Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «Palm Beach Finland» bei Like, Helsinki.

 

Deutsche Erstausgabe

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Februar 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

«Palm Beach Finland» Copyright © 2017 by Antti Tuomainen

Umschlaggestaltung und Motiv bürosüd, München

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN Printausgabe 978-3-498-06556-0 (1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-00174-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00174-9

Alles, was folgt, beruht auf tatsächlichen Ereignissen mit echten Menschen. Nichts ist verändert worden.

In Finnland scheint immer die Sonne.

CHANDLER: Roscoe W. Chandler.

GROUCHO: Geoffrey T. Spaulding.

CHANDLER: What’s the «T» stand for? Thomas?

GROUCHO: Edgar.

MARX BROTHERS, Animal Crackers

 

 

 

 

«… und ich fürchte, dass niemand dem grausamen Tod wird entrinnen können.»

HOMER, Odyssee

Träume

Sie trafen sich an dem Schild. Kari «Chico» Korhonen war als Erster vor Ort. Er bemühte sich darum, den Eindruck zu erwecken, auf niemand Bestimmten zu warten, aber es fiel ihm schwer. Er betrachtete das Schild, als würde er es zum ersten Mal sehen. Er lief daran vorbei, warf betont zufällige Seitenblicke. Zehn Schritte in Richtung Strand, Blick nach rechts.

Palm Beach, Finland

It’s the hottest beach in Finland

Er drehte sich um, als sei ihm plötzlich eingefallen, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte. Zehn Schritte in Richtung Stadt, Blick nach links:

Palm Beach, Finland

It’s the hottest beach in Finland

Chico dachte, dass es sich anfühlte wie einst vermutlich die Erfindung des Farbfernsehens. Auf ähnliche Weise hatte Jorma Leivo, der Besitzer dieser Ferienanlage, am großen Rad gedreht. Innerhalb von zwei Monaten war aus dem Kähärä-Urlaubsressort also Palm Beach, Finland geworden. Als sei aus einem grauen Ei ein kunterbunter, fidel trällernder Vogel geschlüpft.

Der Badestrand war übersät von Sonnenschirmen, auch sie waren vielfarbig. Darüber, ob diese Schirme unbedingt von Nutzen waren, ließ sich natürlich streiten. Böiger Wind wehte, das Wasser war eiskalt. Die Liegestühle unbesetzt. Aber es gab eine neue Promenade, die Chico gerne entlangschlenderte. Palmen, gerade erst eingepflanzt. Also, die waren natürlich aus Plastik, aber immerhin.

Etwas änderte sich. Das Leben. Etwas begann.

Wie anders sollte Chico das interpretieren?

Die Begegnung mit Jorma Leivo.

Zugegeben, diese erste Begegnung hatte stattgefunden, als Chicos kleiner, harmloser Diebstahl aufgeflogen war. Eine Art Arbeitsunfall. Chico hatte beobachtet, dass eine fettleibige Dame ans Wasser gewatschelt war. Er hatte sich ihrer Handtasche genähert, einige ihrer Verzehrcoupons an sich genommen und war zurück an seinen Platz bei der Strandwacht gelaufen. Leivo hatte ihn dort bereits erwartet. An seinen Erläuterungen – Liquiditätsengpässe, hohe Saisonpreise für Einheimische usw. – war Leivo wenig interessiert gewesen. Stattdessen hatte er gesagt, dass er durchaus Verwendung haben könnte für einen Mann der Tat. Als er dann noch erwähnt hatte, dass

«Entschuldigung.»

Er drehte sich um. Sah in Robins Gesicht, in seine braunen Augen.

«Was soll das heißen: Entschuldigung?»

Robin starrte ihn an. Sein Kopf war annähernd vollständig von einem millimeterhohen Teppich umhüllt. Es war unmöglich zu sagen, wo eigentlich der Bart begann und das Haupthaar endete. Und wo genau sich das Gesicht befand. Es war auch unmöglich zu erraten, dass Robin von Beruf Koch war. Dass er in dem hellblauen Restaurant am Strand werkelte – in der einstigen Strandreuse, dem heutigen Beverly Hills Dining.

«Ich dachte, dass man so was sagt, wenn man sich verspätet hat. Oder wenn wir uns hier zufällig begegnen sollen, also, als würden wir uns gar nicht kennen. Dann würde ich sagen: Entschuldigung, wie spät haben wir es?»

«Aber du weißt doch, wie spät es ist. Da du ja auch weißt, dass du dich verspätet hast, nicht wahr?», sagte Chico. «Und wir kennen uns ja ziemlich gut. Leivo hat gesagt, dass das Treffen top secret sein soll, deshalb ist es angemessen, wenn wir uns ein wenig unauffällig verhalten. Aber nicht übertreiben. Okay? Immer schön den Anweisungen vom Boss gehorchen.»

Robin wendete seinen Kopf, sah zum Strand, zur Stadt.

«Ich sehe niemanden. Niemand sieht mich. Wir können los», sagte er.

Robin dachte nicht zum ersten Mal, dass Chico nicht alle

Jorma Leivo sah aus wie einer dieser verrückten Erfinder, die man aus Filmen kannte. Sein Schädel war kahl, an den Seiten wucherten die Haare, lockig und wirr nach allen Seiten abstehend. Mit seinen blauen Augen blickte er sein Gegenüber stechend und durchdringend an, man wollte umgehend ausweichen. Seine Kleidung erinnerte Chico immer an Modekataloge aus der Kindheit. Er trug ein schneeweißes Jackett mit Schulterpolstern. Darunter ein pinkfarbenes Hemd. Er schwitzte und sprach mit einer kehligen, zugleich sanft einladenden Stimme. Alles in allem wirkte er weltmännisch und wie ein Geschäftsmann. Das verhieß Gutes.

