
Für Adam Vital, Yigal Palmor und die anderen Soldaten aus der Abteilung Apokalypse der Yarkon-Militärbasis.
Neun Personen wurden Zeugen der Entführung von Yaniv Meidan auf dem Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle, dazu jene Hunderttausende, die sich die Aufnahmen der Überwachungskameras ansahen, nachdem sie online gestellt worden waren.
Im Erstbericht der französischen Polizei wurde er als «ungefähr zwanzig Jahre alter israelischer Passagier» beschrieben, obwohl er eine Woche zuvor seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag begangen hatte. Seine Arbeitskollegen beschrieben ihn als «Schlawiner», manche nannten ihn einen «Kindskopf». Alle charakterisierten ihn übereinstimmend als «lebenslustig».
Er ging sichtbar fröhlicher Stimmung von Bord des El-Al-Fluges 319. Beim Verlassen des Flugzeugs hatte er noch einmal sein Glück bei den Flugbegleiterinnen versucht, und bei der Passkontrolle wollte er mit den französischen Polizeibeamten herumalbern, die ihn mit unverhohlener Feindseligkeit musterten, ehe sie seinen Pass abstempelten und ihn durchwinkten.
So war es schon immer gewesen. Seit dem Kindergarten hatten alle Yaniv immer alles verziehen. Er hatte eine quirlige, manchmal infantile Spontaneität an sich, mit der er nicht nur ausnahmslos jeden seiner jeweiligen Arbeitgeber für sich eingenommen, sondern auch etliche Frauen herumgekriegt hatte, wenn auch nur vorübergehend. «Yaniv zu vergeben ist leicht», hatte ein Lehrer einst zu seiner Mutter gesagt.
Sonst unterschied ihn nichts von den mehr als zweihundert Israelis, die zur CeBit Europe Expo nach Paris gekommen waren. Mit Igelschnitt und passendem Dreitagebart, Jeans und einem T-Shirt mit dem Logo der vorjährigen Computermesse trug er die Uniform aller jungen Männer eines Landes, das sich selbst als «Start-up-Nation» bezeichnete. Im Bildmaterial der Kameras konnte man sehen, wie er ununterbrochen an seinem Smartphone herumfummelte.
Es war sein zweites Jahr als Marketingleiter des Softwareunternehmens B.O.R., was ihn zum ranghöchsten Mitglied des Teams machte, das zur Messe entsandt wurde. Sie waren insgesamt zu sechst – eine kleine Gruppe verglichen mit anderen, größeren Unternehmen. «Was uns an Geld fehlt, machen wir mit Talent wett», gab er als Devise für seine Mitarbeiter aus, die ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Bewunderung betrachteten.
Die Gepäckausgabe befand sich in einer schlecht beleuchteten, überfüllten Halle. Meidan trieb es mit seinen Faxen immer bunter. Je länger sie warten mussten, desto langweiliger wurde es ihm; er schlenderte hin und her, schwatzte und plauderte, trommelte auf das reglose Förderband. Er hasste Warten. Er hasste Langeweile. Sein Erfolg als Marketingleiter war direkt mit dieser Charaktereigenschaft verknüpft, diesem Bedürfnis, jeden x-beliebigen Augenblick interessant zu gestalten.
Das Gepäck war nirgendwo zu sehen. Irgendwann begann er, in unterschiedlichen Posen Selfies von sich zu machen; er stellte ein Foto ins Netz, das ihn neben dem Großplakat des Supermarkts Galeries Lafayette zeigte, wie er dem nackten Model seine Zunge herausstreckte. Er kam nicht auf die Idee, dass die Aufnahme am nächsten Tag auf der Titelseite von Jedi’ot Acharonot, der populärsten israelischen Zeitung, erscheinen würde.
Die Marketingleiter der Konkurrenzfirmen setzten sich vor ihre Laptops und nutzten die Wartezeit, um noch einmal ihre Präsentationen für die Messe zu testen. «Kontakte sind das Allerwichtigste», sagte Meidan zu seinem Team, zückte eine Visa-Karte und zog eine komische Grimasse vor einer American-Express-Reklame.
Unvermittelt rumpelten die ersten Koffer auf das Förderband, und die Gepäckstücke des Teams waren unter den ersten. «Keine Angst, Leute, die Messe ist morgen auch noch da», frotzelte er die anderen Passagiere an und stolzierte triumphierend an der Spitze seiner Leute zum Ausgang.
Bei der Zollkontrolle folgten sie der grünen Markierung, er vorneweg, die anderen hinterdrein. Die automatischen Ausgangstüren öffneten sich sofort, und er sah sich ungefähr einem Dutzend Personen gegenüber, die Schilder hochhielten, Abholer der Hoteltransfers und Chauffeure, die auf ihre Fahrgäste warteten. Die Hälfte von ihnen sah wie Gangster aus; doch unter ihnen stand auch eine atemberaubende Blondine in einer roten Hoteluniform mit einem Schild. Meidan ging, ohne zu zögern, auf sie zu, überzeugt, dass noch genügend Zeit war, um ein letztes Mal vor den Jungs herumzublödeln und einen Schlussgag anzubringen.
Es war 10.40 Uhr am Montag, dem 16. April.
Zu diesem Zeitpunkt wurde in Tel Aviv Leutnant Oriana Talmor eilends zur Sondersitzung beordert.
Es war das erste Mal, dass sie ihre Einheit im Camp Rabin vertreten sollte, dem Hauptquartier der «Zahal», der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte in HaKirya. Sie sah sich verwundert in dem ausgedehnten Gebäudekomplex um, während der athletische Militärpolizist, der ihr als Begleiter zugeteilt worden war, forschen Schrittes voranging. Leutnant Talmor folgte ihm durch ein Labyrinth aus brutalistischen Betonkasernen und futuristischen Glastürmen, auf Straßen mit so unpassenden Namen wie «Irispfad» oder «Wiesenweg».
Am Ziel angelangt, dauerte es zwanzig Minuten und mehrere Sicherheitskontrollen, bis sie die streng abgeschirmte Büroetage des Leiters des Militärgeheimdienstes erreichten. Der Empfangsbereich war bereits überfüllt. Die Leute drängten sich bis in den Flur, und ein stämmiger Major mit einem Stapel Aktenordner pflanzte sich auf den Tisch der Rezeptionistin, deren wütende Blicke er ignorierte.
