Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Marion Blomeyer
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-00206-7
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00206-7
Am dritten Sonntag im Januar fuhr ich von unserem Viertel aus mit der U-Bahn zur Hasenheide am Südstern, auf die andere Seite der Stadt. Dort gab es eine Kirche, in der sich die polnische Gemeinde traf. Ich war nur einmal im Inneren der Kirche gewesen, und auch nicht zur Messe, sondern um mir die farbigen Fensterbilder der Heiligen anzuschauen. Genau gegenüber der Kirche befand sich das Lokal Mały Książe, Der kleine Prinz, und wenn man zur richtigen Zeit eintraf, dann bekam man noch einen Tisch, bevor das Restaurant, an das ein Laden mit Lebensmitteln angeschlossen war, sich mit Familien und älteren Herren und Damen füllte, die aus der Sonntagsmesse kamen. In dem Restaurant wurde Polnisch gesprochen, aber jeder Gast sprach auch Deutsch, und die zwei jungen Bedienungen sprachen beides ohne Akzent, sie waren, so glaubte ich, die Töchter des Lokalbesitzerehepaars, die an Sonntagen aushalfen.
Als ich den Raum betrat, waren alle Tische noch frei, aber kurz nach elf begann der Raum sich zu füllen. Es setzte sich, weil die Leute bald zwischen den Essenden standen und ihnen, um abzuschätzen, wann ein Platz für sie frei werden würde, auf die Teller schauten, ein älterer Herr zu mir. Er war in einen grauen Anzug mit weißem Hemd und goldgelber Krawatte gekleidet und trug am kleinen Finger einen goldenen Siegelring, dessen Wappen einen Schild und zwei gekreuzte Degen zeigte. Wir mussten beide nah an den Tisch rücken und uns vorbeugen, hinter uns drückten die Leute gegen unsere Rücken, im Raum dröhnte es wie in einer Abflughalle.
Er fragte mich, ob ich die Pierogi, die ich gerade zu essen begonnen hatte, empfehlen könne, und ich sagte, dass es zwar nicht die besten seien, die ich je in meinem Leben und vielleicht auch nicht die besten, die ich je in dieser Stadt gegessen hätte, aber dass sie trotzdem gut seien. Und so bestellte er bei einer der zwei jungen Frauen, die sich durch die Menge zu uns vorgearbeitet hatte, eine Portion Pierogi.
Wir sprachen Polnisch miteinander. Es stellte sich heraus, dass er aus Südpolen stammte, aus einer Stadt in der Nähe der Stadt Opole, aus der meine Familie kam und in der ich geboren worden war und die ersten zehn Jahre meiner Kindheit verbracht hatte.
Dann waren Sie gerade auch in der Kirche?, fragte er.
Nein, ich war nicht in der Kirche, sagte ich.
Ist denn etwas passiert?
Nein, ich gehe einfach nur nicht in die Kirche, sagte ich.
Er warf mir einen besorgten Blick zu. Für einen Augenblick fühlte ich mich wie ein Betrüger, der hierhergekommen war, um von der gereinigten Stimmung und der Erhabenheit der Kirchgänger um uns herum zu profitieren.
Er fragte mich, was ich beruflich machte, und ich sagte, dass ich Schriftsteller sei.
In welcher Sprache schreiben Sie?
Auf Deutsch.
Und worüber?
Ich schreibe Erzählungen über verschiedene Dinge, zuletzt über meine Familie und Leute, die ich kenne, sagte ich. Ich habe drei Erzählbände veröffentlicht.
Ach so, sagte er.
Er sagte, dass er Handwerker sei und schon seit über fünfzig Jahren in der Stadt lebe. Er sei in den 60er Jahren zur Zeit der Proteste geflohen und habe hier seine Frau kennengelernt, die aus Lublin gewesen und vor sieben Jahren verstorben sei. Nun lebe er allein, ein paar Straßen weiter.
Was für eine Art Handwerker sind Sie?, fragte ich.
Klavierstimmer, sagte er. Er höre aber inzwischen schlecht, andernfalls könnte er sich noch heute, mit 81 Jahren, etwas dazuverdienen, da in den reicheren Stadtteilen Berlins viele ein Klavier zu Hause stehen hätten. Er habe auch ein Haus in seinem Heimatort, aber er kenne dort niemanden mehr. Sein Sohn und seine Tochter machten dort manchmal Urlaub mit ihren Familien.
Seine Pierogi waren gekommen, und er war eine Weile mit dem Essen beschäftigt. Ich fragte ihn, wie sie ihm schmeckten, und er sagte, dass er schon mal bessere gegessen habe, aber auch schon mal schlechtere.
Ach, schauen Sie, sagte er dann, Richtung Theke deutend, an der die Leute vor der Kasse in der Schlange standen, um die Lebensmittel aus dem Laden zu bezahlen. Da ist Frau Halina.
Vom Eingangsbereich des Restaurants winkte ihm eine Dame in einem roten Mantel zu, mit goldenen Ohrklipsen und gepudertem Gesicht und rot geschminkten Lippen. Sie kam in kleinen Schritten und sich umsichtig an den Stuhllehnen festhaltend zwischen den Rücken der Väter, Mütter und Kinder auf uns zu.