«Es sollte nichts allzu Ernstes sein, ihr versteht», sagte Leivo gerade. Er musterte sie beide. «Ein Fenster geht zu Bruch. Ein Regenwasserfass kippt um. Eine Scheune brennt ab. Ein Fahrrad wird entwendet. Jemand pinkelt in den Briefkasten. Seid kreativ. Ärgernisse aller Art. Am besten täglich. Und gerne so, dass auf das eine immer ein noch ärgerlicheres Ärgernis folgt. Ihr versteht. Eine steil ansteigende Kurve. Sie steigt und steigt.»

Chico wartete.

«Ich muss die Villa und das Grundstück binnen eines Monats in meinem Besitz haben», fuhr Leivo fort. «Je schneller, desto besser. Ein Monat ist Deadline. Ihr fangt heute an. Fragen?»

«Wir sind Profis in diesem Gewerbe», begann er.

«In welchem Gewerbe?», fragte Leivo.

Chico sah Leivo an. Er fühlte sich ein wenig aus dem Konzept gebracht. Suchte nach einer Antwort. «Also …»

«Es ist geheim. Geheime Informationen.» Das war die Stimme neben ihm. Robin. Worte aus Robins Mund. Robin hatte so gesprochen, wie er das häufig tat, als würde sich ein Tonband in Bewegung setzen, von dem zufällige Inhalte willkürlich abgerufen wurden.

Leivo betrachtete Robin. Lehnte sich zurück. Er schien darüber nachzudenken, was Robin eigentlich sagen wollte. Das war nicht gut. Chico hatte das Gefühl, am Steuer eines LKW zu sitzen, kurz vor dem Abgrund, mitten im Wendemanöver.

«An welches Honorar hatten Sie denn so gedacht? Bezüglich unserer Tätigkeit?», fragte er.

Leivo wendete sich wieder ihm zu.

«Siezen wir uns?»

«Äh. Ich dachte, weil du ja der Boss bist.»

«Jetzt duzen wir uns?»

Chico hielt inne. Dachte angestrengt nach.

«Irgendwie schwierig, sich mit jemandem, den man siezt, übers Duzen zu unterhalten», sagte er und bereute sein Gefasel sofort. «Oder umgekehrt.»

Leivo legte seine Hände auf den Tisch. Ballte eine Faust. Öffnete die Hände, schloss sie wieder.

«Das hier ist inoffiziell. Ich bin euer Chef, aber nur solange du als Rettungsschwimmer und du als Koch tätig bist», sagte er. Er sah zuerst Chico an, dann Robin. «Verstehen wir uns?»

«Ich zahle ergebnisorientiert», sagte Leivo. «Fünftausend.»

Chico richtete sich auf, wechselte das Bein, schlug das linke übers rechte. Er hoffte zweierlei. Erstens dass es ihm gelingen würde zu verbergen, wie viel ihm die Summe bedeutete – nämlich alles –, und zweitens dass Robin die Schnauze halten würde.

Chico würde es schaffen. Der vierzigste Geburtstag konnte kommen. Er war neununddreißig, und das bedeutete rein gar nichts mehr. Nächstes Jahr zur selben Zeit würde er vor Kraft strotzen. Eric Clapton war siebzig. B.B. King trat noch mit siebenundachtzig auf. Nächstes Jahr. Debütalbum. Gigs in Clubs. Dann Konzerte in Eissporthallen. Ach was, in Stadien. Verkaufsstände mit Tour-T-Shirts. Er würde es Eric noch vor seinem Fünfzigsten gleichtun können, und er würde diese vollbusige Tätowierte aus England oder Amerika kennenlernen …

«Klingt anständig», sagte er.

«Natürlich müsst ihr teilen», sagte Leivo.

«Fünftausend geteilt durch zwei ist zweitausendfünfhundert», sagte Robin.

Zweitausendfünfhundert. Das reichte nicht ganz für die neue Les Paul. Nicht für die, auf der er im Instrumentenladen schon ein wenig herumgezupft hatte. Er brauchte dieses Teil.

«Eure Sache, wie ihr aufteilt», sagte Leivo. «Es ist wichtig, dass wir einander verstehen. Diese Unterredung hat niemals stattgefunden. Ihr habt niemals irgendetwas von dem getan, was ihr bald tun werdet. Ich weiß davon nichts und werde davon nichts zu hören bekommen. Ich habe euch niemals Geld gezahlt. Ihr habt niemals Geld von mir erhalten. Und hiermit ist dieses Treffen beendet.»

«Irgendwas unklar?»

«Wie wäre es mit einem Vorschuss?», fragte Chico.

«Ohne Resultate?»

Chico suchte Robins Blick. Der betrachtete interessiert seine Beine. Immerhin saß er noch.

«Ein Vorschuss macht die Sache gewissermaßen bindend, er schafft eine Verpflichtung», sagte Chico. Ja, das klang gut.

Leivo schwieg. Einige Sekunden lang. Dann fischte er seine Geldbörse aus der Brusttasche.

«Von welcher … Verpflichtung sprechen wir denn hier so?»

Chico lehnte sich zurück, bemüht lässig. «Fünfhundert», sagte er. «Für jeden.»

«Aha. Klar», sagte Leivo, und gerade als Chico Siegestaumel zu spüren begann, fügte er hinzu: «Fünfzig. Pro Mann. Und damit sind wir hier fertig.»

Leivo löste zwei Fünfziger aus einem fetten Geldbündel und schob sie über den Tisch. Chico reagierte intuitiv. Er sprang auf und griff sich das Geld. Erst dann wurde ihm bewusst, dass er wieder mal überreagiert hatte. Der Anblick von Geld hatte diese Wirkung auf ihn. Er konnte nicht anders.

Die Scheine in seiner Hand waren ein wenig feucht.