Oriana fand einen Sitzplatz an einem Fenster mit Blick über Tel Aviv. Vor ihr breiteten sich zahllose niedrige Gebäude, gelegentlich mit grünem Bewuchs, bis zum hellen Strand des Mittelmeers aus. Das Meer selbst lag im gleißenden Sonnenlicht und war, verdeckt von Wohntürmen und Hotelanlagen, nicht zu sehen.
Gegenüber der riesigen Militäranlage standen die Menschen vor den Gourmetrestaurants Schlange, fuhren modische E-Bikes, tauschten Grüße, vertrauliche Adressen, familiäre Neuigkeiten und vegane Rezepte aus. Näher bei den Zugangstoren forderten ein paar schwarz gekleidete Frauen das Ende der Besatzung in den Palästinensergebieten; sie wurden höflich von amerikanischen Touristen und israelischen Generälen ignoriert, die in der Einkaufsstraße weiter vorn verschwanden. Beim Parkplatz lungerten Dutzende streunender Katzen um die Mülltonnen herum und warteten darauf, dass der Gefreite vom Dienst die militärischen Essensabfälle entsorgte.
Sogar von so weit oben konnte Oriana die Intensität der Szenerie spüren. Tel Aviv wurde aktuell als die coolste Stadt der Welt gefeiert. Zugleich war sie der einzige Ort in Israel, mit dem sie sich nie richtig angefreundet hatte.
Sie verließ ihren Fensterplatz und besah sich die merkwürdigen Objekte, die an den Wänden hingen: ein Cowboyhut, Geschenk des früheren CIA-Direktors; ein Schwert aus purem Silber, Geschenk des Leiters des simbabwischen Sicherheitsdienstes; ein altes Toblerone-Werbeplakat vom Chef der Schweizer Spionageabwehr. Sie versuchte sich vorzustellen, welche Gegengeschenke der Direktor des israelischen Nachrichtendienstes gemacht haben könnte.
Um Punkt zwölf Uhr öffnete sich die schwere Holztür, und alle gingen nacheinander in den Besprechungsraum, dessen Klimaanlage auf Hochtouren lief. Oriana nahm am Ende des Tisches Platz, gleich beim Ausgang.
Es kam zu einem Tumult wegen der Sitzordnung, als die Vertreter des Kommandos Informationssammlung versuchten, die Stühle am Kopfende zu besetzen, und die Vertreter der Abteilung Analyse und Lagebeurteilung lautstark ihren Anspruch auf ihre Stammplätze geltend machten. Oren, der ambitiöse Adjutant des Direktors, Anfang zwanzig und sichtlich gestresst, ermahnte beide Seiten gleichermaßen. Die Vertreterin des Marinenachrichtendienstes, außer Oriana die einzige Frau im Raum, nahm umstandslos neben dem Stuhl Platz, der für den Leiter der Besprechung reserviert war. In ihrer weißen Uniform sah sie fast wie eine Braut am Hochzeitstag aus. Der Chef der Analytiker, der durch eine Seitentür hereingeschlüpft war, zeigte sich davon unbeeindruckt und forderte sie auf, sich woanders hinzusetzen. Die Geheimdienstdirektoren vergangener Generationen starrten in ihrer schwarzweißen Würde ungerührt von den Fotos an den Wänden auf das Gerangel herab.
Als endlich alle Platz genommen hatten, eröffnete der Adjutant die Sitzung mit einem Anwesenheitsappell – ein Klassenzimmerritual, das die kindische Atmosphäre nur noch verstärkte.
«Informationssicherheit?»
«Hier.»
«Luftaufklärung?»
«Hier.»
«Seeaufklärung?»
«Hier.»
Die Fachbereiche für Analyse und Lagebeurteilung wurden einzeln mit ihren Bezifferungen aufgerufen, gefolgt von den Informationssammeleinheiten, unter denen zwei waren, von deren Existenz Oriana überhaupt nichts gewusst hatte. Nicht weniger als drei Vertreter des Mossad waren anwesend.
«504?»
«Hier.»
«8200?»
Er sprach die Bezeichnung der Einheit wie ein Anfänger aus: «achttausendzweihundert» statt «achtzweihundert».
«Hier.»
Alle Blicke waren mit – wie sie es empfand – übertriebenem Wohlwollen auf sie gerichtet; manche beäugten sie ganz ungeniert. Oren hatte ein anderes Problem mit ihr.
«Dieses Meeting wurde vom Leiter des militärischen Nachrichtendienstes, General Rotelmann, einberufen. Er hat ausdrücklich um die heutige Anwesenheit des Chefs der Sondergruppe von 8200 gebeten.»
«Im Augenblick hat die Gruppe keinen Chef, Hauptmann. Ich bin die Stellvertreterin und kommissarische Chefin», erwiderte sie. Der Adjutant des Generals stand zwar nur einen Dienstgrad über ihr, doch verlieh ihm seine Position eine viel größere Macht. Im Geist formulierte sie den Ratschlag, den sie sich in solchen Situationen immer zu geben pflegte: ‹Kein Lächeln der Entschuldigung. Wiederhole nicht, was du schon gesagt hast. Wenn sie auf eine Erklärung warten, lass sie warten.›
Der Adjutant lenkte als Erster ein. «Oberstleutnant Schlomo Tiriani ist Chef der 8200-Sondergruppe», sagte Oren und blickte sich in dem Raum nach dem Oberstleutnant um. «Soll das heißen, dass er im Urlaub ist?»
«Er wurde gestern vom Dienst suspendiert», sagte Oriana. «Sein Nachfolger befindet sich zurzeit auf Fortbildungsreise im Ausland. Nach der Rückkehr soll er seinen Dienst antreten», sagte sie.
«Wir dachten, Tiriani würde kommen», sagte der junge Mann. Er hatte große Augen und Lippen, die selbst dann ein O formten, wenn sie sich nicht bewegten, als wollten sie zurück an die mütterliche Brust. Die Fallschirmjägerschwingen auf seiner Uniform vervollständigten das Bild eines Kindes in einer Verkleidung fürs Purim-Fest.
«Es tut mir leid wegen der Enttäuschung, die Ihnen meine Anwesenheit bereitet», sagte Oriana. Allgemeines Gelächter brach aus, das jedoch von Oren rasch abgestellt wurde. Er führte den Anwesenheitsappell zu Ende, erhob sich, öffnete eine Tür zum nächsten Büro und rief: «Wir sind so weit.»
Die Lage im Terminal 2 des Flughafens Charles-de-Gaulle geriet immer mehr außer Kontrolle, und Kriminalrat Jules Léger von der Police Judiciaire wünschte sich das Ende des Tages herbei.
