Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «Mine: A Novel of Obsession» bei HarperCollins Publishers, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg bei Reinbek
«Mine: A Novel of Obsession» Copyright © 2018 by JL Butler
Redaktion Elisabeth Mahler
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung FAVORITBUERO, München, nach der Originalausgabe von HarperCollins Publishers
Coverdesign Elsie Lyons
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ISBN Printausgabe 978-3-499-29180-7 (1. Auflage 2019)
ISBN E-Book 978-3-644-40407-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40407-6
Für JP
Ich weiß nicht mehr viel über die Nacht, in der ich sterben sollte. Schon merkwürdig, wie das Gedächtnis Erinnerungen ausblenden kann, die es nicht länger aufbewahren will, das muss man wissen. Aber wenn ich die Augen schließe, höre ich die Geräusche dieser Mainacht noch immer. Das Heulen eines für die Jahreszeit viel zu kalten Windes, das Klappern des Schlafzimmerfensters, und in der Ferne das Glucksen der Wellen auf dem Kies.
Und es regnete. So viel weiß ich noch, denn in meinem Kopf kann ich das feine Prasseln des Regens gegen das Fensterglas noch immer deutlich hören. Sekundenkurz war es geradezu hypnotisierend. Sekundenkurz übertönte es das Geräusch seiner Schritte draußen: tapp, tapp, tapp, Schuhsohlen auf Steinfliesen, mit langsamem, entschlossenem Tritt.
Ich wusste, er kam näher, und ich wusste, was ich zu tun hatte.
Ich lag auf dem Bett unter der Decke und zwang mich, ruhig zu bleiben. Von der Beleuchtung des Küstenpfads sickerte ein schwacher Lichtschein ins Zimmer. Meistens wirkte so eine gespenstische Dunkelheit beruhigend auf mich, doch in dieser Nacht fühlte ich mich nur umso verlorener, als schwebte ich ohne Halteleine durchs All.
Ich ballte die Hände zu Fäusten, hoffte, betete, die tröstliche Dämmerung des neuen Tages möge sich im Fenster zeigen. Aber auch ohne auf die Uhr zu blicken, wusste ich, dass es bis dahin noch mindestens vier oder fünf Stunden waren, und dass es dann zu spät wäre, musste ich mir nicht extra ausrechnen. Die Schritte waren jetzt direkt vor dem Haus, und ein schwaches Echo des metallischen Schabens, mit dem ein Schlüssel ins Schloss geschoben wurde, drang die Treppe herauf. In dem großen, alten Gebäude war es schwer, Geräusche zu vermeiden, dazu war es zu müde und erschöpft …
Wie war ich nur in diese Situation geraten? Ich war nach London gezogen, um es besser zu haben, um mich weiterzuentwickeln und interessantere Menschen kennenzulernen. Mich zu verlieben. Und da lag ich nun: als Warnung, wie man es besser nicht machen sollte.
Ich hörte die Haustür knarren, als sie geöffnet wurde. Kühle Luft drang durch die Ritzen im Fenster und stach mir in die Nase. Es war kalt wie in einem Leichenschauhaus – ein auf makabre Weise treffender Vergleich. Ich selbst lag da wie eine Mumie, die Arme dicht am Oberkörper, die zitternden Hände unter die Hüften geschoben, so schwer und regungslos, als wären es tote Gewichte, die mich im Bett verankerten.
Als die Schritte den oberen Treppenabsatz erreichten, zog ich meine Hände aus der Wärme hervor und legte sie auf die kalte Baumwolldecke. Sie waren zu Fäusten geballt, die Fingernägel in die Handfläche gepresst, aber wenigstens war ich bereit zu kämpfen. Das war wohl die Anwältin in mir.
Vor der Schlafzimmertür zögerte er kurz, und dieser Augenblick schien sich zu einer eisigen, über allem schwebenden Stille zu verdichten. Hierherzukommen war keine gute Idee gewesen. Ich schloss die Augen und hielt mit aller Kraft eine einsame Träne davon ab, mir über die Wange zu laufen.
