Matthias Frings, 1953 in Aachen geboren, war Journalist und Fernsehmoderator und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er studierte Anglistik, Germanistik und Linguistik. In den 80er Jahren veröffentlichte er mehrere erfolgreiche Sachbücher, darunter »Liebesdinge. Bemerkungen zur Sexualität des Mannes.« Ab 1986 arbeitete er als Radiomoderator beim SFB. Von 1993 an war er Redaktionsleiter und Fernsehproduzent. Bekannt wurde er als Moderator der Sendung »Liebe Sünde«.
Im Sommer 1980 zieht Ronald M. Schernikau nach Westberlin. Der 20-Jährige ist eine Lichtgestalt der deutschen Literatur, Autor der erfolgreichen »Kleinstadtnovelle«. Voller Elan stürzt er sich ins Nachtleben. Er lernt die Welt der Schwulenkneipen, der Saunen und Discos kennen. Er trifft die Liebe seines Lebens und Freunde, die wie er die Welt erobern wollen, darunter den jungen Schauspieler / Kellner / Autor Matthias Frings. Doch in einem Punkt unterscheidet sich Schernikau von den anderen: Er ist Kommunist. Obwohl seine Mutter 1966 mit ihm im Kofferraum eines Diplomatenwagens über die innerdeutsche Grenze geflohen war, setzt er alles daran, am Literaturinstitut in Leipzig zu studieren. Es gelingt ihm, und er fasst einen großen Entschluss: Zum Entsetzen seiner Freunde will er DDR-Bürger werden. Im September 1989 erfüllt sich sein Lebenstraum. Doch kurze Zeit später ist Ronald M. Schernikau schon wieder am falschen Ort. Die Mauer fällt, und er erhält eine tödliche Diagnose.
»Der letzte Kommunist« war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse und wurde in den Medien furios besprochen:
»Ein persönliches, liebevolles, dabei dokumentarisches Werk.« Süddeutsche Zeitung.
»Eine einfühlsame Biographie des Autors und Kommunisten Ronald M. Schernikau, die seinem Leben gerecht wird.« Dietmar Dath.
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Der letzte Kommunist
Das traumhafte Leben des Ronald M.Schernikau
Inhaltsübersicht
Über Matthias Frings
Informationen zum Buch
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Nachwort
Bildteil
Ronald M. Schernikaus Veröffentlichungen
Impressum
Was für ein Bild: Während sich im Herbst 1989 Tausende Ostdeutsche in den Westen aufmachen, läuft der junge Dichter als Einziger in die entgegengesetzte Richtung, schlaksig, fragil und von einer Schönheit, als hätte ihn sich Thomas Mann in einer schwachen Stunde ausgedacht. Für den Fall, dass Götter über unser Schicksal wachen, müssen sie ihren boshaften Tag gehabt haben. Sein ganzes Leben eine Bewegung Richtung Osten, und als er endlich ankommt, findet er sich mitten im Westen wieder.
Mein Name ist Helmut Frings. So stand es jedenfalls 1980 noch in meinem Pass. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt, arm und bester Laune. Vor drei Jahren war ich aus der rheinischen Provinz in die Mauerstadt gezogen, um das Theater neu zu erfinden. Ein frischgebackener »Magister Artium«, hellgrün hinter den Ohren und auf Arbeitssuche als Dramaturg oder Regisseur. Staatstheater kamen nicht in Frage, da saß die alte Garde. Eine freie Gruppe musste es sein, aufregend, provokant, experimentell.
Mit dem ahnungslosen Optimismus einer Provinzmaus klapperte ich sämtliche Ensembles ab und kam aus dem Staunen nicht heraus: Niemand redete über Theater, alle über Politik. Natürlich war ich politisch nicht unbeleckt, wie sollte man anders durch die Siebziger gekommen sein? Die Nachwehen von Achtundsechzig, der gummiartige Toleranzterror der Sozialdemokratie, erste Bürgerinitiativen, der Atomstreit und schließlich der Deutsche Herbst hatten niemanden kaltgelassen. Und wer nicht politisch war, tat wenigstens so.
Die undogmatische Linke, Spontis sagte man damals, war meine politische Heimat. Aber was die freien Theatergruppen in den Bewerbungsgesprächen von mir wissen wollten, war denn doch eine saftige Überraschung: Wie ich zur DDR stehe und zu China, was ich vom Marxismus-Leninismus halte, vom Trotzkismus und Stalinismus, ob ich den Arbeiterkampf lese oder Die Wahrheit? Ich las Theaterstücke, traute mich aber nicht, das zu sagen. Diese jungen Schauspieler schienen sich für alles Mögliche zu interessieren, nur nicht für ihre Kunst.
Aber ich hatte Anfängerglück. Das Zan Pollo Theater suchte dringend einen Mitarbeiter. »Hast du Schauspielerfahrung?«, hatte man gefragt, und ich antwortete versuchsweise mit ja. Das war gelogen, doch schon wenige Wochen später stand ich als durchgeknallter Marquis in einer Molière-Collage auf der Bühne. Dann kam eine zweite Produktion, eine auf Polit getrimmte Adaption von »Gullivers Reisen«. Es gab durchaus Talente in der Gruppe. Ich gehörte nicht dazu. Sonderlich viel ausgemacht hat es mir nicht, schließlich wollte ich Regisseur werden und nicht Jutta Lampe.
Unmerklich aber hatte mein Theatertraum schon begonnen, sich aufzulösen. Das Zan Pollo Theater stand der SEW nahe, der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin, einem Ableger der ostdeutschen SED. Die Gruppe sollte sozialistisch und demokratisch sein, aber komischerweise hatte außer der Leitung niemand etwas zu sagen. Kritik von unten war »individualistisch« und damit zersetzend. Mir wollte das nicht in den Kopf, Individualismus fand ich gut.
Noch etwas anderes ließ mich zweifeln, ob diese Bühnenwelt auch die meine sei: Diese Theatermenschen waren so dünnhäutig, so feinstofflich, stets kurz vor einer Hysterie oder einer Intrige. Abends wurde erst getrunken und dann geweint. Auch andere Schauspieler, die ich im Lauf der Zeit kennenlernte, schienen sich ihre besten Auftritte für das Privatleben zu reservieren.
Nie im Leben wäre es mir in den Sinn gekommen, zu robust für die ätherische Künstlerwelt zu sein. Doch ich fühlte mich fehl am Platz und brauchte Zeit zum Nachdenken, so leicht gibt man schließlich seinen Jugendtraum nicht auf. Wenn schon handfest, dann auch richtig, dachte ich mir und begann im respektablen Beruf des Kellners zu arbeiten.