Der Kopf tat ihm weh. Es handelte sich nicht um einen dumpfen Schmerz von der Art, die unaufdringlich im Hintergrund verweilt; nicht um einen Kopfschmerz aus der Kategorie Kater, der mit tröstlichen Erinnerungen an die vorangegangene Nacht einhergeht; auch nicht um durch Hunger bedingte Schmerzen, die Linderung durch ein herzhaftes, kräftigendes Mahl verheißen; und schon gar nicht waren es solche, die binnen Kurzem wieder von selbst verschwinden wie nach einem Glas Gramolata im Sommer. Nein. Dieser war ein veritabler Kopfschmerz, der an eine Migräne grenzte und für den es viele Gründe gab, über die sich Kriminalrat Léger gerade klar zu werden versuchte.
Erstens war da die schlichte und unbestreitbare Tatsache, dass von einem der sichersten Orte Frankreichs ein Passagier verschwunden war, und das keine halbe Stunde nach der Landung.
Zweitens war – und dabei handelte es sich um eine blanke Ungerechtigkeit – der Tatort aus reinem Zufall in seinen Zuständigkeitsbereich geraten. Der Chef der Flughafenpolizei hatte eine Woche Urlaub genommen, und Kriminalrat Léger hatte den Auftrag erhalten, in Abwesenheit des Polizeichefs auch die Ermittlungen auf dem Flughafen zu leiten. Weder kannte er die Beamten an seiner Seite, noch kannte er sich besonders gut auf dem Gelände aus. Seine Versuche, einen Anschein polizeilicher Aktivitäten zu erwecken, verstärkten nur seine Kopfschmerzen; das Sirenengeheul draußen vermischte sich mit dem Lärm der Funkgeräte im Innern, und beide zusammen pochten sie gnadenlos gegen seine schmerzenden Schläfen.
Drittens, und ganz oben auf der Liste der Gründe für seine Malaise, waren plötzlich zwei israelische Zivilpolizisten am Tatort aufgetaucht, die nun vor ihm standen und verlangten, an der Einvernahme der Zeugen teilnehmen zu dürfen.
Léger erinnerte sich vage an den einen, der Chico hieß: ein älterer Mann mit strubbeligen und nicht notwendigerweise von Natur aus roten Haaren, der der offizielle Repräsentant der israelischen Polizei in Europa war. Léger hatte ihn bei Konferenzen zur Sicherheit israelischer Einrichtungen in Paris getroffen; soweit er sich jedoch erinnern konnte, hatte der Beamte noch nie verlangt, bei Ermittlungen hinzugezogen zu werden.
Der andere Israeli sah ganz und gar nicht wie ein Polizist aus. Er war hochgewachsen, trug enge schwarze Jeans und ein weißes Anzughemd, das nach Légers Schätzung mehr als das Monatsgehalt eines französischen Kriminalrats gekostet hatte. Blaue Augen stachen unter einem schwarzen Haarschopf hervor, in dem sich vereinzelt weiße Strähnen zeigten, konterkariert durch eine waagrechte Narbe am Kinn, die verhinderte, dass sein Gesicht insgesamt zu weich und unmännlich wirkte. Er blickte starr an Léger vorbei. Der Kriminalrat war im Lauf seines Berufslebens schon mehrfach solchen Typen begegnet, meist in Betrugsfällen. Dubiose Ausweise wie den des Israelis kannte er: eine laminierte Karte mit einem Foto, das auffallend aktuell aussah. Auf dieser waren ein ausländischer Name und ein militärischer Dienstgrad eingetragen. Glaubte Léger dem Ausweis, so handelte es sich um Oberst Zeev Abadi. Auch Légers Urologe hieß Abadi, was seine Sorgen nicht geringer werden ließ. Auf dem Rücken der Karte war das israelische Staatswappen plastisch eingeprägt; außerdem wurden auf Englisch und Französisch alle Polizeibehörden weltweit ersucht, den «Inhaber dieses Ausweises», der nichtssagend als «Ermittler» bezeichnet wurde, «umfassend zu unterstützen».
«Jeder kann sich zu Hause eine solche Ausweiskarte basteln», sagte Léger, hob den Kopf und sah Abadi in die Augen. Ein Militär, dachte er. Geheimdienst?
«Ich bin eher zufällig in Paris», sagte der mysteriöse Israeli und steckte die Karte wieder in seine Brieftasche, als wäre das eine Erwiderung auf Légers Bemerkung.
Er sprach ein langsames, doch präzises und fast poetisches Französisch. ‹Un peu par hasard›, dachte Léger, und nur seine Kopfschmerzen waren daran schuld, dass er nicht mehr wusste, ob diese Formulierung aus einem Gedicht stammte. Eigentlich wollte er Oberst Zeev Abadi, falls das wirklich sein Name war, fragen, wie ein Ermittler ‹eher zufällig› über einen Tatort stolpern konnte, der Tausende Kilometer von seinem Büro entfernt lag; stattdessen wandte er sich an den Flughafeninspektor: «Bringen wir die beiden hinüber zu ihren Zeugen.»
In Tel Aviv war es kurz nach zwölf Uhr mittags, was man im Innern des Gebäudes nicht vermutet hätte. Es gab keine Fenster in dem riesigen Saal, der Tag und Nacht von weißen Neonröhren erhellt wurde. An der großen Wand hing ein Dutzend Analoguhren; jede war mit dem Namen einer ausländischen Stadt versehen, weshalb sie unterschiedliche Zeiten anzeigten. Die Raumtemperatur war zum Frösteln. Selbst im Hochsommer saßen die Soldaten in ihre Jacken eingemummelt und verbrachten ganze Schichten damit, sich gegenseitig die Schultern zu reiben. Zwar wurden seit Jahren immer wieder Beschwerden beim Ombudsmann eingereicht, aber die Klimaanlagen schepperten einfach weiter vor sich hin. Im zentralen Nervensystem des israelischen Militärgeheimdienstes hatte das Wohlergehen der Computer Vorrang vor dem der Menschen.
Die Meldungen liefen in schwindelerregendem Tempo von allen Residenturen ein, minütlich waren es Dutzende. In neunundneunzig Prozent der Fälle wurden sie von Algorithmen an die zuständigen Gruppierungen verteilt, ohne dass es eines menschlichen Eingreifens bedurfte. In anderen Fällen tauchten die Meldungen auf einem der Bildschirme auf, und der Soldat davor hatte sekundenschnell zu entscheiden, ob die Schichtleitung informiert werden musste.
