Das Eidechsenkind ist in Italien daheim und im Gastland zu Hause. Hier muss es sich verstecken: unter der Kredenz, im Schrank, in der Abstellkammer. In Ripa hingegen rennt der Junge wie alle Kinder dem Ball hinterher, jagt draußen die Wespen, gleitet von einer Umarmung in die andere. Dort, bei Nonna Assunta, wo ein Haus darauf wartet, fertig gebaut zu werden.
Hier im Gastland geht der Vater Tag für Tag auf den Bau, die Mutter in die Fabrik – das Eidechsenkind lässt Stunden und Tage verstreichen. Es vermisst die Wohnung mit seinen Schritten, hört die Nachbarin um Mehl bitten, die Kinder im Hof Fangen spielen, sieht die Stiefel des Padrone, der gerne zum Abendessen kommt und lange bleibt.
Bis es sich eines Tages zu heimlichen Streifzügen ins Treppenhaus hinauswagt, in andere Wohnungen, wo niemand die Gegenwart des Eidechsenkindes auch nur ahnt. Einzig Emmy, dem Mädchen, das neu im dritten Stock wohnt, gibt sich das Eidechsenkind zu erkennen. Der Dachstock gehört ihnen, doch bald will Emmy hinaus in die Welt, eine Band gründen, ans Meer.
Aus der Sicht eines Kindes erzählt Vincenzo Todisco in diesem erschütternden Roman von einem klandestinen Schicksal in einem belebten Wohnhaus, von kindlichem Einfallsreichtum und heimlicher Freundschaft.
Roman
Dieses Buch erscheint mit finanzieller Unterstützung
von SWISSLOS/Kulturförderung, Kanton Graubünden
der Graubündner Kantonalbank
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© 2018 Rotpunktverlag, Zürich
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Lektorat: Daniela Koch
Umschlagbild unter Verwendung eines Fotos von Winterthurer Bibliotheken, Sammlung Winterthur
Umschlaggestaltung: Sabrina Zimmermann und Patrizia Grab
eISBN 978-3-85869-790-5
4. Auflage 2019
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Zweiter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Dritter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Über den Autor
Das Kind macht zuerst das linke und dann das rechte Auge auf. Es hat den Kopf an zwei Orten. Einmal in Ripa, wo ihm nichts geschehen kann, und einmal in der Wohnung, wo es die Schritte zählen muss. Vier Schritte sind es bis zum Tisch, zwei bis unter die Kredenz, ein langer Schritt bis zur Spüle, und dann sind es zehn kurze Schritte hinaus aus der Küche bis in die Mitte des langen Korridors. Am weitesten ist es bis zur Stanza in fondo, dem hintersten Zimmer. Genau dreiundzwanzig Schritte müssen das Kind im äußersten Notfall bis zum Schrank dort bringen.
Auch im Freien will das Kind die Schritte zählen. Dort schießt ihm aber das helle Licht ins Gesicht und macht es blind.
Nachts kommen die Wölfe. Dann müssen die Schritte leise sein. Die Wölfe finden das Kind fast immer. Sie beugen sich über das Bett und fletschen die Zähne. Das Kind ruft leise nach Nonna Assunta, die weit weg, in Ripa, wohnt. Das Kind hört Nonna Assuntas Stimme: »Sprich mit mir«, flüstert sie, »sprich mit mir und mach deine Fäuste, dann tun dir die Wölfe nichts.«
Es läutet an der Tür. Es ist bestimmt Carlos’ Mutter, die wieder einmal Mehl braucht und immer in Eile ist, weil sie Carlos nicht zu lange allein lassen will. Die Mutter geht öffnen. Sie kommt in die Küche, um das Mehl aus der Kredenz zu holen, und geht wieder zur Tür. Das Kind hört, wie die beiden Frauen miteinander reden. »Er ist zu dick, mein Carlos, viel zu dick«, weint die Frau. Die Mutter sagt, sie solle zum Arzt gehen, und reicht ihr das Mehl. Carlos’ Mutter erklärt ihr, sie sei sogar mit ihm im Spital gewesen. Niemand könne ihr helfen. Das geht eine Weile so hin und her, bis Carlos’ Mutter sagt, sie müsse jetzt gehen, und die Mutter anfügt, sie habe auch noch so viel zu tun. Das Kind horcht bis zum letzten Wort. Es kennt die Anweisungen. Sobald die Mutter den Besuch eintreten lässt, muss es unter die Kredenz kriechen. Steht es im Korridor, hat es dreizehn Schritte Zeit, um sich im Schrank in der Stanza in fondo zu verstecken.
