Was wollte ich gleich sagen? Ach ja, ich weiß schon wieder. Die Geschichte, die ich euch diesmal erzählen werde, ist höchst merkwürdig. Erstens ist sie merkwürdig, weil sie merkwürdig ist, und zweitens ist sie wirklich passiert. Sie stand vor ungefähr einem halben Jahr in der Zeitung. Aha, denkt ihr und pfeift durch die Zähne: Aha, Kästner hat geklaut!
Hat er aber gar nicht.
Die Geschichte, die in der Zeitung stand, war höchstens zwanzig Zeilen lang. Die wenigsten Leute werden sie gelesen haben, so klein war sie. Es war eine Notiz, und darin hieß es bloß, am Soundsovielten sei in Berlin das und das los gewesen. Ich holte mir sofort eine Schere, schnitt die Notiz aus und legte sie behutsam in das Kästchen für Merkwürdigkeiten. Das Kästchen für Merkwürdigkeiten hat mir Ruth geklebt, auf dem Deckel ist ein Eisenbahnzug mit knallroten Rädern zu sehen, daneben stehen zwei dunkelgrüne Bäume, und darüber schweben drei weiße Wolken, rund wie Schneebälle, alles aus echtem Glanzpapier, wundervoll. Den paar Erwachsenen, die außer mir die Geschichte gelesen haben mögen, ist sie bestimmt nicht aufgefallen. Die Notiz war für sie aus Holz. Wieso aus Holz? Das meine ich so:
Wenn ein kleiner Junge ein Stück Holz unterm Ofen vorholt und zu dem Holz »Hü!« sagt, dann ist es ein Pferd, ein richtiges lebendiges Pferd. Und wenn der große Bruder sich kopfschüttelnd das Holz betrachtet und zu dem kleinen Jungen sagt: »Das ist ja gar kein Pferd, sondern du bist ein Esel«, so ändert das nicht das Geringste daran. Und mit meiner Zeitungsnotiz war es ähnlich. Die anderen Leute dachten: Na ja, das ist eben eine Notiz von zwanzig Zeilen. Ich aber murmelte »Hokuspokus!« und da war’s ein Buch.
Ich erzähle euch das aus einem ganz bestimmten Grunde. Man wird, wenn man Geschichten schreibt, sehr oft gefragt: »He Sie, ist das, was Sie geschrieben haben, auch wirklich passiert?« Besonders die Kinder wollen das immer genau wissen. Da steht man dann da mit seinem dicken Kopf und zieht sich am Spitzbart. Manches in den Geschichten ist natürlich wirklich passiert, aber alles? Man ist doch nicht immer mit dem Notizblock hinter den Leuten hergesaust, um haarklein nachzustenografieren, was sie geredet und getan haben! Oder man wusste noch gar nicht, als ihnen dies und das zustieß, dass man jemals darüber schreiben würde! Ist doch klar, nicht?
Nun stellen sich aber viele Leser, große und kleine, breitbeinig hin und erklären: »Sehr geehrter Herr, wenn das, was Sie zusammengeschrieben haben, nicht passiert ist, dann lässt es uns eiskalt.« Und da möchte ich antworten: Ob wirklich passiert oder nicht, das ist egal. Hauptsache, dass die Geschichte wahr ist! Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie genau so, wie sie berichtet wird, wirklich hätte passieren können. Habt ihr das verstanden? Wenn ihr das verstanden habt, habt ihr ein wichtiges Gesetz der Kunst begriffen. Und wenn ihr’s nicht verstanden habt, dann ist es auch nicht schlimm. Und damit ist die Einleitung schon zu Ende, hurra.
Nun weiß ich aus Erfahrung, dass manche Kinder solche Überlegungen, wie eben die mit dem Holz und dem Pferd und der Wirklichkeit und der Wahrheit, sehr gern lesen. Andere Kinder essen lieber drei Tage nichts als Haferschleim, ehe sie sich an so knifflige Dinge heranwagen. Sie haben Angst, ihr kleines, niedliches Gehirn könnte Falten kriegen. Was soll man da machen?