Die Datenmenge war enorm, aber die Computer waren nicht nur zu einem Screening der Berichte in der Lage, sie vermochten sie auch entsprechend der Glaubwürdigkeit der Quelle und der Brisanz von Schlüsselbegriffen nach ihrer Wichtigkeit einzustufen. Ebenso konnten sie ähnlich lautende Berichte identifizieren und zusammenführen, weshalb um 12.14 Uhr alle Bildschirme an Platz 23 gleichzeitig vor dem Soldaten aufleuchteten:
an: Zentralkommando
von: Chatzav OSINT Europa
Priorität: Sehr dringend/Nicht klassifiziert
Passagiere am Flughafen Charles-de-Gaulle berichten in sozialen Medien von Polizeidurchsuchung des Terminals 2A (= El-Al-Terminal, OvD).
an: Zentralkommando
von: El Al/Security/Leiter Sicherheitsdienst
Priorität: Sofort vorzulegen/VS-NfD
Leiter El-Al-Sicherheitsdienst Paris meldet mögliche Entführung eines israelischen Staatsbürgers vom Flughafen Charles-de-Gaulle. Einzelheiten folgen.
an: Zentralkommando
von: Staatspolizeidirektion/Nachrichtendienste Ausland
Priorität: Sofort vorzulegen/Geheim
Israelischer Polizeirepräsentant Europa meldet Identifizierung einer vermissten Person als israelischer Staatsbürger durch Pariser Polizei. Nähere Umstände unklar. Repräsentant mit Vertreter des Militärattachés vor Ort. Weitere Informationen, sobald verfügbar.
an: Zentralkommando
von: Aman/Zentrale Informationssammlung/Verbindungsstelle US-Geheimdienst
Priorität: Sofort vorzulegen/Streng geheim
Sicherheitsstufe: Code Schwarz
Französische Polizei durchsucht Terminal 2A Charles-de-Gaulle-Flughafen nach israelischem Passagier namens Yaniv Meidan, ca. 20; wollte zur CeBit Expo in Paris; verschwand nach Landung El-Al-Flug 319. (Hinweise auf kriminellen Hintergrund, OvD).
Der Soldat vor dem Bildschirm ging kein unnötiges Risiko ein und klickte auf «weiterleiten». Drei Meter hinter ihm saß die Schichtleiterin auf einem Podium vor einem riesigen Monitor, der die ganze Wand bedeckte. An diesem Tag war es zufällig eine Unteroffizierin, die kurz vor der Beendigung ihres Militärdienstes stand und die in Gedanken bei ihrem bevorstehenden Urlaubstrip zu den Stränden Sri Lankas war.
«Für mich sieht das kriminell aus», sagte sie.
«Aus welchem Grund sollte ein IT-Freak in kriminelle Aktivitäten verwickelt sein?», fragte der Soldat. «Die von der US-Verbindungsstelle stufen alles, was nicht mit Palästina zu tun hat, automatisch als ‹kriminell› ein. Existiert deren Quelle überhaupt, noch dazu auf dieser Sicherheitsstufe?»
Die meisten Berichte aus der Verbindungsstelle zu den US-Geheimdiensten stammten von amerikanischen Abhörstationen, die üblicherweise von der NSA betrieben wurden. Wie konnte deren Diensthabender wirklich wissen, ob es sich bei dem Vorfall um eine Straftat und nicht um ein Sicherheitsproblem handelte? Die Frage des Soldaten war eindeutig berechtigt, auch wenn die Unteroffizierin in diesem Augenblick sehr gut ohne berechtigte Fragen hätte leben können. Die einzigen, die sie liebend gern gehört hätte, wären gewesen: «Möchten Sie auf Ihrem Flug eine Sondermahlzeit?» Und: «Würden Sie während des Fluges gern zollfrei einkaufen?»
«Was brauch ich diesen ganzen Scheiß, jetzt, achtundvierzig Stunden vor meiner Entlassung?», sagte sie zu dem Soldaten, der ein lieber und verständnisvoller Mensch war. Sie lächelte ihn an und drückte die Taste.
«Stabsstelle, hier Zentrale», sprach sie ins Mikrophon. «Wir haben eine Code-Schwarz-Meldung für den Chef, unverzüglich und dringend.» Im obersten Stockwerk des Generalkommandos im Gebäude nebenan sprangen zwei bewaffnete Soldaten von ihrer Sitzbank auf und rannten nach unten.
«Ist er dir während des Fluges aufgefallen?», fragte Chico den Oberst. «Ist dieser Meidan-Typ der Grund, warum du hier bist?» Die beiden Männer hatten sich vom Ermittlerteam im Flughafen abgesetzt und durchquerten gerade die Ankunftshalle von Terminal 2.
«Ich bin gar nicht anwesend», sagte Abadi und drehte sich zu dem Repräsentanten der israelischen Polizei um, der abrupt stehen blieb.
Chico wusste nicht, wie das zu verstehen war, und fuhr sich mit der Hand durchs rote Haar. «Natürlich, natürlich», entschuldigte er sich. «Ich verstehe vollkommen, wenn du nicht über deinen Auftrag sprechen möchtest. Eigentlich wäre es mir sogar lieber, du tätest es nicht.»
«Tu ich auch nicht.»
«Dieses Kidnapping ist so was von seltsam», sagte Chico. Flüsternd fuhr er fort: «Frankreich hat die höchste Rate an unaufgeklärten Straftaten in der westlichen Welt. Diese Ermittlung hier sieht nicht allzu gut aus. Wir müssen uns da vielleicht einschalten.»
Abadi hielt es nicht für nötig zu antworten; stattdessen machte er kehrt und marschierte zurück zu Léger. Welche Ermittlung in einem Vermisstenfall sah in den ersten Stunden schon gut aus? Die Fakten noch unklar, kein offensichtliches Motiv, die Zeugen widersprechen sich, und jedes Fitzelchen an Beweismaterial verschwunden. Die israelische Polizei hätte es wohl auch nicht besser handhaben können.
Weshalb ihn die Ergebnisse, die der Inspektor der Flughafenpolizei vorzuweisen hatte, nicht überraschten. Das Fazit fiel klar aus. Klar – und absolut verwirrend.
«Wir haben einen abgängigen israelischen Passagier, Yaniv Meidan, einen fünfundzwanzigjährigen Marketingleiter, der aus dem Terminal verschwunden ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Die Zeugen sagen aus, er sei aus der Ankunftshalle von einer Frau entführt worden, die er unmöglich gekannt haben konnte, einer großen Blondine in einer roten Hoteluniform.»