Guten Tag, Herr Rosowski, rief sie, lauter, als nötig gewesen wäre, direkt in sein Ohr. Sie lächelte mir freundlich zu, aber auch misstrauisch, als könnte ich ein Enkel ihres Bekannten sein, von dessen Existenz bisher keiner gewusst hatte. Die zwei anderen Stühle an unserem Tisch waren besetzt, es saß dort ein junges Paar, das sich, die Köpfe zusammensteckend, leise unterhielt. Ich stand auf und bot Frau Halina meinen Stuhl an, was sie aber ausschlug.
Bitte, sagte ich.
Ich war mit meinem Essen längst fertig, und die Geräuschkulisse im Lokal und die Leute, die noch immer standen und auf freie Plätze warteten, hatten mich erschöpft. Ich verabschiedete mich von Herrn Rosowski, der mich aber schon gar nicht mehr beachtete. Er war aufgestanden, half Frau Halina, sich zu setzen, und hängte ihren Mantel über meine Stuhllehne.
Ich habe mir eine Portion Pierogi bestellt, rief er ihr ins Ohr, während ich noch neben ihnen stand.
Ach schön, rief sie zurück und rückte den Stuhl näher an den Tisch heran.
Ich zahlte vorne an der Kasse, bei derjenigen der zwei jungen Frauen, von der ich glaubte, dass sie Małgorzata hieß, und trat in die kühle Winterluft hinaus, für einen Moment geblendet von dem grellen Himmel, der sich über die Kirche und den Friedhof auf der anderen Straßenseite und über die ganze Stadt spannte. Ich brauchte einen Moment, bis ich wieder wusste, wo ich war, und ging dann los, Richtung U-Bahn-Station.
Um mich waren spazierende Familien unterwegs. An der Kreuzung hielt ein Mann auf einem Fahrrad, hinter ihm zwei Kinder mit Helmen auf kleineren Fahrrädern. Die ganze Stadt schien unterwegs zu sein, obwohl die Luft schneidend kalt war. Ich ging an der U-Bahn-Station vorbei und an den Geschäften der Urbanstraße entlang zum Kanal, ich ließ mich von der Stimmung der Leute treiben. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass ich in der Kirche gewesen war, wie als Kind in der Familiensiedlung am Stadtrand von Opole, als ich die Geschichten über die Wunder, über die Hochzeit zu Kana, über die Königreiche der Engel und der Teufel noch geglaubt hatte.
Am nächsten Morgen beschloss ich, zum Friseur zu gehen. Ich trat unten auf die Straße. Es hatte geschneit, alle Geräusche waren gedämpft, ein einzelnes Auto tastete sich in die Kreuzung hinein. Ich ging am Salon La Bella der zwei jungen türkischen Männer und am Café Polonia vorbei und bog in die Grüntaler Straße ein, wo sich der Salon Al Hadi befand.
Als ich den Laden unter einer schellenden Glocke betrat, waren zwei Männer im Raum. Der eine war sehr dick, eigentlich fettleibig. Er trug ein graues Sweatshirt und Birkenstock-Schlappen und saß, wobei sein Bauch wie ein Tisch vor ihm aufragte, auf einem der Stühle an der Wand. Der andere war zierlich, er trug eine Jeans und ein in den Hosenbund gestecktes graues Hemd. Sein Gesicht war, anders als das des Dicken, der einen Schnurrbart trug, glatt rasiert. Er kehrte gerade Haare auf dem Boden zusammen und zeigte auf einen der zwei Sessel vor dem die ganze Wand bedeckenden Spiegel.
Als ich mich in den Sessel setzte, fing der Dicke, der, wie mir nun plötzlich schien, vorher schon geredet hatte, wieder zu sprechen an. Er sprach schnell und mit erhobener Stimme. Er hielt dabei sein Telefon vor sich in der Hand und wischte, während ich mich zurücklehnte und der zierliche Friseur mir eine Schürze umlegte, mit den Fingern der anderen Hand über das Display, als würde er etwas kommentieren, was er gerade gelesen hatte. Er saß ganz vorne auf der Stuhlkante. Der Friseur befestigte ein Kreppband an meinem Hals, drehte sich zu ihm um und gab bestätigende Laute von sich.
Kurz sprachen wir dann auf Deutsch darüber, was für einen Haarschnitt ich wolle. Der Friseur sprach leise und freundlich. Möchten Sie, dass ich Sie rasiere?, fragte er.
Nein, danke, sagte ich.
Im Spiegel sah ich den Dicken in meinem Rücken und über ihm einen ohne Ton laufenden Fernseher, in dem Leute um einen Tisch saßen und ästhetisch gestaltete Speisen serviert bekamen und sich dabei angeregt unterhielten. Der Dicke hatte, während wir über meine Frisur geredet hatten, begonnen zu telefonieren. Er legte eine Wade übers Knie und spielte nervös mit der Sandale an seinem Fuß, der in einer grauen Socke steckte. Er hielt das Telefon ans Ohr und sprach mit der gleichen Lautstärke und dem gleichen Engagement im Ausdruck weiter, aber in seinem Gesicht, das ich im Spiegel sah, meinte ich nun auch Unsicherheit zu erkennen, als ginge es um etwas sehr Wichtiges und als hätte die Inbrunst seiner Rede mit Überforderung zu tun.
Ich bildete mir plötzlich ein, dass er immer wieder das Wort Assad wiederholte, den Namen des Tyrannen aus Syrien, woher er selbst womöglich kam und wo vielleicht noch ein Teil seiner Familie lebte. Aber dann dachte ich, dass ich dieses eine in der Nachrichtenlandschaft omnipräsente Wort vermutlich nur zu hören glaubte. Es konnte, da der Dicke es nicht besonders deutlich aussprach, genauso gut Amad oder Hassan sein.