Die Villa stand am höchsten Punkt einer durchaus idyllischen Halbinsel. Zur Rechten und zur Linken verliefen feine, schöne Sandstrände. Weiter links, vom Festland aus gesehen, mündete der Strand in ein breites, dichtes Waldgebiet, an das wiederum

«Was hat Leivo eigentlich gegen Olivia?», flüsterte Robin.

«Nichts, denke ich», flüsterte Chico.

«Warum will er dann, dass wir in ihren Briefkasten pinkeln?»

«Wir pinkeln nicht in Olivias Briefkasten.»

«Was machen wir dann?»

Chico kam nicht dazu, die Frage zu beantworten. Im Erdgeschoss waren die Lichter angegangen. Olivia war nach Hause gekommen. Genauer gesagt war Olivia ja schon vor Monaten nach Hause zurückgekehrt, nach dem Tod ihres Vaters. Der hatte in seinem Kajak einen Infarkt erlitten, war vom Wind an Land getrieben worden und hatte den Kindern am Strand Angst eingejagt, gekrümmt sitzend, mit seinem starren Gesicht und einem ewigen Lächeln im Gesicht. Das Ruder hatte er noch hochkant in seinen Händen gehalten. Irgendjemand hatte ein Foto gemacht, das Chico gesehen hatte. Am folgenden Tag war Olivia Koski in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Woher auch immer sie gekommen war. Allein und offenbar gewillt zu bleiben.

Und jetzt war also das Licht im Haus eingeschaltet worden. Chico sah den Schatten eines Menschen an der Wand.

Chico hatte einen Plan. Er nahm einen ziemlich großen Stein in die Hände, zeigte ihn Robin, der ebenfalls nach einem Stein griff. Chico erklärte seinen Plan, der womöglich auch schon im Zeitalter der Höhlenmenschen Anwendung gefunden hatte.

«Wir hätten doch in den Briefkasten pinkeln sollen», flüsterte Robin. «Das tut niemandem weh und macht Spaß.»

Chico versuchte angestrengt nachzudenken. Eines war sicher: Das hier gehörte nicht zum Plan.

«Wir müssen …», sagte er, wusste aber nicht weiter. Irgendetwas mussten sie tun. Irgendwas. «Wir müssen sichergehen, dass nichts Schlimmeres passiert ist.»

Da war wieder das Geräusch. Und ein Klappern und Poltern.

Sie gingen zum Haus, an der Fassade entlang zur Treppe, die auf die Veranda führte. Sie gingen nach oben. Die Veranda war recht gemütlich eingerichtet, mit Sofas. Niemand zu sehen. Das Geräusch kam aus dem Innern des Hauses. Die Tür knarrte, als Chico sie aufschob. Er zuckte zusammen, presste die Zähne aufeinander. Er hielt inne, spürte Robin dicht hinter sich. Das Licht kam von rechts, es drang aus der Küche. Chico konzentrierte sich, aber er hörte nichts. Kein Geräusch. Kein Klappern, kein Poltern. Er lief vorsichtig weiter. Im Türrahmen blieb er stehen, spähte in den Raum hinein.

Er sah Fliesen, eine dunkelrote Arbeitsfläche, Geschirrschränke, ein eingeworfenes Fenster. Und Blut. Blut und Scherben. Überall. Unter dem Fenster hatte das Blut eine Pfütze gebildet. Spritzer und Streifen, hier und da. An der weißen Tür des

Er schmeckte Metall, ein elektrischer Mixer streifte seine Augen, seinen Mund, er begann zu fallen, zu stürzen, versuchte, sich auf den Beinen zu halten, aber es ging nicht. Seine Füße taten nicht, was er wollte, er wankte hin und her, auf der Stelle stehend. Dann fiel er auf den Rücken. Er sah Bilder, in schneller Abfolge, hell, dunkel. Dunkle lange Haare, ein von Blut bedecktes Gesicht. Olivias schlanker Körper, sie trug schwarze Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Sie hatte den Mixer, der Mixer war weiß und aus Kunststoff, er reflektierte das grelle Küchenlicht. Chico sah in den Augenwinkeln Robin, der ebenfalls einen Schlag mit dem Mixer abbekam, seitlich am Kopf. Er ging auf der Türschwelle in die Knie. Als würde er darum betteln, die Küche betreten zu dürfen.

Chico war verwirrt und wütend zugleich. Sie hatten sich Sorgen gemacht, hatten nachsehen wollen, ob hier im Haus alles in Ordnung war. Und zum Dank bekamen sie einen verdammten Küchenmixer in die Fresse. Er hörte Schritte, ahnte, was kommen würde, und hatte keine Zeit zu reagieren. Vor seinen Augen tanzten große schwarze Würfel, der Schlag des Mixers war wie der Schlag eines Bären gewesen: In gewisser Weise fast betörend schmerzhaft.

«Wir sind gekommen, um zu helfen», stammelte er.

Aber Olivia schien gar nicht zuzuhören.

Sie hatte sich abgewendet, hob den Mixer hoch, holte aus und ließ ihn auf Robin niedersausen, der sich tapfer auf seinen Knien hielt. Chico hatte das Gefühl, sein Ohr würde brennen, er hörte ein fürchterliches Quietschen.

Es war an der Zeit, die Situation ein wenig zu beruhigen.

Er stützte sich auf dem Tisch ab, zog sich hoch. Die dunkle

Sie lag am Boden, auf dem Bauch. Chico hielt ihre Füße fest, Robin ihren Kopf unter seinem Arm. Chico erteilte hektisch Anweisungen. Wie gut, dass die Frau ziemlich leicht und Robin so stur war, er hielt sie fest, ohne auch nur für Sekunden seinen Griff zu lockern.

Chico hatte einen Plan, das war schon sein dritter an diesem Abend: Sie würden die Frau rausbringen, an die frische Luft. Sie würden sich unterhalten, ein paar Vereinbarungen treffen. Chico war durchaus bereit, die Fenster zu erstatten. Ihr Honorar würde dafür locker reichen. Natürlich war das nicht der eigentliche Plan gewesen, aber …

Chico rief Robin zu, dass es keinen Sinn habe zu fliehen, die Frau kenne sie. Robin schien zu begreifen.