Meine neue Bühne hieß nun Schwarzes Café, ein Treff für Spontis und Anarchos, Feministinnen und Schwule. Das meistgehörte Wort an den gescheuerten Holztischen war »Projekt«, dicht gefolgt von »kiffen«. Es war eine gute Zeit, die Bezahlung anständig –15 Mark die Stunde – und die Kundschaft interessant. Neben den üblichen Studenten und jungen Müttern kamen auch Maler und Literaten, Politaktivisten, Kommunarden, Schauspieler und Journalisten. Die Schwestern Kinski schauten genauso vorbei wie die Schauspielerfamilie Bennent, wenn sie gerade in der Stadt war. Das Supermodel dieser Zeit, Veruschka, kam barfuß, ellenlang und wunderschön. Sie bestellte ein Spiegelei und sagte, dass ihr Freund Mario das Café empfohlen hätte. Das war Mario Adorf. Alle mochten die Atmosphäre des Cafés, das sich von den üblichen schmuddeligen Alternativprojekten deutlich unterschied. Die Möbel waren nicht vom Sperrmüll und der Kuchen vom Feinsten. Außerdem stand in der ersten Etage eine klitzekleine Bühne zur Verfügung. Falco und Georgette Dee sangen hier lange, bevor sie berühmt wurden. Ob Demonstration oder Premiere eines Frauenkabaretts, wir wussten als Erste davon. Oft wurden die neuesten Projekte am großen Kollektivtisch gleich neben dem Tresen ausgeheckt. Im Hinterzimmer war sogar die taz gegründet worden.
Mein Kellnerjob war als Zwischenstopp gedacht. Einmal am Feierabend die Arbeit wirklich hinter sich lassen können und die freie Zeit nutzen für das Nachdenken über die Zukunft.
Das Nachdenken wurde mir überraschend schnell abgenommen. Wenn es irgend ging, arbeitete in meiner Schicht auch Elmar Kraushaar, ein Zweimetermann von unzeitgemäßer Leibesfülle und nicht gerade arm an Kopf- und Körperbehaarung. Hin und wieder legte er rosa Lidschatten auf und wirkte damit wie eine Riesengeisha. Etwas weniger unauffällig war meine Wenigkeit: Gelbe Schuhe, knallrote hautenge Cordjeans, T-Shirts mit Trompetenärmeln in allen Farben des verfügbaren Spektrums. Dazu schulterlange blonde Locken und ein halbes Pfund Kajal um die Augen. Dezenz sah anders aus. Kein Wunder, dass uns ein Demo-Transparent besonders gefallen hatte: Wir bleiben unserem Motto treu, schwul, pervers und arbeitsscheu!
Kraushaar hatte sich als Herausgeber der Anthologie Schwule Lyrik – Schwule Prosa einen Namen gemacht. Schon damals wurde hitzig darüber diskutiert, ob ein Konzept wie »schwule Literatur« überhaupt tragfähig sei. Was genau hatte das Begehren eines Schriftstellers in seiner Kunst zu suchen? Würdigte man sie so nicht zum profanen Bekenntnis herab? Andererseits beschrieben heterosexuelle Autoren mit großer Selbstverständlichkeit ihre Sexualität. Hatte man je von einem Hetero-Autor gehört, der sich aus künstlerischen Gründen die Beschreibung seiner Lebenswelt verbot? So entstand die Unterscheidung zwischen »schwulen Autoren« und »Schwulenautoren«, Zuschreibungen, über die bis heute mit Lust gefochten wird.
Elmar Kraushaar hatte die Idee, ein Sachbuch zu schreiben. Es sollte selbstbewusst und vergnüglich sein, politisch Stellung beziehen und gleichzeitig einen hohen Gebrauchswert haben: Männer. Liebe. – Ein Handbuch für Schwule und alle, die es werden wollen. Jeder junge schwule Mann sollte es ohne Probleme am Bahnhofskiosk kaufen können. Also verbot sich ein Verlag der »Gemeinde« wie Rosa Winkel, dessen Erzeugnisse nur in linken Buchläden erhältlich waren. Kraushaar wollte zu Rowohlt, wohl wissend, dass es bei den Großen noch nie ein solches Buch gegeben hatte. Heute kaum vorstellbar, aber 1980 galt dies in der Szene als Skandal: Wie konnte man nur beim »Feind« veröffentlichen? Sie lagen schon sehr eng an, die linken Scheuklappen.
Zwischen Milchkaffee und Käsekuchen fragte Kraushaar, ob ich sein Co-Autor sein wolle. Ausgerechnet ich. Außer für die Studentenzeitung und eine Handvoll kleiner Publikationen hatte ich nichts geschrieben und auch keinerlei Ambitionen. War der Mann von Sinnen? Ein Buch mit einem völlig unerfahrenen Co-Autor, und dann auch noch ganz bescheiden bei Rowohlt?
»Lass uns mal ein Exposé machen«, drängelte Kraushaar. Das war meine Rettung: Wir würden ein kompromissloses Konzept entwerfen, jede Menge Absagen erhalten, und damit wäre das Thema vom Tisch. Also schrieben wir unser Exposé, tüteten es ein und schickten es tapfer nach Reinbek. Drei Wochen später erhielt ich einen Anruf. Ein gewisser Ludwig Moos, Lektor bei Rowohlt. Das sei alles sehr interessant, wann wir denn, bitte, den Vertrag machen könnten?
Ich war am Boden zerstört. Mein Leben lang hatte ich höchste Achtung vor Büchern gehabt. Schriftsteller nahmen uneingeschränkt den ersten Platz bei meinen Hausheiligen ein. Und jetzt sollte ich ein Buch schreiben? Ich? Ein BUCH? Ich musste einen triftigen Grund finden, dieses Buch abzusagen. Ich bekam Durchfall.
Aber nicht ein einziges Gegenargument wollte mir einfallen. Das Konzept war gar nicht so schlecht. Also fuhren wir nach Reinbek, unterschrieben den Vertrag und begannen mit der Arbeit. So kam es, dass ich überraschend an einem Buch arbeitete, als ich den Jungautor Ronald Schernikau kennenlernte.
***
Hätte es damals schon die Erfindung des »Fräuleinwunders« im deutschen Literaturbetrieb gegeben, Schernikau wäre sein erster Protagonist gewesen. Wir alle kannten seinen Namen, hatten sein erstes Buch gelesen. Wann hatte es das zuletzt gegeben: Ein blutjunger Schüler aus der Provinz schreibt über einen blutjungen Schüler aus der Provinz und macht damit Furore? Mit siebzehn hatte er ein Manuskript mit der Frage begonnen: »wie wirkt, worin wir leben?« Jetzt war er zwanzig und hatte im Rotbuch-Verlag seine Kleinstadtnovelle veröffentlicht. Gleich nach dem Abitur war er nach Berlin gezogen, genau wie der Held am Ende seines Buchs. Life imitates art.