Ein weiches Scharren von Holz über Teppich, als die Tür aufging. Jeder Nerv in meinem Körper befahl mir, aus dem Bett zu springen und loszurennen, aber ich musste abwarten, musste wissen, ob er es tatsächlich tun würde, tun könnte. Mein Herz hämmerte, meine Glieder waren vor Angst wie erstarrt. Ich hielt die Augen geschlossen, konnte jedoch spüren, wie er sich jetzt bedrohlich über mich beugte und mein Körper von seinem unheilvollen Schatten verschluckt wurde. Ich hörte sogar seinen Atem.
Er presste mir die Hand auf den Mund, die Berührung war kalt und fremdartig auf meinen trockenen Lippen. Jetzt machte ich die Augen auf und konnte ein Gesicht sehen, nur Zentimeter von meinem entfernt. Verzweifelt versuchte ich, den Gesichtsausdruck zu lesen, zu erkennen, was er dachte. Mit aller Kraft riss ich die Lippen auseinander, bereit, zu schreien, und dann ließ ich den Dingen ihren Lauf.
Drei Monate zuvor
Ich war erst vor fünf Minuten zurück in die Kanzlei gekommen, als ich spürte, dass jemand in der Tür zu meinem Büro stand.
«Na los, zieh den Mantel wieder an. Wir gehen einen Happen essen», sagte eine Stimme, die ich erkannte, ohne aufschauen zu müssen.
In der Hoffnung, er würde wieder verschwinden, schrieb ich einfach weiter, konzentrierte mich auf das Geräusch, mit dem mein Füllfederhalter übers Papier kratzte.
«Hopp, hopp, auf geht’s», sagte er energisch, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Ich blickte zu Paul, dem Büroleiter der Kanzlei, auf und schenkte ihm ein widerwilliges Lächeln.
«Paul, ich bin gerade erst aus dem Gericht gekommen. Ich stecke bis zum Hals in Arbeit, muss Anträge tippen …», erwiderte ich, während ich ein paar Unterlagen aus meiner Aktentasche zog. Dabei fiel mir auf, dass das Leder an einer Stelle eingerissen war, und ich machte mir eine gedankliche Notiz, dass ich sie reparieren lassen musste.
«Mittagessen im Pen and Wig», sagte er, nahm meinen schwarzen Mantel vom Garderobenständer neben der Tür und hielt ihn mir auf, damit ich hineinschlüpfte.
Ich zögerte kurz, dann fügte ich mich dem Unvermeidlichen. Paul Jones war eine Naturgewalt, und sich ihm zu widersetzen kam nicht in Frage.
«Gibt es einen Anlass?», fragte ich und sah ihn an, als wäre der Vorschlag, zum Mittagessen in den Pub zu gehen, etwas äußerst Ungewöhnliches. Was er meistens auch war. In den vergangenen sechs Monaten hatte ich so ziemlich jede Mittagspause mit einem Sandwich am Schreibtisch verbracht.
«Bei Mischon’s hat eine neue Partnerin angefangen. Höchste Zeit, dass ihr euch mal vorgestellt werdet.»
«Jemand, den ich kenne?»
«Sie ist gerade erst von Manchester hier runtergezogen. Du wirst sie mögen.»
«Da soll wohl jemand die Nordengland-Karte ausspielen, um Aufträge an Land zu ziehen», sagte ich lachend in übertrieben breitem Dialekt meiner Heimat.
Dann griff ich nach meiner Handtasche, und wir verließen das Büro, stiegen die lange, geschwungene Treppe hinab in die Eingeweide der Kanzlei. Sie lag da wie eine Geisterstadt, was um diese Tageszeit – es war kurz nach ein Uhr – allerdings nicht ungewöhnlich war. Die Angestellten waren in der Mittagspause, die Telefone schwiegen, und die Anwälte waren noch im Gericht oder trudelten nach und nach von dort wieder ein.