Der zierliche Friseur, der mir inzwischen die Haare am Hinterkopf kürzte, schien ihm nicht mehr zuzuhören. Er war in seine eigenen Gedanken versunken, schaute dabei aus dem Fenster, vor dem Trapeze aus Sonnenlicht sich auf dem Gehweg abzeichneten.
Dann sah ich ihn im Spiegel nicken, und ich hörte, wie er ein bestätigendes Wort nach hinten sagte. Er drehte sich zu dem Dicken um, der das Telefon abgelegt hatte, aber weitersprach, mit derselben Dringlichkeit in der Stimme, die inzwischen etwas heiser klang.
Ich wollte etwas sagen. Ich wollte den Dicken hinter mir etwas fragen, ihn irgendwie auf seine Situation ansprechen. Aber ich wusste nicht, was ich sagen könnte. Und so saß ich, während der Friseur mir den Nacken auspinselte, schweigend da.
Bald legte der Friseur das Rasiermesser zur Seite. Mein Gesicht im Spiegel war seltsam und fremd wie das einer anderen Person. Ich zahlte acht Euro und sagte Tschüs zu den beiden und lächelte sie an. Sie erwiderten den Gruß und lächelten zurück. Der Dicke setzte seine Rede einfach fort, und ich war froh, als ich draußen auf dem Gehweg stand.
Während ich zurück in unsere Straße bog, dachte ich, dass ich mir zu viele Gedanken machte. Selbst wenn meine Vermutung stimmte, dachte ich, konnte ich nichts tun, denn der Krieg im Heimatland des Dicken war eine Tatsache, und dass ich und die beiden hier lebten, war ebenfalls eine. Trotzdem schämte ich mich, während ich durch unsere Straße am Salon La Bella vorbeiging, die beiden nichts gefragt zu haben.
Es war Anfang Mai, als ich die Architektin kennenlernte. Am Ende unserer Straße, auf Höhe des Gesundbrunnen-Centers, befand sich seit ein paar Wochen eine Grube, neben der zwei gelbe Kräne in den Himmel ragten. Neue Wohnapartments und Studios sollten dort, laut einer großen weißen Tafel, entstehen. In der Grube war einen Tag nach ihrem Auftauchen schon Zement ausgegossen gewesen, aber bisher war kein nächster Schritt unternommen worden.
Meine Frau Veronika und ich hatten ein paarmal darüber gesprochen, unsere Wohnung umzugestalten, auch wenn wir es nicht wirklich vorhatten. Im Mały Książe hatte ich per Zufall auf der Theke neben verschiedenen Prospekten eine Visitenkarte auf einem Stapel gefunden. Dorota Kamszer – Architektin, stand darauf. Rufen Sie an! Weil mich diese Aufforderung interessierte, rief ich noch am selben Nachmittag unter der angegebenen Nummer an.
Aber Sie müssen herkommen, sagte die Architektin am Telefon, nachdem ich ihr unser Anliegen geschildert hatte. Ich verlasse meinen Stadtteil nicht.
Sie bleiben immer nur in Schöneberg?, fragte ich.
Ja, sagte sie. Obwohl, einmal war ich Segeln auf dem Wannsee. Ein Mann, in den ich sehr verliebt war, hatte mich dazu eingeladen, und da musste ich natürlich durch alle auf dem Weg liegenden Stadtteile fahren, was mir gut gefallen hat. Aber das ist schon dreißig Jahre her, der Mann und ich waren sehr jung.
Ich war irritiert von dieser Eröffnung. Da mir die Geschichte außerdem wenig glaubwürdig vorkam, fragte ich sie, wie sie das mit ihrem Beruf vereinbare. Auch in anderen Stadtteilen werde doch gebaut. Eine Architektin müsse doch irgendwann ihre Gebäude besichtigen.
Ich arbeite von zu Hause aus, sagte sie.
Ihre Visitenkarten lagen im Mały Książe, sagte ich. Das ist doch in Kreuzberg.
Eine Freundin hat sie dort für mich vorbeigebracht.
Und der Segler? Was ist aus ihm geworden?
Vermutlich lebt er noch heute irgendwo in dieser Stadt, sagte sie. Er hat eine Familie und einen Beruf, dem er gerne nachgeht. Vielleicht hat er sogar schon Enkelkinder.
Die Architektin sprach leise und gewählt. Ihr Polnisch erinnerte mich, wie mir, nachdem ich aufgelegt hatte, plötzlich bewusst wurde, an dasjenige, das ich von meiner Oma kannte, die aus Brzeżany stammte, einer Kleinstadt, die vor dem Zweiten Weltkrieg polnisch gewesen war, heute jedoch zur Ukraine gehörte. Die musikalische Art und Weise, wie sie die Wörter miteinander verschmelzen ließ, weckte in mir die Vorstellung von uralten Potocki-Gräfinnen, von einer längst untergegangenen, aber im kulturell-genetischen Pool des alten Osteuropa noch präsenten Vergangenheit, die als Erinnerung fortdauerte. Ich fühlte mich davon angezogen. Aber mich überkam auch, nachdem ich aufgelegt hatte, ein merkwürdiges Gefühl des Unbehagens.