«Was soll das heißen, wenn Sie sagen, sie hat ihn entführt? Mit Gewalt?», fragte Chico.
Léger machte eine ausholende kreisförmige Geste in Richtung des Inspektors, die vermutlich bedeuten sollte: «Erklär’s ihnen noch mal, aber langsam.» Abadi war sich noch nicht schlüssig, ob es dem Kriminalrat nicht gutging oder ob dessen düsteres Schweigen seine Art war, Unzufriedenheit auszudrücken.
«Was uns betrifft, so gehen wir im Moment nur von einem Vermisstenfall aus», erklärte der Inspektor. «Die Frau wurde von einer Überwachungskamera erfasst, als sie in einer Hoteluniform den Terminal betrat und dort zusammen mit den Chauffeuren und Angestellten vom Shuttleservice auf die eintreffenden Passagiere wartete. Alle hatten sie Schilder mit den Namen von Passagieren. Sie wartete etwa eine halbe Stunde mit einem Schild; den Namen konnten wir nicht lesen, aber als die Türen aufgingen und die Passagiere herauskamen, ging der Vermisste, und das ist unstrittig, gleich auf sie zu. Die Aufzeichnung zeigt, dass er sie völlig bereitwillig zu den Aufzügen zum unterirdischen Parkdeck begleitet.»
«Und warum durchsuchen Sie jetzt den Terminal?», fragte Abadi. «Was lässt Sie glauben, dass er vielleicht entführt wurde?»
«Hauptsächlich, weil wir durch Geheimdienstmeldungen vor einer möglichen Entführung eines israelischen Staatsbürgers in Frankreich gewarnt wurden. Und schließlich sind ja Sie jetzt hier, oder?», sagte er und sah um Bestätigung heischend Chico an, bevor er weitersprach. «Und der zweite Grund …»
«Der zweite Grund?», fragte Abadi, weil sich der Inspektor selbst unterbrochen und anscheinend Mühe hatte, die richtigen Worte zu finden.
«Der zweite Grund ist, weil die beiden verschwunden sind», sagte er schließlich. «Sie sind verschwunden. Ich wollte herausfinden, ob der Typ aus freien Stücken mit der Blondine hinausging, weshalb ich mir die Aufzeichnungen der Überwachungskameras geben ließ. Man kann sehen, wie sie zusammen in den Aufzug steigen, aber nirgendwo sieht man, wie sie aussteigen. Deshalb habe ich vorhin gesagt, es ist, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Und diesen Sachverhalt habe ich dann Commissaire Léger mitgeteilt, und wir beschlossen, eine Ermittlung einzuleiten.»
Chico räusperte sich übertrieben laut und fragte: «Commissaire Léger, könnten Sie das Oberst Abadi noch einmal im Detail darlegen? Er ist Militär und kein Polizeiermittler, weswegen es für ihn vielleicht schwierig ist, diesen Tatbestand nachzuvollziehen.»
Abadi hatte keine Chance, etwas zu sagen, da Léger gleich loslegte: «Ich weiß nicht, in welcher Eigenschaft Oberst Abadi hier ist. Ich vermute, die Zeugen haben in der Israelischen Botschaft angerufen, was ihr gutes Recht ist. Ich kooperiere mit Ihnen aus reiner Höflichkeit. Wenn Ihnen nicht gefällt, was Sie hören, dürfen Sie gern wieder in die Israelische Botschaft zurückkehren und abwarten, bis unser Bericht Sie auf dem üblichen Dienstweg erreicht.»
«Ich wollte Sie nicht beleidigen», sagte Abadi. «Wir wollen nur verstehen, aufgrund welcher Indizien Sie zu der Annahme kommen, dass er den Flughafen nicht aus freien Stücken verlassen hat.»
Erneut machte Léger eine Geste zu seinem Stellvertreter, der antwortete: «Zu den Untergrundparkplätzen führen drei Aufzüge. Im Innern der Kabinen gibt es keine Kameras, aber wir haben je eine an jeder Tür, sowohl im Erdgeschoss als auch bei den Parkflächen. Wir haben die Aufzeichnungen abgeglichen, zehn Minuten zurück und zehn Minuten vor. Die beiden haben zusammen den Aufzug im Erdgeschoss betreten, haben aber nicht den Ausgang auf der Parkebene genommen. Yaniv Meidan und die Abholerin vom Hoteltransfer sind verschwunden, als hätte der Aufzug sie verschluckt.»
Kriminalrat Léger warf Abadi einen kritischen, beinahe herausfordernden Blick zu. «Meines Wissens sind Sie hier, um die Zeugen zu befragen. Ich bin bereit, das zu genehmigen, und vielleicht wird es Ihnen ja gelingen, aus ihnen Informationen herauszuholen, die dem Bildmaterial widersprechen.» Er machte eine generöse Geste zum angrenzenden Raum, aus dem laute und verärgerte hebräische Stimmen drangen.
Es war 11.30 Uhr am Montag, dem 16. April.
Aus Sicht des Adjutanten hätte der Bericht zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt eintreffen können.
Oren drehte und wendete den Umschlag hin und her. Er war vorschriftsmäßig gekennzeichnet und versiegelt. «Sicherheitsstufe Schwarz», warnte der Stempel. Schwarz war der einzige Farbcode in der nachrichtendienstlichen Skala der Sicherheitsstufen, der sich nicht auf die Sensibilität der Quelle bezog, sondern auf die des Berichts. Dieser konnte Informationen enthalten, die mit illegalen Methoden beschafft worden waren oder die sich direkt auf einen bestimmten israelischen Staatsbürger bezogen. So oder so handelte es sich um Informationen, die als zu heikel für die Weitergabe an einen größeren Personenkreis galten. Seit der Erfindung von Fernschreibern und Faxgeräten wurden Geheimdienstberichte elektronisch übermittelt. Nur Berichte mit Sicherheitsstufe Schwarz wurden dem Direktor persönlich in einem sicheren Umschlag übergeben, mit einem Wachssiegel versehen wie im Mittelalter.
Die Sondersitzung hatte vor einer halben Stunde begonnen, was bedeutete, dass Rotelmann im Begriff stand, zum Kernpunkt der Präsentation zu kommen. Einerseits galt während der Befehlsausgaben: Bitte nicht stören. Aber andererseits … Andererseits hatte der Bericht vom Pariser Flughafen mit dem Alarm zu tun, welcher der eigentliche Anlass für die Zusammenkunft war, und zwar auf eine direkte, seltsame und fast prophetische Weise. Oren ließ den Umschlag wie eine heiße Kartoffel von einer Hand in die andere gleiten. Er fragte die Sekretärin erneut: «Sind wir sicher, dass er nicht in Unit 8200 gedient hat?»