Sonntags geht der Vater mit seinen Arbeitskollegen zur Baracke Karten oder Boccia spielen. Vorher sitzen die Männer eine Weile in der Küche und trinken Kaffee. Sie reden über die Baustelle, über das Essen, über den Sommer in der Heimat, wo das Hitzezittern die Arbeit beschwerlich macht. Das kommt daher, weil dort das Land flach, höchstens hügelig ist, meint einer der Kumpels. Auf der Baustelle im Gastland ist es wegen der Kälte auch nicht einfacher, wirft der Vater ein. Die Hände werden rissig und der Schweiß trocknet kalt unter den Kleidern. Während der Vater redet, schenkt die Mutter den Grappa ein und setzt nochmals Kaffee auf.
Die Männer trinken eine zweite und eine dritte Tasse. Sie sind müde von der Arbeitswoche. Sie lachen, weil einer beim Rauchen auf dem Stuhl eingeschlafen ist.
Die Mutter verabschiedet sich. Sie hat sich mit Carlos’ Mutter zum Artischockeneinlegen verabredet. Erst dann kommen die Männer auf die Frauen zu sprechen. Sie tun es so, als wäre ohne eine bestimmte Art von Frauen das Leben ein Irrtum. Der Vater hat eine Vorliebe für amerikanische Schauspielerinnen: Marilyn Monroe ist für ihn das Maß aller weiblichen Dinge. Er hat ein Bild von ihr aus einer Illustrierten ausgeschnitten. In den Baracken heftet jeder Gastarbeiter mit Reißnägeln ein zerfranstes Bild an die Wand. Jeder hat auf diese Weise eine geheime Geliebte. Sofia Loren, Gina Lollobrigida, Mariangela Melato, Claudia Cardinale, so heißen die Schönsten, aber nur der Vater mit seinem amerikanischen Spitznamen, Al, hat eine Amerikanerin für sich ausgewählt, und zwar die Schönste unter den Schönen.
Seitdem der Vater nicht mehr in der Baracke wohnen muss, trägt er Marilyns Bild in seiner Brieftasche. Das Kind soll der Mutter nichts sagen. Es weiß aber, dass die Mutter das Bild schon oft in der Brieftasche gesehen hat. Und es weiß, dass es ihr nichts ausmacht. Es ist ihm auch nicht entgangen, dass der Vater mit seinen Arbeitskollegen manchmal zu den Frauen aufbricht. Die Männer lachen darüber. Das Kind stellt sich mehrere Marilyn Monroes vor, die den Männern ein Foto mitgeben, damit sie es in der Baracke an die Wand heften können.
Wenn die Männer Kaffee trinken, ist das Kind nicht in der Küche. Aber es hört, was dort geschieht.
Jede Woche endet mit dem Sonntag, aber wenn die Tage kürzer werden, kürzer und dunkler, kann es vorkommen, dass die Mutter sonntags am Kochherd weint. Wenn sie das Weinen unterdrücken will, beißt sie die Lippen so fest aufeinander, dass ihr das Kinn zittert. In Anwesenheit des Vaters lässt sie die Tränen gar nicht erst hochkommen.
Der Plattenspieler steht in der Küche neben der Kredenz. Während der Woche darf das Kind die Platten auflegen. Wenn eine zu Ende gedreht hat, schreitet das Kind zum Plattenspieler, hebt behutsam den Arm an, führt ihn wieder zum äußeren Rand der Scheibe zurück und legt die Nadel auf die erste Rille. Sobald die Musik ertönt, stellt sich das Kind seltsame Dinge vor.