Ich weiß einen Ausweg. Ich werde alles, was in diesem Buch mit Nachdenken verbunden ist, in kleine Abschnitte zusammenfassen, und den Mann, der das Buch druckt, werde ich bitten, dass er meine »Nachdenkereien« anders druckt als die Geschichte selber. Er soll die Nachdenkereien schräg drucken, genau wie diese Einleitung hier. Wenn ihr also etwas Schräggedrucktes seht, dann könnt ihr es überschlagen, als ob es gar nicht dastünde. Kapiert? Ich hoffe, dass ihr verständnisvoll mit den Köpfen nickt.
Was wollte ich gleich noch sagen? Ach ja, ich weiß schon wieder. Ich wollte sagen: Nun kann die Geschichte anfangen.
Als Herr Direktor Pogge mittags heimkam, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte entgeistert ins Wohnzimmer. Dort stand nämlich Pünktchen, seine Tochter, mit dem Gesicht zur Wand, knickste andauernd und wimmerte dabei. Hat sie Bauchschmerzen?, dachte er. Aber er hielt die Luft an und rührte sich nicht von der Stelle. Pünktchen streckte der silbern tapezierten Wand beide Arme entgegen, knickste und sagte mit zitternder Stimme: »Streichhölzer, kaufen Sie Streichhölzer, meine Herrschaften!« Neben dem Kind kauerte Piefke, Pünktchens kleiner brauner Dackel, hielt den Kopf ganz schief, wunderte sich und klopfte mit dem Schwanz den Takt dazu. Pünktchen erklärte kläglich: »Haben Sie doch ein Herz mit uns armen Leuten. Die Schachtel nur zehn Pfennige.« Piefke, der Hund, begann, sich hinterm Ohr zu kratzen. Wahrscheinlich fand er den Preis zu hoch, oder er bedauerte, dass er kein Geld bei sich hatte.
Pünktchen streckte die Arme noch höher, knickste und stammelte: »Mutter ist völlig erblindet und noch so jung. Drei Schachteln fünfundzwanzig. Gott segne Sie, liebe Dame!« Anscheinend hatte ihr die Wand drei Schachteln Streichhölzer abgekauft.
Pünktchen stand vor der Wand und knickste.
Herr Pogge lachte laut. So etwas war ihm noch nicht vorgekommen. Da stand seine Tochter in dem Wohnzimmer, das dreitausend Mark gekostet hatte, und bettelte die Tapete an. Pünktchen erschrak, als sie jemanden lachen hörte, drehte sich um, sah den Vater und riss aus. Piefke hoppelte teilnahmslos hinterher.
»Bei euch piept’s wohl?«, fragte der Vater, aber er bekam keine Antwort. Da machte er kehrt und ging in sein Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch lagen Briefe und Zeitungen. Er setzte sich tief in den Ledersessel, zündete sich eine Zigarre an und las.
Pünktchen hieß eigentlich Luise. Aber weil sie in den ersten Jahren gar nicht hatte wachsen wollen, war sie Pünktchen genannt worden. Und so hieß sie auch jetzt noch, obwohl sie längst zur Schule ging und gar nicht mehr klein war. Ihr Vater, der Herr Pogge, war Direktor einer Spazierstockfabrik. Er verdiente viel Geld und viel zu tun hatte er auch. Seine Frau, Pünktchens Mutter, war allerdings anderer Meinung. Sie fand, er verdiene viel zu wenig Geld und arbeite viel zu viel. Er sagte dann immer: »Davon verstehen Frauen nichts.« Aber das konnte sie nicht recht glauben.
Sie wohnten in einer großen Wohnung, nicht weit vom Reichstagsufer. Die Wohnung bestand aus zehn Zimmern und war so groß, dass Pünktchen, wenn sie nach dem Essen ins Kinderzimmer zurückkam, meist schon wieder Hunger hatte. So lang war der Weg!
Weil wir gerade vom Essen sprechen: Herr Pogge hatte Hunger. Er klingelte. Berta, das dicke Dienstmädchen, trat ein. »Soll ich verhungern?«, fragte er ärgerlich.
