Virginie Grimaldi
Der Duft des Glücks ist stärker, wenn es regnet
Roman
Aus dem Französischen von
Maria Hoffmann-Dartevelle
FISCHER E-Books
Virginie Grimaldi ist Autorin und sehr erfolgreiche Bloggerin (›Femme Sweet Femme‹). Sie schreibt in ihren Romanen über Liebe und Familie, über Sonnen- und Regentage, über großes und kleines Glück. Stets tut sie dies mit einem Augenzwinkern. ›Der Duft des Glücks ist stärker, wenn es regnet‹ ist ihr bislang erfolgreichster Roman, mit dem sie sofort auf die französische Bestsellerliste kam. Die Autorin ist an der französischen Atlantikküste aufgewachsen, lebt aber mit ihrem kleinen Sohn in Paris.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Was ist nur mit Paulines perfekter Welt los? Warum ist ihr wunderbarer Mann Ben plötzlich weg? Und warum wohnt sie wieder bei ihren nervigen Eltern – zusammen mit ihrem kleinen Sohn Jules?
Sie reist in das Strandhaus der Familie mit den blauen Fensterläden. Hier, an der wilden französischen Altantikküste, umringt von ihrer großen, lauten, fröhlichen und manchmal auch peinlichen Familie, versucht sie zu begreifen, was in ihrem Leben falsch lief.
In Briefen an ihren Mann erzählt sie die Geschichte ihrer gemeinsamen großen Liebe. Doch ist es möglich, dass sie ihm – und sich selbst – etwas Wesentliches verschweigt?
Ein warmherziger Roman, der mitten ins Herz trifft. Ein Buch über die Liebe, über Familie und darüber, dass immer und überall ein neuer Anfang möglich ist.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel ›Le parfum du bonheur est plus fort sous la pluie‹ im Verlag Fayard, Paris.
Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490802-1
»Du weißt nie, wie stark du bist, bis zu dem Tag,
an dem stark sein die einzige Wahl ist, die dir bleibt.«
Bob Marley
Für meinen Mann.
Für meine Söhne.
20 Uhr 40
Er kommt zu spät, wie immer. Er kam zu spät zu unserer ersten Verabredung, zu spät zu unserer Hochzeit, und er wäre imstande, zu spät zu seiner eigenen Beerdigung zu kommen.
»Möchten Sie etwas trinken, während Sie warten, Madame?«
Schon zum dritten Mal reißt mich der Kellner aus meinen ungeduldigen Grübeleien. Ohne Ben etwas zu bestellen ist mir peinlich, aber noch peinlicher ist es, ein Gast zu sein, der einen Tisch blockiert, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Ich bestelle einen Orangensaft.
»Wenn mein Mann da ist, nehmen wir eine Flasche Dom Pérignon.«
Der Kellner nickt und entfernt sich in Richtung Theke. Ich schwanke zwischen Stolz und Scham, weil ich die Champagner-Karte gezogen habe, um mir seine Geduld zu erkaufen.
21 Uhr
Ich mag gar keinen Champagner. Ich mag überhaupt keinen Alkohol, nichts, was mich dazu bringen könnte, die Kontrolle zu verlieren. Aber heute Abend mache ich eine Ausnahme. Man feiert ja nicht alle Tage seinen zehnten Hochzeitstag!
Zum zweiundsiebzigsten Mal schaue ich auf das Display meines Handys. Der Empfang ist okay. Keine Nachricht. Er müsste gleich hier sein. Eine Stunde Verspätung, für ihn ist das eher ein schlechter Mittelwert.
Letztes Jahr ist er statt um halb acht um neun erschienen. Selbst wenn man sich früher als geplant mit ihm verabredet, schafft er es jedes Mal, seinem Ruf gerecht zu werden.
Bei mir ist es genau umgekehrt, ich bin oft die Erste. Ich kalkuliere immer ein, dass vielleicht etwas dazwischenkommt, so kann mich nichts unvorbereitet erwischen. Der Gedanke, dass man auf mich warten muss, treibt mich fast in eine Panikattacke.
Wir halten uns die Waage: Ich komme zu früh, er zu spät, wenn wir das zusammenrechnen, sind wir pünktlich.
21 Uhr 15
Hier gehen wir jedes Jahr essen.
Für die meisten Gäste ist es einfach nur ein gutes Restaurant mit Panoramablick auf die Bucht von Arcachon. Für Ben und mich ist es »unser« Restaurant.
Vor elf Jahren hat er mir hier beinahe einen Heiratsantrag gemacht, nachdem er sein Sparkonto geleert hatte, um mir eine Meeresfrüchteplatte zu spendieren und einen Verlobungsring aus Golddoublé und Zirkonium zu schenken. Nach vier Jahren des Zusammenlebens stand für uns beide fest, dass wir uns unsere Falten und Erinnerungen gemeinsam zulegen wollten.
Der Kellner sieht mich komisch an. Ich bin drauf und dran, ihn zu fragen, ob ich irgendwas im Haar habe, als mir klar wird, was ihn beunruhigt: Vermutlich liegt seit fast einer Stunde ein einfältiges Lächeln auf meinem Gesicht. Ich warte auf jemanden, der nicht erscheint, und strahle vor mich hin. Der Typ muss mich für eine Heilige halten.
21 Uhr 30
Ich hoffe, Ben hat heute bessere Laune als sonst in letzter Zeit. Wir müssen wieder zueinanderfinden, nur wir zwei, jenseits der Alltagsturbulenzen.
Seit Wochen zähle ich die Tage. Der Abend unseres Hochzeitstages ist immer eindeutig der beste des Jahres. Da halten wir die ganze Zeit Händchen (weshalb das Verspeisen des Flusskrebses abenteuerliche Züge annimmt), kramen alte Erinnerungen heraus, über die wir jedes Mal ein bisschen mehr lachen, erklären uns gegenseitig unsere Liebe, tauschen Blicke, die uns dahinschmelzen lassen, entwerfen unsere Zukunft bis ins kleinste Detail und starten aufs Neue mit randvollem Liebestank.
Für unser Zehnjähriges habe ich mir als Zugabe eine Überraschung überlegt. Zimmer 211 im ersten Stock. Unter meinem Kleid trage ich meine rote Spitzenkombination, seine liebste. Das wird ihn umhauen.
22 Uhr
Mein Glas ist leer. Schon das zweite. Ich habe Ben angerufen, er ist nicht drangegangen. Ich habe ihm zwei SMS geschickt, um ihn zu fragen, wo er bleibt. Ob er den Abend vergessen hat. Er hat nicht geantwortet.
