientenkarten. Als sie die beiden Polizeibeamten bemerkte, stand sie auf und fragte, womit sie behilflich sein könne.

Gibbs hielt ihr seine Dienstmarke unter die Nase.

»Wir möchten in einer dringenden Angelegenheit Dr. John Peters sprechen. Würden Sie bitte die Freundlichkeit haben, uns anzumelden?«

Die Sprechstundenhilfe schaute etwas erschrocken.

»Aber es ist doch noch ein Patient beim Doktor.«

»Keine Hektik, junge Frau. Wir warten.«

Gibbs drehte sich um und nahm auf einem der Stühle Platz. Von hier aus konnte er die Tür im Auge behalten, auf der in erhabenen Messinglettern das Wort »Spre…hzimmer« zu lesen war. Das »c« musste vor längerer Zeit wohl einmal heruntergefallen sein. Klebstoffreste und eine leicht andere Tönung des weißen Lacks zeigten seinen ursprünglichen Platz.

»Scheint nicht besonders gut zu gehen, die Praxis von Dr. Peters«, flüsterte Melanie ihrem Chef zu.

Der nickte bloß.

Einige Minuten später öffnete sich die Tür zum »Spre…hzimmer« und eine ältere Frau kam, auf einen Stock gestützt, heraus. Ein Mann in einem weißen Kittel folgte ihr. Er fasste die Frau am Arm und führte sie behutsam den Weg bis zur Tür, wo er sich sehr freundlich von ihr verabschiedete. Gibbs hatte Zeit, den Doktor genauer zu betrachten. Er war mittelgroß und Gibbs schätzte sein Alter auf etwas über fünfundvierzig. Er hatte ein braun gebranntes Gesicht, was auf häufigen Aufenthalt im Freien oder in einem Sonnenstudio hindeutete. Gibbs tippte auf Letzteres. Seine tief liegenden Augen mit den buschigen Augenbrauen, die an den Enden spitz nach oben zuliefen, verliehen ihm etwas Diabolisches. Die große Hakennase und ein leicht gebeugter Rücken verstärkten diesen Eindruck. Das Haar war von einem bläulichen Schwarz, lockig und sehr gepflegt, wenngleich es an den Schläfen schon etwas angegraut schien. Gibbs kannte diesen Typ Mann. Er hielt ihn für einen, der die Frauen liebte und den die Frauen liebten. Sein weißer Kittel war makellos. Die rechte Hand steckte in der Seitentasche. Nur der Daumen einer feingliedrigen Hand lugte, am Taschenrand eingehakt, hervor. Als die alte Dame die Praxis verlassen hatte, wandte sich der Doktor den beiden Polizisten zu.

»Wer ist der Nächste?«, fragte er und sah dabei Melanie an, als freute er sich schon darauf, die junge Dame intensiver untersuchen zu dürfen. Als die beiden aufstanden und Gibbs sich als Chief Inspector auswies und Melanie als seine Assistentin vorstellte, schien sein Interesse sichtlich zu erlahmen.

»Kriminalpolizei? Ich hoffe, ich habe nicht falsch geparkt«, meinte er und fügte hinzu: »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Dass die Leute immer die gleichen dummen Witze machen mussten, wenn er sie in dienstlicher Eigenschaft ansprach. Aber Gibbs blieb höflich.

»Parkverstöße gehören nicht zum Aufgabengebiet von Scotland Yard, Dr. Peters. Wir ermitteln in einer etwas schwerwiegenderen Angelegenheit, nämlich in einem Mordfall.«

Dr. Peters zuckte leicht zusammen, bat die beiden Yard-Leute dann aber in sein Sprechzimmer. Es war eines jener typischen Sprechzimmer, wie man sie häufig bei Ärzten auf dem Land findet. Altmodische, weiß lackierte Stahlmöbel mit vielen Schubladen, verchromten Griffen und Glastüren. Dazwischen Regale mit Fachliteratur. Selbst das obligatorische Skelett fehlte nicht. In der Mitte ein großer Schreibtisch, ebenfalls ganz in Weiß. Dahinter ein bequemer, schwarz gepolsterter Ledersessel auf Rollen, davor zwei Besucherstühle, verchromtes Stahlrohr mit schwarzer Kunstlederauflage. Peters bat seine Besucher, Platz zu nehmen, und setzte sich seinerseits in seinen hohen schwarzen Ledersessel, schlug die Beine übereinander und schaute erwartungsvoll in die Runde.