Was meinst du mit Unbehagen?, fragte Veronika, die mir gegenüber auf unserem Sofa im Flur saß, in der Nische unter dem Fenster, als ich ihr von dem Telefongespräch erzählte.
Ich weiß es nicht, sagte ich.
Ich musste in diesem Augenblick, auch wenn ich es selbst übertrieben fand, an die letzten Worte des Elfenbeinhändlers Kurtz aus Joseph Conrads Heart of Darkness denken, ich sah die Szene auf dem Kongo-Fluss beinahe vor mir. Ich sah den in der Kabine siechenden Kurtz, von Irrsinn befallen, längst für das Leben der normalen Menschen verloren, wie er aus wirren Albträumen für Augenblicke auftaucht und, den Blick schon in eine andere Sphäre gerichtet, wieder und wieder dieselben Worte sagt: das Grauen.
Du übertreibst, sagte Veronika.
Vermutlich, sagte ich.
Die Architektin wohnte in einem Teil Schönebergs, der geprägt war von bürgerlichen Wohnhäusern. Die Wohnungen hinter den Fenstern, so konnte ich, an diesen Häusern mit ihren Erkern entlanggehend, durch einige Scheiben sehen, hatten hohe Zimmerdecken und Stuck. Die arabischen Imbisse, wie ich sie aus unserem Viertel kannte, waren hier einsame Inseln zwischen Cafés, Weingeschäften und dem griechischen Restaurant an der Ecke.
Das Haus mit der Nummer 17 befand sich in einer ruhigen Seitenstraße mit einer sich alle fünfzig Meter verengenden Fahrbahn. An den Engstellen ragte aus der Reihe der geparkten Autos jeweils ein bepflanztes, durch Kopfsteinpflaster begrenztes Halbinselchen in den Asphalt.
Ich klingelte, die Gegensprechanlage blieb lange stumm, knackte dann doch, und eine Stimme, die heller klang als die am Telefon, sagte meinen Namen und Vornamen. Nachdem ich bestätigt hatte, passierte aber nichts. Ich zögerte eine halbe Minute lang – denn wer wusste, was sie davon abhielt, den Türöffner zu drücken. Als ich aber beschloss, ein zweites Mal zu klingeln, und den Finger schon auf den Knopf legte, summte das Schloss, und die schwere Eingangstür gab nach.
Entschuldigung, sagte sie in der Tür im zweiten Stock, ich musste noch eine dringende E-Mail zu Ende schreiben. Sie öffnete die Tür ganz und trat einen Schritt zurück, um mich in einen unter meinen Füßen knarzenden, unter ihren aber kein Geräusch machenden Wohnungsflur einzulassen. Im Türrahmen eines der angrenzenden Zimmer bat sie mich, die Schuhe auszuziehen und mir aus dem Regal neben der Wohnungstür ein Paar Stoffschlappen zu nehmen.
Ich stand in diesem Flur, ich atmete ein und spürte eine überraschende Weite. In der Wohnung roch es nach etwas, das ich kannte. Ich meinte, es sei der Geruch alter Bücher, deren Papier in Zeiten hergestellt und umgeblättert worden war, die schon lange vergangen waren.
Hinter der Architektin lag ein Durchgangszimmer, in dem ein Schreibtisch vor einem Fenster stand. Die rückwärtige Seite wurde ausgefüllt von einer Palme und anderen hohen Pflanzen. Aus diesem Raum führte eine weitere Tür, durch die der Ausschnitt eines Kühlschranks zu sehen war.
Sie wollen also Ihre Wohnung umgestalten, sagte die Architektin.
Wir denken lediglich darüber nach, sagte ich.
Alle wollen ihre Wohnungen umgestalten, sagte sie. Sie lachte, und es war ein irgendwie kindliches, aber auch ironisches Lachen.
Sie führte mich in ein weiteres Durchgangszimmer im hinteren Bereich der Wohnung, das auf den Hof hinausging. Um das Fenster zum Hof war der Raum etwas heller, aber das Licht wirkte wie Konservenlicht, wie Tageslicht zweiter Klasse. Es schien abgestanden, drang kaum über den Radius von einem Meter in den Raum hinein. Links von uns öffnete sich eine Flügeltür in ein großes Zimmer mit Balkon und Fenster zur Straße, die von Sonnenlicht erhellt war. Noch bevor ich jedoch in diesen Raum treten konnte, schloss die Architektin die Tür und lotste mich an den Esstisch im Durchgangszimmer. Sie selbst setzte sich an dessen Kopfende.
Ich schaute, nachdem ich mich gesetzt hatte, auf eine Wand aus Buchrücken hinter verschiebbaren Regaltüren.
Nehmen Sie ein Stück Kuchen, sagte die Architektin und deutete auf einen hellen Streuselkuchen mit weißer Zuckerglasur. Dieser hier ist aus dem Supermarkt an der U-Bahn-Station, von der Sie gekommen sein müssen. Der Laden hat so gut wie nichts im Angebot, seit Jahren heißt es, es werde einen Umbau geben. Auch soll der Laden von einem anderen Betreiber übernommen werden, aber bisher ist nichts geschehen. Diesen Kuchen – sie deutete auf einen zweiten, in Scheiben geschnittenen Kuchen, der blass und irgendwie mager aussah und mich in seiner Grobporigkeit eher an ein Omelette erinnerte – habe ich selbst gebacken, er ist meine Spezialität.