Ich versuche, meine Sorgen zu verdrängen. Er war schon immer unvorsichtig am Steuer, bestimmt ein Nebeneffekt seines Hangs zur Verspätung. Und ich war immer ängstlich. Auch in dieser Hinsicht halten wir uns die Waage.
Der Kellner beobachtet mich fragend.
»Keine Sorge, er kommt schon noch«, sage ich zum wiederholten Mal.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wirklich er derjenige ist, den ich zu beruhigen versuche.
22 Uhr 30
Das Restaurant schließt bald, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Es kann einfach nicht sein, dass er nicht kommt. Ich weiß ja, dass er zurzeit lauter andere Dinge im Kopf hat, aber nichts könnte ein Fernbleiben am heutigen Abend entschuldigen. Ich hoffe, er hat eine gute Ausrede und präsentiert sie mir am Krankenhausbett.
Kein Zweifel, er ist unterwegs und wird jeden Moment durch die Tür kommen. Das würde er mir nicht antun. Das würde er uns nicht antun. Mich an unserem Hochzeitstag versetzen, das wäre eine zu eindeutige Botschaft. Er hat noch dreißig Minuten.
Zwanzig.
Fünfzehn.
Zehn.
Acht Minuten.
22 Uhr 52
Die Tür geht auf, der Kellner lächelt mir zu. Ich wusste es.
Diese graue Hose. Dieses weiße Hemd. Diese schwarzen Schuhe. Die Silhouette, die da auf mich zukommt, erkenne ich sofort. Das ist nicht Ben.
»Ich war mir sicher, dass ich dich hier finden würde. Komm, wir gehen nach Hause.«
Ich schüttele den Kopf. Es bleiben noch acht Minuten, er kann noch auftauchen.
»Los, komm, Pauline, Maman macht sich Sorgen.«
»Warte, Papa, er ist gleich da. Ganz bestimmt.«
Mein Vater greift nach einem Stuhl und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Er legt mir eine Hand auf die Schulter und umklammert sie, als wolle er mich in die Wirklichkeit zurückholen.
»Du weißt, dass er nicht kommen wird, mein Schatz. Du tust dir nur selbst weh, wenn du weiter hoffst … Er hat dich vor drei Monaten verlassen. Komm, wir gehen nach Hause.«
Einen Monat später.
Am härtesten ist es beim Aufwachen. Diese ersten Sekunden, in denen mein Verstand den Blick auf mein Leben noch nicht scharfgestellt hat. Und im nächsten Moment pralle ich gegen die Wirklichkeit.
Besonders schlimm finde ich es, wenn der Morgen auf eine Nacht voller Träume folgt, in denen er noch da ist. Ich schlage die Augen auf, und statt der weißen Vorhänge, der Fotos von Korsika und seines nur wenige Zentimeter neben mir liegenden Oberkörpers habe ich eine rosa Wand und ein Filmplakat von Titanic vor mir und liege allein in einem Einzelbett. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, der Verlust meines Mannes und das Auseinanderbrechen unserer Familie oder mit fünfunddreißig wieder in meinem Jugendzimmer zu wohnen.
Es heißt, Kummer wird mit der Zeit erträglicher. Bei mir ist es umgekehrt. Es hat eine Weile gedauert, bis es mir schlecht zu gehen begann. Anfangs war ich fest davon überzeugt, dass Ben zurückkommt. Bestimmt war alles ein schrecklicher Irrtum, er meinte nicht wirklich, was er sagte, irgendwann würde ihm das bewusst werden, und wir würden beide darüber lachen. Er mehr als ich.
Dann kam die Wut. Aha, du willst Spielchen mit mir spielen? Du glaubst, ich brauche dich? Von wegen, mein Lieber, sieh mal, wie gut es mir geht, sieh mal, wie ich weiterlebe, als hätte sich nichts geändert. Ich war so überzeugend, dass ich mir beinahe selbst geglaubt hätte. Es war verblüffend einfach, ohne ihn zu leben. Leute, die endlos unter Liebeskummer litten, waren reichlich nervig. Mein Glück würde ich mir nicht von einem Mann zerstören lassen.
Dann begann die Stabilität, Stückchen für Stückchen zu zerbröckeln. Mal wollte ich einfach nur im Bett bleiben, mal packten mich plötzlich Wut, grundlose Tränenausbrüche, Panikattacken … Nach und nach breitete sich dann die Leere in meinem Körper aus. Die Freude ist weg, die Lebenslust verschwunden, die Hoffnung verpufft. Ich lebe, weil ich muss, ich existiere nur noch rein mechanisch. Innen drin, unter der Hülle, die den Schein wahrt, bin ich erloschen.
Die Leute beglückwünschen mich dazu, dass ich nicht den Boden unter den Füßen verloren habe, dass ich mich im Sturm über Wasser halte. Sie finden mich mutig. Ich bin genau das Gegenteil. Ich kämpfe nur, weil ich Angst habe. Weil ich eines weiß: Wenn ich damit aufhöre, geht es richtig bergab.
Nur ein Moment, ein einziger an diesen langen Tagen, schafft es, ein Glücksgefühl in mir auszulösen.
Punkt halb acht. Mein Vater schläft noch, meine Mutter steht unter der Dusche. Ganz leise öffne ich die Tür zu dem Zimmer, das früher meiner Schwester gehört hat. Der Raum liegt im Dunkeln, ich orientiere mich am leisen Schnarchen, das vom Bett kommt. Ich ertaste den kleinen, warmen Körper unter der Decke. Ich streichle seine Wangen, sein Haar, ich höre, wie sein Atem schneller geht, höre das verschlafene Knurren, und dann trifft mich sein kleines Stimmchen mitten ins Herz: »Morgen, Maman!«
Seine Arme umschlingen meinen Hals, seine Lippen schmatzen mir einen lauten, feuchten Kuss auf die Wange. Ich schiebe meine Nase in seinen Nacken, der noch nach Baby riecht, und atme tief ein. Mein Tank ist wieder gefüllt. Ich bin für den Tag gerüstet.
Meine Mutter trinkt gerade ihren Kaffee und blättert in einer Zeitschrift, als wir in der Küche zu ihr stoßen. Jules streichelt Mina, den Boxer meiner Eltern, und klettert zu seiner Großmutter auf den Schoß, Richtung Butterbrot.
»Hallo, mein Schatz, hast du gut geschlafen?«
»Guck mal, Oma, ich hab ein Peidermän-T-Shirt an!«
Ich nuschele einen Morgengruß, sie lächelt mich an.