Schon nach wenigen Tagen war die Erstauflage verkauft, der Verlag musste kräftig nachdrucken. Anfangs hatte die Lektorin Schernikaus Alter für eine Fiktion gehalten. Sie sah darin einen leicht lächerlichen Versuch der Legendenbildung. Die Kleinstadtnovelle kam so reif daher, so frisch und heiter, gleichzeitig souverän in den erzählerischen Mitteln, dass sich die Medien mit Verve auf ihn stürzten. Man sah ihn im Fernsehen und hörte ihn im Radio. Es gab zahlreiche Rezensionen, selbst im SPIEGEL, was ihn besonders stolz machte. Eine positive Besprechung inklusive Foto, der junge Dichter umschlungen von einem Palästinensertuch. Sogar auf eine Lesereise hatte man ihn geschickt. Ebenfalls sehr erfolgreich. Welcher Debütant zieht schon fünfhundert Interessierte in einer Kleinstadt wie Düren an?
Kleinstadtnovelle erzählt die Geschichte eines Gymnasiasten – Schernikau nennt ihn b. –, der sich in einen Mitschüler verliebt. Auf einer Klassenfahrt wird die Beziehung auch körperlich. Die Verbindung fliegt auf, der Angebetete distanziert sich feige, und die Schule hat ihren Skandal. Bemäntelt von allerlei Toleranzgefasel, legt man b. nahe, die Schule zu verlassen.
Was sich wie eine klassische Coming-out-story anhört, ist viel mehr. Deshalb die Medienwirkung. Die Novelle ist das Porträt einer Generation, die Parolen mit Politik verwechselt, die nicht versteht, dass ihr Stillstand Anpassung bedeutet. »meine freizeit wäre das gegenteil von nichtstun, weiß b., und er weiß es wie jeder andere: ob er che an der wand hängen hat, den es an jeder ecke zu kaufen gibt, oder bruce lee, was die hilfloseste form von protest ist. sie können popkonzerte veranstalten oder lange haare schön finden, wichtig ist, daß sie dir beibringen: es gibt keine alternative zum nichtstun.«
Hier nimmt jemand politisch Stellung, aber der Text ist weit entfernt vom Politkitsch. Der junge Autor weiß, wie die Struktur einer Novelle aussieht und hat sie präzise ausgearbeitet. Und als wäre das nicht schon ein Pfund, fügt er noch etwas hinzu: Heiterkeit. Das war nun ganz unerhört. Ein politisches, schwules, literarisch ambitioniertes Werk, bei dem man sogar lachen durfte. Ein Lachen, das sich aus der Technik ergibt, scheinbar naiv die Logik auf ihre Spitze zu treiben. »hallo! sagt b. beim eintreten: ich möchte ne jeans, die gut sitzt und vor allem billig ist. die verkäuferin sagt: das wollen alle. na fein, freut sich b., bei dieser nachfrage muß das angebot ja überwältigend sein.«
Das Wunderkind lebte seit kurzem in Berlin und zog seine ersten Runden. »Den musst du kennenlernen«, hatte Kraushaar gesagt und ein Treffen arrangiert. Wer jetzt an Weißwein und Wasabibohnen denkt, liegt satte fünfundzwanzig Jahre daneben. Wir trafen uns ganz unmondän in einer Bar an der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln. Für die Charlottenburger war hier »Proletentown«. Ihr absurder Name sprach schon Bände: Sie hieß Hoppla Sir.
Ein Samstagabend im Spätherbst 1980. In der Luft hing schon der Geruch von Briketts und Eierkohle, Erkennungszeichen der ärmeren Viertel Berlins. Gleich am Hermannplatz lag das Hoppla Sir, eine Hochburg der Vorstadtschwulen. Die modebewussten KaDeWe-Tunten wären lieber tot umgefallen, als hier gesehen zu werden. Das war zu nah an ihrer eigenen unglamourösen Herkunft und nicht trashig genug, um schon wieder chic zu sein. Meine Freunde und ich mochten den Laden. Am Wochenende mieden wir konsequent die Ausgehmeile rund um den Nollendorfplatz, »Bermuda-Dreieck« genannt, weil man dort so schnell versacken konnte. Besonders an Samstagen waren die Bars dort überbelegt mit frisch gebadeten Männern. Der Konsum von Parfüm und Haarpflegemitteln war genauso hoch wie die Erwartungen. Man stand scheinbar gelangweilt herum und wartete in drangvoller Ödnis auf Mr. Right. Stundenlang ging das so, bis gegen Morgengrauen der Grabbeltisch eröffnet wurde, grob aber zutreffend »Resteficken« genannt.
Meine WG-Mitbewohner und ich mochten es buntgescheckter. Unter der Woche auch im »Bermuda-Dreieck« zu Hause, schätzten wir am Wochenende die Vorstadtschwulen. Man kam leichter mit ihnen ins Gespräch, und pro Nacht wurde mindestens ein großes Beziehungsdrama aufgeführt. Hier war man nicht zurückhaltend, sondern deftig und laut. Kraushaar hatte uns früh bestellt. Dreiundzwanzig Uhr war deutlich vor meiner Zeit, Profis gingen nie vor ein Uhr nachts aus dem Haus. Aber ich war brav und pünktlich. Kraushaar bestellte sein übliches Wasser, ich mein Bier plus Wodka. Ich war aufgeregt. Schernikaus Buch hatte mich beeindruckt, und ich wollte den intellektuellen Ansprüchen des jungen Erfolgsautors genügen.
Eine Viertelstunde später klingelte es an der Tür. Damals sahen die meisten Homobars noch wie eine Festung aus. Der Barmann öffnete die kleine Sichtklappe und bat die beiden Neuankömmlinge herein. Schernikau hatte seinen Freund mitgebracht, einen gutaussehenden Mittzwanziger, groß, blond, mit breiten Schultern und gelegentlichem breiten Grinsen. Schernikau trug sein Palästinensertuch. Er war so … jung! Als er auf uns zukam, wirkte er gleichermaßen fragil wie selbstbewusst. Sehr groß und sehr dünn, streckte er eine schmale Künstlerhand zur Begrüßung aus. Das Gesicht war wie mit feiner Kohle gezeichnet. Vollkommen symmetrisch mit prägnanten Augenbrauen, einer geraden, makellosen Nase und vollen Lippen. Darüber ein flaumiger Möchtegernschnäuzer, der ihm bis zuletzt etwas Spätpubertäres gab. Die Haut war von irischer Blässe und so transparent, dass manches Starlet dafür gemordet hätte. Aber es waren die Augen, die einen sofort in ihren Bann schlugen: blaugraue, kluge Augen, sehr klar, die ohne großen Aufwand alles registrierten. Im Moment schauten sie freundlich neutral, aber ich sollte noch lernen, wie schnell sich dieser Blick verhärten konnte.