Als wir auf die Straße hinaustraten, biss mir der scharfe Februarwind ins Gesicht und ließ mich nach Luft schnappen. Oder vielleicht war es auch der Anblick von Middle Temple, der mich selbst nach den fünfzehn Jahren, die ich mittlerweile hier arbeitete, noch immer überwältigte. An diesem Tag war er von einer ganz besonders düsteren Schönheit. Middle Temple, eine der vier «Inns of Court» genannten Londoner Anwaltskammern, liegt eingezwängt zwischen Themse und Fleet Street und besteht aus einem Gewirr aus Klöstern und denkmalgeschützten Gebäuden. Es ist ein kleiner Rest Londons, in dem die Zeit stehengeblieben ist, einer der wenigen Orte in der City, die nachts noch von Gaslaternen beleuchtet werden. Zu einem nasskalten, grauen Tag wie diesem passte er perfekt.
Auf dem Weg zum Pub schob ich die Hände in die Manteltaschen.
«Na, war der Vormittag gut?»
Das war Pauls Art zu fragen: Hast du gewonnen?
Es war wichtig für Paul, immer darüber unterrichtet zu sein, wie es in unseren Fällen lief. Ich konnte ihn gut leiden, er unterstützte uns – fast schon wie ein Vater, auch wenn ich mir keine Sekunde lang vormachte, seine Sorge um uns könnte selbstlos sein. Die Arbeit für die Kanzleianwälte ergab sich durch Verfahrensweitergaben und persönliche Empfehlungen, und Paul, der als Büroleiter das ganze System koordinierte, erhielt einen prozentualen Anteil an sämtlichen Gebühren, die abgerechnet wurden.
«Du hast da heute Nachmittag noch was Interessantes auf der Agenda, nicht wahr?», fragte er.
«Ein erstes Vorgespräch mit dem Mandanten und seinem Rechtsberater über unsere Vorgehensweise. Eine Scheidung, bei der es um einen Haufen Geld geht.»
«Um wie viel? Weißt du das schon?»
«Weniger als bei Paul McCartney.» Ich grinste. «Aber immer noch genug.»
Paul zuckte die Achseln. «Es ist eine Schande. Wir könnten wirklich mal ein paar Fälle gebrauchen, die Schlagzeilen machen. Trotzdem, gute Arbeit, Fran. Eine Scheidung von einem solchen Kaliber ist normalerweise ein Job für den Kronanwalt, aber der Rechtsberater hat ausdrücklich dich verlangt.»
«Ach, das ist Dave Gilbert. An Weihnachten schicke ich ihm immer eine Flasche richtig guten Scotch, und dann ist er das ganze Jahr über nett zu mir.»
«Vielleicht weiß er ja, dass du die beste Prozessanwältin in ganz London bist, die man noch bezahlen kann. Wenn meine Alte mit einem millionenschweren Schrotthändler durchbrennen würde, würde ich mich auch an dich wenden», meinte er mit einem Augenzwinkern.
Das Pen and Wig, ein für Middle Temple typischer Pub und schon seit Queen Victorias Zeiten bei Anwälten äußerst beliebt, lag nur ein paar Minuten zu Fuß von der Kanzlei entfernt. Ich war dankbar für den warmen Luftzug, der uns entgegenschlug, als wir in den gastlichen, holzgetäfelten Raum traten.
Dann aber runzelte ich verwirrt die Stirn, als ich in einer etwas erhöhten Nische am anderen Ende der Bar ein Grüppchen meiner Kollegen zusammengedrängt stehen sah. Es war ungewöhnlich, so viele von ihnen auf einem Haufen versammelt zu sehen, es sei denn, es handelte sich um einen Umtrunk mit Mandanten in der Kanzlei.
«Was ist denn hier los?»
«Alles Gute zum Geburtstag!» Paul grinste, als Charles Napier, der Vorstand der Kanzlei, sich umdrehte und uns über die Köpfe der beiden Auszubildenden, zwei zierlichen jungen Frauen, hinweg zuwinkte.
«Dann soll ich also gar keiner neuen Rechtsberaterin vorgestellt werden?», fragte ich, wobei ich mich unbehaglich und überrumpelt fühlte. Auch wenn mein Beruf von mir verlangte, vor Gericht aufzutreten, hasste ich es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Davon abgesehen hatte ich die Tatsache, dass ich an diesem Tag siebenunddreißig wurde, ganz bewusst verschwiegen, nicht zuletzt deshalb, weil ich am liebsten selbst vergessen wollte, dass ich auf die vierzig zuging.