Sie standen mühsam auf, die Frau versuchte sich loszureißen, sie schlug, zappelte, wand sich.

«Halt sie fest», schrie Chico. «Wir bringen sie raus.»

Robin nickte, drehte sich um, suchte eine Position, in der er den Körper anheben konnte. Chico machte dasselbe, stützte sich auf das andere Bein, schrie angestrengt: «Jetzt!» Die Blutpfütze, in der Olivia gelegen hatte und in der nun Chico mit seinen Adidas-Turnschuhen stand, war spiegelglatt. Er rutschte aus, hielt sich intuitiv an Olivia fest, während er fiel. Im selben Moment zerrte Robin auf der anderen Seite am Kopf.

Das Knacken erinnerte an das Zerbrechen eines trockenen Holzstücks. Olivia erschlaffte. Robin umklammerte immer noch mit aller Kraft den Kopf, Chico hielt die Füße, während er sich mühsam durch die Blutpfütze schleppte. Er brüllte Robin

Chico richtete sich auf, Robin stand schon an der Tür.

«Ich habe sie anders in Erinnerung», sagte Robin.

Wie wahr, dachte Chico. Wundert dich das? Er bewegte sich tastend auf Robin zu, warf Seitenblicke auf den am Boden liegenden Körper. Die Haare hingen im Gesicht, aber er konnte doch die Gesichtszüge erahnen. Die Haut war seltsam weiß und straff. Das Auge, das konzentriert eine aus dem Boden aufragende Fußleiste zu betrachten schien, war hellblau. Kleine Ohren. Ein dünner Schnauzbart, ein Kinnbart, wie die feinen Borsten eines Pinsels geformt.

In diesem Fall lag Robin mal richtig. Auch Chico hatte Olivia anders in Erinnerung. Der Grund war ziemlich einfach. Es war nicht Olivia.

 

 

 

1.

Die größten Herausforderungen, die schmerzhaftesten Umstände einer Scheidung wurden einem offenbar von Menschen auferlegt, die mit der Sache gar nichts zu tun hatten. Menschen, die ihre eigenen Erfahrungen teilen wollten, die davon berichten wollten, was sie erlebt hatten, wie es ihnen ergangen war, wie sie es geschafft hatten.

Jan Nyman empfand es tatsächlich als Herausforderung. Er konnte ja schlecht mitteilen, dass ihn all das nicht interessierte (es interessierte ihn in der Tat nicht), es fiel ihm schwer, seine eigene Situation als Überlebenskampf oder etwas ähnlich Dramatisches zu betrachten, und er hatte über Tuula absolut nichts Negatives zu sagen. Ganz im Gegenteil.

Jetzt hatte sich also sein Boss zu Wort gemeldet, hatte ihn in sein Büro zitiert. Am Telefon hatte er es eilig und ein wenig mysteriös klingen lassen. Geh nicht durch die Kantine, geh nicht zu deinem Schreibtisch, komm direkt zu mir ins Büro. Eigenartig. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich überraschen zu lassen.

«Wir waren ja, also Maiju und ich, eine Woche lang in so einer Art Camp. Paartherapie, du verstehst», sagte Muurla jetzt, nachdem er eingangs erwähnt hatte, ebenfalls Erfahrungen in Sachen Trennung und Scheidung zu besitzen. «Unsere Hoffnung war natürlich, unsere Beziehung wieder in die Spur zu bringen. Wir waren da mit sechs anderen Ehepaaren. Leute, die auch am Abgrund einer Scheidung standen. Die konnten sich kaum noch ertragen, die hätten nicht mal gemeinsam auf einen Bus warten

Muurla schwieg, in Gedanken versunken. Nyman hatte nicht die Absicht, die Geschichte in irgendeiner Weise zu kommentieren. Noch nicht mal mit einem Aha, ja, verstehe. Er sah aus dem Fenster.

Das Landeskriminalamt in Vantaa befand sich auf einem großen Grundstück, das wiederum auf der Südseite, auf der Muurlas Büro untergebracht war, an ein ebenfalls großes, unbebautes Nachbargrundstück angrenzte. Es war ein Feld, ein grünes Feld, umgeben von kleinen, niedlichen Birken. Der Blick aus dem Fenster fühlte sich nach Sommerurlaub an. Nyman hatte seinen Urlaub noch nicht antreten können, auch wenn er vielleicht äußerlich so aussah, als sei er auf dem Sprung. Neue weiße Sneakers, legere Bluejeans, ein rötlich-graues Flanellhemd, ein Dreitagebart, der die Gruben an seinen Wangen betonte. Seine dunklen, ziemlich langen Haare waren feucht vom Duschen und lagen etwas wirr. Er sah eigentlich immer so aus. Tuula fand, dass er einem Countrysänger glich, der Langstreckenrennen lief. Oder einem Läufer, der sang. Er war allerdings keins von beiden, kein Läufer, kein Sänger. Er war vielmehr der beste Mitarbeiter im Dezernat für verdeckte Ermittlungen. Vermutlich war das auch der Grund dafür, dass er hier bei Muurla saß. Er suchte Muurlas Blick. Muurla kehrte langsam ins Hier und Jetzt zurück.