Ich fürchte, ich sagte so etwas wie: »Hallo, Hübscher!« Während ich überlegte auszuwandern, ging ein Strahlen über sein Gesicht, und er zeigte seine perfekten Zähne. Auch das noch, Tadzio trifft Tonio Kröger trifft Felix Krull. Sein Freund Thomas stellte sich mit geübter Schauspielerstimme vor, die besonders bei der Modulation der Vokale die Wiener Herkunft verriet. Sein erstes Engagement am Staatstheater Oldenburg hatte ihm an diesem Wochenende Zeit gelassen, Ronald zu besuchen. Thomas bestellte einen Weißwein und für Ronald eine Cola.
Nun kam der unumgängliche Moment: Worüber redet man mit einem Literaten? Im Kopf wälzte ich verzweifelt intelligente Bemerkungen zu seinem Buch. Doch Ronald rettete mich vor mir selbst.
»Howard Carpendale!«, rief er und gestikulierte begeistert Richtung Diskjockey.
»Du magst Howard Carpendale?«, fragte ich erstaunt. »Kennst du von ihm Johannesburg? Ein frühes Lied gegen die Apartheid, ganz im Ernst.«
»Hast du das? Muss ich unbedingt hören, ja? Und was ist mit Die Rose von Chile von Chris Doerk? Kennst du dieses Meisterwerk des politischen Lieds?«
Kraushaar schaltete sich ein. Im heimischen Nordhessen hatte er oft heimlich DDR-Fernsehen geschaut, besonders die Schlagersendungen. Und schon entspann sich eine Diskussion über Gaby Rückert und Uschi Brüning, die Single Unsere LPG hat 100 Gänse, über Frank Schöbel und Aurora Lacasa. Ja, wurde ich aufgeklärt, das sei der künstlichste Echtname der Welt und die Dame Tochter eines spanischen Widerstandskämpfers. Ah ja.
So also lief ein Gespräch mit einem bekannten Jungliteraten. Wie angenehm! Ronald lachte, schmiss den Kopf in den Nacken, gestikulierte wild, flirtete, kurz: Er benahm sich wie ein Teenager, der er ja auch war. Inzwischen hatte sich die Bar gefüllt. Die meisten trugen weite Bügelhemden über unvernünftig engen Hosen. Im Hoppla Sir konnte man sich gehen lassen. Die verwegen geschwungene Bar, das rote Licht, die Mucke – alles hier war in den tiefen Siebzigern hängengeblieben. Eine Hochburg von Boney M. und Gloria Gaynor. Man konnte erwachsene Männer dabei ertappen, wie sie selbstvergessen ganze Liedtexte von Gitte mitsangen.
»Wie lebt es sich denn in Oldenburg?«, wollte Kraushaar von Thomas wissen.
»Weihnachtsmärchen, eben was man im ersten Engagement so macht.«
»Und wovon lebst du?«, wollte ich von Ronald wissen.
»Ein echtes Drama! Berühmter Dichter muss sich als Gouvernante verdingen!«
Von jedem verkauften Buch erhielt er 70 Pfennige, brutto. Das reichte nicht zum Leben, also hielt er sich mit Babysitten über Wasser. Der Rest kam von seiner Mutter. Das Geld nahm er ohne Skrupel. Es war ja nicht für ihn, sondern Kapital, um schreiben zu können. Mit den Tantiemen aus dem Buchverkauf, Babysitten und dem Taschengeld von Mama kam er auf läppische 500 Mark im Monat. Das leidige Geld. Nie ging es um Luxus oder Status, immer nur ums Überleben.
Durch das Kellnern und den Vorschuss von Rowohlt war ich ausnahmsweise nicht knapp bei Kasse und schmiss eine Runde. Ronald prostete mir zu, und erst dabei fiel mir der kleine Lenin-Sticker an seinem Hemd auf. Ich hob mein Glas: »Na dann, auf den Genossen Lenin!«
»Ich arbeite gerade an einem Gedicht über Lenin und Thomas«, sagte Ronald, nachdem er an seiner Cola genippt hatte. »Mich hat das ungeheuer irritiert, dass ich den Thomas liebe, dass ich fähig bin, jemanden zu lieben. Ich habe mir überlegt, wie das kommt, warum ich auf die gleichen Strukturen reagiere wie der Rest der Welt. Und dann habe ich mir vorgenommen, in wenigen Zeilen auszudrücken, was das ist.«
»Wie kriegt man Lenin und Thomas zusammen?« Kraushaar war skeptisch. »So etwas lässt sich doch nicht wirklich leben?«
»Das ist wie Milva mit ihrer Kommunismusnähe und ihren Brecht-Liedern, und dann das sentimentale Auf den Flügeln bunter Träume. Diese beiden Seiten sehe ich auch bei mir. Und ich will sie auch!«
Thomas grinste breit. Ein Thema, zu dem er wohl schon eine Menge gehört hatte.
»Hab mir bei deinem Buch schon gedacht, dass du zu dieser Fraktion gehörst«, sagte ich und tippte Lenin an die Blechstirn.
Ronald ballte die Faust: »Schlimmer noch. Seit kurzem Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin!«
»Nichts für mich! Ich bin einer der wenigen, die wirklich aus einer Arbeiterfamilie kommen. Und ich sage dir eins: Da vergeht dir jede Proletarier-Romantik! Im Gegensatz zu den Salon-Kommunisten weiß ich nämlich, wovon ich rede.«
Ronald lächelte nachsichtig. »Immerhin bist du jetzt über die Klassenfrage im Bilde!« Dann machte er die Geste, die wir noch so oft bei ihm sehen würden: Mit der rechten Hand warf er sein langes Haar über die Schulter. Das Kinn gereckt, ein selbstironisches Lächeln um die Mundwinkel.
Die Welt des Ronald Schernikau war immer Möglichkeit, sein Blick ging in die Zukunft. Eine Jungdiva aus der deutschen Provinz, das literarische Starlet der Saison, was hieß das schon? Ein armer Schlucker ohne eigene Wohnung, der sich mit dem zweiten Buch beweisen muss – das wäre der Blick, der am Alltag kleben bleibt. Deshalb die Ironie im Gestus. Im gleichen Augenblick zeigt sich darin eine fast abgeklärte Ambition. Hier will einer etwas – persönlich, beruflich, politisch. Vielleicht ist es ein Erkennungszeichen von Einzelkindern und Einzelgängern, sehr früh ein Bild vom Selbst entwickelt zu haben. Die Zukunft detailliert ausgedacht, dann ruhigen Schritts voran. Niemand wird ihn aufhalten können, nicht einmal die Realität. Kraushaar und ich mussten nicht lange überlegen. Wir wollten mit diesem netten Exoten ein Interview für unser Buch führen.