«Jedenfalls nicht heute Mittag», grinste Paul, während er mich durch den Pub lotste.
«Mann, da sind ja ganz schön viele gekommen», murmelte ich, denn ich wusste, wie schwer es war, so viele meiner Kollegen auf einem Fleck zusammenzubringen.
«Lass dir das bloß nicht zu Kopf steigen. Es wird gemunkelt, dass der gute alte Charlie es in die engere Auswahl für einen Richterposten am Obersten Gericht geschafft hat. Ich nehme an, er war in Feierlaune und hat allen Champagner versprochen.»
«Und da dachte ich doch tatsächlich, er wollte auf mein Wohl anstoßen.»
«Was möchtest du trinken, Geburtstagskind?», fragte Paul.
«Ein Mineralwasser mit Zitrone», rief ich ihm nach. Er war zur Bar abgebogen, und ich musste mich den Rest des Wegs zu Vivienne McKenzie allein durchschlängeln.
«Alles Gute zum Geburtstag, Fran», sagte Viv, eine der ranghöchsten Anwältinnen der Kanzlei Burgess Court, und umarmte mich herzlich.
«Ich bin wohl mittlerweile in einem Alter, in dem man am liebsten so tun würde, als wäre es ein Tag wie jeder andere», sagte ich, während ich den Mantel auszog und über einen Stuhl hängte.
«Unsinn», entgegnete Viv heiter. «Ich bin zwei Jahrzehnte älter und finde die Vorstellung von einem Neuanfang und guten Vorsätzen noch immer äußerst verlockend – beinahe wie an Neujahr, nur ohne das Klischee und den Druck, wenigstens bis zum Dreikönigstag durchzuhalten. Aber wie auch immer. Sie wissen doch, was morgen für ein Tag ist?», fuhr sie in komplizenhaftem Ton fort.
«Der Tag nach meinem Geburtstag?»
«Morgen wird die Liste mit den Kronanwälten bekanntgegeben. Was bedeutet …» Sie brach vielsagend ab.
«Der Lebenstraum mancher Leute wird sich erfüllen.» Ich lächelte.
«Das bedeutet, dass die Bewerbungsrunde für die Liste der Kronanwälte im nächsten Jahr eröffnet ist», entgegnete sie in einem theatralischen Flüstern.
Ich wusste, was jetzt kommen würde. In der Hoffnung, das Gespräch doch noch abwenden zu können, ließ ich meinen Blick durch den Pub wandern.
«Haben Sie vor, sich zu bewerben?», drängte sie.
«Nein», sagte ich, mit einer Endgültigkeit, die ich mir selbst gegenüber noch nicht eingestanden hatte.
«Sie sind alt genug dafür, das wissen Sie doch?»
Ich warf ihr einen sarkastischen Blick zu.
«Genau das will eine Frau an ihrem Geburtstag hören.»
«Das sollte ein Kompliment sein.»
Viv musterte mich eindringlich. Diesen Blick hatte ich bei ihr schon oft gesehen: Die Nasenflügel leicht gebläht, die Augenbrauen kaum merklich gehoben, den Blick aus den grauen Augen unverwandt auf mich geheftet. Sie hatte die perfekte Anwaltsmiene und setzte sie äußerst wirkungsvoll ein. Als sie mich damals ausgebildet hatte, hatte ich sie vor Gericht immer genau beobachtet und dann zu Hause vor dem Spiegel geübt.
«Sie sind eine der besten Junioranwältinnen in der Branche», sagte sie wohlwollend. «Ich wüsste ein Dutzend Richter, die Ihnen ausgezeichnete Referenzen ausstellen würden. Sie müssen endlich anfangen, an sich zu glauben.»
«Ich bin mir einfach nicht sicher, ob es schon an der Zeit ist, mich zu bewerben.»
«Hier kommen Wein und Mineralwasser», mischte Paul sich augenzwinkernd ein. Er balancierte zwei Weingläser, eine Flasche Pinot grigio und eine kleine Dose Schweppes.
«Woher wusstest du, dass ich heute Geburtstag habe?» Lächelnd nahm ich ihm die Gläser ab.
«Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, über alles Bescheid zu wissen, was bei Burgess Court so vor sich geht.»
Er schenkte Wein in die Gläser und blickte auf.
«Also: Kronanwältin. Bist du bereit dazu, Fran?»
«Nicht jetzt, Paul», sagte ich und versuchte, das Verhör mit Humor zu nehmen.
«Warum nicht jetzt? Ab morgen kann man sich bewerben», sagte er und warf Vivienne einen Blick zu.
Durch den breiten Rücken vor mir ging ein leichter Ruck, dann drehte er sich um.
«Ich schätze, es wird Zeit, dass ich mich an dieser Unterhaltung beteilige», sagte ein weicher Bariton.
«Hallo, Tom», grüßte ich und blickte hoch zu meinem gleichaltrigen Kanzleikollegen, der einige Zentimeter größer als ich und durch sein regelmäßiges Rudern auf der Themse ziemlich durchtrainiert war. «Hat man dir in Eton denn nicht beigebracht, wie man sich benimmt?», fragte ich tadelnd.
«Doch, hat man, aber das hält mich nicht davon ab zu lauschen. Nicht, wenn sich etwas so interessant anhört.» Er grinste und schenkte sich Wein nach.
«Und?», fragte Paul. «Was meinen die beiden gescheitesten Junioranwälte bei Burgess Court dazu? Soll man sich nun bewerben oder nicht …»
«Also, ich sitze schon in den Startlöchern. Du etwa nicht, Fran?»
«Das ist kein Wettbewerb, Tom.»
«Doch, ist es», antwortete er unverblümt. «Erinnerst du dich noch an unseren ersten Tag im Referendariat? Wie hast du’s noch mal ausgedrückt? Trotz meiner ‹sogenannten Eliteausbildung und erstaunlichen Selbstsicherheit› würdest du es nicht nur vor mir zur Kronanwältin bringen, sondern vor unserem gesamten Jahrgang.»
«Das hab ich nur gesagt, um dich zu ärgern», stellte ich mit gespielter Schärfe in der Stimme fest.
«Es war dein voller Ernst.»
Ich sah ihn an und wunderte mich im Stillen, dass Tom Briscoe es noch nicht zum Kronanwalt geschafft hatte. Sein Ruf als der Anwalt, zu dem jede unglücklich verheiratete Vorzeigegattin ging, wuchs stetig – und welche Frau würde nicht gerne von ihm vertreten werden? Vom gutaussehenden, gewitzten, alleinstehenden Tom Briscoe. Er gab den Frauen nicht nur rechtlichen Beistand, er gab ihnen Hoffnung.
«Ich glaube, Charles möchte eine kleine Rede halten», sagte Tom und wies mit dem Kinn auf unseren Kanzleivorstand, der mit einem Teelöffel an sein Weinglas schlug. «Ich gehe mal ein Stück näher ran.»
Paul trat nach draußen, um zu telefonieren, und so blieb ich allein mit Viv zurück.
«Wissen Sie, was Toms Problem ist?»
«Zu viel Testosteron im Blut?», erwiderte ich, während ich beobachtete, wie er mit einer der Auszubildenden flirtete.
«Sie sollten wenigstens darüber nachdenken», sagte Viv, jetzt in ernsterem Ton.
«Der ganze Zeitaufwand, all die Kosten und Mühen für eine Bewerbung um den Titel des Kronanwalts … und wozu das Ganze? Zwei Drittel von uns werden abgelehnt.»
«Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.» Viv trank langsam einen Schluck Wein.
«Sie wissen doch, Francine, dass ich da eine Theorie habe, weshalb Frauen schlechter bezahlt werden als Männer?»
«Die da lautet?»
«Einfach, weil Frauen keine Gehaltserhöhung fordern.»
Ich schnaubte.
«Ich mache keine Witze. So was erlebe ich immer wieder. Männer glauben an ihre Brillanz – ob zu Recht oder nicht.»
Einige Sekunden lang schwieg sie, dann fragte sie: «Was hält Sie wirklich davon ab?»
«Leute wie Tom.»
«Lassen Sie seine Sprüche bloß nicht zu nah an sich ran», sagte sie und verdrehte die Augen.