Ich legte ein Stück von dem selbstgebackenen Kuchen auf meinen Teller. Sie stand auf und verschwand in den Wohnungsflur, und ich hörte aus dem vorderen Bereich der Wohnung, jenseits des Raums mit dem Schreibtisch und dem Zimmerdschungel, Schranktüren klappern und Wasser rauschen. Ich nahm einen Bissen von dem Kuchen – und wollte ihn sofort wieder auf den Teller fallen lassen. Nach nur kurzem Kontakt mit meiner Zunge hatte ich ein überwältigendes Erlebnis vollkommener Geschmacklosigkeit. Das Stück Kuchen lag in meinem Mund und sonderte nichts ab, es zerfiel auch nicht, sondern behielt, wenn ich es kaute, seine gummiartige Konsistenz. Ich konnte das Stück, wie ich dann feststellte, kauen und schlucken, aber im Mund blieb kein Vermissen zurück.
Wie schmeckt er Ihnen?, fragte die Architektin, als sie zurückkam und aus einer silbernen Espressokanne Kaffee in die Tassen goss.
Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht, sagte ich.
Ich backe ihn eher aus praktischen Gründen, sagte sie. Er wird aber beginnen, Ihnen zu schmecken. In meinem Bekanntenkreis ist er inzwischen sehr beliebt. Ich verschenke viel davon an meine Freunde. Er ist sehr gesund, denn er besteht praktisch nur aus Eiweiß. Ich benutze auch keinen Zucker.
Für eine Weile schaute sie nachdenklich in die Zimmerecke und auf das Fenster zum Hinterhof. Sie war klein und zierlich, ihre Lippen waren rot geschminkt. Sie hatte schlanke Hände, die jedoch, wie mir im ersten Moment schon aufgefallen war, ungewöhnlich harthäutig und abgearbeitet wirkten. Ihr kurzes graues Haar wirkte federleicht. Ich hatte in diesem Moment den Eindruck, dass in ihren Gesichtszügen sich etwas sehr Lebendiges zeigte, die Intelligenz von Generationen von Professoren und Gelehrten. Es stellte sich heraus, dass sie aus Opole kam, wie ich.
Aber ich bin schon lange nicht mehr dort gewesen, sagte sie.
Wir sprachen eine Weile über verschiedene Straßen und Plätze der Stadt. Ich beschrieb ihr, wo ich als Kind gewohnt hatte. Ich erzählte ihr auch, dass viele der alten deutschen Häuser um den Rathausplatz oder am Kanal heute renoviert und pastellfarben gestrichen waren und dass es an der Oder neugestaltete Spazierwege gab und dass dort Sportgeräte aufgestellt worden waren für die Stadtbewohner, zur Steigerung der allgemeinen Gesundheit, finanziert mit EU-Geldern.
Das klingt sinnvoll, sagte sie.
Auf ihre Frage, was ich machte, erzählte ich, dass ich Schriftsteller sei und bisher drei Bände mit Erzählungen veröffentlicht hätte.
Ein Schriftsteller, sagte sie. Interessant. Dann kennen Sie sich bestimmt auch mit Architektur aus.
Nicht wirklich, sagte ich.
Ich arbeite seit mehr als dreißig Jahren als Architektin, sagte sie. Auch mein Vater war Architekt. Ich habe hier, in dieser Stadt, einige wichtige Projekte durchgeführt. Kennen Sie das Gomrich-Gebäude und die Fildingerhöfe? Das Gomrich-Gebäude ist ein Komplex im alten Ostberlin, in der Nähe des Hackeschen Markts, mit Büroräumen und verglasten Lokalen im Parterre, in denen sich vor der Wende Geschäfte für die Klasse der Werktätigen befunden haben. In den Fildingerhöfen waren vor dem Krieg ein Kino und Tanzsäle und Restaurants. Auf dem Platz steht heute ein Gebäude, an dessen Neubau ich beteiligt gewesen bin, in den 90er Jahren. Es ist sieben Stockwerke hoch und hat achtundneunzig Fenster aus Glas mit dunkler Tönung. Die Fassade knickt in regelmäßigen Abständen ab und fügt sich dadurch, wie ich finde, gut zwischen das Gomrich-Gebäude, die alten Fildingerhöfe und die neuen Geschäfte. Ich glaube, es ist heute ein Hotel. Sie sollten hinfahren und es sich anschauen.
Das werde ich vielleicht machen, sagte ich.
Sie begann, die Fotos unserer Wohnung, die mitzubringen sie mir am Telefon aufgetragen hatte, über den Tisch zu schieben und sie in wechselnden Konstellationen anzuordnen, mal in einer Reihe, mal in einem verzweigten Gebilde, bei dem der Flur mit unserem Sofa das Zentrum bildete, von dem aus unsere Zimmer und die Küche und das Bad, wie bei den ausgefalteten Seitenflächen eines Würfels, sich auffalteten. Sie betrachtete die Fotos lange. Da ist eine Nische, ja?, fragte sie. Diese Pflanze steht gegenüber von diesem Flurfenster?
Ich erklärte ihr, dass in unserer Wohnung das Flurfenster tatsächlich eine Besonderheit darstellte, denn der Flur endete in einer Seitenwand des Gebäudes, die frei stand, sodass man ein kleines, quadratisches Fenster hatte einbauen können. Eben unter diesem Fenster, zwischen meinem und dem Zimmer meiner Frau, war die Nische, und in dieser stand unser Sofa.