»Willst du ein Brot?«
Jeden Morgen das gleiche Spiel. Sie weiß, dass ich keinen Hunger habe, dass ich mich zwinge, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen, um nicht krank zu werden, aber sie weiß auch, dass ich ihr Angebot nicht ablehnen kann, weil es so wahnsinnig ungewöhnlich für sie ist.
Meine Mutter und Frühstückmachen, das hat es, solange ich denken kann, nicht gegeben. Ich bin mir sicher, bevor Jules und ich hier eingezogen sind, wusste sie nicht mal, wo sich die Teller und die Messer befinden. Und jetzt erlebe ich seit vier Monaten, wie sie nur für mich und für Jules Sachen macht, zu denen ich sie nicht für fähig gehalten hätte. Sie hat die Betten bezogen, bevor wir ankamen, hat meine Sachen in die Schränke geräumt, zweimal sogar selbst Essen gemacht (Nudeln und Pizza), ein T-Shirt von Jules gebügelt, sie schmiert uns jeden Morgen Butterbrote und kocht Kaffee. Und einmal habe ich zu meiner großen Überraschung erlebt, wie sie im Garten auf uns wartete und dabei tat, als würde sie die Rosen schneiden – dabei wäre sie imstande, eine Pflanze mit bloßen Blicken eingehen zu lassen. Unser Verhältnis ist schwierig, aber nicht so schwierig, dass ich ihre Angebote verschmähe.
Ich nicke. Zufrieden beginnt sie, eine Scheibe Brot abzuschneiden, da gesellt sich mein Vater zu uns, in seinem braunen Morgenmantel, den er schon mindestens seit meiner Geburt besitzt.
»Lass, Liebling, ich mach das schon.«
Unter keinen Umständen ist er bereit, ihr seine Rolle abzutreten. Die gute Fee im Haus, das ist er. Essen machen, Fegen, Salatsoße zubereiten, Fensterläden streichen, Waschmaschine ausräumen, diese Dinge sind seine ganze Leidenschaft. Seitdem er Rentner ist, kann er sich ihnen voll und ganz widmen und ist nicht willens, sich von einer Anfängerin die Schau stehlen zu lassen. Immer, wenn jemand sich darüber wundert, erklärt meine Mutter, sie opfere sich, um ihrem Mann die Freude zu lassen, sich um das Haus zu kümmern, und er entgegnet, sie lasse ihm ja keine andere Wahl. Im Grunde aber füllen die Bedürfnisse des einen die Lücken des anderen aus und umgekehrt, wie bei zwei perfekt aufeinandersitzende Legosteine.
Ich hatte auch meinen passenden Legostein gefunden: Ben. Aber dann ist ein 38-Tonner drübergerollt und hat alles zunichtegemacht.
Es heißt, kommt Zeit, kommt Rat. Und dass Zeit den Schmerz heilt und in Erinnerung verwandelt. Damit die Zeit schneller vergeht, fülle ich sie mit Alltagstätigkeiten an, stopfe sie voll mit Routine.
Bis auf ein paar Kleinigkeiten gleicht ein Tag dem anderen: Jules, Arbeit, unruhiger Schlaf. Jules, Arbeit, unruhiger Schlaf. Jedes zweite Wochenende, wenn mein Sohn bei mir ist, unternehmen wir etwas. Wenn er bei Ben ist, mache ich Siesta.
In diesem Rhythmus sind bereits vier Monate vergangen. Ich bin guter Hoffnung, auf die Weise im Nu zehn Jahre rumzukriegen.
Wie jeden Morgen war ich zu früh im Büro. Als meine Kollegen eintrudelten, lag schon alles an seinem Platz, und ich fing gerade an, meine Mails zu lesen.
Ich bin Assistentin in einem Stellenvermittlungsbüro. Meine Aufgabe besteht darin, die Bewerber zu empfangen, sie in unsere Kartei aufzunehmen, Angebote zu schreiben, Stellen zu vermitteln und mich um den Verwaltungsteil zu kümmern, während sich das kaufmännische Team der Erweiterung des Kundenstamms widmet.
Wer sich bei uns registrieren lässt, hat auf dem Weg hierher häufig schon sämtliche Hoffnungen begraben. Nach der staatlichen Arbeitsagentur Pôle Emploi, den Jobcentern Le bon coin und Keljob, dem Personalberatungsbüro und den Annoncen am Schwarzen Brett im Supermarkt sind Stellenvermittlungsbüros, die hauptsächlich eher weniger beliebte Jobs anbieten, die letzte Chance. Die Bewerber beantworten meine Fragen mechanisch und nicken kaum merklich, wenn ich ihnen sage, ich würde sie anrufen, sobald ein passendes Jobangebot eingeht. Wenn das geschieht, ist das der schönste Moment für mich. Dann komme ich mir vor wie der Weihnachtsmann ohne Bart.
In letzter Zeit ist der Sack leer. Ich nehme Bewerbungen und Jobangebote entgegen, suche nach einer passenden Person, und wenn sie sich freut, ist mir das völlig egal. Ich bin nur noch eine Maschine, ein flaches EKG.
Es ist 11 Uhr, als Monsieur Bussy, ein Unternehmer, der zu unseren wichtigsten Kunden zählt, die Agentur betritt. Lustlosigkeit dringt mir aus allen Poren.
Seit der Öffnung des Büros durfte ich mir schon die ganze Palette an Sprüchen anhören: »Am Wochenende arbeite ich nicht, auch nicht abends nach 16 Uhr.«
»Achtung, schicken Sie mir keine Pummelige, die vertreibt mir die Kundschaft!«
»Yes, I spoke anglish very good.«
Monsieur Bussy mit seinem geröteten Gesicht und einem Hemd mit unverbautem Blick auf seinen dunklen Angorateppich hat beschlossen, das Seine beizutragen. Er redet laut, als wolle er seinen Worten besonderes Gewicht verleihen.
»Na, Schätzchen, haben wir Probleme mit den Ohren?«
Obwohl ich seine vertrauliche Art schon gewohnt bin, löst sie dasselbe Gefühl in mir aus wie das Kratzen eines Fingernagels auf einer Schiefertafel. Ich setze mein professionelles Lächeln auf.