«Nicht er persönlich. Das System», sagte ich leise und gab der Angst, der Paranoia Ausdruck, die mich begleitete, seit ich meine Anwaltszulassung bekommen hatte. «Sie können nicht leugnen, dass es total versnobt ist.»
«Die Dinge ändern sich», sagte Viv in diesem heiteren Ton einer Absolventin des Cheltenham Ladies’ College, der mich daran erinnerte, dass sie es im Grunde nicht verstand.
«Wie viele Kronanwälte gibt es, Viv, die nicht von einer Privatschule kommen? Wie viele Frauen haben den Titel, wie viele Nordengländer oder Vertreter ethnischer Minderheiten … Die Spitzenpositionen in unserem Beruf sind immer noch fest in den Händen weißer Männer der oberen Mittelschicht, die eine der Eliteunis besucht haben, genau wie Tom.»
«Ich dachte eigentlich, Sie würden es als Herausforderung betrachten», sagte sie, gerade als das Klingeln von Metall gegen Glas noch einmal mit mehr Nachdruck durch den Pub tönte.
«Alles, was Sie brauchen, ist ein richtig großer Fall. Einer, der die Wende bringt und dafür sorgt, dass man Sie beachtet.»
«Ein Fall, der mein Leben verändert», sagte ich leise.
«So was in der Art.» Viv lächelte beifällig, und dann wandten wir uns Charles zu, um seiner Ansprache zu lauschen.
Ich blieb nur auf ein Glas im Pen and Wig, dann schlenderte ich zurück zur Kanzlei. Ich hatte beschlossen, den langen Weg zu nehmen, durch das Labyrinth der stillen Seitengässchen, um eine Zigarette rauchen zu können. Es war noch nicht einmal zwei Uhr, doch es kam einem so vor, als würde der Tag sich schon wieder zurückziehen: Die Skelette der kahlen Bäume zeichneten sich vor dem zinngrauen Himmel ab wie Höhlengemälde, und die dunklen Wolken drückten auf die Dächer herab und tauchten die Stadt in winterliche Düsternis.
Kurz nach zwei war ich wieder zurück in unserem Bau, rechtzeitig für die Besprechung, die auf Viertel nach angesetzt war. Mir gefiel das Wort «Bau» für unsere Kanzlei, denn es passte zu der Gruppe von Anwälten, die bei Burgess Court untergebracht waren. Ich musste dabei an Dachse denken, ein Bild, das die juristische Zunft mehr oder weniger perfekt beschreibt: kluge, arbeitsame und sehr hellhäutige Männer in langen, schwarzen Roben, mit Perücken aus weißem Rosshaar – auch wenn in unserer Kanzlei etwas mehr Diversität herrschte, was vermutlich auch der Grund dafür war, dass sie mich in ihre Reihen aufgenommen hatten: eine Frau aus Nordengland mit der Narbe von einem Nasenpiercing, die eine Gesamtschule besucht hatte.
Die Kanzlei befasste sich hauptsächlich mit Familienrecht, dazu ein bisschen Strafrecht zur Abrundung der juristischen Mischung. Anfangs betreute ich zwei Spezialgebiete: Ehescheidungen, bei denen es um viel Geld ging, und Fälle, bei denen Kinder mitbetroffen waren. Letzteres hatte ich für eine befriedigende und heldenmütige Aufgabe gehalten, doch die Realität bestand aus schwierigen und herzzerreißenden Fällen. Deshalb konzentrierte ich mich inzwischen auf Scheidungen in vermögenden Kreisen, aus dem ganz einfachen und völlig oberflächlichen Grund, dass die Arbeit in der Regel weniger anstrengend war und meine Mandanten, ganz egal, wie lang die Sache sich hinzog, genug Geld hatten, um die Gebühren zu begleichen. Zwar ging ich nicht mit dem Gedanken nach Hause, die Welt verändert zu haben, aber ich wusste, dass ich das, was ich tat, gut machte, und außerdem konnte ich davon die Raten für eine Maisonettewohnung im zentrumsnahen Londoner Norden abstottern.
