Britt Collins
Tabor, die kleine Straßenkatze
Aus dem Amerikanischen von Johanna Wais
FISCHER E-Books
Die Journalistin Britt Collins hat ein Herz für Vierbeiner. Viele ihrer Artikel für den »Guardian« oder die »Sunday Times« beschäftigen sich mit den Rechten von Tieren, aber auch privat engagiert sich Collins für bedrohte Arten und kämpft gegen Tierversuche. In ihrem Haus in London haben bereits unzählige Streuner Unterschlupf gefunden.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Micheal King hat das Leben übel mitgespielt. So übel, dass er es eigentlich nur mit Alkohol aushält. Einen festen Wohnsitz hat er nicht mehr, sein stetiger Begleiter sind Sonne und Wind auf den Straßen Portlands. Doch in einer regnerischen Nacht findet er eine Katze, die hungrig und durchgefroren nach Unterschlupf sucht. Und es ist Tabor, die Katze, die diesen gebrochenen Mann rettet und ihm in den folgenden zehn Monaten, die die beiden gemeinsam auf der Straße verbringen, Hoffnung und Lebensfreude zurückgibt.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem
Titel ›Strays‹ bei Atria Books, einem Imprint von Simon & Schuster, New York.
Copyright © 2017 by Britt Collins
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: bürosüd, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403827-8
American Society for the Prevention of Cruelty to Animals. http://www.aspca.org/animal-homelessness/shelter-intake-and-surrender/pet-statistics
Laut AmericanHumane.org werden etwa 71 Prozent der Katzen und 57 Prozent der Hunde, die ins Tierheim kommen, getötet.
Humane Society of the United States. http://www.humanesociety.org/assets/facts-pet-stores-puppy-mills.pdf
Für Bobby Seale, mein wunderbares rotgetigertes Mädchen, das immer in meinem Herzen sein wird. Und für alle, die je eine Katze geliebt und verloren haben.
Zu den glücklichsten Momenten in meinem Leben zählen die mitternächtlichen Spaziergänge an unserem Strand in Auckland, Neuseeland. Unser Haus, umgeben vom Meer und subtropischem Regenwald, lag nur eine Viertelstunde von der Innenstadt entfernt, aber es hätten genauso gut Hunderte Meilen sein können. Zu unserer Siedlung aus zehn Häusern führte keine Straße, also gab es dort auch keine Autos: Man erreichte sie nur, indem man zu Fuß einen Wald durchquerte. Als wir dieses Stück Land fanden, war mein erster Gedanke: Dies ist ein idealer Ort für Katzen. Wir hatten zu dieser Zeit fünf Katzen und unseren Hund Benjy (über den ich The Dog Who Couldn’t Stop Loving geschrieben habe), und für die Katzen war es das Größte, wenn draußen niemand mehr unterwegs war und ich mit ihnen und Benjy den letzten Spaziergang am Meer machte. Besonders herrlich war es in Vollmondnächten, wenn die Wellen sanft ans Ufer schlugen und biolumineszierende Fischwesen das Wasser erleuchteten. Die fünf Katzen – Yossie, Minna, Miki, Moko und Megala – fanden es unglaublich lustig, vorzurennen, sich hinter einer Düne zu verstecken und dann hervorzuspringen und Benjy zu überfallen. Der spielte immer mit, tat völlig überrascht und flippte schier aus: Er rannte über den Sand ins warme Meer, verfolgt von den fünf Katzen. Sie hatten einen Riesenspaß dabei. Der Hund liebte es. Und ich auch. Unser Ziel waren ein paar Pōhutukawas, gewaltige feuerrote Bäume, die Hunderte Jahre alt waren und am besten am Salzwasser gediehen. Die Katzen rasten die Bäume hinauf, hoch in die Kronen, bis weit über das Wasser, und miauten dann kläglich, als wüssten sie nicht, wie sie wieder herunterkommen sollten. Wenn ich nachsehen ging und vorgab, ihnen hinterherklettern zu wollen, sausten sie den Stamm hinab und sprangen in den Sand. Sie waren wie im Rausch. Anschließend standen wir zu siebt still am Strand und sahen hinaus zu den kleinen Inseln in Ufernähe, und ich wusste, dass die sechs Tiere dieselbe Ruhe empfanden wie ich, dasselbe Gefühl, dass alles in Ordnung ist mit der Welt, selbst wenn das keineswegs stimmt. In diesen intensiven Glücksmomenten verstand ich, was die Leute mit dem Klischee meinen, Tiere würden im Hier und Jetzt leben und sich keine Gedanken machen über das, was geschehen ist oder geschehen wird, sondern einfach diesen Augenblick tiefsten Friedens genießen.
Es gab einen weiteren Grund für mein intensives Glück: das Wissen, dass die Katzen, der Hund und ich dies zusammen erlebten und auf ähnliche Weise wahrnahmen. Damals wurde mir auch klar, dass der manchmal schlechte Ruf von Katzen, sie seien distanziert oder sogar unnahbar, nicht der Wahrheit entsprach. Das faszinierte mich so sehr, dass ich beschloss, über das komplizierte, tiefgründige Gefühlsleben von Katzen zu schreiben; was ich schließlich auch tat. Ich nannte das Buch – etwas kitschig (die meisten meiner Buchtitel sind kitschig!) – Katzen lieben anders. Man muss sich auf ihre Welt einlassen, anstatt sie zu zwingen, an unserer teilzunehmen. Diese Vorstellung begegnete mir zum ersten Mal, als ich Das geheime Leben der Hunde von Elizabeth Marshall Thomas las. Jedes Tier hat ein geheimes Leben, und um es zu entdecken, muss man bereit sein, die Welt mit seinen Augen zu sehen, nicht umgekehrt.