Ja, das habe ich schon alles selber gemerkt, sagte sie.
Wieder verschob sie die Fotos, erzeugte eine neue Geometrie, verengte die Augen. Das Foto, das die Küche zeigte, besah sie besonders lange und skeptisch.
Diese Wand könnte man rausnehmen, sagte sie.
Das würde unsere Vermietungsfirma vermutlich nicht gerne sehen, sagte ich.
Die Wohnung ist nur gemietet?, rief sie aus. Das ändert natürlich alles! Am besten, man besitzt eine Wohnung. Ich besitze meine leider auch nicht. Wie viele Quadratmeter hat dieses Zimmer?
Vielleicht zweiundzwanzig, sagte ich.
Das ist zu wenig.
Wann werden Sie sich die Wohnung anschauen?
Ich schaue sie mir jetzt gerade an.
Ich meine, wann werden Sie sie besichtigen?
Ich besichtige keine Wohnungen, sagte sie. Ein guter Architekt muss eine Wohnung nicht besichtigen. Bitte zeichnen Sie mir den Grundriss mit den genauen Quadratmeterangaben auf dieses Blatt Papier, sagte sie und schob mir ein Blatt und einen Bleistift zu. Dann hob sie das Foto der Küche hoch und schaute es wieder lange an, schüttelte den Kopf. Diese Wand stört sehr, sagte sie.
Sie stellte mir noch ein paar weitere Fragen. Ob ich mich in einem der Bereiche besonders gerne aufhielte, oder ob ich, zum Beispiel, einen Hang zur Schwermut hätte. Sie fragte auch, ob wir die Wohnung lange behalten wollten, oder ob sie für uns nur eine Transit-Station darstelle.
Was heißt lange?, fragte ich.
Für immer, sagte sie, was mich, als sie es aussprach, merkwürdig erschreckte.
Ich sagte: Erst mal für immer. Später dann vielleicht nicht mehr.
Sie nickte. Sie schaute wieder zum Fenster, das auf den Hinterhof ging. Gestern morgen war ich auf dem Weg ins Rathaus, um eine offizielle Angelegenheit zu erledigen, sagte sie plötzlich. Kurzum, ich beziehe zur Aufstockung meiner Einnahmen Sozialunterstützung und musste aktuelle Unterlagen einreichen. Ich wollte außerdem im Media Markt einen neuen Toner für meinen Farbdrucker kaufen, da ich für ein paar Freundinnen von mir, die dazu technisch einfach nicht in der Lage sind, ein Poster gestalte. Und da habe ich in einem Park die folgende Szene gesehen: Da stand, direkt am Eingang zum Park – es ist der Park neben der U-Bahn-Station, in dem früher, bis in die 90er Jahre, ein bekannter Homosexuellentreffpunkt gewesen ist –, quer zum Bürgersteig und mit der Motorhaube in den Park hinein, der eigentlich nur ein sogenannter Skwer oder Square ist, ein roter Mercedes. Und darin saß am Steuer ein Mann, etwa in Ihrem Alter. Seine Freundin oder Ehefrau, in ein weißes Jäckchen gekleidet und ziemlich übertrieben geschminkt, lehnte seitlich an der Motorhaube und telefonierte. Der Mann tat so, als würde er das Auto steuern, wie ein Kind. Er wirkte, als hätte er Spaß daran, und die Frau telefonierte in einer Sprache, von der ich glaube, anhand von Reiseerfahrungen in meiner Jugend, dass es Bulgarisch gewesen ist. Die Frau wirkte eher wie seine Mutter. Sie lachte während des Telefonats gutgelaunt, sie schien insgesamt sehr entspannt zu sein, während die Leute, die an dem Auto vorbeigingen, die Köpfe schüttelten.
Etwas an dieser Szene, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, stieß eine Erinnerung in mir an, es versetzte mich woanders hin. Das Gefühl war so stark, dass ich stehen bleiben musste. Es war etwas an der Art, wie das Auto quer über den Bürgersteig in den Park hineinragte, der vor fünfunddreißig Jahren, als ich in diese Stadt gekommen bin, ein ganz anderer Ort gewesen ist. Vielleicht erinnerte es mich an meine Kindheit, da ich als Kind oft mit meinem Vater Spaziergänge in den Park auf der Insel Bolko gemacht habe. Es hatte aber auch etwas mit der Selbstverständlichkeit zu tun, mit der die beiden da eine Pause machten, die Frau telefonierte und der Mann auf sie wartete und sich nichts daraus machte.
Die Architektin saß eine Weile schweigend da. Ich nahm einen Schluck Kaffee und aß einen Bissen von dem Kuchen.
Allein in diesem Viertel passiert schon genug, sagte sie. Da muss man nicht noch in andere fahren. Die Leute fahren zu viel herum.
Interessiert es Sie nicht, wie es heute in anderen Stadtteilen aussieht?, fragte ich.
Jedes Stadtviertel ist strukturell gesehen gleich, sagte sie. Ich habe hier alles, was ich brauche.
Sie schaute wieder zum Fenster im hinteren Bereich des Raums. Sie wirkte für einen Moment fast verträumt, dann musterte sie mich mit einem scharfen Blick.