«Yaniv Meidan, Personenkennziffer 8531272, Wehrdienst in der Panzertruppe, vor vier Jahren als Unteroffizier ausgeschieden. Danach Tauglichkeitsherabstufung aufgrund von Rückenschmerzen. Seitdem hat er die vorgeschriebenen Reserveübungen beim Nachschub abgeleistet. Er war keinen einzigen Tag beim Nachrichtendienst, geschweige denn in Unit 8200.»
Sie trug das in ihrem üblichen herablassenden, beinahe unverschämten Tonfall vor, sprach den Dienstgrad des Unteroffiziers voller Verachtung aus, doch war dies nicht der richtige Tag für eine verbale Auseinandersetzung. Oren sah zur Wanduhr. Die Besprechung würde in einer halben Stunde zu Ende sein, die Versuchung, bis zum Schluss zu warten, um General Rotelmann den Umschlag zu übergeben, war überwältigend.
«Ich geh zurück ins Meeting; schieben Sie mir einen Zettel rüber, falls sich irgendetwas tut», sagte er mit dem größtmöglichen Nachdruck eines Vorgesetzten. Im Flur zwischen den Stabsbüros und dem Konferenzraum deponierte er sein Smartphone in der Sicherheitsbox, strich sein Hemd vor dem Spiegel glatt und überlegte kurz, ob er noch die Mesusa küssen sollte, um himmlischen Beistand zu erflehen. Schnellen Schrittes trat er ein und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Seine Abwesenheit war nicht sonderlich aufgefallen, alle Augen waren auf die Präsentation gerichtet. Alle Augen – mit Ausnahme der schönen Augen der neuen 8200-Offizierin, deren Blick zu dem Umschlag wanderte, den er in Händen hielt. Ihr Blick verweilte bei dem schwarzen Siegel und richtete sich anschließend mit Argwohn auf ihn.
Insgesamt verlief doch alles planmäßig, beruhigte er sich selbst. Alles, bis auf das ungeklärte Verschwinden eines israelischen Staatsbürgers mitten aus dem Ort des Geschehens und die zeitgleiche ungeklärte Vertretung des Leiters der für diese Sitzung relevanten Gruppe durch eine übermäßig neugierige Offizierin. Auch der Schweiß auf seiner Stirn war nicht planmäßig.
Das Polizeirevier des Terminals war größer, als von außen zu vermuten war; die schmale Tür führte zu einer ganzen Flucht von Büros. Im ersten Raum waren Techniker dabei, Aufnahmen der Überwachungskameras von Meidan auszudrucken. In diesem Stadium der Ermittlungen wolle man die Fotos nicht an alle Dienststellen im Flughafen verteilen, vor allem nicht an die Grenzpolizei, erklärte ihnen der Inspektor. Es handele sich um Ermittlungen zu einem Passagier, der unter unklaren Umständen verschwunden sei – unter Umständen, die die Möglichkeit einschlössen, dass der Passagier verschwinden wollte.
Man bot der Gruppe an, sich Clips des Bildmaterials der Überwachungskameras anzusehen. Abadi akzeptierte aus reiner Höflichkeit und bat anschließend darum, mit den Reisebegleitern des Vermissten sprechen zu dürfen.
«Die Zeugen wissen auch nicht mehr als wir», sagte Léger gekränkt, führte sie aber hinaus auf den Flur.
Dort gab es genau genommen zwei Gruppen von Zeugen; zusätzlich zu Meidans aufgebrachten Freunden hatte die französische Polizei noch drei der Fahrer ausfindig gemacht, die am Ankunftsgate gewartet hatten. Alle drei stammten aus Israel, wie Kriminalrat Léger seine Gäste informierte, hätten aber keine gültige Arbeitserlaubnis in Frankreich. Als Taxifahrer ohne Lizenz spekulierten sie darauf, Touristen zu ihren nicht gekennzeichneten Fahrzeugen locken zu können, und konzentrierten sich deshalb mehr auf die ankommenden Passagiere als auf das, was rings um sie herum in der Halle passierte.
Aber alle drei erinnerten sich an die junge Frau: lange blonde Haare, groß, rote Uniform – so tauchte sie in allen Zeugenbeschreibungen auf. Genau wie die Taxifahrer habe sie anscheinend auf die Ankömmlinge gewartet, und sie seien davon ausgegangen, dass sie für eine der großen Hotelketten arbeitete. Sie erinnerten sich auch an Meidan, weil er als einer der Ersten aus der Zollabfertigung herauskam. Ein Fahrer sagte aus, er habe ihm auf Hebräisch zugeflüstert: «Suchst du eine billige Fahrt nach Paris?» Doch Meidan sei sofort auf die Blondine zugegangen, habe versucht, den Namen auf dem Schild zu entziffern, das sie hochhielt, woraufhin der Fahrer seine Bemühungen eingestellt habe. Keiner der drei wusste, was danach geschah.
Die Zeugenbefragung verlief eher chaotisch und wurde nicht protokolliert. Chico stellte seine Fragen auf Hebräisch und übersetzte die Antworten ins Englische, Légers Stellvertreter anschließend ins Französische. Es war eine Zirkusnummer, was so gut wie keine Rolle spielte, denn die Aussagen waren wertlos.
«Alors, Oberst Abadi?», fragte der französische Kriminalrat in einem Ton, den man als herablassend hätte auslegen können, der aber auch Mitgefühl signalisierte.
«Ich mag keine Blondinen», antwortete Abadi schließlich.
«In diesem Punkt dürften Sie zu einer Minderheit gehören», sagte Léger und bemühte sich, den Gedankengang seines Gastes nachzuvollziehen.
«Und in einer knappen roten Uniform erst recht nicht. Weil das alles ist, an das sich die Zeugen erinnern werden.»
«Sie gehört zum Transferservice eines Hotels. Die meisten von denen sind blond, und alle tragen sie irgendeine Uniform. Wir fragen bereits in allen großen Hotels nach; ich könnte denen ja Ihre Meinung über Blondinen weitergeben.»
«Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit; von der hat kein Hotel etwas gehört oder gesehen», sagte Abadi und wandte sich der zweiten Zeugengruppe zu.