»Wenn die Wölfe mit ihren Krallen an der Tür kratzen«, flüstert es, »steige ich ins Boot.« Die Mutter trägt das Kind bis in die Stanza in fondo. »Wo steht denn dieses Boot?«, fragt sie besorgt. Das Kind zeigt mit dem Finger zum Fenster. Es will hochgehoben werden, damit es nach unten zeigen kann, auf das mit einer dünnen Moosschicht bewachsene Pflaster im Innenhof. Da ist das Boot.
Nach dem Sonntag kommt der Tag, an dem die Arbeit auf der Baustelle wieder losgeht. Das ist jede Woche so. Zwischen den Sonntagen liegt eine Zeit, die sich ausdehnt. Da in der Wohnung die Vorhänge fast immer zugezogen bleiben, bekommt das Kind vom Tag kaum etwas zu sehen.
Nachts wird es vom Heulen der Wölfe aus dem Schlaf gerissen. Die Augen sind so klebrig, dass es sie erst nicht öffnen kann. Deswegen fühlt es sich krank im Kopf und redet in das Schweigen hinein.
Tagsüber möchte das Kind Dinge tun, die es in Ripa tut, Purzelbäume schlagen, vom Bettrand auf den Boden springen, mit dem älteren Cousin aufs Velo steigen, im Garten dem Ball nachrennen. Der Vater wischt sich den Schweiß von der Stirn und sagt der Mutter, sie solle dafür sorgen, dass das Kind leise ist. Bei jedem Geräusch blickt er zur Tür.
Die Sorgen sind nicht übertrieben. Der Vater weiß von einem Paar, das seinem Kind Schlafmittel verabreicht hat, damit es während der Autofahrt im Kofferraum ruhig bleibt. Die Mutter schaut das Kind mit ernster Miene an und fragt: »Hast du gehört?« Sie erzählt ihm, im Zug habe sie eine junge Frau kennengelernt, fast noch ein Mädchen, die einen Säugling in den Armen getragen habe. Ihre Tränen fielen auf das Gesicht des Neugeborenen. Man hatte sie an der Grenze zurückgeschickt.
Deshalb schaut sich das Kind jetzt ständig erschrocken um. Es stellt sich hinter die Küchentür oder in die Abstellkammer. Oder es steigt in den Schrank der Stanza in fondo. Ein fahles Licht scheint durch die Ritzen. Wenn das Kind im Schrank die Luft anhält, wird alles zwei Mal so still.
In der Küche vermag einzig die Musik, die aus dem Plattenspieler kommt, die Leere zu füllen. Es gibt Lieder, die das Kind direkt in die Magengrube treffen: »Quando sei qui con me … questa stanza non ha più pareti …« »Wenn keine Wand da ist, finden mich die Wölfe«, sagt das Kind. Die Eltern haben keine Zeit, ihm zuzuhören. Sie sind mit anderen Dingen beschäftigt. Es ist das Jahr 1961, und hier beginnt ihre Rechnung. Sie geben sich fünf Jahre Zeit, dann wollen sie genug Geld verdient haben und wieder nach Hause fahren. Das Kind wollen sie schon bald nach Ripa zurückbringen, dass es so lange bei Nonna Assunta bleiben kann.
»Was soll aus dem Kind werden?«, fragt die Mutter, während sie mit finsterer Miene zum Fenster blickt. Am Morgen öffnet sie die Läden nicht mehr. Sie sagt, Ripa sei ein elendes Kaff.
Die Leute weichen ihr aus, weil sie ein Kind hat und nicht verheiratet ist. Nonna Assunta hat deswegen viel geweint. Sie streitet sich fast täglich mit ihrer Tochter. Beide schreien und fuchteln dabei mit den Händen in der Luft herum.