Als Kind, sagte sie, hatte ich einen zwei Jahre älteren Bruder, den ich sehr verehrte, Janek. Ich wollte so sein wie er, weshalb ich mir Hosen anzog und oft seine Mütze oder seine T-Shirts auslieh. Am liebsten hätte ich mir, wie er, die Haare kurz geschnitten. Janek war ein sehr guter Schüler. Er spielte Fußball und Klavier, er war in der Schwimmauswahl der Schule für hundert Meter Kraul – er war eigentlich in allem gut. Bevor ich lesen konnte, las er mir die Abenteuer des Kapitän Nemo vor, er las mir Winnetou vor und Robinson Crusoe und Lederstrumpf. Eines Tages erkrankte er an der Lunge. In dieser Zeit – es waren die 1960er Jahre – gab es in Polen keine Krankenversorgung wie heute. Er wurde in ein Kinderkrankenhaus in Głuchołasy gebracht, nahe der tschechoslowakischen Grenze in den Opawskie-Bergen, Sie kennen die Gegend vermutlich. Ich erinnere mich sehr genau an unsere Besuche. Mein Bruder lag in einem Gang, weil alle Zimmer überfüllt waren. Er lag in einem der zahlreichen Gitterbetten, die zu beiden Seiten des Gangs standen, und fragte mich, von trockenen Hustenanfällen unterbrochen, nach Neuigkeiten aus. Er wollte wissen, wie es in der Schule lief und was ich den ganzen Tag lang ohne ihn machte. Ich erzählte ihm von den Büchern, die ich inzwischen selber lesen konnte. Ich sagte, dass ich ihn allein besuchen kommen und ihm daraus vorlesen könnte.
Ich würde mich sehr darüber freuen, sagte er mit einem ungewöhnlichen Ernst in den Augen.
Einmal besuchten meine Mutter und ich ihn schon am Morgen, zu einer ungewöhnlichen Stunde, ich weiß nicht mehr, warum. Auf der Station ging der Betrieb gerade erst los, mein Bruder bekam das Frühstück serviert, einen Teller Milchsuppe vermutlich. Ich stand neben seinem Bett, und ich weiß noch, ich staunte über seine langsamen Bewegungen beim Löffeln der Suppe und beim Schlucken – da kam plötzlich ein Arzt an uns vorbei, und in seinen Händen trug er, ich werde es nie vergessen, ein blau angelaufenes, wie aus blauem Wachs geformtes Baby. Die Augenlider des Babys waren zugekniffen, seine Lippen waren fest zusammengepresst. Ich sah es, als der weiß gekleidete Arzt an mir vorbeikam, sehr deutlich. Ich schaute dem Baby, das auf meiner Augenhöhe im Arm des Arztes lag, direkt ins Gesicht.
Als der Arzt an mir vorbei war und ich ihn zwischen den Bettreihen forteilen und durch den Gang verschwinden sah, bekam ich Angst. In den folgenden Nächten träumte ich immer wieder dieselbe Szene, nämlich wie der Arzt mit dem Baby am Ende des Flurs in einen Raum und ans offene Fenster tritt und das Baby dort durchs offene Fenster hinauswirft. Es fällt nicht tief, denn der Raum ist im Parterre und geht auf eine Wiese hinaus. Das Baby fällt genau auf einen Haufen unter dem Fenster, wo schon zehn, fünfzehn solcher toten Babys liegen.
Für immer ist die Erinnerung an meinen Bruder mit diesem Bild von der Rückseite des Klinikgebäudes in den Opawskie-Bergen verknüpft. Das ist der Grund, warum ich bis heute in kein Krankenhaus mehr gegangen bin und auch nie in eines gehen werde. Auch ist es für immer verknüpft mit meiner Angst vor der Leere des Universums, die ich in den Nächten, da ich von den blauen Babys träumte, gespürt habe als eine Art Hintergrundrauschen, als leises, aber niemals abbrechendes Brummen. Aber nicht so sehr fürchtete ich mich damals, in meinen Träumen, vor dem eigenen Tod, sondern ich hatte Angst um meinen Bruder. Die Erzählungen von den Heiligen und von Jesus und Maria, all der Weihrauch und mein weißes Kommunionskleid und das Versprechen des ewigen Lebens nach dem Tod konnten mich nicht trösten. Ich finde erst heute allmählich einen gewissen Trost darin, eine Kirche zu betreten. Jedoch nicht etwa, weil ich an Gott glauben würde, sondern weil es mich an meine Kindheit denken lässt. Und interessanterweise an die schönen Tage mit meinem Bruder. Heute ist die Dunkelheit aus meinen Erinnerungen verschwunden. Es bleibt das junge Gesicht von Janek in seiner vollen Lebendigkeit, beim Spielen auf einem Fußballfeld. Sein ernstes Gesicht, wenn er von einem Buch aufschaut und innehält im Lesen, weil eine besondere Stelle erreicht ist und er mich auf die Folter spannen will.
Die Architektin lehnte sich zurück. Sie schaute an mir vorbei, wieder zu dem Fenster im hinteren Bereich des Durchgangszimmers, das den Raum kaum erhellte.
Ich fühlte mich im ersten Moment sprachlos von dieser Erzählung. Das ist eine sehr traurige Geschichte, sagte ich. Es tut mir sehr leid.
Muss es nicht, sagte sie. Es geht mir heute gut. Aber ich denke oft an diese Zeit zurück.