Als ich Britt Collins’ wunderbare Schilderung von Michael King las und von Tabor, der verletzten streunenden Katze, die er in den Straßen von Portland gerettet hatte, wurde mir klar, dass hier genau dies geschehen ist: Sowohl die Katze als auch der Mensch beschlossen, das Leben des jeweils anderen zu führen. Das ist die Grundlage für eine besondere Bindung, eine, die so unter anderen Umständen vielleicht nicht entstanden wäre. Indem Michael sich um die Katze kümmert und ihre Eigenarten kennenlernt, sieht er wieder einen Sinn im Leben und öffnet sein Herz, wie er es lange nicht mehr getan hatte. Darüber hinaus erlauben ihm die Vertrautheit und Intensität ihres gemeinsamen Lebens auf der Straße, das Tier in einer Weise zu verstehen, wie es das Wohnen mit einem Dach über dem Kopf nicht hergibt. (Meiner – vielleicht ungerechten – Ansicht nach nimmt die reine Wohnungshaltung einer Katze die Möglichkeit, sich artgerecht zu verhalten. Wenngleich mir die Statistiken bekannt sind, dass Wohnungskatzen viel länger leben als solche, die nach draußen können.) Michael und Tabor waren selten getrennt voneinander und schliefen fast ein ganzes Jahr jede Nacht zusammen, während sie den amerikanischen Westen bereisten. Was für ein Glück für beide. Übrigens kann ich jedem, der mit einer Katze zusammenlebt, nur empfehlen, sie auch ins Bett zu lassen. Mit Katzen in einem Bett zu schlafen ist eine der schönsten Freuden im Leben. Es kann kompliziert sein: Jahrelang hat mein Kater Megala bei mir im Bett geschlafen (meine tapfere Frau Leila, die ihre Katzenhaarallergie durch extreme Exposition überwand, soll hier nicht unerwähnt bleiben). In kalten Nächten schlüpfte er unter die Decke, streckte seinen kleinen Körper neben meinem aus und schnurrte laut, bis er einschlief. Ich meine entdeckt zu haben, dass Katzen nur schnurren, wenn ein anderes Lebewesen in der Nähe ist, aber ich kann mich auch täuschen: Viele Leserinnen und Leser haben mir geschrieben, dass sie von Katzen wissen, die schnurren, obwohl sie allein sind. Die große Schriftstellerin Doris Lessing, die sicher viel mehr Ahnung von Katzen hat als ich, war eine von ihnen. Dennoch hat sie liebenswürdigerweise für den Guardian eine Rezension über mein Buch geschrieben, in der sie diesen und weitere mögliche Fehler unerwähnt ließ, aus Respekt vor meiner Leidenschaft für Katzen. Aber ich schweife ab. Der Grund, weshalb es kompliziert war, neben Megala zu schlafen, war, dass ich manchmal irgendetwas tat, das ihn verärgerte (ich habe keine Ahnung, was –, vielleicht habe ich mich falsch bewegt), woraufhin er mich mit einem raschen Biss ins Bein bestrafte. Das tat weh. Auch meine Gefühle waren verletzt, also verbannte ich ihn aus dem Bett. Beleidigt ging er davon. Eine Stunde später kam er jedoch zurück, und wie sollte ich konsequent sein, wusste ich doch, wie angenehm es war, ihn im Bett liegen zu haben. Das passierte mindestens zwei- oder dreimal pro Nacht, und Leila wunderte sich, dass ich ihm überhaupt noch erlaubte, bei uns zu schlafen. Doch wie sollte ich diesem weichen Fell widerstehen (Megala war eine Bengalkatze und sah aus und verhielt sich wie ein kleiner Leopard), dem ausgestreckten Körper und dem Schnurren reinen Vergnügens?
Kann man eine Katze lieben, ohne dass es einen verändert? Ich glaube nicht. Ich bin auch ein großer Hundeliebhaber und habe viel über sie geschrieben (unter anderem Hunde lügen nicht – ein weiterer kitschiger, aber wahrer Titel), doch zwischen den beiden Arten gibt es einen entscheidenden Unterschied: Hunde müssen uns nicht in ihre Welt lassen. Sie leben bereits in derselben Welt wie wir. Nicht so Katzen. Ich behaupte, dass Katzen eigentlich nie vollständig domestiziert wurden. Sie haben sich bloß, aus Gründen, die nur sie kennen, dazu herabgelassen, bei uns einzuziehen. Aber wenn sie uns erlauben, ihr Reich zu betreten, befinden wir uns plötzlich an einem völlig anderen Ort. Wir betrachten Katzen als geheimnisvoll, weil sie es sind! Lassen sie einmal zu, dass man einen Blick in ihre geheimnisvolle Welt wirft, verändert einen das für immer. Vielleicht kann man nicht in jedem Fall den Finger darauf legen, inwiefern das so ist. Vielleicht merkt man es selbst nicht, aber es passiert. Michael hat dies mit voller Wucht zu spüren bekommen, als er die Person (ja, eine Katze ist eine Person – ein Lebewesen mit einer eigenen Persönlichkeit, ein Subjekt mit einem eigenen Leben, wie der große Tierphilosophie-Autor Tom Regan es uns in seinen zahlreichen bahnbrechenden Büchern deutlich gemacht hat), die er so innig und bedingungslos geliebt hat, wie sonst vielleicht keine, aufgab und in der Folge sein eigenes Leben einen tieferen Sinn bekam. Wie Coleridges alter Seemann lernte Michael, sich um die Hilflosen, Verletzlichen, Benachteiligten zu sorgen, als er selbst am Ende war, und ihnen zu helfen, genau wie diese kleine, verlorene Katze namens Tabor ihm geholfen hatte. Indem er Tabors Welt betrat, war er in der Lage zu sehen, was er zuvor nicht wahrgenommen hatte.
An Strays – oder vielmehr an den tatsächlich erlebten Abenteuern von Michael und Tabor auf der Straße – gefiel mir besonders zu sehen, wie abenteuerlustig Katzen und Menschen gleichermaßen sind, und wie sie angesichts von Gefahren, denen die meisten von uns sich nie stellen müssen, lebendig werden. Als die beiden Tausende von Meilen trampten, fragte ich mich mehrmals, wie sie so vertrauensvoll gegenüber denjenigen sein konnten, die anboten, sie mitzunehmen – selbst bei dem tätowierten, waffentragenden Kerl in einem tief republikanischen Staat, nachdem sie eine Woche in der erdrückenden sommerlichen Hitze an einem Ort festgesteckt hatten. Noch verblüffender waren die unerwarteten freundlichen Gesten, die sie scheinbar an jeder Ecke erwarteten, und die ihnen halfen, Schneestürme, fanatische Evangelikale, hungrige Bären und Kojoten und eine Rinderstampede zu überleben.