Der Vater ist im Gastland. Er muss dort Geld verdienen. Er und die Mutter haben sich beim Tanzen auf dem Dorffest kennengelernt. Auf dem Heimweg hat er ihr mit seiner schönen Stimme eine Arie vorgesungen. Zur Belohnung hat ihm die Mutter den ersten Kuss gewährt. Danach ist sie mehrmals heimlich mit ihm ausgegangen. Sie ist schwanger geworden. Als das Kind zur Welt kam, hat Nonna Assunta den Vater beim Schopf gepackt und ihm gesagt: »Du sorgst jetzt für die beiden.«
Nonna Assunta trägt das Kind durchs Haus. Es ist wieder einmal krank und hört nicht auf zu weinen. Das Haus ist viel zu klein für die Familie. Nonna Assuntas ältere Tochter, ihr Mann und ihr Sohn leben auch dort. Zu ihnen sagt das Kind Zia und Zio, zum Cousin sagt es Du. Die Zia arbeitet den ganzen Tag auf dem Feld, sie spaltet Holz in der Scheune und bringt es ins Haus. Der Zio ist Handlanger und muss sich immer wieder eine neue Arbeit suchen. Am Abend kehrt er heim und redet kein Wort, auch weil er einen dicken Schnauz hat, der ihm den Mund zuschließt. Sogar wenn er seinen Sohn anbrüllt, versteht man nicht, was er sagt, aber dem Kind, das weinend auf Nonna Assuntas Schoß sitzt, macht die laute Stimme Angst.
Nonna Assunta bittet dann den Cousin, den Ball eine ganze Weile lang gegen die Wand zu treten, damit das Kind auf die Stöße hört und sich beruhigt.
Nonna Assunta und die Mutter stehen in der Küche. Sie sehen sich an. Die Tür ist offen. Es ist ein schwüler Sommerabend, die Hitze hat nicht abgenommen. Große schwarze Wolken stehen am Himmel. »Es wird wieder kein Gewitter geben«, sagt Nonna Assunta. Durch das Haus weht der Geruch der Lavendelsträucher, die den Straßenrand säumen. Vom Jahresfest auf dem Kirchplatz kommt Tanzmusik herüber.
»Das Kind ist nicht einmal getauft«, schimpft Nonna Assunta und legt ihren Strohhut auf den Tisch.
»Im Dorf werfen sie mir schräge Blicke zu«, beklagt sich die Mutter, »ich will fort. Ich gehe zu Al. Dort ist alles besser. Wir kommen zurück, sobald wir genug Geld haben. Al wird mich heiraten. Er ist nicht abgehauen. Mit dem Geld bauen wir uns hier ein Haus.«
»Al ist ein Nichtsnutz!«, brummt Nonna Assunta.
»Er singt so schön wie keiner sonst. Er hätte ohnehin wegmüssen«, verteidigt ihn die Mutter, »hier gibt es ja nichts.«
»Ich hatte recht«, murmelt Nonna Assunta, »das Gewitter kommt nicht.«
Sie verschwindet hinters Haus, um mit einer großen Kanne die Tomaten zu gießen. Ohne Gewitter ist auch die Nacht schwül. Schlafen ist schwierig. Die Mutter wartet bis zum Morgengrauen. Dann packt sie Kind und Koffer und geht fort.
»Das Kind ist mir das Liebste auf der Welt!«, ruft ihr Nonna Assunta hinterher, während sie die Hühner aus dem Stall herauslockt.
Die Reise von Ripa bis ins Gastland dauert einen Tag und eine Nacht. Einmal ist der Vater allein unterwegs, ein anderes Mal mit der Mutter zusammen, oder die Mutter fährt allein. Wenn das Kind mitreist, wird es als blinder Passagier über die Grenze geschmuggelt.