»Sie sehen mich etwas überrascht. Es kommt in der Regel eher selten vor, dass mich die Kriminalpolizei besucht. Sie sagen, es handelt sich um Mord. Verraten Sie mir, was ich mit der Sache zu tun habe?«

»Alles zu seiner Zeit, Dr. Peters. Als Erstes würde ich gern von Ihnen wissen, was Sie am Donnerstag, den dreizehnten Juli gemacht haben. Meine Assistentin wird sich ein paar Notizen machen, aber das braucht Sie nicht zu beunruhigen.«

Gibbs hatte einen Arm auf die Schreibtischplatte gelegt und sah den Doktor neugierig an. Statt einer Antwort drückte Dr. Peters auf eine Taste der Gegensprechanlage, die seitlich auf seinem Schreibtisch stand.

»Susan, würden Sie bitte kurz hereinkommen. Bringen Sie bitte Ihren Terminkalender mit.«

Ein paar Sekunden später stand Susan eilfertig und etwas neugierig neben dem Schreibtisch ihres Chefs und legte ihm ein dickes Terminbuch vor. Peters blätterte ein paar Seiten zurück und stoppte dann.

»Hier haben wir es. Donnerstag, 13. Juli. Tja, an diesem Tag war die Praxis geschlossen. Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich war mit einem Patienten, den ich seit vielen Jahren betreue, in Oxford. Eine schwierige Untersuchung, ich wollte den Rat eines Spezialisten einholen. Wir sind schon am frühen Morgen losgefahren und erst gegen Abend nach Hause gekommen. War das nicht der Tag, an dem Lady Glenmoore ermordet wurde?«

Peters schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.

»Ach, jetzt verstehe ich, weshalb Sie zu mir gekommen sind. Es geht um den bedauerlichen Mord an Lady Glenmoore. Da muss ich Sie leider enttäuschen, Inspector. Lady Glenmoore war zwar meine Patientin, aber über den Mord weiß ich rein gar nichts.«

»Das habe ich auch nicht erwartet«, konterte Gibbs. »Kommen wir bitte zurück zu jenem Donnerstag, Doktor. Könnten Sie Ihre Schilderung bitte etwas präzisieren. Wann genau sind Sie morgens losgefahren?«

Peters runzelte leicht die Stirn, fuhr aber dennoch fort.

»Ich habe den Patienten, einen älteren, sehr gebrechlichen Herren, um halb neun mit meinem Wagen bei ihm zu Hause abgeholt. Für zehn Uhr war die Untersuchung angesetzt. Wegen des Berufsverkehrs habe ich etwas mehr Zeit eingeplant, um ja pünktlich zu sein. Normalerweise fährt man eine knappe Stunde bis Oxford. Aber wir hätten uns gar nicht zu beeilen brauchen, die Untersuchung begann wie immer nicht pünktlich. Der arme Patient musste eine geschlagene Stunde im Wartezimmer zubringen.«

»Das ist sehr gut«, unterbrach ihn Gibbs. »Sie sind also gegen halb neun Uhr aufgebrochen und ohne weiteren Zwischenstopp nach Oxford gefahren?«

»Ja!«

»Und abends, wann genau sind Sie da zurückgekommen?«

»Genau weiß ich das nicht mehr. Aber es muss so gegen neun, halb zehn Uhr gewesen sein. Es dämmerte gerade, als ich den Patienten zu Hause abgesetzt habe. Seine Frau hatte uns schon erwartet und einen kleinen Imbiss vorbereitet. Ich war so circa noch eine halbe Stunde bei dem Patienten und bin dann nach Hause gefahren.«