Vielleicht war diese tapfere, liebenswerte Katze mit dem Herzen eines Herumtreibers genau das, was Michael brauchte – während sie seine Fürsorge und seinen Schutz benötigte. Noch bevor ihre Reise zu Ende ist, hat Michael sich verändert. Wie sonst hätte er genau das Richtige tun und sie ihrem ersten Halter Ron Buss zurückgeben können? Zu lesen, wie dieser unter dem Verschwinden der Katze litt und wie ihr Bruder Creto jeden Abend auf der Veranda auf sie wartete, machte diese wahre Geschichte noch faszinierender. Apropos faszinierend: Dieser Bericht ist so detailreich geschildert, dass man das Gefühl hat, bei jedem Ereignis dabei zu sein. Alles wird genauestens registriert: das Gras, die Bäume, der Geruch des Meeres, das Licht, die sich verändernden Stimmungen und Gefühle von Michael und Tabor im Laufe ihrer Reise. Zugleich tritt die Autorin Britt Collins vollkommen in den Hintergrund. Eine beachtliche Leistung.
Tabor zurück in ihr ursprüngliches Zuhause zu bringen war wahrscheinlich das Härteste, was Michael je getan hat. Loszulassen, was man liebt, war vielleicht die einschneidendste Lektion, die er von der Katze gelernt hatte, und nun setzte er sie in die Tat um. Zwar verschwinden seine Nöte und Sorgen nicht auf wundersame Weise, als er die Katze adoptiert, dennoch bin ich mir sicher, dass Tabor seine Rettung war. Er befand sich auf einem zerstörerischen Weg, trank sich selbst zu Tode, bis sie ihm die nötige Ruhe und Entschlossenheit vermittelte, um seinen Alltag zu bewältigen.
Ich bin zutiefst beeindruckt, wie viel Arbeit, wie viel Leidenschaft und Wahrheitsliebe Britt investiert hat, um diese warmherzige, kluge und spannende Geschichte in all ihrer Vielfalt und Komplexität einzufangen und uns so einen Einblick in die Verletzlichkeit und die Mühen des Lebens auf der Straße sowohl für den Menschen als auch für die Katze zu geben. Zum Glück für Tabor und andere Katzen. Denn auf jeder Buchseite wird deutlich, dass Britt Katzen versteht und auf die beste Art und Weise liebt, die man sich denken kann: Sie erlaubt ihnen, Katzen zu sein. Fast jeder, der mit Katzen zusammenlebt, liebt diese Tiere. Wie kann es einen unberührt lassen, dass diese wilden Kreaturen willens sind, mit uns zusammenzuleben, und sei es noch so kurz (oft zu kurz)? Aber erst jetzt, so scheint es, sind wir bereit, ihnen zu erlauben, die zu sein, als die sie geboren wurden.
Offenbar entwickelt die Welt gerade eine große Liebe zu Katzen: Wie sonst lässt sich die plötzliche Explosion von Interesse an allem, was mit ihnen zu tun hat, erklären? Bücher wie das vorliegende, Kinofilme, Fernsehsendungen, Internet-Memes, katzenbesessene soziale Medien, Superstars aus dem Katzenreich (Grumpy Cat, Bob und all die anderen) und die endlosen Videos von Katzen und Katzenkindern aller Größen, Fellfarben und Lebensbedingungen, die verrückte Dinge tun. Meine Frau Leila behauptet, wenn ich könnte, wäre ich zufrieden damit, den ganzen Tag davorzusitzen. (Es gibt schlimmere Arten, sich die Zeit zu vertreiben.) Das ist ganz bestimmt kein kurzlebiger Trend; vielmehr holt die Welt gerade auf zu dem, was für Katzen längst eine Realität ist: Sie akzeptieren uns. Sie mögen uns. Was für ein Glück! Und diejenigen von uns, die sie lieben, werden reich belohnt, denn mit keinem anderen Tier ist es einfacher und bezaubernder, die Unterschiede zwischen den Arten zu überwinden, als mit Katzen.
Jeffrey Moussaieff Masson
Berlin, Deutschland
28. Dezember 2016
Ich bin schon verirrt auf die Welt gekommen und finde kein Vergnügen daran, gefunden zu werden.
John Steinbeck
Es war nach Mitternacht, die Straßen waren leer, und Michael King war wieder einmal betrunken. Es goss in Strömen, ein ziemlich kalter Regen für Mitte September. Wasser lief Michaels lange graue Strähnen und seinen zotteligen Bart hinunter. Seine zerlumpten Kleider waren pitschnass. Der Gehweg war derart überflutet, dass er und sein Begleiter das Gefühl hatten, durch einen Sumpf zu waten. Aber das machte Michael nicht viel aus. Seit dem letzten Regen waren 51 Tage vergangen, eine extrem lange Trockenperiode, und der kühle Schauer war angenehm. Durch das Leben auf der Straße war er es gewohnt, sich schmuddelig zu fühlen.
Zehn Jahre zuvor hatte Michael als Koch in St. Louis gearbeitet, hatte gut verdient und in einem schönen Haus gewohnt. Dann verlor er jemanden, der ihm wichtig gewesen war, und verließ sein Zuhause. Nun, mit 47, sah Michael alt und abgekämpft aus. Ihm fehlte ein Vorderzahn, und er besaß eine Menge Narben. Seine eigentlich wachen blauen Augen wirkten müde durch die dunklen Augenränder, die Wangen waren nach dem jahrelangen Trinken und dem Schlafen in Pappkartonbauten am Straßenrand oder unter Überführungen eingefallen. Keine drei Dollar in Münzen klapperten in seinen Taschen.
Unter der Markise eines Ladens blieb Michael stehen, öffnete eine Dose Four Loko und kippte sie in eine halbleere Flasche billigen Starkbiers, das er bereits angebrochen hatte. Dazu goss er Apfelwein aus einer Flasche, die er zuvor aus dem Müll gefischt hatte, und nannte die Mischung Straßenschampus. Nach ein paar Schlucken fühlte er sich wie betäubt.
Michael reichte die Flasche seinem Freund Steven Stinson, einem schmächtigen, bärtigen 27-Jährigen, der ein zerschlissenes rotschwarzes Flanellhemd und eine schmutzige, löchrige schwarze Jeans trug, die mit einer Sicherheitsnadel an der Hüfte zusammengehalten wurde.
Stinson nahm einen tiefen Schluck von Michaels Gebräu.
»Gut, oder?«, sagte Michael.
Stinson schluckte widerwillig und schüttelte sich. »Ist da Benzin drin?«, fragte er und gab die Flasche zurück.
Michael trank den Rest, während sie den Hawthorne Boulevard entlanggingen. Nachts stieß man dort alle paar Meter auf Obdachlosenlager am Straßenrand.