Er verschränkte seine Hände auf dem Tisch, wie zum Gebet. «Die vollständige Ermittlungsakte findest du im Intranet, lies sie in Ruhe. Hier die Kurzfassung: Eine Leiche in einer kleinen Stadt, eine Ermittlung lokaler Behörden, ohne Ergebnis, das obligatorische Team des Landeskriminalamts kam und ging, ohne

Nyman betrachtete Muurla, mit seinem breiten Gesicht saß er hinter seinem breiten Schreibtisch. Seine unebene Haut erinnerte Nyman immer unwillkürlich an alte, abgenutzte Sofas. Muurla war von Beginn an sein Vorgesetzter gewesen, schon als er, nach Jahren bei der Mordkommission in Helsinki, hier in Vantaa angefangen hatte. Nyman wusste wenig über Muurla, er kannte nicht mal sein genaues Alter. Vielleicht zeugte das ja davon, dass die Abteilung für verdeckte Ermittlungen tatsächlich funktionierte. Vermutlich war er um die sechzig. Nyman arbeitete gerne unter Muurla. Muurla wollte ausschließlich Ergebnisse, er gab keine guten Ratschläge und erteilte keine unsinnigen Befehle. Er ließ nie den Chef raushängen. Möglicherweise lag es einfach daran, dass Muurla nicht das Format eines Chefs besaß, aber darüber wollte Nyman gar nicht weiter nachdenken.

«Ich vermute, dass es noch weitere Gründe gibt, uns hinzuzuziehen?», sagte er.

«Es sieht nach der Arbeit von Profis aus», sagte Muurla. «Also, gewissermaßen. Die Sache stellt sich in etwa wie folgt dar: Der Typ ist also im Haus, eingeladen oder uneingeladen. Es kommen weitere Gäste hinzu, eingeladen oder uneingeladen. Sie kennen sich oder sie kennen sich nicht. Sie folgen einem Plan oder agieren aus dem Moment heraus. In jedem Fall liegt am Ende ein Mann mit gebrochenem Genick in der Küche. So etwas würde nicht jedem gelingen, du verstehst. Auch nicht der Besitzerin des Hauses, die mit der Sache zu tun haben kann oder nicht. Sie wurde natürlich mehrfach verhört. Und sie blieb immer bei derselben Darstellung: Sie kam nach Hause, alles war verwüstet, und am Boden lag ein Mann, den sie noch nie gesehen hat. Das lässt sich, Stand jetzt, nicht widerlegen. Sie ist tatsächlich zur

«Und der Tathergang deutet auf Profikiller hin?»

«Ja», bestätigte Muurla. «Laut Gerichtsmedizin müssen es mindestens zwei gewesen sein, die wussten, was sie tun. Amateure können auf diese Weise niemanden zu Tode bringen. Es muss alles gewissermaßen austariert sein, man muss ein paar Dinge wissen, über Anatomie, Timing, Zusammenwirken. Vielleicht kommen gewisse Kampfsportkenntnisse hinzu. Nicht die gelben Gürtel, sondern die schwarzen. Und noch was: Es wurde nichts entwendet. Die Täter kamen, erledigten den Job und gingen wieder, bevor die Herrin des Hauses zurückkehrte. Die Misshandlung des Opfers, die Verwüstung, das alles mögen Täuschungsmanöver sein. Der Mann wurde in jedem Fall mit besonderem Geschick getötet. Und da ist noch etwas, das diese Ermittlung rätselhaft macht.»

Nyman wartete. Muurla beugte sich vor, schob seine Ellenbogen auf Nyman zu, näherte sich.

«Es gab da in der Frühphase eine kleine Irritation», sagte Muurla und fokussierte Nyman mit seinen tiefgrauen Augen. Nyman kannte diesen Blick. Bald würde Muurla ihn aus seinem Büro entlassen, mit einer Mission Impossible, die er wie selbstverständlich erledigen sollte.

«Auf Basis des Notrufs hatte die Streife, die zuerst vor Ort war, die Sache missverstanden. Die dachten, dass alles noch im Gange sei, sind also mit Schwung da rein und haben den Mann mit seinem gebrochenen Genick ein wenig unsanft angepackt. Weil sie dachten, dass er vielleicht irre ist oder unter Designerdrogen steht und deshalb mit Steinen geworfen und das Fenster zerstört und die Einrichtung verwüstet hat und dann

«Wer bin ich?», fragte Nyman, bevor Muurla Gelegenheit hatte fortzufahren. Er hatte innerhalb des vergangenen Monats sicher etwa vierhundert Geschichten gehört, die auf die eine oder andere Weise mit Scheidungen zu tun gehabt hatten. Keine davon hatte er hören wollen.

«Jan Kaunisto», sagte Muurla. Er betastete eine Klarsichthülle, die vor ihm auf dem Tisch lag. Zuoberst darin lag ein finnischer Reisepass. «Mathematiklehrer. Sommerferien.»

«Bestens», sagte Nyman. Er hörte seiner eigenen Stimme an, wie trocken und lakonisch das klang. Immerhin durfte er seinen eigenen Vornamen nutzen, das erleichterte die Einfühlung in die fiktive Identität.

«Auf deinem Konto findest du ein Monatsgehalt und Urlaubsgeld», sagte Muurla. «Hier ist auch noch deine Kreditkarte. Alles andere besorgst du dir selbst, Telefon und so weiter. Fragen?»

«Viele. Aber ich vermute, dass die Ermittlungsakten einige Antworten parat haben.»

Muurla überreichte Nyman die Klarsichthülle. Sie sahen einander an. «Willst du hören, wie ich die Sache sehe?», fragte Muurla.

Nyman schwieg. Muurla wertete das offenbar als lautes Ja.

«Diese Frau hat kürzlich einen Mann kennengelernt», sagte

«Aha. Und dann?»

«Was?»

«Falls die Frau Killer angeheuert haben sollte, sind die ja nicht weg. Die kommen wieder. Sie wollen Geld. Und dann wollen sie noch mehr Geld. Sie kommen, wenn nötig, auch, um die Angelegenheit vollständig zu Ende zu bringen.»

Muurla dachte nach.

«Wie gut, dass du bald vor Ort sein wirst», sagte er schließlich. Er nickte irgendjemandem zu, den nur er sehen konnte. Nickte vor sich hin. «Glaub mir, es ist diese Frau, die da die Strippen zieht.»