Die Architektin schüttelte den Kopf, seufzte. Und dann erzählte sie ohne irgendeine Überleitung, dass sie nach der Begegnung im Park über zwei Stunden im Rathaus hatte untätig herumsitzen müssen, um ihren Personalausweis erneuern zu lassen, den sie wiederum brauchte, um eine Kopie davon für einen neuerlichen Antrag im Bürgeramt, Abteilung für Soziales, abgeben zu können, damit ihr wieder neue Monatsbeträge ausbezahlt würden. Ich saß, während sie das sagte, auf meinem Stuhl und fühlte, wie mir etwas den Magen zuschnürte. Aber sie schien es nicht zu bemerken.
Wir brauchen ein zweites Treffen, sagte sie. Ich muss nachdenken, etwas recherchieren.
Sie rutschte mit dem Stuhl zurück, erhob sich und schob mich beinahe in den Flur. An der Wohnungstür gab sie mir, nachdem ich mir die Schuhe angezogen hatte, einen Flyer, auf dem auf Deutsch eine Veranstaltung des Filmclubs «Kormoran» angekündigt wurde.
Ein paar Freunde von mir organisieren in einem Kino hier um die Ecke ein Treffen mit Dokumentarfilmern. Die Einnahmen werden gespendet, sagte sie. In diesem Monat läuft der Film eines Regisseurs aus Sri Lanka über den dortigen Bürgerkrieg. Vielleicht interessiert es Ihre Frau und Sie. Ich werde Sie, wenn Sie mir Ihre Mailadresse geben, in den Verteiler aufnehmen.
Bevor ich aus der Wohnung ging, überreichte sie mir noch ein Paket in Alufolie, das, als ich den Daumen hineindrückte, auffällig gummiartig nachgab.
Das ist für Ihre Frau und Sie, sagte sie. Lassen Sie ihr ein Stück übrig!
Mitte Mai war ich für eine Vortragsreise in einige süd- und westdeutsche Städte eingeladen. Meine letzte Station war Trier. Es war ungewöhnlich heiß – es waren angeblich die heißesten Tage des Jahres – und schwül. Meine Gastgeber erzählten mir, die Römer hätten sich an der Mosel wegen des für Deutschland einzigartigen Klimas besonders wohl gefühlt. Später seien hier deutsche Soldaten trainiert worden, die nach Afrika oder Indochina gehen sollten.
Ich schaute mir den Dom und die Porta Nigra an, gedrungene Bauten aus schwarzem Stein, die noch aus der Römerzeit stammten. Auf einem Hügel mit Weinstöcken, der sich über die Altstadt erhob, stand eine Kirche, die mit ihrem niedrigen Turm an eine Villa aus der Toskana erinnerte. In Trier gab es das einzige Apostelgrab diesseits der Alpen, dasjenige von Matthias, dessen Gebeine Helena, die Frau von Konstantin, in die Stadt hatte bringen lassen, während der Kaiser hier residierte.
Ich ging durch die Altstadt und suchte in den Gesichtern der Trierer nach römischen Zügen, als könnte sich das Leben von vor zweitausend Jahren über die Generationen hinweg darin erhalten haben.
Ich freute mich, als ich mit dem Zug wieder in Berlin einfuhr, zwischen den Wohnhäusern, die bis an die Bahntrasse gebaut waren, sodass man in die Wohnzimmer und Küchen und auf ihre Balkone schauen konnte, und dazwischen immer wieder in das Labyrinth der Straßen der verschiedenen Stadtteile.
Meine Mutter war im Internet auf eine Bank gestoßen, die eine einjährige Festgeldanlage zu 1,5 Prozent Zinsen anbot. Diese Bank hatte, wie sie mir nach meiner Rückkehr am Telefon erzählte, offenbar eine Berliner Adresse, und sie bat mich, mir die Bankfiliale anzuschauen, um ihr zu sagen, welchen Eindruck sie auf mich machte.
Ich fuhr mit der U8 zum Alexanderplatz und ging ein Stück an den Hochgleisen der S-Bahn Richtung Hackescher Markt zurück, bog dann in ein Viertel mit Altbauten und Cafés. Ich folgte einem Metallschild mit der Aufschrift SAVEDO durch den Hausdurchgang in einen Hof. Nichts deutete hier auf die Kundenfiliale einer Bank hin, bis auf ein weiteres Metallschild an einer Tür neben einem verglasten Aufzugsschacht. Ich fuhr in den dritten Stock und trat dort durch eine Glastür mit neu wirkendem, graugebeiztem Holzrahmen.
Hallo, sagte eine Frau, die direkt vor mir in einer Sofaecke saß. Sie lächelte kurz zu mir hinauf und beugte sich wieder über einen Laptopbildschirm. Der Raum, zu dem mir die Sofaecke den Zugang eher versperrte als öffnete, war sehr hoch. Er bestand aus einer Ansammlung kleinerer Räume, die als Glasboxen in ihn hineingebaut waren mit weiteren Leuten an Schreibtischen darin.
Can I help you? Die Frau war aufgestanden und streckte mir eine Hand entgegen. Sie war ungefähr in meinem Alter. Etwas an ihrer Unsicherheit und vielleicht auch an der Tatsache, dass sie hier im Eingangsbereich auf einem Sofa saß, machte mich wiederum plötzlich selbst nervös.
Ist das die Rezeption?, fragte ich auf Englisch und deutete hinter sie auf den Holzrahmen der ersten Glasbox, wo ein Schild hing mit der Aufschrift Rezeption. Die Frau drehte sich um, sah das Schild an und dann wieder mich.