Michael stolperte über den Rand einer durchnässten Matratze, die in einen Hauseingang gequetscht worden war.
»Mist«, murmelte er. Er schlief lieber im Gebüsch und an abgelegenen Orten, wo man mit weniger Menschen zu tun hatte, als mitten auf der Straße.
Michael und Stinson schlurften durch den strömenden Regen zu ihrem gewohnten Schlafplatz neben der UPS-Laderampe. Sie befand sich an einer einsamen Ecke an der Kreuzung Hawthorne Boulevard und South East 41st Avenue. Vor dem Tabor Hill Café, einem einfachen, altmodischen Diner, wurden sie langsamer. Es hatte schon geschlossen. In seinem benebelten Zustand spürte Michael plötzlich einen Stich vor Hunger. Die Bilder von Eiern, Waffeln, Burgern und Pommes in den Fenstern ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Etwas Weißes blitzte unter einem der Außentische des Cafés auf. Michael bückte sich und schaute sich suchend im Halbdunkel um. Vielleicht war da ja ein Pappkarton mit Essensresten, zum Beispiel Mais mit geschmolzener Butter und Kartoffelpüree mit Pilzsauce. Michael hatte ein Händchen dafür, die unwahrscheinlichsten Schätze zu finden: Münzen, kaputten Schmuck und halbe Sandwiches besaßen auf der Straße durchaus ihren Wert. Er war so gut darin, dass die anderen Obdachlosen ihn »Groundscore« nannten, Spürnase.
»Was ist da?«, fragte Stinson und kniete sich neben ihn.
Zwei leuchtende Augen starrten die Männer an. Eine nasse, zitternde Katze versteckte sich dort vor dem Regen. Michael war enttäuscht – etwas zu essen wäre ihm lieber gewesen –, aber irgendetwas an der Art und Weise, wie ihn die Katze ansah, zog ihn in ihren Bann. Das weiße Fell mit den getigerten Flecken war überzogen von Schmutz und Öl. Ein Auge war geschwollen, und im Gesicht hatte sie eine offene Wunde. Sie sah noch elender aus als er, und sie hatte Angst.
»Schnapp dir die Katze«, sagte er zu Stinson, der näher dran war. »Aber erschreck sie nicht.« Sogar um diese Zeit donnerten noch Autos über den Hawthorne Boulevard. Wenn die Katze vor ihnen flüchtete, würde sie wahrscheinlich überfahren werden.
Stinson griff nach der Katze, aber sie sprang rückwärts, während sie ihn fixierte. Als er es erneut probierte, machte sie einen Satz zur Seite, bereit, an ihnen vorbeizurennen.
Michael drehte sich um und sah ein einzelnes Auto die Straße herunterkommen. Die Scheinwerfer leuchteten durch den Regen. »Verdammt«, sagte er.
Stinson warf sich nach vorne und packte die Katze, bevor sie auf den Gehweg schießen konnte. Als er das kleine Tier an seine Brust drückte, atmete es schwer, versuchte aber nicht freizukommen. Er betrachtete die Katze, das dreckige Fell in ihrem Gesicht, und strich ihr sanft über den Kopf. Sie vergrub ihr Gesicht in seiner schmutzigen Hand.
Durch die beschlagenen Gläser seiner Drahtgestellbrille sah Stinson Michael an. »Wir sollten sie mit zu uns nehmen.«
»Zeig mal«, sagte Michael und ließ sich die Katze von Stinson geben. Sie war so dünn, dass sie quasi nichts zu wiegen schien. Michael lebte schon länger auf der Straße als Stinson und war der Meinung, wenn man nichts zu geben hatte, sollte man besser nicht versuchen zu helfen. Aber er liebte Katzen und wollte diese arme, zerzauste Kreatur aus dem Regen und von der stark befahrenen Straße wegholen.
»Vielleicht können wir sie für eine Nacht behalten«, sagte Stinson. Er war ein obdachloser junger Veteran, der aus einer kleinen Stadt im Mittleren Westen stammte, und besaß ein gutes Gespür für richtig und falsch, besonders, wenn es um wehrlose Tiere ging.
Mit großen, leuchtenden Augen sah die Katze Michael an. Sie zitterte erbärmlich in seinen Armen.
»Schhhhh, Kätzchen«, sagte er sanft und beruhigend. »Was ist denn mit dir passiert?«
Michael legte seine Jacke über sie, und er und Stinson brachten sie zu der Nische hinter dem UPS-Gebäude, die sie ihr Zuhause nannten. Es war ein guter Ort zum Schlafen, hier mussten sie sich keine Sorgen machen, ausgeraubt, angegriffen oder von der Polizei aufgescheucht zu werden. Tagsüber war auf der Laderampe viel los, ein ständiges An- und Abfahren von Lieferwagen. Bevor der Arbeitstag begann, mussten die beiden Männer aufstehen, ihre aufgerollten Schlafsäcke in einem nahen Gebüsch lagern und fernbleiben, bis der Betrieb geschlossen hatte. Doch nach Feierabend war es ein ruhiger, abgeschiedener Ort, beschattet von einem ausladenden roten Ahornbaum. Das Grundstück befand sich außerdem genau gegenüber vom New-Seasons-Supermarkt, wo Michael und seine Freunde manchmal bettelten.
»Da wären wir, Kätzchen«, sagte Michael und setzte sie auf das trockene Stück unter der Einfahrt, damit er seinen Rucksack und den Schlafsack aus dem Gebüsch holen konnte. Er rechnete damit, dass sie weglaufen würde, aber sie blieb in der Nähe und schnüffelte herum, während Michael sein Lager errichtete.
Auch Stinson holte sein Zeug aus dem Gebüsch und rollte seinen Schlafsack auf einem Stück Pappe aus, das er unter der schützenden Krone des Ahorns versteckt hatte. Er setzte sich im Schneidersitz hin und wühlte in seinen Sachen, nahm einen Kapuzenpullover heraus und zog ihn über. Seine blonden, langen Haare unter der dunkelblauen Seemannsmütze waren nass und rochen muffig.
Die Katze lief hinüber zu Stinsons Schlafsack. Sie wirkte, als lebte sie schon eine ganze Weile auf der Straße, genau wie die beiden Männer. Sie hatte kein Halsband und kratzte sich ab und zu am Bauch, offensichtlich hatte sie Flöhe. Stinson beugte sich zu ihr hinunter, um ihr über den Rücken zu streichen. Ihr Fell war feucht und verfilzt. Die offene, nässende Wunde in ihrem Gesicht ließ ihn schaudern. »Du hast eine harte Zeit hinter dir, stimmt’s?«, fragte er mitleidig.