»Bloß nicht!«, sagte Berta. »Aber die gnädige Frau ist noch in der Stadt, und ich dachte …«
Herr Pogge stand auf. »Wenn Sie noch einmal denken, kriegen Sie morgen keinen Ausgang«, erklärte er. »Los! Essen! Rufen Sie das Fräulein und das Kind.« Die dicke Berta setzte sich in Trab und kugelte durch die Tür.
Herr Pogge war der Erste im Speisezimmer. Er nahm eine Tablette, verzog das Gesicht und trank Wasser hinterher. Er schluckte Tabletten, sooft sich dazu Gelegenheit bot. Vor dem Essen, nach dem Essen, vorm Schlafengehen, nach dem Aufstehen, manchmal waren es kreisrunde Tabletten, manchmal kugelrunde, manchmal viereckige. Man hätte vermuten können, es mache ihm Spaß. Er hatte es aber nur mit dem Magen.
Dann erschien Fräulein Andacht. Fräulein Andacht war das Kinderfräulein. Sie war sehr groß, sehr mager und sehr verrückt. »Die hat man als Kind zu heiß gebadet«, erzählte die dicke Berta immer, und die beiden konnten einander auch sonst gut leiden. Früher, als es bei Pogges noch kein Kinderfräulein gab und als noch das Kindermädchen Käte da war, hatte Pünktchen immer bei Berta und Käte in der Küche gesessen. Da hatten sie Schoten ausgepult, und Berta war mit Pünktchen einkaufen gegangen und hatte ihr von ihrem Bruder in Amerika erzählt. Und Pünktchen war immer wohl und munter gewesen und hatte nicht so blass ausgesehen wie jetzt, wo die verrückte Andacht im Hause war.
»Meine Tochter sieht blass aus«, sagte Herr Pogge besorgt. »Finden Sie nicht auch?«
»Nein«, erwiderte Fräulein Andacht. Dann brachte Berta die Suppe und lachte. Fräulein Andacht schielte zu dem Dienstmädchen hinüber. »Was lachen Sie denn so dämlich?«, fragte der Hausherr und löffelte, als kriege er es bezahlt. Aber plötzlich ließ er den Löffel mitten in die Suppe fallen, presste die Serviette vor den Mund, verschluckte sich, hustete entsetzlich und zeigte zur Tür.
Dort stand Pünktchen. Aber, du grüne Neune, wie sah sie aus!
Sie hatte die rote Morgenjacke ihres Vaters angezogen und ein Kopfkissen daruntergewürgt, sodass sie einer runden verbeulten Teekanne glich. Die dünnen nackten Beine, die unter der Jacke vorguckten, wirkten wie Trommelstöcke. Auf dem Kopf schaukelte Bertas Sonntagshut. Das war ein tolles Ding aus buntem Stroh. In der einen Hand hielt Pünktchen das Nudelholz und einen aufgespannten Regenschirm, in der anderen einen Bindfaden. An dem Bindfaden war eine Bratpfanne festgebunden, und in der Bratpfanne, die klappernd hinter dem Kind hergondelte, saß Piefke, der Dackel, und runzelte die Stirn. Übrigens runzelte er die Stirn nicht etwa, weil er verstimmt war, sondern er hatte zu viel Haut am Kopf. Und weil die Haut nicht wusste, wohin, schlug sie Dauerwellen.
Pünktchen spazierte einmal rund um den Tisch, blieb dann vor ihrem Vater stehen, betrachtete ihn prüfend und fragte ernsthaft: »Kann ich mal die Fahrscheine sehen?«
»Nein«, sagte der Vater. »Erkennen Sie mich denn nicht? Ich bin doch der Eisenbahnminister.«
»Ach so«, sagte sie.
Fräulein Andacht stand auf, packte Pünktchen beim Kragen und rüstete sie ab, bis sie wieder wie ein normales Kind aussah. Die dicke Berta nahm das Kostüm und das Nudelholz und den Regenschirm und brachte die Sachen hinaus. Sie lachte noch in der Küche. Man konnte es ganz deutlich hören.