Der Mann, mit dem Olivia Koski das Haus umrundete, trug eine Schirmmütze. Er war korpulent und redete wie ein Wasserfall, ohne Unterlass. Olivia versuchte, konzentriert zu bleiben, denn immerhin war es möglich, dass sich irgendwo im Gefasel des Mannes auch die eine oder andere wichtige Information verbarg. Der Mann hatte sich als Esa vorgestellt und war sofort danach in diesen Redefluss geraten. Als hätte eine Nadel eine Schallplatte berührt, und jetzt drehte und drehte sich die Scheibe, während sie im Kreis liefen. Auf dem ziemlich neuen, gelb und schwarz lackierten Kleintransporter stand Klempner Kuurainen & Partner. Demnach war Esa entweder Kuurainen oder der Partner.

Er hielt auf der Südseite des Hauses plötzlich an. Stand still. Wendete sich Olivia zu. Er stand kerzengerade, die Arme hingen an seinem Körper herab, er blinzelte in der hellen Mittagssonne und sah aus wie ein Junge, der beflissen eine Aufgabe lösen wollte.

«Hier würde ich sie verlegen», sagte er. «Die neue Wasserleitung. Eine für kaltes, eine für warmes. Seit wann haben Sie die Probleme mit dem Wasser?»

Olivia dachte an ihren Vater. An dessen Vater. An dessen Vater. Liebenswerte, kluge Leute, die allesamt linke Hände gehabt hatten, vielleicht die ungeschicktesten Hände in der Geschichte der Menschheit.

«Seit hundert Jahren», sagte sie.

Esa lachte.

Esa schwieg. Betrachtete den Boden. «Ich würde hier graben und die Rohre verlegen. Wie läuft denn das Wasser zur Zeit?»

Olivia musste nicht allzu lange nachdenken. Der Morgen war ihr noch in lebhafter Erinnerung. Sie hatte schlotternd in der Dusche gestanden, mit Shampoo in den Haaren und klappernden Zähnen.

«Es ist eiskalt», sagte sie. «Und es ist durchaus möglich, die Tropfen an einer Hand abzuzählen.»

«Aha. Also in den letzten Zügen», sagte Esa. Er nickte. Olivia hatte den Eindruck, dass es ihm schwerfiel, seine Begeisterung zu verbergen. «Eine in der Tat eilige Angelegenheit.»

«Wie eilig?»

«Schwer zu sagen. Der Zulauf kann nächste Woche seinen Geist aufgeben, aber eigentlich auch schon bei der nächsten Toilettenspülung. Und ohne Druck und wenn es mal dickeres Zeug gibt, dann weiß man ja nicht, ob es durchgeht. Sie verstehen. Ich will damit nicht sagen, dass das Problem bei Ihnen liegen würde, werte Frau Koski, schlank, wie Sie sind, aber wenn man mal bei einem Buffet ordentlich zuschlägt und zu Verstopfung neigt …»

«Fräulein.»

«Wie bitte?»

«Fräulein», sagte Olivia. «Ich bin nicht verheiratet. Auch wenn ich möglicherweise in dem Alter sein sollte, in dem, nun ja.» Olivia fühlte sich erschöpft. Sie versuchte erst gar nicht, das zu verbergen. Die vergangenen zwei Wochen waren noch anstrengender gewesen als die Wochen und Monate davor, die sie wegen der Beerdigung und all der anderen Dinge schon für ziemlich anstrengend gehalten hatte. Hatte sie sich zu viel zugemutet? Der Gedanke ging ihr nicht zum ersten Mal durch den

«Wasser», sagte sie. «Darum geht es mir. Ich hätte gerne fließend Wasser im Haus. Das war der Grund meines Anrufs.»

«Richtig», sagte Esa. «Wir müssen entscheiden, ob wir eine Komplettsanierung machen oder ob wir hier lokal arbeiten.»

«Komplettsanierung?»

«Dann lägen wir bei etwa siebzigtausend», sagte Esa.

Das war ihr nicht neu. Olivia hatte nie selbst ein Haus bauen oder renovieren lassen, aber sie hatte sehr wohl mit Hausbau und Renovierungen zu tun gehabt. Das war, bezüglich der Preisverhandlungen, ein weites Feld, auf dem alle möglichen Vorstellungen geäußert, Vereinbarungen getroffen und Versprechungen gemacht wurden. Nichts davon musste stimmen oder in irgendeiner Weise tatsächlich verwirklicht werden. Ganz unabhängig von der Frage, ob die von Esa genannte Summe auch nur annähernd angemessen war, würde es zum guten Schluss dann noch teurer werden.

«Wir machen es lokal. Genau hier, an dieser Stelle», sagte Olivia.

Esa bemühte sich darum, seine Enttäuschung zu verbergen. Etwa eine Sekunde lang wirkte er konsterniert, dann hatte er sich wieder gefangen, das kannte sie von Leuten dieses Gewerbes. Er würde jetzt versuchen, sich sein Geld auf andere, nicht weniger fragwürdige Weise zu holen.

«Auch dann sprechen wir natürlich von einem erheblichen Aufwand. Das Haus ist alt, die Bausubstanz ist alt. Eine Herausforderung. Das Material, die Maschinen …»

«Das heißt?», fragte Olivia.

Esa verschränkte die Arme vor der Brust, schien irgendwas im Kopf zu rechnen. Olivia wusste nicht, was genau in den

«Fünfzehntausend», sagte Esa.

«Euro?»

Esa sah sie nachdenklich an.

«Euro», sagte er.

Olivia schwieg, einige Sekunden lang.

«Warum klingt das in meinen Ohren, als wäre das zur Hälfte heiße Luft? Ein Angebot, das Sie mir einfach so vorlegen, weil ich alleine lebe und mich in Sachen Sanitärtechnik nicht auskenne? Es scheint, dass sich Männer immer auf Stereotype und aufs Klischee verlassen.»