Die Katze sah ihn mit ihrem guten Auge an, miaute und drückte wieder ihren Kopf in seine Hand. Dann kletterte sie auf seinen Schoß und schlief ein.
Stinson streichelte sie. »Sie ist spindeldürr«, sagte er mit einem Blick zu Michael.
Michael antwortete nicht. Einen Moment später stand er auf.
»Was hast du vor?«
»Ich hole im Supermarkt Katzenfutter.«
Stinson sah ihm hinterher. Schon lange hatte Michael seine letzten Dollar nicht mehr für etwas anderes als Alkohol ausgegeben.
Michael und Stinson waren sich im Frühling dieses Jahres das erste Mal über den Weg gelaufen, in einem Hauseingang in Santa Barbara, und hatten festgestellt, dass ihre Rastlosigkeit, ihr trockener Humor und ihre Tierliebe sie verbanden. Stinson hatte vier Jahre in der Marine gedient, bis er entlassen wurde, weil er Pot geraucht hatte. Bevor er nach Portland gezogen war, hatte er als Postbote in Japan gearbeitet. Er besaß immer noch seinen japanischen Führerschein.
Eine Viertelstunde später kam Michael mit einer Tüte Milch und einer Dose Katzenfutter zurück. Die Katze wachte auf, und als sie das Futter bemerkte, fiepte sie hungrig. Michael hob sie vorsichtig von Stinsons Schoß und setzte sie auf den Gehweg. Er öffnete die Dose, schüttete den Inhalt in eine leere Burger-Box und setzte ihr das Futter vor. Sie miaute schwach, knabberte zuerst nur an dem Futter und verschlang es dann in riesigen Brocken. Michael gab etwas Milch in einen Plastikdeckel, den er gefunden hatte, und auch die trank sie gierig aus.
Die beiden Männer saßen still da und beobachteten die Katze. Nach dem Fressen stupste sie jeden von ihnen einmal an und tretelte dann beiden ausgiebig die Brust, um zu zeigen, wie dankbar sie war. Dann kuschelte sie sich wieder in Stinsons Schoß und schnurrte laut. Nach einer Weile wechselte sie in Michaels Schoß, schnurrte noch ein wenig und schlief erneut ein.
»Diese Schnittwunde in ihrem Gesicht sieht ziemlich fies aus«, sagte Michael, während er ihre Kriegsverletzung näher betrachtete.
Ohne die Katze zu wecken, griff er in seinen Rucksack und holte einen Stapel Servietten von Taco Bell und ein kleines Erste-Hilfe-Set heraus. Einer seiner Freunde hatte es ihm gekauft, weil Michael sich ständig verletzte, wenn er betrunken herumstolperte. Sorgfältig säuberte er zuerst den roten Schnitt und reinigte dann mit ein wenig Jod ihre Ohren von Milben. Die Katze zuckte nicht einmal, wachte kaum auf. Sie schien zu wissen, was er tat.
Er kramte noch einmal in seinem Rucksack und holte Nachtkerzenöl hervor, das ihm ein anderer Freund gegen den Ausschlag an seinen Armen gegeben hatte. Er selbst verwendete es nicht, dachte aber, es könnte helfen, die Wunde der Katze zu heilen.
»Sie ist nicht sehr tief«, sagte er und tupfte ein wenig Öl auf die Wange des Tieres. »Wahrscheinlich wurde sie von einer anderen Katze angegriffen. Zumindest hoffe ich, dass es eine Katze war.«
Er reichte Stinson das Tier, rollte seinen schäbigen Schlafsack auf einer Pappe aus und kroch erschöpft hinein. Seit Jahren schlief er auf dem harten Boden. Der einzige Weg, es erträglich zu machen, war, sich volllaufen zu lassen. Aber er hatte den Straßenschampus ausgetrunken und sein Schlummertrunkgeld gerade für Katzenfutter ausgegeben.
Die Katze war aufgewacht, als die Männer sich zum Schlafen bereitmachten. Nachdem Michael sich hingelegt hatte, schlich sie zum Fußende seines Schlafsacks und schnupperte daran. Dann kam sie näher und setzte sich neben ihn, direkt vor sein Gesicht. Ihr Schwanz zuckte leicht.
»Was willst du? Futter ist alle.«
»Ich glaube, sie will in deinen Schlafsack«, sagte Stinson.
Sie muss echt verzweifelt sein, wenn sie zu mir ins Bett will, dachte Michael. Sein Interesse an ihr ließ nach, und er wollte nur noch schlafen. Er schloss die Augen, konnte aber nicht einschlafen. Als er die Augen wieder öffnete, saß die Katze immer noch da und starrte ihn an.
»Okay, Miezi«, sagte er und hob den Schlafsack an. »Du darfst heute Nacht bei mir schlafen.«
Sie kroch hinein, schmiegte sich an seine Brust und schnurrte sanft wie eine kleine, hypnotisierende Privatheizung.
Michael sah hinüber zu Stinson, der achselzuckend meinte: »Sie mag dich.«
Na ja, dachte Michael. Morgen früh ist sie sicher weg.
Doch am nächsten Morgen fuhr etwas Raues über seine Wange, und als Michael aufwachte, stand die Katze neben ihm und leckte ihm das Gesicht. Er war noch nicht ganz auf der Höhe, streckte nur einen Arm aus, holte sie in den Schlafsack und kraulte sie hinter den Ohren. Sie sah ihn an, das eine Auge nach wie vor geschwollen, und hatte offensichtlich wieder Hunger.
»Du solltest dir jemand anderes suchen, der sich um dich kümmert«, sagte er und stand auf. Er hatte nichts, was er ihr noch geben konnte. Er räumte seine Sachen zusammen, hob die Katze hoch und streichelte sie sanft. Dann setzte er sie am Gebüsch ab und ging los, um ein wenig zu betteln. Er rechnete nicht damit, sie wiederzusehen.
Aber als er am späten Nachmittag zurückkam, wartete die Katze auf ihn. Er hatte halb gehofft, dass sie da sein würde und deshalb vorsorglich einige Dosen Katzenfutter im Supermarkt gekauft, ebenso ein Mittel gegen Flöhe und eine Kompresse für ihr geschwollenes Auge.