»Ihnen auch einen guten Tag, Monsieur Bussy. Was kann ich für Sie tun?«
»Wenn du einfach nur deine Arbeit machen könntest, wäre das schon nicht übel«, antwortet er mit dreckigem Lachen. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich bestimmte Sorten von Aushilfskräften nicht will. Das hast du wohl nicht begriffen. Heute früh musste ich zwei von der Baustelle schmeißen. Sei so nett und schreib dir das in Großbuchstaben in die Akte.«
Ich weiß, wovon er redet. Aber da er beschlossen hat, dass ich eine Idiotin bin, spiele ich die Rolle mit: »Was genau soll ich denn schreiben?«
»Dass ich keine Schwarzen mehr will. Alles Faulenzer. Nicht zu fassen, in welchem Schneckentempo die arbeiten! Der eine hat sich heute Morgen bewegt wie unter Vollnarkose. Schreib hin: keine Schwarzen, nur Portugiesen. Notfalls Araber.«
»Sie wissen, dass ich das nicht darf.«
»Und warum nicht?«
»Weil es rassistisch ist. Es ist illegal, und außerdem unmoralisch.«
Er mustert mich verächtlich.
»Nach deiner Meinung habe ich dich nicht gefragt. Dein Boss kriegt genug Kohle von mir, damit du tust, was ich dir sage! Also nimm deinen Stift und schreib in Großbuchstaben ›Keine Schwarzen‹ in meine Akte!«
Ich erstarre, mein Lächeln ebenfalls. Die unglaubliche Dummheit dieses Mannes ist zu viel für mich. Monsieur Bussy steht auf, nimmt sich einen blauen Filzstift und hält ihn mir wenige Zentimeter vors Gesicht.
»Hallo! Jemand zu Hause?«, schreit er mich an und wirft den Filzstift auf den Schreibtisch. »Da sieht man, was dabei rauskommt, wenn man Blondinen arbeiten lässt! Sie glaubt wohl, sie hätte die Gesetze gemacht … Armes Frankreich! Wegen ihrer Diplome sitzt sie bestimmt nicht hier. Ihr Mann tut mir leid, der muss …«
Die Fortsetzung höre ich nicht mehr. In diesem Augenblick, genau in diesem Augenblick verabschiedet sich mein Verstand, und mein Körper schaltet auf Autopilot.
Eine Stunde später sitze ich im Büro von Pascal, dem Direktor der Agentur.
»Sind Sie völlig wahnsinnig geworden?«
Seit dem »Ereignis« frage ich mich das auch die ganze Zeit. Ich bin zu keiner Antwort fähig.
»Pauline, ich weiß, dass Sie eine schwere Zeit durchmachen, aber Sie können nicht so mit einem Kunden umgehen. Ich habe eine Stunde lang versucht, Monsieur Bussy davon abzubringen, seinen Vertrag mit uns zu kündigen. So etwas ist absolut geschäftsschädigend.«
»Es tut mir wirklich leid, ich weiß, dass ich zu weit gegangen bin. Aber er war beleidigend, respektlos, ich …«
Pascal hebt die Hand.
»Das wissen wir ja«, unterbricht er mich. »Monsieur Bussy ist ein ungehobelter Klotz. Aber er ist auch einer unserer größten Kunden, deswegen müssen wir ab und zu Kompromisse eingehen. Auf jeden Fall ist Ihre Reaktion unverzeihlich. Von Ihnen bin ich wirklich mehr Professionalität gewohnt.«
»Es tut mir leid, das ist sonst nicht meine Art.«
»Ich weiß, deshalb wird es auch keine ernsten Konsequenzen für Sie haben. Allerdings glaube ich, dass Sie ein bisschen Erholung brauchen. Gehen Sie zu Ihrem Arzt, bleiben Sie ein paar Tage zu Hause, und kommen Sie in einer Woche wieder. Wir deichseln das hier schon ohne Sie.«
»O nein! Bitte nicht! Ich kann arbeiten, das verspreche ich Ihnen!«
Er schüttelt den Kopf, steht auf und geht um seinen Schreibtisch herum.
»Sie sind schon eine ganze Weile mit Ihren Gedanken woanders. Ruhen Sie sich mal aus, und machen Sie sich keine Sorgen, Ihren Platz halte ich Ihnen warm.«
»Bitte, Pascal! Ich brauche die Arbeit, tun Sie mir das nicht an!«
Er legt mir eine Hand auf die Schulter.
»Pauline, muss ich Sie daran erinnern, dass Sie Monsieur Bussy vorhin Ihre volle Tasse Kaffee auf die Genitalien geschüttet haben? Ich will Sie hier vor nächsten Mittwoch nicht wiedersehen. Sie brauchen Zeit für sich.«
Ich kapituliere. Weiter zu betteln hat keinen Zweck, er wird nicht nachgeben.
Zeit. Aber was mache ich bloß damit?
Burn-out. Das ärztliche Urteil ist unwiderruflich. Trotzdem wehre ich mich dagegen, von meinen Argumenten fest überzeugt.
»Ich wüsste nicht, warum ich ein Burn-out haben sollte. Ich bin weder überarbeitet noch eine ganz junge Mutter.«
Der Arzt setzt die Miene auf, die er seinen netten, aber ein bisschen dummen Patienten vorbehält. Er war schon bei meiner Geburt dabei und versäumt keine Gelegenheit, diese Tatsache als indiskutablen Beweis dafür zu nutzen, dass er mich gut kennt.
»Pauline, du weißt, ich habe dich auf die Welt geholt. Du warst nicht größer als mein Unterarm, dein Kopf passte in meine Hand, du hast mir geradewegs in die Augen geschaut und mich vollgepinkelt. Glaubst du wirklich, du kannst mir etwas verheimlichen?«
»Ich verheimliche Ihnen ja nichts, ich sage nur, dass es keinen Grund gibt, warum ich ein Burn-out haben sollte. Ich habe bei der Arbeit ein bisschen die Nerven verloren, aber das lag an der Situation. Mir geht es gut, ich bin nur ein wenig müde.«
Er schüttelt den Kopf.
»Tssss tssss tssss. Ich komme zwar langsam in die Jahre, aber ich bin immer noch ein guter Arzt. Du musstest in letzter Zeit viel verkraften und hast dich nicht geschont, im Gegenteil. Du brauchst mal eine Auszeit, ich werde dich zwei Wochen krankschreiben, danach kommst du wieder her, und wir sehen weiter.«
»Zwei Wochen? Das ist viel zu lang! Mir geht es bestens, ich muss arbeiten. Sonst…«
»Pauline, hör mir mal zu. Dir. Geht. Es. Nicht. Gut. Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du acht Kilo abgenommen, du siehst zum Fürchten aus, und dein Blutdruck ist am Boden. Dein Körper wird schlappmachen, du hast ein Kind, das dich braucht …«
»Ich weiß! Ich sorge gut für mein Kind, ich tue alles, damit der Kleine glücklich ist. Aber wenn Sie mich am Arbeiten hindern, schaffe ich das nicht mehr.«
Er greift nach seinem Rezeptblock und fängt an, etwas darauf zu kritzeln.