Esa schwieg. Entweder hatte die Sonne seine Wangen gerötet, oder es kam von innen. Er wirkte verwirrt und ein wenig aufgeregt. Der Wind rauschte in den Baumkronen.

«Stereo …», murmelte er.

«Genau», sagte Olivia. «Meine Frage lautet: Warum?»

Esa ließ seinen Blick zur Seite schweifen. «Warum, warum. Da ist nicht zur Hälfte heiße Luft. Zehntausend. Das ist mein letztes Angebot.»

Olivia hielt inne. Dann nickte sie. Sie hatte nicht die Absicht zu sagen, dass auch das etwa zehntausend mehr waren, als sie zur Zeit besaß.

«Ich sende Ihnen einen Kostenvoranschlag per Mail», sagte Esa. «Sobald Sie akzeptiert und die Vorauszahlung geleistet haben, fangen wir an. Auch wenn sich das für uns nicht lohnen wird, wir müssen hier sozusagen fast die Kundin dafür bezahlen, dass wir ihr Grundstück umgraben dürfen.»

Auf dem Weg zum Kleintransporter lamentierte Esa auf diese Weise weiter. Alle würden ihm etwas nehmen, das Finanzamt,

Esa drehte sich am Wagen noch mal um, einmal um die eigene Achse, und betrachtete das Haus. Olivia wusste, was Esa sah. Die nagelneu glänzenden Fenster.

«Ein wenig wurde hier ja schon renoviert», sagte er. Olivia glaubte, Genugtuung herauszuhören.

Sie schwieg. Wartete darauf, dass Esa in seinen Transporter klettern und losfahren würde. Endlich stieg er schwerfällig ein, ließ den Motor an und tuckerte schwankend von ihrem Grundstück. Olivia hatte Lust zu schreien. Irgendetwas. Irgendjemanden wollte sie anschreien.

Eine kleine Stadt. Alle wussten, was passiert war. Oder besser: Niemand wusste, was passiert war, aber alle wussten, wo es passiert war.

Olivia ging in die Küche, die inzwischen wieder in groben Zügen so aussah, wie sie einmal ausgesehen hatte und aussehen sollte.

Drei Tage lang war die Küche wie das Setting eines Kinofilms gewesen. Überall hatten Glasscherben und Gegenstände auf dem Boden gelegen. Ihre Gegenstände. Viele Flächen waren rot gewesen, teilweise vom Fingerabdruckpulver, teilweise vom getrockneten Blut eines Fremden. Überall hatten Klebezettel mit

Sicher war, dass irgendjemand Bescheid wusste. Olivia wusste nur, dass sie nichts wusste.

Es war anstrengend gewesen, den Fußboden zu reinigen. Überall hatten Glasscherben verstreut herumgelegen, zwischen den Fliesen, auf dem Tisch, den Stühlen, den Arbeitsflächen. Im Brotkorb. Die Pfeffermühle hatte Blutspritzer abbekommen.

Nach dem ersten Schock – nachdem sie aus der Stadt zurückgekehrt, den Mann tot aufgefunden und mit pochendem Herzen ins Freie gerannt war, um ein wirres Telefonat mit dem Polizeinotruf zu führen – hatte sie begonnen, die ganze Sache sachlich kühl zu betrachten. Das hatte sie selbst überrascht. Sie konnte tatsächlich in einem Haus leben, in dem ein Mann umgebracht worden war. Ein Verwandter hatte gemutmaßt, dass es mit dem anderen Schock zusammenhängen könnte. Mit dem Schock, den der Tod ihres Vaters ausgelöst hatte.

Litt sie noch an einem Schock infolge des Todes ihres Vaters?

Als sie davon erfahren hatte, hatte sie eine Woche lang geweint. Sie hatte zutiefst bereut, dass sie nicht mehr mit ihrem Vater gesprochen hatte, über Dinge, die sie unbedingt noch hätte besprechen wollen. Allerdings fiel ihr dann gar nichts ein, was sie unbedingt noch hätten besprechen müssen. Mit der Zeit wurde ihr bewusst, dass sie mehr als genug gesprochen hatten. Sie wusste, dass ihr Vater ihr immer das Beste gewünscht hatte, so wie er das zu Lebzeiten auch häufig gesagt hatte. Das war alles.

Sie musste wieder ans Geld denken. Wie immer war alles weg. Wie immer aus ein und demselben Grund. Sie war einmal verheiratet gewesen, und einmal hatte sie eine Ehe ohne Trauschein geführt. Beide Ehen, wenn man diese seriöse Begrifflichkeit denn anwenden wollte, hatten achteinhalb Jahre gedauert. In beiden Fällen war sie es gewesen, die schließlich gesagt hatte: Es funktioniert so nicht, Kristian/Marko.

Manchmal dachte sie, dass es an ihr liegen könnte. Das irgendetwas nach achteinhalb Jahren mit ihr passierte. Aber ebenso oft war sie davon überzeugt, dass beide Bindungen vor allem einen Vorzug hatten, nämlich dass sie am Ende «nur» um ihr gesamtes Geldvermögen gebracht worden war.

Kristian: Ein Fotograf, der nicht mal eine eigene Kamera besessen hatte. Olivia war jung gewesen, sehr jung. Kristian hatte ein paar Probleme gehabt, die mit Inspiration und mit Geld zu tun gehabt hatten. Diese Schwierigkeiten hatte Kristian gefühlt seit neunundzwanzig Jahren gehabt. Olivia hatte ihm zugehört, seinen Kopf gekrault und an der Uni studiert. Sie hatte ihr Studium unterbrochen, weil ja jemand hatte arbeiten und in die Rentenkasse einzahlen müssen. Jemand hatte ja den gemeinsamen Haushalt und Kristians Arbeitszimmer im selben Wohnblock finanzieren müssen. Eines schönen Tages, nach getaner Arbeit, hatte sie sich neben Kristian auf das von ihr bezahlte Sofa gesetzt, auf dem er gerade einen Zombiefilme-Marathon absolvierte (er hatte es als «arbeiten» bezeichnet). Sie hatte ihren Spruch aufgesagt: «Diese Beziehung scheint auf diese Weise nicht zu funktionieren.»