Nachdem sie beide gegessen hatten, kuschelten sie sich zufrieden in den Schlafsack für eine weitere gemeinsame Nacht, in der sie die Nähe des anderen genossen.
»Maaa-ta«, rief Ron Buss. Er linste in die Dunkelheit unter der Veranda eines Nachbarn. Da versteckte sich seine Katze gerne und ärgerte die Mäuse, die dort nisteten. Er ging auf alle viere, damit er mit seiner Taschenlampe jeden Winkel ausleuchten konnte, aber er sah nur Spinnweben, trockenes Laub und ein paar Grillen.
Er richtete sich auf und schüttelte eine Tüte Leckerlis, um Mata aus ihrem Versteck zu locken. Normalerweise hörte sie das Rascheln noch einen Häuserblock weiter. Ron suchte sie bereits seit Stunden, fand aber nirgends eine Spur von ihr. Er befürchtete allmählich das Schlimmste.
Er rieb sich den glattrasierten Schädel und zupfte sein schwarzes Ministry-T-Shirt zurecht. Ron war ein kleiner, kräftiger Mann Anfang fünfzig, wirkte aber immer noch wie ein ernster Junge, was nicht zuletzt der Lücke zwischen seinen Vorderzähnen zu verdanken war. Als Kind hatte er davon geträumt, ein erfolgreicher Musiker zu werden und durch die ganze Welt zu reisen, und dieser kindliche Möglichkeitssinn war ihm nie abhandengekommen, auch nicht, nachdem er ins Familienunternehmen – eine Firma, die Lagerräume vermietet – eingestiegen war.
Nach 25 Jahren verkaufte er seinen Firmenanteil an seine Schwester und deren Mann und verwendete sein Vermögen, um eine Karriere als Sammler zu starten. Schließlich eröffnete er sogar einen Gitarrenladen, Boojumusic Guitar & Crazy Crap Inc., in einem ungenutzten Büro des Familienunternehmens. Er tapezierte die Wände des Büros mit zerfledderten Postern von Bowie und Bolan sowie Fanartikeln aus den 1970ern. Als großer Beatles-Fan hatte er sich auf Sammlerausgaben von Beatles-Platten spezialisiert, auf alte Mikros und Verstärker und seltene Fender Stratocaster aus den 1960ern, jedes Teil seine zehntausend Dollar wert. Er machte damit kein großes Geschäft, aber es entfachte seine alte Leidenschaft erneut. Mit befreundeten Musikern brachte er kleine Auflagen von Indie-R&B-Platten heraus und lebte so seinen Traum.
Mehr als den Rock ’n’ Roll liebte Ron nur seine beiden Katzen, Mata Hari und Creto. Er behandelte sie beinahe wie Kinder und bot ihnen bereichernde Erfahrungen. Er nahm sie überallhin mit: zum Strand (sie hatten zwar Angst vor den Wellen, aber Ron meinte, es stärke ihren Charakter, sich dem auszusetzen), er schmiss aufregende Geburtstagspartys für sie (»Katzen lieben spannende Events«) und komponierte auf seiner Akustikgitarre Lieder für sie (»im Herzen sind Katzen echte Rocker«). Außerdem kochte er für sie, kaufte dafür extra Biohuhn und Wildlachs aus dem Bioladen.
Sein Vater, ein pensionierter Anwalt, konnte Rons Schwärmerei nicht nachvollziehen. Im Gegenteil, er fand sie lächerlich und kommentierte sie mit den Worten: »Du kannst überall hin, du kannst tun, was du willst – stattdessen hängst du bei deinen Katzen herum.«
Ron hatte als Kind nie Haustiere gehabt, obwohl er seine Eltern ständig um einen Hund oder eine Katze angebettelt hatte. Einmal hatte er einen streunenden Hund gefunden, den seine Mutter in die Garage verbannte. Als Ron am nächsten Nachmittag von der Schule nach Hause kam, war der Hund verschwunden. Seine Mutter hatte ihn ins Tierheim gegeben. Es brach ihm das Herz. Erst nach seinem College-Abschluss bekam er seine erste eigene Katze, einen Charmeur mit schwarzem Fell. Von da an war er endgültig verzaubert, und seine Katzen bedeuteten ihm alles.
Ron war am Morgen in der Autowerkstatt gewesen, um seinen 1967er Chevelle abzuholen. Außerdem hatte er etwas für seinen Vater Donald erledigt, der eine knappe halbe Stunde von ihm entfernt in derselben Stadt wohnte. Obwohl sich Rons Eltern vor Jahrzehnten hatten scheiden lassen, hatten Ron und seine Schwester Teresa ihrer im Sterben liegenden Mutter erst vor kurzem versprechen müssen, dass sie sich um ihren Vater kümmern würden. Nach der Scheidung hatte Donald seine ehemalige Sekretärin Judy geheiratet, die ungefähr 15 Jahre jünger war als er. Lange hatte Ron sie als Zerstörerin ihres Familienglücks betrachtet und sie dafür gehasst, dass seine Mutter wegen ihr so litt. Seine Mutter selbst hegte jedoch keinen Groll mehr, als sie starb. Und schließlich gelang es auch Ron, seinen abzulegen.
Ron hatte sich beeilt, nach Hause zu kommen. Ein langes Wochenende lag vor ihm. Es war ein sonniger, milder Nachmittag im Frühherbst, der Samstag vor dem Labor Day. Er hatte geplant, sich mit Freunden beim jährlichen Last Chance Summer Dance am Columbia River zu treffen – mit seinen Katzen. Die meisten Sommertouristen waren schon weg, und Portland wirkte ein wenig wie eine Geisterstadt. Die einzigen Geräusche in seiner Nachbarschaft waren das Krächzen der Krähen, das Rascheln herunterfallender Kiefernzapfen und das ferne Pfeifen der Züge.
Aber als Ron an seinem weißgoldenen Craftsman-Bungalow an der Ecke South East und 37th Avenue ankam, im grünen Richmond District in der Nähe des Berkeley Parks gelegen, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Der Picknicktisch im Vorgarten, auf dem Mata normalerweise auf ihn wartete, war leer.
Ron dachte, dass sie vielleicht von einem Hund verjagt worden war oder sich wegen der Hitze in einer Hütte oder einem Gebüsch verkrochen hatte, und machte sich in den Vorgärten der Nachbarn auf die Suche nach ihr. Ihr Bruder Creto, ein schwarzweißer Kater, folgte ihm. Er schnupperte überall und rief klagend nach seiner Schwester.