»Sehr interessant. Können Sie sich noch erinnern, welche Strecke Sie auf der Rückfahrt von Oxford benutzt haben?«

»Ja sicher, die gleiche, die ich immer fahre, wenn ich nach Oxford muss. Über die A40 und dann über Great Rissington nach Bourton. Das ist die kürzeste Strecke und man spart Benzin.«

»Wenn ich mich nicht täusche, führt diese Route geradewegs an Glenmoore House vorbei. Sie müssten da so gegen neun Uhr vorbeigekommen sein, war es nicht so?«

»Ja, das ist richtig. Wir sind an Glenmoore House vorbeigefahren. Was ist daran so wichtig?«

»Im Prinzip nichts, außer dass Sie möglicherweise einen Mörder bei seiner Arbeit gesehen haben könnten. Wenige Minuten nach neun Uhr wurde Lady Glenmoore vor ihrem Haus erschlagen.«

Peters starrte Gibbs mit weit aufgerissenen Augen an.

»Da muss ich Sie leider enttäuschen. Weder mir noch meinem Patienten ist etwas Besonderes aufgefallen. Die Leasow Lane ist um diese Zeit kaum noch befahren. Oder wollen Sie etwa andeuten, dass ich etwas mit dem Mord zu tun habe? Ich saß mit meinem Patienten im Auto. Wir haben weder angehalten noch etwas gesehen. Mein Patient kann das bezeugen.«

Der Doktor war sichtlich verärgert aufgesprungen und an das Fenster hinter seinem Schreibtischstuhl getreten. Die Hände hielt er auf dem Rücken verschränkt. Er krallte sie so fest ineinander, dass die Knöchel unter der braunen Haut weiß hervortraten.

»Bitte setzen Sie sich wieder, Dr. Peters. Ihre Aufregung ist völlig überflüssig. Ich will überhaupt nichts andeuten und niemand bezichtigt Sie, den Mord an Lady Glenmoore begangen zu haben. Trotzdem haben Sie etwas mit dem Verbrechen zu tun, wie Sie gleich sehen werden.«

Gibbs wartete, bis sich der Arzt wieder gesetzt hatte.

»Eine ganz andere Frage, Dr. Peters. Was machen Sie, wenn ein Patient, den Sie gerade behandelt haben, noch einmal wiederkommen soll?«

Peters schüttelte genervt den Kopf.

»Ich muss schon sagen, Ihre Fragen werden immer unverständlicher. Aber wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Ich mache das Gleiche, was alle Ärzte dieser Welt machen. Ich vereinbare mit ihm einen neuen Termin oder ich sage ihm, dass er sich von meiner Sprechstundenhilfe einen geben lassen soll.«

»Dachte ich mir«, warf Gibbs ein. »Und was machen Sie, damit der Patient den Termin nicht verschwitzt?«

»Ich schreibe ihm den Termin auf. Dafür benutzen wir Ärzte kleine Merkzettel, in die wir nur noch das Datum und die Uhrzeit eintragen müssen. Ach bitte, Susan, seien Sie doch so freundlich und holen Sie Ihr Blöckchen.«

Susan verschwand durch die Tür zum Wartezimmer und kam wenig später mit einem kleinen gelben Blöckchen wieder, das sie vor ihrem Chef auf den Schreibtisch legte. Der reichte den Block an Gibbs weiter. Gibbs sah auf den ersten Blick, dass der Zettel, den ihm Jeff Miller gegeben hatte, genau gleich aussah. Die Farbe des Papiers war allerdings etwas heller und es war etwas glatter, aber das war bei einer Fotokopie durchaus zu erwarten. An einer Seite konnte man deutlich die aufgetragene rötliche Gummierung erkennen.