»Zwei Wochen, und kein Wort mehr darüber. Vertrau mir, so viel Zeit brauchst du. Außerdem überweise ich dich an Dr. Pasquier. Das ist ein sehr guter Psychiater, der kann dir helfen.«
Ich verlasse die Praxis also mit einem Schlafmittelrezept, einer Krankschreibung und einer Überweisung zum Psychiater, fest entschlossen, alle drei in der nächsten Mülltonne zu begraben.
Jeden zweiten Freitag gehe ich durch die Hölle.
Auf die Türklingel drücken.
Das Klicken abwarten.
Die schwere Tür aufdrücken.
Den Fahrstuhl rufen.
Die Hand des kleinen Kerls fester halten.
In den Fahrstuhl steigen.
Auf die sich schließenden Türen achten.
Eine Etage.
Zwei Etagen.
Aus dem Fahrstuhl steigen.
Die zwölf Schritte gehen, die uns von der Wohnung trennen.
Seine aufgeregten Erzählungen hören.
Tief Luft holen.
Ein Lächeln aufsetzen.
Klingeln.
Sehen, wie die Tür aufgeht.
»Papa!«
»Hallo, mein Kleiner, wie geht’s dir? Hallo, Pauline.«
»Hallo, Ben. Bringst du ihn mir Sonntagabend um sieben zurück?«
»Okay.«
»Hier, seine Tasche, Kuscheltier ist drin.«
»Okay.«
»Tschüss, mein Schatz. Viel Spaß.«
»Tschüss, Maman! Viel Spaß!«
Ihn fest an mich drücken.
Seinen Geruch speichern.
Dem Drang widerstehen, ihn zurückzuhalten.
Auf dem Absatz kehrtmachen.
Hören, wie die Tür zugeht.
Die Zähne zusammenbeißen.
Erst im Auto losheulen.
Meine Mutter dachte, ein zu lange gekochtes Hühnchen und verklebte Nudeln würden meine Stimmung heben. Ich frage mich, ob ich sie vorher lieber mochte, als sie sich noch nicht im Trostkochen versuchte.
Ich stochere auf meinem Teller herum, während mein Vater angestrengt kaut. Sogar meine Mutter unterhält sich lieber, als von dem Corpus Delicti zu probieren.
»Du könntest dich doch heute Abend mal mit deinen Freunden treffen …«
»Welchen Freunden?«
»Die, mit denen du dich früher immer getroffen hast! Nathalie und Marc, Julie oder Samira und ihr Mann, seinen Namen weiß ich nicht mehr, oder deine Freunde aus Paris, weißt du, die mit den beiden kleinen Mädchen …«
»Ich bleibe lieber hier. Ich gehe früh ins Bett.«
»Das täte dir aber gut«, schaltet sich mein Vater ein. »Du hast dich schon lange nicht mehr mit Leuten getroffen, nutz es doch aus, dass Jules bei seinem Vater ist, und amüsier dich ein bisschen!«
»Ein andermal … Ich bin müde, ich gehe lieber auf mein Zimmer.«
Ich räume die Teller und das Besteck ab, packe alles in die Spülmaschine, gebe meinen Eltern einen Gutenachtkuss und flüchte mich in die Episode einer TV-Serie. Natürlich fehlen mir Nathalie, Julie und die anderen. Einige von ihnen rufen gelegentlich an, aber ich gehe nicht dran. Seit der Trennung habe ich keinen von meinen Freunden wiedergesehen.
Mein Kummer ist egoistisch. Meine Stimmung teile ich nur mit anderen, wenn sie gut ist. Ich will nicht zur Last fallen, und Unglück ist eine Last.
Nach einer halben Stunde habe ich drei verschiedene Serien gestartet und alle wieder ausgeschaltet. Nicht spannend genug, um mich vom Grübeln abzuhalten. Normalerweise schaffe ich es, meine Gedanken zu kontrollieren. Wenn ich beschließe, sie auf einen Film, ein Buch oder eine bestimmte Tätigkeit zu lenken, gehorchen sie mir. Aber heute Abend tun sie, was sie wollen.
Ob Jules schon schläft? Ich hoffe, er vermisst mich nicht zu sehr. Aber ein bisschen schon. Er scheint sich an die Situation gewöhnt zu haben. Ich wäre jetzt auch gern vier Jahre alt. Und Ben, ob der mich vermisst? Denkt er manchmal an mich? Vielleicht hat er ja eine andere. Ich glaube, ich muss gleich die verklebten Nudeln auskotzen. Es wird schon wieder werden. Nichts wird wieder werden. Den Bademantel meines Vaters müsste man wirklich mal ausrangieren. Diese Serie ist totaler Mist. Er sah gut aus in seinem schwarzen Pulli. Warum ist uns das nur passiert? Dieser Schauspieler hat genauso einen Bart wie Ben. Wahrscheinlich bereut er es allmählich. Ich werde ihn schmoren lassen. Nein, mich auf ihn stürzen. Nein, ihn schmoren lassen. Wenn ich mich auf ihn stürze, schmort er dann? Das Hühnchen war wirklich widerlich. Was mache ich bloß bis Sonntag? Ich hasse ihn. Jules hat einen blauen Fleck am Arm. Mein Baby. Ben mochte diese Serie. Was beweist, dass er sich auch irren kann. Wie auch immer, er hatte Haare auf dem Hintern. Ich habe Durst.
Meine Eltern sitzen auf dem Sofa, lösen Kreuzworträtsel und sehen mit einem Auge fern. Zwischen ihnen räkelt sich Mina, alle viere von sich gestreckt.
»Wohin gehst du?«
»In die Küche, ich will was trinken.«
Mein Vater steht auf, gefolgt von der Hündin.
»Warte, ich mach das schon.«
Sein Eifer bringt mich unwillkürlich zum Lachen. Das ist mir schon lange nicht mehr passiert. Lachen ist offenbar wie Radfahren, man verlernt es nicht.
»Papa, ich weiß, wie man einen Wasserhahn aufdreht!«
Glücklich, ein wenig Fröhlichkeit bei seiner Tochter ausgelöst zu haben, legt er noch einen drauf: »Willst du lieber Cola? Oder Orangensaft? Ich glaube, wir haben auch Pfefferminzsirup …«
Meine Mutter kommt in die Küche, zur Verstärkung. Man weiß ja nie.