Die Mutter hält das Kind an der Hand, als sie den Perron entlanggehen. Der wartende Zug kommt ihm unerreichbar hoch vor. Männer schauen aus den Fenstern. Eine Frau hebt mit beiden Armen einen großen Koffer hoch, stellt sich auf die Zehenspitzen und reicht ihn einem Mann, der sich hinauslehnt. Bei der Frau stehen noch andere Taschen und Kartonschachteln, vollgestopft und mit einer dicken Schnur zusammengehalten. Das Kind macht sich ein Spiel daraus, sich durch das herumliegende Gepäck hindurchzuschlängeln, bis die Mutter es am Schopf packt und in den Zug zieht. Danach fährt und fährt der Zug. Er legt eine lange Strecke durch die weite Ebene zurück und rollt in die Nacht hinein. Sobald sich die Reisenden ins Schlafwagenabteil zurückziehen, gleitet das Kind lautlos durch den Gang. Als es müde ist, schleicht es ins Abteil zurück und kauert sich neben der Mutter unter die Decke, bis es vom Schaukeln des fahrenden Zuges in den Schlaf gewiegt wird. Die Reisenden teilen sich zu sechst ein Abteil. Sie liegen auf ihren Pritschen, husten im Schlaf, es stinkt nach Schweiß, die Wolldecken sind feucht. In der Nacht legt der Zug Pausen ein, rattert langsam über die Weichen, bis er für längere Zeit stillsteht. Das Kind wird wieder wach. Es streckt den Kopf aus dem Fenster und atmet den eisernen Geruch ein, der von den Gleisen aufsteigt. Dann fährt der Zug quietschend wieder los. Das Kind schaut noch so lange aus dem Fenster, bis es draußen hell wird.
Kurz danach klopft der Schlafwagenschaffner mit einem Vierkantschlüssel an die Tür, um die Reisenden zu wecken. Am Morgen sind sie gesprächiger und voller Zuversicht. Die, die ihre Reise weiter unten im Süden angetreten haben, berichten, dass der Zug eine ganze Weile direkt am Meer entlangfährt. Dann sei auf einmal alles blau und man könne den Himmel nicht mehr vom Wasser unterscheiden.
Immer wieder streckt das Kind den Kopf Richtung Fenster. Plötzlich steht mächtig der Berg da. Das Kind fragt die Mutter, ob der Berg das flache Land verschlungen habe. Die Mutter schüttelt den Kopf und sagt, das Kind solle nicht immer solchen Träumereien nachgehen.
Vor dem Grenzübergang muss sich das Kind zusammenrollen und ganz klein machen. Es kriecht unter die Sitzbank und wickelt sich in eine Decke. Einmal hat die Mutter es in einem Koffer versteckt. Als die Pässe kontrolliert sind und die Gastarbeiter für die sanitäre Kontrolle aussteigen müssen, wartet das Kind allein im Zug. Es späht aus dem Fenster und sieht, wie sich die Mutter mit den anderen Reisenden vor dem Schalter eines grauen Gebäudes einreiht, wie sie beim Hineingehen die Blusen und Hemden ausziehen. Nach einer Weile kommen alle zurück und holen ihre Sachen. Die Mutter steigt mit dem Kind in einen anderen Zug. Sie zeigt ihm den Finger, in den der Arzt gestochen hat, um Blut abzunehmen. Sie zeigt auch auf die Brust und sagt, man habe ihre Lungen abgehört. Sie holt den Pass hervor und erklärt dem Kind, der Beamte habe einen Stempel hineingedrückt. »Jetzt geht es weiter«, seufzt die Mutter. Sie ist müde vom ständigen Hin und Her. Sie hat Rückenschmerzen, und nach der Ankunft wird sie noch tagelang das Rattern des Zuges unter den Füßen spüren. Auch das Kind ist die Reise, die kein Ende nimmt, leid. Die Mutter flüstert: »Schlaf jetzt!« Das Kind beißt die Zähne aufeinander. Es sagt, wie viele Schritte es während der Nacht im Gang gemacht hat.
»Ich will das nicht hören«, sagt die Mutter.