Fünf Männer, alle Mitglieder von Meidans Delegation, warteten ungeduldig und durchaus verärgert auf ihre Befragung. «Wie lange wollen uns diese Mistkerle noch hier festhalten?», fragte einer, nachdem man ihm die israelischen Ermittler vorgestellt hatte. Die fünf sahen müde und nervös aus und zermarterten sich den Kopf mit der Frage: Was machen wir jetzt? Einige wollten im Flughafen bleiben, bis ihr Kollege wiederauftauchte; andere wollten ohne weitere Verzögerung zur Messe.
Ein kahlköpfiger Mann namens Assaf sprach, da sie ja sowieso alle das Geschehen vom gleichen Blickwinkel aus beobachtet hatten, im Namen der Gruppe. Sie hätten gesehen, wie Meidan mit seinem Koffer durch den Ausgang gegangen sei. Mehrere Abholer seien vor ihm gestanden und hätten Schilder hochgehalten. Meidan sei direkt auf die Blondine in der roten Uniform zugegangen.
«Er wollte mit ihr flirten», sagte Assaf, woraufhin Dubi, der Älteste der Gruppe, ihn korrigierte: «Er wollte uns einfach bloß zum Lachen bringen. Es sah nicht so aus, als hätte er sich bei ihr eine Chance ausgerechnet.»
Er sei spontan auf sie zugegangen unter dem Vorwand, den Namen auf ihrem Schild lesen zu wollen. Nach Assafs Ansicht «hatte er nichts weiter im Sinn, als sich ihre Titten zu betrachten». Er habe gesehen, wie die beiden kurz miteinander sprachen, und dann habe sich Meidan zu ihnen umgedreht und gerufen: «Leute, wartet nicht auf mich, ich habe gerade eine geile Mitfahrgelegenheit gefunden!» Dann sei er lachend der Blondine in Richtung der Aufzüge gefolgt, die hinab zu den Parkplätzen führten. Das sei das Letzte gewesen, was sie von ihm gesehen hätten.
Alle Blicke waren auf Abadi gerichtet, der beschloss, eine Frage auf Französisch zu stellen, und sei es nur, um die simultane Übersetzung in die andere Richtung zu testen: «Est-ce que l’ascenseur montait ou descendait?»
Chico, zunächst überrascht durch den Wechsel der Sprache, übersetzte für die Gruppe: «Er möchte wissen, ob der Aufzug nach oben oder nach unten ging.»
«Warum sollte er nach oben gehen?», fragte Assaf. «Sie wollten doch runter zu den Parkplätzen.» Doch da meldete sich ein hagerer, bebrillter Mann zu Wort, der sich als Uri und als Sicherheitsbeauftragter des Unternehmens vorstellte. «Was ich gesehen habe, war, dass der Aufzug nach oben ging. Das Mädchen führte ihn zum Aufzug, sie stiegen ein, die Tür ging zu. Es leuchtete keine Stockwerksnummer auf, aber ich habe ganz klar einen Pfeil nach oben blinken sehen.»
Kriminalrat Léger machte den Eindruck eines Mannes, der gerade einen besonders erhabenen Augenblick in einem Konzert genoss. «Das ist natürlich eine interessante Wendung der Dinge», sagte er. «Leider ergibt sie überhaupt keinen Sinn.»
«Was befindet sich auf den oberen Ebenen?», fragte Abadi. Aber seine eigentliche Frage wäre gewesen: Seit wann ist ‹Sinn› eine brauchbare Kategorie für kriminelle Aktivitäten oder für das Leben überhaupt? Doch weil er die Franzosen kannte, hielt er sich an die Fakten.
Der Moment war gekommen, an dem Léger die Geduld verlor. «Es gibt keine obere Ebene. Dieser Aufzug ermöglicht einen Zugang zum Terminal 2B, und diese Ebene ist wegen Umbauarbeiten für die nächsten fünf Jahre gesperrt.»
«Ob wir da vielleicht mal raufgehen könnten?», regte Abadi fröhlich an, als wäre ihm gerade ein völlig unerwarteter Gedanke gekommen.
«Meine Beamten haben diese Ebene abgesucht. Wir haben dort nichts gefunden.»
«Trotzdem würden wir uns das gern mal ansehen», sagte Abadi wie jemand, der es gewohnt ist, sich für seine wunderlichen Einfälle zu entschuldigen. «Aus Blondinen mache ich mir als Ermittler zwar nichts, aber verlassene Baustellen liebe ich einfach.»
Im Besprechungsraum hoch über Tel Aviv hatte General Rotelmann mit wenigen Worten die Sitzung eröffnet. Sein Stellvertreter, ein Brigadegeneral und zugleich Chef des Kommandos Informationssammlung, dessen Namen Oriana nicht kannte, den aber alle «Zorro» nannten, erhob sich für die Hauptpräsentation. «Lassen Sie uns zunächst unserem Kommandeur unseren herzlichen Dank aussprechen», sagte der Brigadegeneral. Als dieser mit einem Kopfnicken quittierte, fuhr Zorro fort: «Nein, ich meine das ganz im Ernst. Ich möchte General Rotelmann danken. Es ist in erster Linie Ihrer Führungskompetenz zu verdanken, dass wir in der Lage sind, uns jeder nachrichtendienstlichen Herausforderung zu stellen und sie schnell und effizient zu bewältigen», fügte er – mehr den Zuhörern als dem Adressaten seiner Feststellung zugewandt – feierlich hinzu.
Auch gemessen am üblichen Ausmaß von Speichelleckerei innerhalb der Organisation war dies peinlich. General Rotelmann deutete ein Kopfnicken an. «Danke, Zorro, du warst derjenige, dem die Lösung eingefallen ist, also geht der Dank an dich zurück», sagte er mit ausdrucksloser Miene. Den Satz, genau wie die bisherigen Äußerungen des Generals, hätte man auf zwei Arten interpretieren können. Den strahlenden Augen nach zu urteilen, fasste Zorro ihn eindeutig als Lob auf.
Als Oren später das Zeichen für eine Kaffeepause gab, nutzte Oriana die Zeit, ihre Notizen durchzusehen. Obwohl General Rotelmann nur fünf Minuten gesprochen und dabei alle Informationssammeleinheiten erwähnt hatte, waren die meisten seiner einführenden Bemerkungen für die Unit 8200 relevant gewesen. Oriana teilte sie in drei Kategorien ein: schlecht, bedauerlich und aberwitzig.