Ronald war geschmeichelt: »Aber nur, wenn ich es zum Gegenlesen kriege!« Dann schaute er mich gespielt kokett an und sagte: »Na, Schätzchen, und was machen wir heute Nacht noch so?«
In der Thälmannstraße herrscht Stille. Schönebeck, in der Nähe Magdeburgs, ist an diesem Mittag im September wie ausgestorben. Das kleine Ladengeschäft mit der Aufschrift »Briefmarken und Münzen« hat wie die meisten anderen Läden für zwei Stunden geschlossen. Selbst im Hinterzimmer, wo eben noch rege Geschäftigkeit herrschte, ist Ruhe eingekehrt.
Ellen Schernikau hat ihren Kopf an die Schulter von Lorenz gelehnt. Sie zieht die Decke ein wenig höher über ihre verschwitzten Körper. Beide schweigen, sind ganz im Augenblick und nirgendwo. Ellen hat wie so oft in den letzten Monaten die Mittagsstunden dazu genutzt, ihre Liebe ganz für sich zu haben. Wenn ihr Dienstplan es zulässt, fährt die Krankenschwester heimlich die zwanzig Kilometer von Magdeburg nach Schönebeck. Sie muss doppelt vorsichtig sein: Ihre Mutter lebt hier und auch Lorenz’ Ehefrau. Zwar will er sich scheiden lassen, aber noch wohnt er bei ihr.
Also das winzige Hinterzimmer in seinem Briefmarkenladen, karg mit schmaler Liege und nur einem Stuhl. Aber Ellen ist glücklich. Sie liebt diesen großen schlanken Mann mit den dunkelblonden Haaren, die sich nie so ganz zu einer Frisur ordnen wollen.
Vor einem Jahr hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen, ganz en passant im Wartesaal des Bahnhofs. Mit ihrer Freundin Gisela wollte sie nach Magdeburg. Aus einer Laune heraus stiegen sie ins selbe Abteil wie er. Sie fand den großen Mann sehr sympathisch. Sein Ehering war ihr zwar nicht entgangen, dennoch hatte sie ein wenig geäugelt, ganz harmlos. Beim Aussteigen hatte er »Auf Wiedersehen!« gesagt, und sie »Ach ja, auf Wiedersehen!« Mit einer ganz kleinen Betonung. Das war’s.
Manchmal ging Ellen mit Freunden ins Tanzlokal Stadt Prag. Ihren Beruf nahm sie ernst, aber sie war auch jung, erst zweiundzwanzig, und tanzte gern. Es war schon spät, man wollte bald aufbrechen. Die Freunde holten die Mäntel, und Ellen saß allein am Tisch, als ein Mann das Lokal betrat. Den kenne ich, dachte sie. Auch der Mann stutzte, trat dann an ihren Tisch.
»Wollen wir tanzen?«
Beim Foxtrott dann eine angespannte Stille, zwei Gehirne auf Hochtouren.
Plötzlich sagt er: »Jetzt weiß ich es: Im Zug!«
Da wusste Ellen es auch. Die Freunde gingen. Ellen blieb.
***
Lorenz fährt ihr übers Haar und sie kuschelt sich noch ein wenig fester an ihn. Verliebte wie aus dem Bilderbuch. Sie haben eine eigene Sprache, fallen im Stadt Prag auf, weil sie verrückte Tanzschritte probieren. Und ihre Körper auf der Liege passen so gut ineinander.
Leider ist das Leben kein Bilderbuch. Da ist der Ring an seinem Finger, aber gut, er will sich ja scheiden lassen. Nachdem sie sich ein Vierteljahr kennen, noch ein Geständnis: »Die Elke kriegt ein Kind von mir.«
»Wer ist Elke?«
Nun ja, es war ein Zufall, hatte nichts zu bedeuten. Kennengelernt beim Tanzen eben, und diese Elke war so braungebrannt. Und so weiter … Jetzt ist sie schwanger, will das Kind behalten. Was soll man da machen?
»So kannst du nicht weitermachen«, hatte Gisela gesagt, mit der sie sich ein Zimmer im Schwesternwohnheim teilt. »Das nimmt ein schlimmes Ende. Du hast ’ne leichte Ader!« Sogar den Zimmerschlüssel hat sie mal beim Abendbrot versteckt, damit Ellen nicht zu ihrem Lorenz kann. Eine Rangelei, lächerlich eigentlich. Ellen gewinnt, zieht ihre roten Schuhe an und geht zu Lorenz.
Natürlich will sie was Festes. Ich will für immer mit ihm zusammen sein, denkt sie und ist bestürzt, weil sie so noch nie gefühlt hat. Manchmal ist er ihr fremd. »Meine kleine Genossin«, so von oben daher gesagt, als er das Parteiabzeichen an ihrem Mantel sieht. Sie nimmt das nicht tragisch. Manche Leute sind halt so, wollen alles und sind nicht bereit, etwas dafür zu tun.
Einmal, Ellen ist gerade im Laden, kauft er einer alten Dame ein Album ab. Hundert Mark gibt er ihr und springt hinterher vor Freude in die Luft. »Ein tolles Geschäft, dafür kriege ich sicher tausend Mark!« Sie ist schockiert. Das ist doch Betrug. So etwas sollte man mit Menschen nicht machen.
Ellen steht auf, ordnet ihr Haar, schlüpft dann ins dunkelrote Kleid. Eine attraktive junge Frau, schlank, großgewachsen, mit vollen Brüsten. Das Gesicht schmal, Augenbrauen, Augen und der volle Mund ganz gerade ins Gesicht gesetzt. Die Konstruktivisten hätten eine Freude an ihr gehabt.
»Du, das kommt dir jetzt vielleicht blöd vor, aber ich glaube, ich bin schwanger!«
»So ein Quatsch!« Lorenz ist amüsiert. »Woher willst du das wissen?«
»Wer ist denn hier die Krankenschwester? Ich kenn mich aus mit dem menschlichen Körper!«
***
Eine gute Woche später wäre ihre Periode fällig gewesen. Sie bleibt aus. Ellen macht einen Termin in der gynäkologischen Abteilung ihres Krankenhauses. Sie springt fast in den Untersuchungsstuhl, als sie endlich an der Reihe ist. Der Arzt prüft, ob die Gebärmutter vergrößert ist. Er macht sich ein paar Notizen und klappt dann die Patientenkarte zu.
»Tja, Schwester Ellen, an dem Ergebnis gibt es nichts zu rütteln. Sind Sie verheiratet?«
»Nein«, sagt Ellen erstaunt und schiebt ein trotziges »Wieso auch?« hinterher.
»Weil es dann wohl der Klapperstorch war, der Sie gebissen hat!«
Ellen springt von der Liege und führt einen Freudentanz auf. Von wegen Klapperstorch! Sie kennt sogar das genaue Datum der Zeugung: der 26. September 1959. Sie klatscht in die Hände, Tränen in den Augen. Der Arzt schaut sie verwundert an. Selten reagieren ledige Frauen so euphorisch auf eine Schwangerschaft.