Nach der Ankunft des Zuges herrscht auf dem Perron Geschäftigkeit. Gastarbeiter steigen aus und drängen durcheinander, es werden Koffer und Taschen geschleppt. Die Mutter zieht das Kind hinter sich her. In der Bahnhofshalle treffen die Ankömmlinge auf Verwandte oder Freunde, die sie freudig empfangen. Es gibt auch zahlreiche andere Gastarbeiter, die auf niemand warten. Sie kommen zum Bahnhof, um Landsleute zu treffen, weil man dort Zigaretten und Zeitungen aus der Heimat kaufen kann und weil es Sitzbänke gibt, von wo aus man bequem auf die Züge sehen kann. Auch hier will sich das Kind durch die aufgeregte Menschenmenge schlängeln. Solange die Mutter den wuseligen Körper an ihren Beinen spürt, richtet sie ihren Blick nach vorn. Kaum merkt sie, dass sich das Kind entfernen will, greift sie es an den Haaren. Manchmal entweicht es ihr doch, und sie verliert es aus den Augen. Dann sucht sie verzweifelt nach ihm. Sie ruft: »Wo bist du? Komm zurück!«
Das Kind hat keine Angst, die Mutter zu verlieren. Als sie sich wieder gefunden haben, fährt sie ein Bekannter mit dem Auto in ihre Stadt. Das Kind muss geduckt bleiben, wird auf der Rückbank unter einer Decke versteckt. Bevor sie ankommen, muss die Mutter aussteigen und von einer Telefonkabine aus dem Vater in der Baracke ihre Ankunft ankündigen. Sie haben ihre geheimen Erkennungszeichen. Sobald die Luft rein ist, hängt der Vater ein farbiges Tuch ins Fenster. Einmal mussten Mutter und Kind lange im Auto warten, mehrmals um die Häuser gehen, bis sie hineinkonnten.
Im Gastland ist das Kind ein Kind, das nicht sein darf. Die Eltern trichtern ihm ein, es dürfe nur flüstern, mit niemand sprechen, es müsse immer auf der Hut sein. Wenn man es entdeckt, verliert der Vater seine Arbeit, und sie müssen alle drei zurück nach Ripa.
Nach ein paar Wochen kehrt die Mutter mit dem Kind aus dem Gastland zurück. Sie sagt, dort gebe es strenge Regeln, da könne man nicht einfach kommen und irgendwo wohnen, schon gar nicht mit einem Kind. Man brauche eine Arbeit, die Polizei müsse einem die nötigen Papiere aushändigen, eine Bewilligung mit einem Stempel, die Männer dürften ihre Familien nicht zu sich holen. »Besser nicht verheiratet sein, dann ist man keine Familie. Aber wenigstens gibt es Arbeit«, sagt sie. Sie will wieder zurück, ohne Kind.
»Gut, lass es hier«, sagt Nonna Assunta.
In Nonna Assuntas Haus gleitet das Kind von einer Umarmung in die nächste. Sogar der Zio nimmt es manchmal auf den Arm, und das Kind schielt über seine Schultern zum Cousin, der wieder einmal zwei Stück Kuchen aus der Küche stibitzt hat und damit im Schopf auf das Kind wartet. Danach spielen sie den ganzen Tag im Garten. Am Abend nimmt Nonna Assunta ein Taschentuch aus ihrer Schürze und wischt dem Kind den Staub von den Augen: »Du sollst stillhalten«, sagt sie.
Nonna Assunta spricht oft zur Madonnina, einer kleinen Jesusmutter aus Porzellan, die sie auf den Nachttisch gestellt hat. Sie küsst sie auf die Stirn und bittet sie, das Kind zu beschützen, weil es schwach und schmächtig ist. Es hat nie Appetit und ist oft krank. Wenn es einmal nicht husten muss, machen die pechschwarzen Haare sein Gesicht trotzdem bleich.