»Wie war’s in der Schule?«, fragte der Vater, und weil Pünktchen nicht antwortete, sondern in der Suppe herumplanschte, fragte er gleich weiter: »Wie viel ist drei mal acht?«
»Drei mal acht? Drei mal acht ist einhundertzwanzig durch fünf«, sagte sie. Herr Direktor Pogge wunderte sich über gar nichts mehr. Er rechnete heimlich nach, und weil’s stimmte, aß er weiter. Piefke war auf einen leeren Stuhl geklettert, stützte die Vorderpfoten auf den Tisch und gab stirnrunzelnd Obacht, dass alle ihre Suppe aßen. Es sah aus, als wolle er eine Rede halten. Berta brachte Huhn mit Reis und gab Piefke einen Klaps. Der Dackel verstand das falsch und kroch völlig auf den Tisch. Pünktchen setzte ihn auf die Erde hinunter und sagte: »Am liebsten möchte ich ein Zwilling sein.«
Der Vater hob bedauernd die Schultern.
»Das wäre großartig«, sagte das Kind. »Wir gingen dann beide gleich angezogen und hätten die gleiche Haarfarbe und die gleiche Schuhnummer und gleiche Kleider und ganz, ganz gleiche Gesichter.«
»Na und?«, fragte Fräulein Andacht.
Pünktchen stöhnte vor Vergnügen, während sie sich die Sache mit den Zwillingen ausmalte. »Keiner wüsste, wer ich bin und wer sie ist. Und wenn man dächte, ich bin es, ist sie es. Und wenn man dächte, sie ist es, dann bin ich’s. Hach, das wäre blendend.«
»Nicht zum Aushalten«, meinte der Vater.
»Und wenn die Lehrerin ›Luise!‹ riefe, dann würde ich aufstehen und sagen: ›Nein, ich bin die andere.‹ Und dann würde die Lehrerin ›Setzen!‹ sagen und die andere aufrufen und schreien: ›Warum stehst du nicht auf, Luise?‹, und die würde sagen: ›Ich bin doch Karlinchen.‹ Und nach drei Tagen bekäme die Lehrerin Krämpfe und Erholungsurlaub fürs Sanatorium, und wir hätten Ferien.«
»Zwillinge sehen meist sehr verschieden aus«, behauptete Fräulein Andacht.
»Karlinchen und ich jedenfalls nicht«, widersprach Pünktchen. »So was von Ähnlichkeit habt ihr noch nicht gesehen. Nicht mal der Direktor könnte uns unterscheiden.« Der Direktor, das war ihr Vater.
»Ich habe schon an dir genug«, sagte der Direktor und nahm sich die zweite Portion Huhn.
»Was hast du gegen Karlinchen?«, fragte Pünktchen.
»Luise!«, rief er laut. Wenn er ›Luise‹ sagte, dann hieß das, jetzt wird pariert, oder es setzt was. Pünktchen schwieg also, aß Huhn mit Reis und schnitt Piefke, der neben ihr kauerte, heimlich Grimassen, bis der sich vor Entsetzen schüttelte und in die Küche sauste.
Als sie beim Nachtisch saßen, es gab Reineclauden, erschien endlich Frau Pogge. Sie war zwar sehr hübsch, aber, ganz unter uns, sie war auch ziemlich unausstehlich. Berta, das Dienstmädchen, hatte mal zu einer Kollegin gesagt: »Meine Gnädige, die sollte man mit ’nem nassen Lappen erschlagen. Hat so ein nettes, ulkiges Kind und so einen reizenden Mann, aber denkst du vielleicht, sie kümmert sich um die zwei? Nicht in die Tüte. Den lieben langen Tag kutschiert sie in der Stadt rum, kauft ein, tauscht um, geht zu Fünfuhrtees und zu Modevorführungen, und abends muss dann der arme Mann auch noch mitstolpern. Sechstagerennen, Theater, Kino, Bälle, dauernd ist der Teufel los. Nach Hause kommt sie überhaupt nicht mehr. Na, das hat ja nun wieder sein Gutes.«