Ledig oder verheiratet, was heißt das schon? Die DDR tut sich leichter mit unehelichen Kindern als der Adenauer-Staat. Man braucht Kinder für den Aufbau des Sozialismus. Hier ist für alles gesorgt, denkt Ellen. Krippe, Kindergarten, alles da. Und sie wird weiter arbeiten können. Lorenz ist zwar verheiratet, noch, Elke erwartet ein Kind von ihm, aber das war wohl mehr ein Unfall, die übliche männliche Schwäche. Hatte Lorenz nicht gesagt: »Wenn ich ein Kind will, dann nur von dir!«
Mehrmals hatte er das beteuert, beschwörend fast. Es gab keinen Grund zu zweifeln.
Die Arbeit an unserem Buch Männer.Liebe. ließ sich erstaunlich geschmeidig an. Ein eigenartiges Machtgefühl, Herr über 370 Buchseiten zu sein. Auch verstand ich, warum Buchautoren oft so selbstbezogen sind, überzeugt wie überzeugend. Selbst ein kleiner Sachbuchautor wie ich, der nicht wie ein Romancier ganze Welten erschuf, spürte Anwandlungen von Genialität. Wie musste es da erst Schernikau gehen? Mit siebzehn eine Novelle beginnen, mit niemandem darüber sprechen, nicht einmal mit der Mutter. Woher kommt das Selbstbewusstsein, die Disziplin, den Erzählbogen zu halten und das Werk auch zu beenden? Oder ist man mit siebzehn nur ein Bündel aus Ambition, Arroganz und Gottvertrauen?
Ich jedenfalls war siebenundzwanzig und mir der Fallhöhe sehr bewusst. Zusätzlich traf mich ein weiteres Klischee mit voller Härte: Schreiben macht einsam. In Filmen schaut das hübsch elegisch aus, der Schriftsteller ganz allein mit sich und der Literatur. Die Wirklichkeit war grauer. Nach dem Frühstück an den Schreibtisch und ran an die Buchstaben. Tage, Wochen, Monate. Immer derselbe Tisch, dasselbe Fenster, der Blick nach draußen, mal Laub auf den Bäumen, mal Schnee. Genügend Zeit, um eine Paranoia zu entwickeln. Dasistnichtgutgenug war mein Mantra, gesteigert durch ein hämisches Dubistnichtgutgenug. Es sollte noch zwei weitere Bücher dauern, bis diese Selbstkasteiungen nachließen.
Elmar Kraushaar und ich hatten uns eine tour d’horizon vorgenommen. Wir schrieben über Politik und Sexualität, Beziehungen, Psychiatrie, Feminismus, Porno, Philosophie. Es sollte Fotostrecken und Illustrationen geben, etwas zum Lachen, Staunen und Spielen – ein Überraschungsei für Homoeroten. Fürs Verspielte war ich zuständig. »Ich hab dafür kein Händchen«, sagte Kraushaar. Nun wurde mir klar, warum er gerade mich als Co-Autor wollte. Und es machte Laune, sich allerlei Possen auszudenken: Ein großes Homo-ABC von den Unterhosenmodellen im Quelle-Katalog bis hin zur geheimnisvollen Tatsache, dass alle Schwulen, aber auch wirklich alle in der Schule im Schlagballweitwurf versagen – eines der letzten ungelösten Rätsel. Es gab Fotos mit Brüderpaaren, bei denen die Leser raten konnten, wer der Schwule war, Texte über Rock ’n’ Roll und Schwanzlutschen, Filmemacher, Literaten und die kulturhistorische Bedeutung von Disco. Dazwischen ganz selbstverständlich die Theorien von Michel Foucault und Roland Barthes. Es war ein hartes, schönes Jahr zwischen Panikattacken und Selbstdisziplinierung.
Tatkräftig unterstützt wurde ich von meiner neuen Wohngemeinschaft. Uli, Matze und ich hatten das große Los gezogen: eine Wohnung am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer mit Blick auf den Landwehrkanal. Matze, unser Nesthäkchen, hatte etwas vollkommen Irrsinniges getan. Er setzte eine Zeitungsannonce auf: »Drei schwule Männer suchen eine schöne, große, billige Traumwohnung.« Tolle Idee! Man würde uns mit Angeboten nur so überschütten. Besonders im ummauerten Berlin der Achtziger, wo Tausende von Wohnungen fehlten. Und dann meldete sich ein tapferer Hausbesitzer und bot uns 120 edle Quadratmeter dort an, wo alle wohnen wollen. Zauberhafte Uferlage, Vorderhaus, hohe Decken, Balkon. Für 600 Mark! Wir sagten nicht nein.
Matze jobte mal hier, mal da, eine typische Kreuzberger Existenz. Arbeitsplätze gab es genug und obendrauf die Berlin-Zulage. Uli studierte Medizin und arbeitete wie ich viel zu Hause. Täglich so gegen Mitternacht machten wir uns ausgehfertig. Das dauerte. Irgendwann zwischen zwei und drei Uhr Nachts tauchten wir in den Bars auf. Das allseits bekannte Trio vom Paul-Lincke-Ufer, vergnügungssüchtig und flirtbereit. Selten kamen wir vor sieben Uhr morgens ins Bett. Dann aufstehen, Aspirin einwerfen und ab an den Schreibtisch.
***
Ronald hatte sich zum Kaffeetrinken angesagt, meine Frühstückszeit. Kaffeetrinken sollte für immer eines seiner Erkennungszeichen bleiben. Wollte er jemanden kennenlernen, Peter Hacks oder Elfriede Jelinek etwa, bot er an, gemeinsam eine Tasse Kaffee zu trinken. Das war sein Synonym für reden.
Ich sprang noch schnell unter die Dusche. Eine Vorsichtsmaßnahme, vielleicht würden wir den Besuch ja zwischen den Laken fortsetzen. Wir schmusten manchmal eine Runde, steckten uns gegenseitig die Zungen in den Hals, doch dann kam unweigerlich der Moment, in dem wir lachen mussten. Vielleicht lag es daran, dass zwei Schreibmaschinen aufeinander klapperten. Jedenfalls war es noch nicht »zum Äußersten gekommen«, wie Ronald es formulierte.
Schernikau, bekennend unsportlich, stakste atemlos die vier Treppen hoch. An der Wohnungstür drückte er mir einen fetten Kuss auf den Mund, damals die gängige Begrüßung sogar für entfernte Bekannte. »Dreckmist!«, sagte er, als er sich in meinem geräumigen Arbeits-, Schlaf- und Wohnzimmer umsah. »So was will ich auch!«
»Suchst du was Neues?«
»Es kommt drauf an, ob Thomas hier ein Engagement findet. Dann könnten wir zusammenziehen.« Seine Augen verdüsterten sich für einen Moment. »Aber vielleicht ist das auch gar nicht gut, so nah.«
Mein Zimmer war groß und weiß, dominiert von einem selbstgebauten Bett in optimistischer Größe. Dazu ein Schreibtisch, der mit weißem Papier bezogene Küchentisch meiner Großmutter, ein IKEA-Sofa und, frisch vom Sperrmüll, ein Nierentisch aus den Fünfzigern mit passenden Cocktailsesseln. Kleidung und Frisur hingen noch zwischen Hippie und Glamrock, die Einrichtung kündete schon von der kühleren Ästhetik des neuen Jahrzehnts.