Marko: Ein Bürokomplex, an einem entlegenen Ort, den niemand kannte und an dem niemand arbeiten wollte. Marko

Olivia hatte ihre Schlüssel auf den Tisch fallen lassen, neben die Salmiaklikör-Flasche. Marko hatte gerade mit der Maus den Cursor in einem leeren Kalender auf und ab bewegt, und Olivia hatte gesagt: «Diese Beziehung scheint auf diese Weise …» Sie hatte die Tür hinter sich geschlossen und war gegangen.

Danach hatte sie für eine Weile in einer WG gelebt, gemeinsam mit ihrer ehemaligen Klassenkameradin Minna, in der Wallinstraße in Kallio bei Helsinki. Und dann war sie, nach dem Tod ihres Vaters, hierher zurückgekehrt, in dieses Haus.

Eine wichtige Erkenntnis lautete: Männer sind ein kostspieliges Hobby. Egal ob sie charmant, grob, witzig, dumm, strahlend wie Sterne, schwerfällig wie der Griff eines Hammers, gut aussehend oder nicht-ganz-so-gut-aussehend-aber-o.k. waren, zuverlässig oder unzuverlässig oder was auch immer – wichtig war in jedem Fall, die eigene Geldbörse fest im Blick zu behalten.

Sie selbst war neununddreißig Jahre alt, gerne lustig und guter Dinge. Und sie verfügte hinter ihren langen dunklen Haaren über ein durchaus klarsichtiges, scharfsinniges Hirn, wenn auch nicht im Zusammenhang mit Männern. Mehr als einmal hatte sie gehört, dass sie breitschultrig sei, große Füße habe, eine wohlgeformte lange Nase, dass sie großartig aussehe, sonnengebräunt sogar exotisch, stattlich geradezu und dass ihre Augen in der Tat nussbraun seien. Sie hatte in ihrem Leben eine Menge Fehler gemacht, für alle trug sie selbst die Verantwortung. Sie hasste niemanden und nichts und hegte keinen Groll. Sie nagte allerdings so ziemlich am Hungertuch und war

Vielleicht fühlte sie sich ja deshalb so erstaunlich gelassen.

Sie blieb noch für eine Weile ans feste, glatte Holz des Türrahmens gelehnt stehen. Zwischen dem Eingangsbereich und der Küche war ein kleiner Flur, eher eine verlängerte Türschwelle. An der dem Garten zugewandten Seite dieses schmalen Ganges war ein Haken, an dem nichts hing. Olivia betrachtete diesen Haken, die leere, ein wenig dunkle Stelle darunter. Sie hatte alles, was sie gesucht hatte, beim Aufräumen gefunden, nur nicht den einen Gegenstand, aus dem Besitz ihres Vaters und Großvaters, der an dem Haken gehangen hatte. Sie begriff nicht, warum jemand ihn hätte stehlen sollen. Falls er denn überhaupt gestohlen worden war.

Der helle Tag fiel durch die Fenster ins Haus, schenkte Licht, ließ die Küche blank und sauber erscheinen, erleichterte das Gemüt. Es bestand kein Grund zur Unruhe, kein Grund zur Panik.

Oder?

Manchmal hörte sie ein Quietschen, ein Klappern, dann erschrak sie. Natürlich hatte das mit der Küche und dem toten Mann zu tun. Immer wieder mal dachte sie für einige kühle Sekunden, dass da noch jemand im Haus war. Dann beruhigte sie sich wieder. Sie war an einem sicheren Ort, sie wusste das. Was nicht bedeutete, dass es keine Probleme gab.

Ihr Vater war ein Träumer gewesen, ein ungekrönter Weltmeister im «Alles-nur-nicht-pragmatisch-Sein». An die

Sie sah auf die Uhr an der Wand und zuckte zusammen.

In vierzehn Minuten begann ihre Schicht. Der einzige Job, den sie auf die Schnelle hatte bekommen können. Die Arbeit war schlecht bezahlt, und die Kollegen und Umstände waren einigermaßen eigenartig. Insbesondere in jüngster Zeit. Das Komplizierteste an der Sache war die Arbeitskleidung. Von Beginn an hatte es sich komisch angefühlt, und dieses Gefühl hatte sich auch nicht verflüchtigt, so wie Olivia gehofft hatte.

Vielleicht würde es heute anders sein.

Vielleicht würde sie sich heute nicht fühlen wie ein Schinken in der Metzgerei-Vitrine, wie eine Nudistin am Südpol.

Sie lief in den Flur, nahm das Kostüm aus dem Garderobenschrank, hielt es in den Händen. Nein, es fühlte sich nicht anders oder besser an.

Olivia zog sich aus und blieb für eine Weile nackt im Flur stehen. Genau so fühlte sich ihre Arbeitskleidung letztlich an. Sie atmete tief ein, nahm das «Kostüm» und streifte es über. Sie befestigte die Gummibändchen an ihren Pobacken und hoffte, dass sich gleich doch noch eine andere, neue Wahrnehmung einstellen würde.

Irgendwie passierte das auch.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Den neongelben Text konnte sie inzwischen vermutlich mit geschlossenen Augen lesen. Sie schloss die Augen. Ein kurzes Flackern, dann Dunkelheit. Der Text war nicht mehr zu sehen. Stattdessen spürte sie den

Sie öffnete die Augen. Überrascht, verwirrt. Der Mann verschwand, verflüchtigte sich, ebenso wie die Kälte, die sie umfangen hatte.