»Ich kann dir einen Kaffee machen. Willst du ein Stück Kuchen? Im Kühlschrank steht noch was. Du musst doch zunehmen, du siehst zum Fürchten aus.«
Emsig laufen beide hin und her, bereit, mir jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Würde ich Meeresfrüchte verlangen, würden sie losziehen und mir welche fangen.
»Ich gieß mir nur ein Glas Wasser ein.«
Im Grunde will ich bloß eines: mich unter meiner Bettdecke verkriechen und endlich eine Serie erwischen, die mich vom Grübeln abhält. Aber mein Vater sieht mich an wie ein auf einer Autobahnraststätte ausgesetzter Hund. Wortlos kehre ich ins Wohnzimmer zurück und setze mich zwischen die beiden aufs Sofa. Mehr brauchen sie nicht für ihr Glück. Gleich wedeln sie mit dem Schwanz.
Mein Vater zu meiner Rechten, meine Mutter zu meiner Linken, Mina zu meinen Füßen und vor mir Die Experten, frage ich mich, wie lange ich hier wohl ausharren muss.
Da appelliert meine Mutter an unsere grauen Zellen: »›Vorzeitige Vertragskündigung‹, neun Buchstaben.«
»Welche Buchstaben hast du denn schon?«
»Der dritte ist ein H, der fünfte und sechste ein I und ein D. Keine Ahnung, was das sein könnte …«
Ich werfe einen Blick auf das Rätselgitter. Nach ein paar Sekunden habe ich die Lösung. Und wohl auch den passenden Vorwand, um ins Bett zu gehen.
»Scheidung, Maman. Scheidung.«
Nicht nur Ben hat mich verlassen. Meine Lebensfreude ist mit ihm gegangen.
In letzter Zeit muss ich manchmal an meine Tante Annie denken. Vor ungefähr zehn Jahren hat ihr Mann sie verlassen, nachdem die beiden fünfundzwanzig Jahre zusammengelebt hatten. Sie war untröstlich, selten hatte ich jemanden so unglücklich erlebt. Sie tat mir leid. Im ersten Monat. Als diese Frist um war, fand ich, für eine Trennung reichte das. Ich konnte einfach nicht verstehen, dass sie sich so gehen ließ. Ihr Mann hatte beschlossen, sie zu verlassen, er war schließlich nicht gestorben, wie konnte sie da nur sagen, ihr Leben sei gelaufen? Ich fand, dass es an der Zeit war, einen Schlussstrich zu ziehen und sich wieder zu fangen. Jetzt fühle ich mich ihr so nah … Schöne Theorien taugen nur für Leute, die die Praxis nicht kennen.
Heute kommen mein Bruder und meine Schwester zum Abendessen. Sie sind noch nicht mal eingetroffen, da wünsche ich mir schon, sie wären wieder weg. Genauso würde ich reagieren, wenn man mir sagte, ich hätte soeben eine Million Euro gewonnen oder all meine Angehörigen seien gestorben: Ich würde nur blinzeln.
Mein Vater steckt den Kopf durch den Türspalt meines Zimmers: »Hilfst du mir mit dem Gratin?«
Er lächelt so übertrieben breit, als wollte er mich davon überzeugen, dass Kartoffelschälen die schönste Tätigkeit der Welt sei.
Mühsam erhebe ich mich von meinem Bett, auf dem ich den ganzen Tag in Seesternposition verbracht habe. Vielleicht vergeht die Zeit beim Kochen schneller. Hauptsache, Maman hält sich heute raus.
Kaum ist die Auflaufform im Ofen, schallt die Stimme meiner Schwester durch den Flur. Sie ist zu früh dran. Was das betrifft, sind wir beide gleich, genau das Gegenteil von unserer Mutter. Wir sind so pingelig wie sie chaotisch, so korrekt wie sie nachlässig. Manchmal frage ich mich, ob sie uns auf der Straße gefunden hat.
Emmas gesamte Familie ist da. Jérôme, ihr Mann, der gerade in den Staaten seine fünfte Firma eröffnet, und die drei Kinder: der fünfzehnjährige Milan, Jérômes Sohn aus erster Ehe, der schon aufs Abitur zusteuert, Sydney, die mit ihren fünf Jahren in zwölf Sprachen »Guten Tag« sagen kann, und Nouméa, die durchschlief, kaum dass sie ausgeschlüpft war. Sie ist sechs Monate alt. Ich stelle mich schon mal darauf ein, dass wir heute Abend erfahren werden, sie sei bereits in der Lage, ihre Schuhe zuzubinden. Dabei hat sie noch gar keine.
Ich habe den Verdacht, dass meine Schwester und ihr Mann bei der Suche nach Vornamen für ihre Kinder aufs Geratewohl mit dem Finger auf eine Weltkarte getippt haben. Zum Glück sind sie nicht auf Castrop-Rauxel gelandet.
Meine Schwester streckt mir lächelnd die Arme entgegen: »Gut siehst du aus!«
Dass sie mir ein Kompliment macht, heißt, ich muss wirklich erbärmlich aussehen. Oder sie hat mich gar nicht richtig angeguckt. Oder sie will was von mir. Ich danke ihr und umarme sie, bevor das Theater losgeht.
»Ist Jules nicht da?«
»Nein, der ist bei Ben.«
»Schade, Sydney hat sich so auf ihn gefreut. Sie hat ihm ein Bild gemalt. Du würdest niemals glauben, dass ein Kind so was zustande bringt! Ich will sie nächstes Jahr zum Kunstkurs anmelden, so ein Potential darf man einfach nicht vergeuden. Und hast du gesehen, wie groß Nouméa geworden ist? Sie kriegt schon zwei Zähne, der Kinderarzt sagt, sie sei ziemlich frühreif. Willst du sie mal auf den Arm nehmen?«
»Nein, danke.«
»Irgendwann musst du diesen Schritt aber mal tun. Darf ich dich daran erinnern, dass du ihre Patentante bist? Sie hält ihren Kopf schon gut allein, es kann gar nichts passieren.«
»Emma, komm und hilf mir, die Getränke hereinzubringen!«
Stumm danke ich meinem Vater dafür, dass er mich aus dieser Situation gerettet hat.
Ich weiß nicht mehr, wann genau unsere Wege sich getrennt haben. Als kleine Mädchen waren wir ein Herz und eine Seele. Emma ist zwei Jahre jünger als ich, wir sind aufgewachsen wie Zwillinge. Fünf Jahre später wurde Romain geboren und hat es nie geschafft, wirklich zu unserem Duo dazuzugehören. Inzwischen stehe ich ihm allerdings deutlich näher.