Als sie Ron hörte, kam Ann, seine direkte Nachbarin, heraus und sagte, Mata sei ihr am Morgen um die Beine gestrichen, während sie die Rosen schnitt, aber seitdem habe sie die Katze nicht mehr gesehen. Ann besaß einen großen schwarzen, gelbäugigen Piratenkater namens Gordon. Ron hatte ihn gerettet. Er hatte ein Talent dafür, Katzen zu finden und zu retten.
»Maaa-ta«, rief Ron wieder und durchsuchte vorsichtig die stachelige Ilexhecke, die Anns Vorgarten umgab. Manchmal schlief seine Katze darin.
»Komm schon, Mata«, sagte Ron. »Tu mir das nicht an.«
Mata war schon immer eine kleine Streunerin gewesen, durchstreifte gerne die friedliche Wohngegend mit ihren ordentlich gestutzten Rosen und schattigen Ahornbäumen. Aber sie lief nie allzu weit weg und kam immer zurück, wenn Ron sie rief. Sie und Creto hielten sich stets in Rufweite auf, und wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit nicht zu Hause waren, verdonnerte er sie zu ein, zwei Tagen Hausarrest. Deshalb hörten sie eigentlich auf ihn.
Mata und Creto gehörten zu einem Wurf von fünf Kätzchen, die unter der Veranda seiner Nachbarin Stephanie ausgesetzt worden waren. Als Ron bei ihr in der Küche die fünf zitternden Katzenbabys in der Kiste gesehen hatte, diese winzigen, miauenden Bündel, die nur aus flaumigem Fell und Knochen zu bestehen schienen und ganz verklebte Augen hatten, musste er ihnen einfach helfen. Stephanie war gerade dabei, zusammenzupacken und auszuziehen, und Rons letzte zwei Katzen waren kurz vorher gestorben, also übernahm er die Pflege der Kleinen. Er fütterte die unterernährten, zwei Wochen alten Waisen mehrmals täglich mit einer Pipette und rettete ihnen so das Leben. Zwei Monate später konnte er zwei von ihnen woanders unterbringen, eine nahm Stephanie und die übrigen zwei blieben bei ihm. Er nannte sie nach Figuren aus seiner Lieblingskinderserie aus den 1970ern – Lancelot Link, Secret Chimp – mit bekleideten Schimpansen, die ein Detektivbüro führten. Mata Hari war darin die glamouröse Partnerin von Lancelot, dem Star, und Creto, ihr schnurrbärtiger Chauffeur, war ein Doppelagent und echter Halunke.
Nun fischte Ron sein Handy aus der Hosentasche und rief besorgt seinen besten Freund Xavier an. Xavier war dreißig und Fotograf und Yogalehrer aus Rhode Island. Er und Ron hatten sich bei einem Picknick am Rooster Rock Beach in der Columbia River Gorge kennengelernt, auf Anhieb verstanden und waren enge Freunde geworden.
»Ich glaube, Mata ist wieder verschwunden«, sagte Ron mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen. »Ich mache mir Sorgen, dass der Verrückte von gegenüber ihr etwas angetan hat.«
Xavier bemühte sich, Ron zu beruhigen, aber Ron hatte gute Gründe für seine Angst um Mata. Ron hatte über zwanzig Jahre in der Gegend gelebt und sich immer wohl gefühlt, selbst als sie noch rauer war und das hippe, schicke Portland in weiter Ferne lag. Damals hatte hier ein mexikanischer Bandenchef das Sagen gehabt, und es hatte eine offene Anstalt für psychisch Kranke gegeben, aber diese Zeiten waren lange vorbei. Ron kannte die meisten Nachbarn und hatte mit niemandem Probleme gehabt, bis ein Kerl namens Jack vor ein paar Jahren in die Straße zog und sich rasch einen Namen als zwielichtiger, äußerst reizbarer Typ machte.
Jack war ein riesiger, muskulöser ehemaliger Wrestler in seinen Mittzwanzigern. Er war ein arbeitsloser Tischler und Bauarbeiter, der sich von seiner Freundin aushalten ließ. Er fand ein perverses Vergnügen daran, Ron zu quälen, den er hasste, weil er schwul, dick und ein Katzenliebhaber war – und aus seiner Sicht für alles stand, was mit Amerika nicht in Ordnung war. Groß und tätowiert, mit faschistischem Haarschnitt und langem Hipster-Bart und Piercings im Gesicht, richtete er sich drohend vor Ron auf und machte ihm klar, dass er Tiere nicht leiden konnte. Ron war nicht davon ausgegangen, dass er tatsächlich versuchen würde, den Katzen etwas anzutun, aber immer, wenn Jack an Rons Haus vorbeilief, fauchte Mata, und Creto lief weg, um sich zu verstecken. Und als Freunde Ron mit ihren Hunden besuchten, knurrten diese beim Anblick von Jack.
Fast ein Jahr zuvor, am 21. Dezember 2011, war Mata an einem der kältesten, verschneitesten Tage des Jahres schon einmal verschwunden. Ron verdächtigte Jack, etwas damit zu tun zu haben. An jenem Morgen hatte er die Katzen im Haus eingesperrt, bevor er zur Arbeit ging. Bei seiner Rückkehr am frühen Abend stand die Hintertür offen, und als er vorsichtig hineinging, sah er, dass auch die Schlafzimmertür, die ebenfalls verschlossen gewesen war, offen stand. Im Schlafzimmer herrschte Chaos, all seine Sachen lagen durcheinander, und auf dem Nachttisch stand eine Wasserflasche, die nicht von ihm war. Besonders beunruhigend fand er, dass eine Decke in den Spalt unter seinem Kleiderschrank gestopft worden war – so, als habe jemand ein kleines Tier fangen wollen. Creto versteckte sich völlig verstört im Schrank. Mata war weg.
Ganz offensichtlich war jemand in das Haus eingebrochen und hatte die Katze mitgenommen. Sonst fehlte nichts. Aber Ron rief nicht die Polizei, denn er war sich sicher, dass ihm niemand glauben würde, dass jemand bei ihm einbrach, nur um eine Katze zu entführen oder aus dem Haus zu lassen.