Um zehn Uhr bringt die Großmutter das Kind ins Bett. Sie setzt sich zu ihm und erzählt ihm die Geschichte der Lepre pazza. »Manina piazza, manina piazza, qui c’è passa una lepre pazza …«, flüstert sie, während sie mit dem Zeigefinger mehrmals über die Handfläche des Kindes gleitet. Dann tippt sie auf jeden einzelnen Finger, »questo l’ha vista, questo le ha sparato, questo l’ha cucinata«, und wenn der kleine Finger an der Reihe ist, kitzelt sie das Kind und sagt, es solle jetzt schlafen. Sie reicht ihm die Madonnina, damit es sie auch küssen kann. Aber das Kind kann trotzdem nicht einschlafen. Es wartet, bis die Treppe knarrt. Dann kommt Nonna Assunta nach oben und legt sich neben das Kind. Das Kind macht die Augen zu und spürt, wie Nonna Assunta es sorgenvoll betrachtet.
Am Sonntag trägt Nonna Assunta immer ein dunkles Kleid, weil dieser Wochentag ihrem verstorbenen Mann gewidmet ist. Sie stellt die Madonnina auf den Küchentisch. Im Sonnenlicht leuchtet das Gesicht, und erst dort kann man sehen, wie jung sie ist. Sie trägt ein blaues Kopftuch und darunter einen Schleier. Die Hände sind auf Brusthöhe gefaltet, und der Kopf neigt sich leicht zur Seite. »Heute ist auch für dich Sonntag«, sagt Nonna Assunta zur Madonnina, indem sie sich bekreuzigt und sie abermals um Schutz bittet.
Nonna Assunta hat Ripa nie verlassen. Sie ist noch nie Zug gefahren.
Ihre Tochter ruft sie aus dem Gastland an. Sie fragt nach dem Kind. Sie sagt, sie vermisse es. Nonna Assunta sagt, das andere Land sei ihr zu weit weg, es gebe dort Berge mit Schnee. Das sei kein Ort zum Leben.
In der ersten Zeit im Gastland kann der Vater höchstens neun Monate im Jahr bleiben, wenn die Arbeit ausgeht, sogar weniger. Er wohnt in der Baracke oder findet bei Bekannten Unterschlupf. Dann muss er wieder für drei Monate zurück in die Heimat. Solange die Mutter keine geregelte Arbeit hat, kann sie nur als Touristin ins Gastland mitkommen. Sie lacht, wenn sie das Wort Touristin ausspricht. »Wir leben eher wie Zigeuner«, meint sie.
In Ripa soll sich die Mutter dann im Haus behilflich zeigen. Sie tut es widerwillig und sagt, sie habe keine Jugend gehabt. Es gibt eine Mutter, die einmal viel hübscher war, und eine, die jetzt auf dem Bettrand sitzt und ins Leere starrt. Auf dem Foto, das in Nonna Assuntas Küche an der Wand hängt, sitzt die viel hübschere Mutter rittlings auf einer Vespa, trägt die schwarzen Haare hochgesteckt und lächelt. Der Blick, den sie in die Kamera wirft, verrät eine lang unterdrückte Sehnsucht, endlich ins Leben loszuziehen.
»Da war ich achtzehn«, sagt die Mutter dem Kind und nimmt das Foto ab.