Wäre Emma nicht meine Schwester, würde ich sie nicht ertragen. Dass sie sich ständig an ihrem eigenen perfekten Leben berauscht, wäre ja an sich kein Problem, wenn sie sich auch für das Leben der Leute um sie herum interessieren würde. Aber was sie nicht betrifft, interessiert sie nicht. Sie ruft nur an, wenn sie eine Frage hat, sie hört einem nicht zu, wenn man Sorgen loswerden will, sie macht sich keine Gedanken um andere. Ich erwarte inzwischen nichts mehr von ihr, und darüber, dass sie sich in den letzten vier Monaten kein einziges Mal gemeldet hat, bin ich sogar beinahe froh.
»Wir servieren jetzt den Aperitif, dann taucht Romain bestimmt auf!«
Mein Vater stellt Gläser, Obstsäfte, Rosé und die Parmesankräcker, die er für den Anlass gebacken hat, auf ein Tablett. Jérôme stellt einen Rotwein dazu.
»Château Pape Clément 2009«, erklärt er vollkommen gelassen.
»Aber das ist doch Wahnsinn!«, ruft meine Mutter. »Den muss man für eine besondere Gelegenheit aufbewahren!«
»Das hier ist eine besondere Gelegenheit! Zum Dessert haben wir nämlich noch eine Überraschung für euch.«
Meine Mutter macht große Augen. Meine Schwester schaut ihren Mann verklärt grinsend an. Ist sie etwa schon wieder schwanger?
»Schwiegerpapa, ich würde mich freuen, wenn du den probierst!«
»Du weißt, ich darf nicht, Jérôme.«
»Ach, komm! Was soll es denn schon groß schaden, wenn du mal kurz an einem Grand Cru nippst! Das ist was anderes als dein Rachenputzer!«
Am liebsten würde ich ihm seinen Grand Cru in die Tiefen seiner Anatomie stoßen (und ich meine nicht das Gehirn), da erscheint mein Bruder auf der Bildfläche.
»Hallo allerseits!«
Er umarmt mich als Erste und streicht mir dabei über den Rücken. Stumme brüderliche Rückenstärkung. Dann begrüßt er reihum alle anderen und verkündet zu guter Letzt, er habe einen Mordshunger.
»Also dann, zu Tisch!«, ruft mein Vater beschwingt.
Wir sind gerade mit dem Nachtisch fertig, als Jérôme, der im Verlauf der Mahlzeit mehrmals auf seine Überraschung angespielt hat, endlich beschließt, das Rätsel zu lüften: »Sitzt ihr alle gut?«
Wir nicken. Er plustert sich auf. Meine Schwester ist schon ganz zappelig. O Gott, nicht noch ein Baby mit Städtenamen! Langsam gehen ihnen die Kontinente aus!
»Erinnert ihr euch an das Strandhaus in Arcachon?«
»Welches?«, fragt Romain.
»Na, unser Traumhaus!«
Als wir klein waren, verbrachten wir oft den ganzen Tag mit unseren Eltern in Arcachon. Jedes Mal wollten wir unbedingt an dem Haus mit dem blauen Tor und den blauen Fensterläden vorbeilaufen, das gegenüber der Mole lag. Wir nannten es »das Strandhaus«. Es faszinierte uns mit seinen großen Fenstern, seinem blühenden Garten und seinem Spitzdach. Einmal hatte ich damals todernst verkündet, wenn ich groß und reich wäre, würde ich es kaufen. Alle hatten gelacht.
Jérôme schweigt, um die Spannung zu erhöhen.
»Ja, und?«, fragt mein Bruder.
»Vor euch sitzt der neue Hausherr! Und diesen Sommer seid ihr alle eingeladen!«
Meine Schwester klatscht Beifall, mein Vater beglückwünscht Jérôme, meine Mutter stößt kleine Schreie aus, die Kinder springen um den Tisch, und mein Bruder lächelt. Ich atme auf. Dann blinzle ich.
Die nächsten zwanzig Minuten gelten der Planung des Sommeraufenthalts im Strandhaus. In einer Woche fangen die Schulferien an, meine Mutter hat sich den ganzen Juli frei genommen, mein Vater ist in Rente, Romain sucht halbherzig nach einer Stelle, und meine Schwester erzieht ihre Kinder. Die freien Zeiten decken sich, also werden sie alle im Juli fahren. Jemand macht sogar den Vorschlag, auch unsere beiden Großmütter einzuladen, damit die Familie vollständig ist.
»Und du, Pauline?«, fragt meine Schwester.
»Ich was?«
»Passt dir der Juli?«
»Ich habe erst im August Urlaub, ist aber nicht schlimm, macht euch wegen mir keine Sorgen!«
Bloß nicht.
»Och nööö, Pauli«, ruft mein Bruder. »Ohne dich fahren wir nicht!«
»Es tut mir leid, aber ich kann wirklich nicht verschieben. Nächstes Mal!«
Für einen Moment zeigen sich alle enttäuscht, dann kehren sie zu den Fragen zurück, die sie beschäftigen.
»Ist das Schwimmbecken beheizt?«
»Wie viele Schlafzimmer hat das Haus?«
»Gibt es eine Espressomaschine?«
»Kann man auf dem Grundstück parken?«
Abwesend betrachte ich die Szene und danke insgeheim meinem Chef, dass er mir die Urlaubszeiten diktiert hat.
»Und? Ist es wirklich aus?«
Mein Bruder stellt genau die Frage, die seit vier Monaten mein ganzes Denken bestimmt.
Es ist ein Uhr morgens, ich begleite Romain zu seinem Wagen. Er ist der Letzte, der geht.
»Ich weiß es nicht. Ich dachte, er würde seine Meinung ändern, aber nein, bis jetzt nicht.«
Romain lehnt sich gegen die Autotür und zündet sich eine Zigarette an.
»Hast du auch alles versucht?«
Ich überlege kurz und lasse Revue passieren, was ich bisher unternommen habe.
»Ich habe ihn zigmal angerufen, um ihm zu sagen, dass ich ihn liebe, ich habe mich in unsere Wohnung geschlichen, um nackt im Bett auf ihn zu warten, ich habe ihn bearbeitet, mit mir essen zu gehen, und dabei alles versucht, um seine Gefühle wiederzubeleben, ich habe ihm gedroht, ich habe in einer Bar ein Selfie mit einem Fremden gemacht, nur um es auf Facebook zu posten, ich habe ihn zwei Wochen lang nicht angerufen, in der Hoffnung, dass er auf mein Schweigen reagiert – ja, wirklich, ich glaube, ich habe alles versucht.«
Romain nickt bewundernd.