»Ach, du schreibst den ersten Entwurf!« Ronald griff nach dem fetten Manuskriptstapel auf meinem Schreibtisch und nickte anerkennend.
»Und du? Geht’s voran mit dem zweiten Buch?«
»Nein … ja … doch. Die Hälfte habe ich schon. Das Schreiben ist nicht das Problem, aber mir fehlt die Zeit. Würde ich in der DDR leben, wäre alles viel einfacher.«
»Klar Süßer, sie würden dir Heldendenkmäler bauen!«
»Das will ich aber hoffen«, grinste Ronald. Dann, ganz sachlich: »Die Miete ist dort billiger, das Essen, einfach alles. Du betreust einen Kreis schreibender Arbeiter, und das reicht zum Leben. Die ganze restliche Zeit nur fürs Schreiben! Und als Bonus haben die Schriftsteller in der DDR ein viel höheres Ansehen als hier.«
»Träum weiter!«
»Ist doch wahr. Die Uni, die Partei, das Babysitten, manchmal komme ich nur dazu, Kleinkram zu schreiben.«
»Und woran arbeitest du gerade, was ist dein Thema?«, bohrte ich neugierig.
»Die Politik und die Liebe, wie immer«, sagte Ronald vage. Er grinste und wechselte flugs das Thema: »Woran arbeitest du gerade?«
»Es geht um Treuebedürfnis kontra Begehren. Trieb und Kultur, wenn du so willst. Aber am Ende ist es mir zu moralisch geraten.«
»Och, das ist einfach! Eine Moral darfst du nie ans Ende setzen. Pack sie ganz nach vorne, da wirkt sie weniger aufdringlich!«
Ich habe mich bis heute daran gehalten. Meistens.
Es klopfte an meine Zimmertür. Matze war von der Arbeit gekommen und Uli, diskret wie immer, sah jetzt auch eine Möglichkeit, meine dichtende Neuerwerbung kennenzulernen.
Uli war unsere Sexbombe, gut gewachsen, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, einer spitzen Nase und blonden Haaren bis an die Ellenbogen. Matze und ich behaupteten gern, man müsse im Treppenhaus sehr vorsichtig über all die Herzen steigen, die er gebrochen hatte. Matze gab mit seinen knapp zwanzig Jahren das Kind in unserer WG. »Niedlich« war das Wort, das im Zusammenhang mit ihm am häufigsten fiel. Er hasste das. Er war groß, hellhäutig und schmal. Dunkle, raspelkurze Haare, zwei Schlitzaugen und ein bläulicher Bartschatten gaben ihm einen Hauch von Erdtier, gemildert durch ein großzügiges Lippenpaar. Gesegnet mit einem an Loriot geschulten Humor, der sich an den kleinen Unpässlichkeiten des Lebens ergötzte, blieb er in Gesellschaft meist wortkarg. Uli sowieso. Der war ein begnadeter Schweiger, und wir zogen ihn gern damit auf, dass ausgerechnet er einen Preis für seinen Abituraufsatz gewonnen hatte. Ulis Schweigen war für seine vielen Verehrer die große Attraktion. Jedes dunkle Geheimnis ließ sich in ihn hineinphantasieren. Uli und Matze sollten mehrmals in Ronalds Büchern auftauchen, ohne je ein einziges Wort zu sprechen. Während wir Kaffee tranken, flirtete Ronald nicht gerade dezent mit Uli. Zurückhaltung in diesen Dingen war seine Sache nie. Nina Hagen sang ihm aus dem Herzen: Wenn du scharf bist, musst du rangehn!
Er begann ein Gespräch, blieb aber wie so viele in Ulis freundlicher Einsilbigkeit stecken. Dann eben ein Versuch mit Matze. Immer interessiert an der Arbeitswelt anderer, fragte Ronald nach dessen aktuellem Job. Matze zierte sich. Momentan arbeitete er als Propagandist im KaDeWe, eine Tätigkeit mit hohem Comedypotential. Eine amerikanische Großbrauerei versuchte mit viel Einsatz, ein amerikanisches Bier auf dem deutschen Markt durchzusetzen. Wie so oft war die Insel Westberlin ein idealer Testmarkt. Neben aufwendigen Plakaten hatte man im KaDeWe einen auf Texas getrimmten Stand errichtet. Matze, ausstaffiert mit rotem Karohemd und Cowboyhut, sollte die Kunden zum Probetrinken animieren. Wir fanden das außerordentlich komisch. Der dünnste Cowboy der Welt mit einem ebensolchen Bier! Sein Spruch war immer derselbe: »Möchten Sie einmal probieren? Dieses Bier ist nicht so stark gehopft und schmeckt deshalb besonders den Damen!« Er brachte das so, nun ja, niedlich, dass die Damen wirklich gern einen Schluck nahmen und heftig mit ihm flirteten.
Als die beiden sich verabschiedet hatten – Uli musste noch büffeln und Matze vorschlafen für unser Nightlife – fiel mein Energiespiegel rapide ab. Ich gähnte theatralisch.
»Zuviel am Schreibtisch gesessen?«, fragte Ronald.
»Eben nicht. It was a hard day last night!«
»Du gehst zuviel aus, trinkst zuviel und fickst zuviel.« Ronald drohte ironisch mit dem Zeigefinger, meinte es aber durchaus ernst.
»Letzteres geht nicht! Aber du hast recht. Heute komme ich jedenfalls nicht mehr zum Schreiben. Muss gleich los, Spätschicht im Café.«
Ich zog meine gelben Schuhe an und kämpfte mich in die zentnerschwere Lederjacke, die ich für zwanzig Mark auf dem Flohmarkt gekauft hatte.
»Ich komme mit zur U-Bahn«, sagte Ronald.
Ein sibirischer Wind pfiff uns um die Ohren. Mit hochgezogenen Schultern stapften wir zum Kottbusser Tor. Seit kurzem gab es hier eine neue folkloristische Attraktion: Punks. Der Kotti war ihr Sammelplatz, sogar bei dieser Kälte. Die spitzen Haare, jede Menge Sicherheitsnadeln und Reißverschlüsse hatten ihren Weg direkt von den Plattencovern bis vor unsere U-Bahn gefunden. Auch wenn das ewige »Haste ma ne Maaak?« nervte, waren sie stets friedlich, ein merkwürdiger Kontrast zu ihren finsteren Mienen. Nur die obligatorischen Schäferhunde konnte ich mir nicht erklären. Die sporadisch aus den Hemdkragen auftauchende Ratte war einleuchtend, aber warum hatten sie ausgerechnet des deutschen Spießers Leittier zu ihrem Lieblingshund gewählt?