Der Vater ist klein, aber stämmig. Die beginnende Glatze lässt ihn etwas älter erscheinen, als er ist. Er ist trotzdem ein schöner Mann und singt, dass einem warm ums Herz wird. Deswegen sei sie mit ihm ausgegangen, schwärmt die Mutter, und habe von ihm das Kind bekommen. Mit Nonna Assuntas Unterstützung kauft er ein Stück Land von einem alten Bauern und will dort sein eigenes Haus bauen. Er muss sich die Maschinen ausleihen, einen Lastwagen mieten, Helfer anheuern, alles geht langsam voran. Abends und am Wochenende sitzt er die meiste Zeit in der Küche oder geht in die Bar, um mit den älteren Männern Karten zu spielen. Manchmal trinkt er zu viel Wein. Bevor er heimkehrt, muss er warten, bis er wieder gerade gehen kann, sonst springt ihm Nonna Assunta an den Hals. Er kann auch tageweise mit den anderen Männern auf die Baustelle gehen, aber er verdient fast nichts. Er sagt dann heimlich zur Mutter, das sei der Mühe nicht wert. Mit dem Kind weiß er nicht viel anzufangen. Das ist auch nicht nötig, denn Nonna Assunta hat das übernommen. Sie sagt, der Vater sei ein Faulenzer, ein Nichtsnutz. Der Vater traut sich nicht, die Stimme gegen Nonna Assunta zu erheben. Er sagt, im Gastland sei es schwierig, eine Arbeit für das ganze Jahr zu bekommen. Und er wiederholt, was die Mutter schon oft zu Nonna Assunta gesagt hat: »Die Familie darf man nicht mitnehmen.«
Die Mutter will das alles nicht mehr hören. Sie singt Arrivederci Roma. Dazu hat sie das erste Mal mit dem Vater getanzt. Er ist nie ein guter Tänzer gewesen, eher ein Pferd, aber er hat ihr zwischendurch immer wieder einen Kuss geraubt. Sie macht dann auch vor, wie er auf dem Nachhauseweg vor ihr niedergekniet ist und laut »Tutti mi chiedono, tutti mi vogliono, donne, ragazzi, vecchi, fanciulle …« gesungen hat. Anfangs lacht die Mutter, wenn sie sich daran erinnert, später nicht mehr.
Eigentlich heißt der Vater Alcindo. Al ist die Abkürzung. Er hat diesen ungewöhnlichen Namen von seinem Vater bekommen, dem Großvater. Den hat das Kind aber nie gekannt, weil der alte Mann schon vor seiner Geburt gestorben ist. Das Kind weiß nur, dass er so etwas wie ein Held war, ein Partisan, erklärt ihm Nonna Assunta, einer, der während des Krieges gegen die Deutschen gekämpft hat, die sich die Häuser rund um Ripa genommen hatten. Alle im Dorf hätten ihn gekannt und gefürchtet, erinnert sich Nonna Assunta. Nach dem Krieg arbeitete er mehrere Jahre im Ausland. Auch er kehrte jeweils im November nach Hause zurück und hatte drei Monate lang nichts zu tun. Er verbrachte die Abende in der Kneipe, trank zu viel Wein und verlangte, wenn er spät in der Nacht heimkam, dass die gesamte Familie zur Stelle war. Wenn nicht, geriet er in Rage und schmiss was ihm in die Hände kam aus dem Fenster, dass es das ganze Dorf sehen und hören konnte.
»Den Dickschädel hast du von ihm«, sagt Nonna Assunta zum Kind, und die Mutter sagt es auch, wenn das Kind nicht essen will und sich auf den Boden wirft und vor lauter Wut ins Stuhlbein beißt.
Der Großvater hatte diese Vorliebe für ausgefallene Namen. Neben Alcindo hatte er drei weitere Kinder: Olindo, Melinda und Clorinda. Das sind der Onkel und die beiden Tanten des Kindes. Olindo ist früh an Tuberkulose gestorben, Clorinda ist ins Kloster gegangen. Einzig Tante Melinda hat einen Beruf erlernt, sie ist Schneiderin und kommt im Leben allein zurecht.
Tante Melinda ist manchmal bei Nonna Assunta zu Besuch. Sie macht sich Sorgen. Sie sagt, das Kind sei bei Nonna Assunta gut aufgehoben, aber es brauche seine Eltern. Und wenn das Kind wieder einmal am Tischbein rüttelt und schreit: »Ich will nach draußen, ich will nach draußen«, schaut sie Nonna Assunta an und sagt: »Siehst du, das Kind hat doch etwas.« Mit der Zia versteht Tante Melinda sich nicht gut, und dem Zio sagt sie immer, er solle endlich den hässlichen Schnauz abrasieren. Der Cousin lacht dann und muss aufpassen, dass ihm der Vater nicht eines überzieht.