»Wow! Ich hätte nicht gedacht, dass du zu all dem fähig bist! Und im Bett, warst du da vollkommen nackt?«
»Wie Gott mich schuf.«
»Oh, Scheiße.«
»Du sagst es.«
Wir schweigen einen Moment. Mir ist kalt, aber ich habe keine Lust, wieder ins Haus zu gehen. Es ist das erste Mal, dass ich von Ben rede.
Normalerweise gehe ich dem Thema aus dem Weg oder unterhalte mich nur mit Leuten, die es von sich aus meiden. Meine Eltern kriegen das sehr gut hin.
»Er sagt, er liebt mich nicht mehr, aber ich bin sicher, dass er sich irrt. Er war verrückt nach mir. Gefühle können sich doch nicht einfach von heute auf morgen in nichts auflösen!«
»Was könnte denn sonst passiert sein?«
»Keine Ahnung. Die letzten beiden Jahre lief es nicht so toll, weißt du … Aber ich habe mir immer gesagt, das ist eben eine schlechte Phase, wir brauchen nur ein bisschen Zeit, dann geht es wieder bergauf. Offenbar hat er vergessen, wie glücklich wir vorher waren.«
»Dann musst du ihn daran erinnern!«
»Wie meinst du das?«
Mein Bruder tritt seine Zigarette auf dem Bürgersteig aus und schaut mich wieder an.
»Wenn er euer Glück vergessen hat, musst du seine Erinnerungen auffrischen.«
»Und wie?«
»Ich weiß nicht, aber dir fällt bestimmt was ein. Wenn du wirklich davon überzeugt bist, dass er dich noch liebt, darfst du nicht so schnell aufgeben. Das wäre total schade.«
»Das sage ich mir auch …«
»So, Pauli, ich muss los, ich bin mit Thomas und den anderen im Club verabredet!«
Er drückt mir einen dicken Abschiedskuss auf die Wange, springt ins Auto und fährt los. Ich winke ihm hinterher, bis er verschwunden ist, dann hebe ich seine Kippe auf und gehe zurück ins Haus, einen einzigen Gedanken im Kopf: Ich muss einen Weg finden, Ben daran zu erinnern, dass er mich noch liebt.
Ich habe schlecht geschlafen. Erinnerungen haben sich mit Träumen vermischt. Unsere erste Begegnung, unsere Lachanfälle, unsere Streitereien, unsere Hochzeit, unsere Küsse, unsere Körper, unsere Pläne, unsere Blicke, unsere Versprechen. Er muss sich einfach daran erinnern.
Ich weiß nicht, wie es bei ihm ist, aber meine größte Angst ist die zu vergessen. Je mehr Zeit vergeht, umso mehr fürchte ich, den Klang seiner Stimme, seinen Geruch, seine Haut zu verlieren. Als ich am Tag der Trennung die Koffer gepackt habe, habe ich eines seiner T-Shirts aus dem Wäschekorb gezogen, es in eine Plastiktüte gesteckt, die Tüte doppelt zugeknotet und in eine Schachtel gepackt. Sollte der Geruch irgendwann aus meinem Gedächtnis verschwinden, kann ich ihn dort wiederfinden.
Seine letzte Nachricht ist noch auf dem Anrufbeantworter gespeichert. Ich kenne sie auswendig. »Ich bin’s. Ich habe Jules im Kindergarten abgeholt, kaufe jetzt noch ein paar Sachen ein, und dann kommen wir nach Hause. Vergiss nicht, wegen dem Wochenende Nathalie anzurufen. Küsschen.«
Klingt das nach Abschied? Wohl kaum.
Von unserem gemeinsamen Leben bleiben mir nur noch Erinnerungen. Die will ich nicht verlieren.
Es ist sieben Uhr morgens, als mir eine Idee kommt und mich aus dem Bett treibt. Ich ziehe die Schubladen meines Schülerschreibtischs auf und durchwühle sie, bis ich ein leeres Blatt Papier und einen Kuli finde. Ich setze mich hin, überlege kurz und fange an zu schreiben.
Es war der 31. Dezember 1999. Alle Welt hatte nur eines im Kopf: den Millenium-Jahreswechsel und die damit einhergehenden Computerprobleme. Ich dagegen dachte an den Abend, der mich erwartete. Ich war zwanzig Jahre alt und erlaubte mir zum ersten Mal in meinem Leben, Silvester ohne meine Eltern zu feiern.
Mit den Freundinnen von der Fachhochschule, an der ich ein Jahr zuvor die Ausbildung zur Direktionsassistentin begonnen hatte, war ich für 19 Uhr bei Julie verabredet. Wir würden eine Stunde Zeit haben, um uns in Schale zu werfen, Abendkleid, Pailletten im Dekolleté und Pflaster in den Pumps, dann würden wir bei Pizza Hut etwas essen und hinterher ins Bodegon gehen, eine Bar, die jedes Jahr die begehrteste Silvesterparty von ganz Bordeaux feierte. Die Eintrittskarten hatten wir durch Laurène bekommen, die mit einem der Barkeeper flirtete. Meine Stimmung schwankte zwischen aufgeregt und überdreht, aber einstweilen musste ich mich noch aufs Arbeiten konzentrieren.
Seit drei Wochen absolvierte ich ein Praktikum in einer Papierfabrik, die die meisten Firmen, Schulen und Einrichtungen in Bordeaux und Umgebung mit Büromaterialien belieferte. Ich war gerade dabei, eine Mail zu schreiben, als du in mein Büro kamst. Ich erinnere mich noch genau an das Wort, das ich gerade tippte: »angenehm«.
»Guten Tag, kann ich mir mal Ihren Computer ansehen?«
»Warum wollen Sie sich denn meinen Computer ansehen?«
»Um Ihre vertraulichen Daten zu klauen, ich arbeite nämlich für die Konkurrenz.« Du hast gelacht. »Ich bin hier, um zu überprüfen, ob die Updates auf dem neusten Stand sind. Ihr Chef hat die Befürchtung, dass der Jahrtausendwechsel alles lahmlegt.«
»Sind Sie Informatiker?«
»Sehe ich aus wie ein Metzger?» Wieder hast du gelacht.
»Ich bin Informatikstudent, Monsieur Bouffard ist ein Freund unserer Familie. Mein Name ist Benjamin, aber alle nennen mich Ben. Darf ich?«