Unter «schlecht» fiel Rotelmanns banale Klage über die Sammlung von nachrichtendienstlichen Informationen: Es seien einfach zu viele. Das sagten gegenwärtig alle. «Dank des Abkommens mit der amerikanischen NSA sind wir heute in Kombination mit unserer Unit 8200 die wichtigste und mächtigste Organisation zur Sammlung nachrichtendienstlicher Informationen auf der ganzen Welt», hatte er gesagt. «Doch damit wir letzten Endes von all diesen Daten profitieren können, muss sich die Informationssammlung der Analyse und Lagebeurteilung unterordnen und nicht umgekehrt.»
Auf den ersten Blick handelte es sich um eine inhaltsleere, nichtssagende Feststellung. Doch in der Art und Weise, wie sie vorgetragen wurde, stach sie aus der Geheimdienstlandschaft heraus wie eine Schlange, die in dem Kibbuz übers Herbstlaub glitt, in dem sie als Kind immer vor dem Abendessen draußen gespielt hatte. Die explizite Erwähnung der Unit 8200 in einer so allgemein gehaltenen Ansprache, mit der angeblich alle Mitarbeiter an einen Tisch gebracht werden sollten, konnte kein Zufall sein.
Später war es mit einer Feststellung, die sie unter «bedauerlich» ablegte, noch schlimmer geworden; ein kryptischer Satz, der bedrohlicher klang als alle anderen: «Parallel zum weiteren Ausbau der Zusammenarbeit zwischen allen Abteilungen des Nachrichtendienstes werden wir die Geheimnisträger in unseren Sammeleinheiten strenger überprüfen, besonders innerhalb der Unit 8200.»
Und dann geschah es. Rotelmann zeigte auf ein Organigramm an der Wand, das mit «Das Korps der israelischen Nachrichtendienste» überschrieben war, und sprach über die Notwendigkeit von schärferen Sicherheitsvorkehrungen. Jeder Akteur war entsprechend der Hierarchie platziert. An der Spitze stand der Chef des Stabes der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte; neben ihm sein Stellvertreter, der Vizechef des Stabes, und neben dem Vizechef Rotelmann selbst, der Leiter des militärischen Nachrichtendienstes.
Das Diagramm zeigte korrekt auf, dass Rotelmann drei Stellvertreter hatte, einen für die Informationssammlung, einen für Operationen, einen für Analyse und Beurteilung. Der Leiter der Informationssammler war ein Brigadegeneral. Brigadegeneral Zorro war für acht Einheiten verantwortlich, darunter die Unit 8200. Doch die Stelle, an der Oriana ihre Gruppe innerhalb der 8200 unter dem direkten Kommando des Chefs des Stabes persönlich erwartete, war leer.
Sie suchte das Diagramm nach ihrer Sondergruppe ab, konnte sie aber nicht finden. Die Sicherheitsmaßnahmen für die Unit 8200 – für die Soldaten, die Spione aufspürten, Quellen schützten, undichte Stellen untersuchten, die interne Disziplin überwachten, Operationen der Gegenspionage leiteten – würden nunmehr, wie das Diagramm zeigte, außerhalb der Unit durchgeführt werden, und zwar von der Abteilung für Einsatzsicherheit, von der Militärpolizei und sogar vom Inlandsgeheimdienst Schabak, wobei die drei nicht unabhängig voneinander, sondern eingebunden in die Hierarchie des Nachrichtendienstes arbeiteten.
Der Schabak, überlegte Oriana. Diese Typen wollen schon seit Jahren die Zuständigkeit für die innere Sicherheit der 8200 kriegen. Tatsächlich war dieser Dienst bemüht gewesen, die volle Kontrolle über die innere Sicherheit aller Organisationen zu erhalten. Früher unter dem Namen «Schin Bet», «Sicherheitsdienst», bekannt, einer gemessen an den eigenen Ansprüchen verniedlichenden Bezeichnung, operierte er jetzt unter seinem wahren Akronym «Schabak», obgleich in früheren Jahren seine Kommandeure auf der Nennung des vollen Namens bestanden hatten: «Scherut HaBitachon HaKlali» – «Allgemeiner Sicherheitsdienst».
Apropos Sicherheit: Rabin war direkt unter den Augen der Schabak-Agenten ermordet worden, die ihn beschützen sollten, was das Image der Einheit beschädigt hatte. Sie wurde zurechtgestutzt und verlor viele ihrer Privilegien, darunter auch das der Überwachung sensibler militärischer Einheiten, die Spione ausfindig machen sollten. In der Unit 8200, der wahrscheinlich größten und wichtigsten dieser Einheiten, war dann die Sondergruppe für alle Sicherheitsbelange zuständig geworden. Oriana schaute noch einmal auf das Menetekel an der Wand.
Wer sollte nun also für die strengeren Sicherheitsüberprüfungen in der Unit 8200 und die schärferen Bestimmungen der NSA zuständig werden? Wer sollte die Sonderpolizei in dieser weltweit mächtigsten Informationssammelorganisation werden? Deutete General Rotelmann gerade seine Absicht an, die Autonomie der Sondergruppe beschneiden und sie in eine rein interne, zahnlose und letztlich unwichtige Abteilung innerhalb seiner riesigen Organisation zu verwandeln?
Aus seiner Miene war nichts abzulesen. Er saß am oberen Ende des Tisches, sah zu, wie die Teilnehmer des Meetings ihre Schokokekse verschlangen, wie sie warteten, dass der Zucker herumgereicht wurde, und sich mit anderen über die Qualität des Kaffees austauschten. Er selbst aß und trank nichts. Die Botschaft, die seine Körpersprache aussandte, ließ sich zusammenfassen als: Ich brauche nicht einen Einzigen von euch.
Das wurde nur allzu deutlich durch seine nächste Ankündigung, die Oriana unter der Rubrik «aberwitzig» ablegte.
«Ich habe Zorro gebeten, hier für Sie alle einen kleinen Auffrischungsvortrag zur Allerhöchsten zu halten. Wir werden bei der Sammlung von Informationen keine Aktivitäten dulden, bei denen die Linke nicht weiß, was die Rechte tut.»
IT
«Leute, wir würden gern weitermachen», sagte der Adjutant, und wie durch Zauberhand erschienen Büroangestellte, um die Tabletts von den Tischen abzuräumen. Zorro sprang voller Elan auf und schaltete seine Präsentation an. Auf dem großen Bildschirm erschien das Korpswappen, darunter blinkte der Titel «Streng geheim – Intern».
«Können wir das Licht ausmachen?», fragte Zorro. Die Lichter gingen aus.