Es begann zu schneien. Der von extrem hässlichen Neubauten umrahmte Platz nahm seine typisch winterliche Matschfarbe an. Hundekacke, Dönerreste, Spritzen, der Geruch von Pisse und Bier – ich mochte mein Kreuzberg. Hier sah es aus wie im richtigen Leben.
Auf dem oberen Bahnsteig ging ich noch eben zu der beeindruckend unfreundlichen Kioskdame, um Zigaretten zu kaufen. Das war meine tägliche Übung in Demut. »Wo musst du eigentlich hin, Roni?«
»Wir haben Parteisitzung.«
Ich steckte mir eine Roth-Händle an. »Was steht an?«
»Diskussion zu Solidarnoćś«, sagte er kurz angebunden.
»Find ich gut.«
»Wer eine Gewerkschaft will, wird auch Unternehmerverbände bekommen!« Damit war für ihn alles zu diesem Thema gesagt.
Das österreichische Fernsehen hat zu seiner Talkshow Club 2 geladen. Live, zwei Stunden mindestens, open end. Sprechstunden mit Anspruch. Es ist noch nicht die Zeit der Promis und Skandale. Hier haben die Themen »gesellschaftliche Relevanz«.
Der schnauzbärtige Peter Huemer, Moderator mit Bedenkenträgerstimme, macht das gleich zu Beginn klar: »Deutschland. Woher? Wohin?« lautet die bescheidene Fragestellung des Abends.
Bernt Engelmann, Vorsitzender des Schriftstellerverbandes, streitet mit der säuselnden Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann. Manfred Geist ist da, Chef der Welt am Sonntag, und Armin Mohler, ein altgedienter Publizist, der mit sehr schwarzer Tinte schreibt. Wie es die ungeschriebenen Gesetze einer Talkshow verlangen, fehlt noch ein Vertreter der jungen Generation. Ein bisschen keck soll er sein und dosiert provokant.
Diese Rolle spielt Schernikau, als einziger in Pullover und Jeans. Die Herren tragen Jackett und Krawatte. Weil er für die Jugend sprechen soll, wird er in der Einblendung stets als Student inseriert, nicht als Schriftsteller. Da arbeitet man fleißig am Ruhm und dann das: »Student«. Na, prima.
Immerhin erwähnt der Moderator zu Beginn die Kleinstadtnovelle und kommt dann zu seiner ersten Frage: »Herr Schernikau, in Ihrem Buch lese ich den Satz: ›Es gibt keine Alternative zum Nichtstun.‹ Was heißt das?«
Ronald atmet auf. Kalter Kaffee, die Frage wird in jedem Interview gestellt. »Das war der Eindruck einer Stimmung. Ich bin bis vor kurzem zur Schule gegangen und habe erlebt, dass zwar ständig Stunden ausfielen für die Schülerselbstverwaltung, für Diskussionsgruppen, dass aber nichts von dieser Arbeit eine Auswirkung hatte. Weder auf das Selbstbewusstsein der Schüler noch auf das Selbstverständnis der Lehrer.«
»Wir werden zu diesen Jugendfragen später zurückkehren«, sagt der Moderator etwas herablassend und stellt mit Grabesstimme die weiteren Gäste vor. Die schauen in die Kamera, als würden sie zur Hinrichtung geführt. Ernste Mienen, hoher Ton. Sind Österreicher die besseren Deutschen? Noch nicht mal die dritten Programme der ARD kommen so bleiern daher. Passend dazu ist das gesamte Studio schwarz abgehängt. Nur die senffarbenen Sitzelemente bringen etwas Farbe in die Sendung.
Ronald steht im Abseits, fast eineinhalb Stunden lang. Die anderen sind ein eingespieltes Team. Jeder ein Meister des Monologs, jeder mit gut sitzender Charaktermaske. Ronald hat noch keine. Er gibt das gescheite Talent, will kluge Sätze sagen und davon möglichst viele. Das wirkt etwas naseweis und angestrengt. Im Fernsehen gewinnt, wer authentisch wirkt, »rüberkommt«, wie die Redakteure sagen. Man muss es gar nicht sein, eher im Gegenteil. In der Kunstwelt TV wirkt jede echte Natürlichkeit nur naiv. Glaubwürdigkeit erlangt man durch Routine. Und hat man sie erlangt, ist sie zur Pose geworden.
Aber Schernikau lässt sich nicht so leicht aufs Abstellgleis schieben. Die Runde schwadroniert über die Bundestagswahl, Schmidt gegen Strauß, das Geschichtsverständnis der Deutschen, die Neurotisierung der Gesellschaft und endet unvermeidlich bei der unbewältigten Vergangenheit. Business as usual. Nach neunzig schwerblütigen Minuten hat man einmal die Runde gemacht und landet wieder bei Schmidt und Strauß und »Freiheit statt Sozialismus«.
Ronald hat die Nase voll und beugt sich vor: »Es läuft auf eine Scheindiskussion hinaus, Straußsche Diktion oder Schmidtsche Arroganz zu beurteilen. Es gibt immer die Freiheit von etwas, für etwas. Es geht hier vor allem um die Benutzbarkeit von Freiheit. Benutzbarkeit in gesellschaftlichen Verhältnissen, Benutzbarkeit gegen gesellschaftliche Verhältnisse. Wir sollten uns fragen: Wer benutzt uns?«
Die Runde schaut verdutzt. Engelmann nickt.
Ronald setzt nach. »Politik ist bei uns zu einem Krieg um Wörter geworden statt eines Krieges um Sachen!«
Er spricht pointiert, wirkt jetzt lebendiger und selbstbewusster. Da hat einer Blut geleckt. Als Noelle-Neumann zum wiederholten Mal die Demoskopie preist und postuliert, unsere Wertesysteme hätten sich komplett verschoben, hakt er sofort ein: »Ich glaube das nicht. Ein Konsens ändert sich ja auf Grund von Realitäten. Ich kann da eine kleine persönliche Anekdote erzählen, die sogar über eine Moral verfügt. Ich habe lange als Vegetarier gelebt und irgendwann, übertrieben gesagt, mit einem Salatblatt in der Hand gelesen, dass Hitler Vegetarier war. Und ich biss frohgemut in ein Fleischsalatbrot und wusste, Ideologie ist nicht alles. Irgendwas muss da noch sein.«
Alle lachen, und der Moderator erinnert sich jetzt auch wieder an seinen jungen Gast.
»Kommen wir jetzt zum Punkt der jungen Leute. Ich möchte einen Satz aus Ihrem Buch vorlesen, der …«
»Nennen Sie doch noch einmal den Titel, vielleicht kaufen die Leute es.«