Drei Tage lang suchte Ron verzweifelt die Gegend ab. Am dritten Tag fuhr Jack sein Auto auf die Straße und stieg aus. Als er sah, wie Ron nach seiner Katze suchte und rief, sagte er ihm, Mata befände sich ziemlich sicher in einem Wald im nahen Bundesstaat Washington – falls sie noch lebte. Jack behauptete, die Katze habe sich in seinem Kofferraum verkrochen, bevor er zu seiner Freundin Suzy nach Vancouver gefahren sei. Er bestand darauf, es sei ein Versehen gewesen. Er habe nicht gewusst, dass sie dort drin war, bis er den Kofferraum öffnete, um seine Sachen herauszuholen und Mata herausgeschossen kam und in die Wälder hinter Suzys Haus flüchtete.
Sofort rief Ron bei Suzy an. Er kannte sie von ihren Besuchen bei Jack und mochte sie. Sie entschuldigte sich immer für die Launen ihres Freundes und dessen gemeine Kommentare. Suzy vermutete sofort, dass Jack etwas mit dem Verschwinden von Mata zu tun hatte: Er hatte sich merkwürdig benommen, so, als würde er etwas verbergen. Gleich nach dem Telefonat fuhr Ron die Dreiviertelstunde nach Vancouver und lief mit Suzy und einem ihrer Nachbarn, ein ehemaliger Polizist, der inzwischen als Detektiv arbeitete, bis es dunkel wurde durch die Wälder, auf der Suche nach Mata.
Als die drei sich auf den Rückweg zu Suzys Haus machten, sagte der ehemalige Polizist, Jacks Geschichte klänge extrem unglaubwürdig: »Meiner Erfahrung nach passieren solche Dinge nicht einfach«, erklärte er. »Das ergibt keinen Sinn. Katzen springen nicht in den Kofferraum eines Autos mit laufendem Motor, erst recht nicht von Leuten, auf die sie sonst so ablehnend reagieren.«
Noch Wochen danach kehrte Ron immer wieder in jene verschneiten Wälder zurück, suchte Mata und stellte ihr Futter hin. Als ein paar Monate ohne ein Lebenszeichen von ihr vergingen, war Ron schließlich überzeugt, dass Jack sie getötet hatte.
Ein halbes Jahr später jedoch, am 21. Juni 2012, erhielt Ron einen Anruf von der Firma, von der Matas Mikrochip stammte: Jemand hatte Mata gefunden und dem Tierheim Human Society for Southwest Washington in Vancouver übergeben, das er selbst schon mehrmals in den ersten nervenaufreibenden, verzweifelten Wochen besucht hatte. Sofort fuhr Ron dorthin, um sie abzuholen und nach Hause zu bringen. Eine Weile wirkte sie fast wie eine Wildkatze, scheu und verschreckt, aber mit der Zeit gewöhnte sie sich wieder an ihr häusliches Leben mit Ron und Creto.
Nun war sie wieder verschwunden.
Ron suchte die ganze Nacht nach ihr. Am nächsten Tag sah er Jacks Auto in der Einfahrt und ging über die Straße, um bei ihm zu klopfen. Seit Matas Rückkehr herrschte eine angespannte Waffenruhe zwischen ihnen. Ron hatte sich für die Anschuldigung, Jack habe Mata entführt, entschuldigt und ihm eine Kiste Bier vorbeigebracht. Aber Ron hatte immer noch Angst vor ihm. Er hatte das Gefühl, auch nur nach seiner Katze zu fragen, könnte einen erneuten Krieg auslösen, deshalb wollte er diesmal bloß seine Reaktion abschätzen. Als Jack an die Tür kam, sagte Ron daher nur, Mata sei davongelaufen und bat ihn, nach ihr Ausschau zu halten.
Schon Rons neutrale Bitte verärgerte Jack. Wütend erwiderte er, er sei kein Katzenfänger, und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Mit seiner Feindseligkeit erregte er allerdings erst recht Rons Argwohn.
Wochenlang lief Ron durch die Straßen und suchte Mata. Er rief ihren Namen, bis er heiser wurde. Am Abend setzte er sich mit offenen Futterdosen in den nahe gelegenen Park. Immer wenn er auf einer Veranda eine ähnlich aussehende oder getigerte Katze sah, ging er hin, um nachzuschauen, ob es Mata war. Dann klopfte er an die Tür und zeigte allen, die ihm öffneten, Matas Foto und fragte, ob man sie gesehen habe. Bei jedem Miauen, das er von draußen hörte, schreckte er hoch, genau wie bei den Schreien kämpfender Katzen. Manchmal wachte er mitten in der Nacht von der Befürchtung auf, Mata könne irgendwo in einem Keller oder einem Schuppen gefangen sein. Dann stand er auf und ging von einem Garten zum nächsten, betrat sogar die Veranden seiner Nachbarn und schaute in die Fenster, ob Mata dort drinnen war.
Jeden Abend stellte Ron Trockenfutter und Wasser für Mata vor die Hintertür, er kontaktierte alle Tierärzte und Tierheime in der Umgebung, druckte Poster und hängte sie überall im Viertel auf. Unter ein Foto von Mata hatte er geschrieben: »VERMISST, VERMISST $$$ BELOHNUNG $$$ Haben Sie mich gesehen? Mata ist sehr lieb und sensibel und nähert sich Menschen nur, wenn sie spürt, dass ihr keine Gefahr droht. Sie hat einen Chip, kann also von jedem Tierarzt oder Tierheim erkannt werden. Ich vermisse sie schrecklich.« Darunter setzte er den Link zu seinem Facebook-Profil und seine Telefonnummer. Er hatte von verschwundenen Haustieren gehört, die mit Hilfe sozialer Medien wiedergefunden wurden.
Als Ron seine Zettel aufhängte, fielen ihm andere ins Auge, zum Beispiel einer, mit dem eine vermisste Jugendliche gesucht wurde, eine blonde 14-Jährige. Zu diesem Sammelsurium mysteriöser Geschichten gehörte auch die eines weiteren entlaufenen Tieres, eines intelligent wirkenden braunen Alpakas mit großen schwarzen Augen und einem verrückten, buschigen Fell, das aussah wie ein Afro. Neben dem Versprechen auf eine Belohnung von tausend Dollar las Ron eine Warnung: Überprüfen Sie Ihre Gärten und Gartenhäuschen. Wenn Sie ihn sehen, erschrecken Sie ihn nicht, denn dann spuckt er. Locken Sie ihn mit Gänseblümchen und Weizengras.
So was gibt es nur in Portland