»Verzeihung Sir, draußen sitzen einige Patienten. Soll ich sie wieder heimschicken?«, meinte die Sprechstundenhilfe, die etwas nervös wirkte.

»Das wird nicht notwendig sein«, schaltete sich Gibbs ein, »wir sind bald fertig. Aber Sie können gerne schon jetzt wieder an Ihre Arbeit gehen, ich brauche Sie nicht mehr. Vorausgesetzt natürlich, es ist Dr. Peters recht.«

»Ja, ja!«, sagte Peters etwas unwirsch und machte Susan mit der Hand ein Zeichen, dass sie gehen solle.

Im Hinausgehen rief er ihr hinterher.

»Sagen Sie den Patienten, es sei ein komplizierter Fall und es würde noch etwas dauern.«

Gibbs riss von dem Block den obersten Zettel ab und reichte Peters den Rest. Wie er erwartet hatte, blieb an dem abgerissenen Teil ein wenig von der roten Gummierung hängen.

»Dr. Peters, seit wann ungefähr sind diese Blöcke bei Ihnen im Einsatz?«

Peters war jetzt wirklich ärgerlich.

»Sagen Sie, was soll das Ganze. Was bitte haben meine Merkzettel mit Ihrem Mord zu tun?«

»Eine Menge, Dr. Peters, eine ganze Menge. Aber bitte beantworten Sie meine Frage. Ich brauche kein genaues Datum, nur ungefähr reicht mir schon.«

Peters dachte nach.

»Bestimmt zwei Jahre, wenn nicht länger. Früher hatte ich welche, da war noch Werbung von einem Arzneimittelhersteller drauf. Aber die habe ich abgeschafft. Ich habe sehr viele ältere Patienten. Manche sind gedanklich nicht mehr ganz so schnell, wissen Sie. Die dachten dann, sie müssten dieses Mittel kaufen und verwenden. Da habe ich mich entschlossen, selbst welche drucken zu lassen. Ich habe bestimmt noch Hunderte davon.«

Gibbs legte Peters den abgerissenen Merkzettel hin und bat ihn, auf der Rückseite zu unterschreiben. Als Peters sein Zeichen auf die Rückseite eines der gelben Zettel gemacht hatte, gab er ihn Gibbs zurück. Der bedankte sich, griff in die Innentasche seines Sakkos und holte die Plastiktüte mit dem Beweisstück hervor. Sorgfältig verglich er Peters Unterschrift mit der auf dem Zettel. Sie schaute zumindest ähnlich aus. Dann legte er beides vor Peters auf den Schreibtisch.

»Sehen Sie, Dr. Peters, ich habe auch so einen Zettel. Er scheint aus Ihrer Praxis zu stammen und Ihre Unterschrift zu tragen. Bitte drehen Sie ihn um und lesen Sie, was darauf steht. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

Peters tat wie ihm geheißen. Sein Gesicht nahm einen äußerst ungläubigen Ausdruck an.

»Was hat das zu bedeuten?«, stammelte er. »Wo haben Sie das her?«

»Haben Sie diese Nachricht geschrieben, Dr. Peters?«

»Natürlich nicht, auch wenn diese Unterschrift meiner verdammt noch mal gleicht. Was wird hier gespielt?«

»Ich will es Ihnen verraten, Dr. Peters. Mit diesem Papier ist Lady Glenmoore am Abend des 13. Juli gegen einundzwanzig Uhr aus ihrem Haus gelockt worden, wo sie durch einen furchtbaren Schlag auf den Kopf getötet wurde. Wie Sie selbst zugeben, sind Sie genau um diese Zeit mit Ihrem Wagen dort vorbeigefahren. Wenn Sie an meiner Stelle wären, was würden Sie jetzt wohl denken?«

Peters hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt und die Hände fest auf die seitlichen Armlehnen gestützt. Er dachte nach. Dabei starrte er unverhohlen auf Melanies Busen. Nach einer Weile wandte er sich wieder Gibbs zu.