David Gilbert, der Rechtsberater, der mich beauftragt hatte, wartete bereits am Empfang auf mich. Er trug einen schweren, marineblauen Wollmantel gegen die Kälte, doch sein Kopf war kahl und glänzte wie ein braunes Bioei.
«Gerade habe ich Vivienne getroffen», sagte er und stand auf, um mir einen Kuss auf die kalte Wange zu geben. «Anscheinend hat die Kanzlei einen Ausflug in den Pub gemacht, um den Geburtstag einer gewissen Person zu feiern, und Sie haben mir nichts davon gesagt.»
«Wären Sie denn gekommen, mit einer Ladung Geschenke im Gepäck?», hielt ich ihm vor.
«Zumindest hätte ich Champagner mitgebracht. Alles Gute jedenfalls. Wie fühlen Sie sich?»
«Älter. Weiser.»
«Mr. Joy wird auch gleich da sein.»
«Ich muss nur noch mal schnell hoch. Wollen Sie schon vorgehen?», fragte ich und zeigte in Richtung Besprechungszimmer. «Helen kann Mr. Joy dann zu uns führen, wenn er eintrifft.»
Ich stieg die Treppen zu meinem Büro hoch, einem kleinen Kabuff unter dem Dach ganz oben im Gebäude. Es war kaum mehr als eine Besenkammer, aber wenigstens musste ich es mit niemandem teilen, eine Seltenheit in der Kanzlei.
Rasch raffte ich die Akten zu dem Fall zusammen, griff nach einem Stift und fuhr mir mit der Zunge über die Zähne, wobei ich wünschte, ich hätte noch ein Päckchen Pfefferminz auf dem Schreibtisch, um den faden Anflug von Alkohol und Zigaretten in meinem Atem loszuwerden. Als ich wieder nach unten kam, war Besprechungszimmer zwei wie bei einem Mandantenbesuch üblich hergerichtet, mit einem Tablett voller Sandwiches und einem kleinen Teller mit Keksen in der Mitte des Konferenztisches. Die Pumpthermoskanne mit Kaffee, die ich noch nie hatte bedienen können, thronte unheilverkündend auf einer Kommode bei der Tür, daneben kleine Flaschen mit Mineralwasser.
David telefonierte gerade mit seinem Handy. Er blickte auf und bedeutete mir, dass er gleich so weit sei.
«Wasser?», fragte ich mit einer Geste auf die Getränke.
«Kaffee», flüsterte er und zeigte auf die Kekse.
Ich nahm eine Tasse, stellte mich entschlossen vor die Thermoskanne und drückte fest auf den Deckel. Nichts tat sich, weshalb ich noch einmal drückte, fester diesmal, worauf mir heißer Kaffee über den Handrücken spritzte.
Als die heiße Flüssigkeit auf meine Haut traf, zuckte ich vor Schmerz zusammen.
«Alles in Ordnung?»
Jemand reichte mir ein Papiertaschentuch, und ich tupfte mir damit die verbrühte Hand ab.
«Ich hasse diese Dinger», murmelte ich. «Wir sollten eine Espressomaschine anschaffen.»
«Oder vielleicht einfach nur einen Wasserkocher.»
Ich blickte auf, und vor mir stand ein Mann im Anzug, der mich eingehend betrachtete und kurz von dem brennenden Schmerz auf meiner Haut ablenkte.
David klappte sein Handy zu und drehte sich zu uns um.
«Kennen Sie beide sich bereits?»
«Nein», sagte ich hastig.
«Martin Joy – Francine Day. Sie hat heute Geburtstag. Vielleicht können wir ja ein Streichholz in einen dieser leckeren Kekse stecken und ihr ein Ständchen singen.»
«Herzlichen Glückwunsch», sagte Martin, ohne den Blick aus seinen grünen Augen von mir abzuwenden. «Sie sollten das lieber unter kaltes Wasser halten.»
«Es geht schon wieder», sagte ich, drehte mich um und warf das Papiertaschentuch in den Mülleimer.
Als ich mich zurück zum Tisch wandte, hatte Martin bereits zwei Tassen Kaffee eingeschenkt. Er setzte sich neben David, mir gegenüber, was mir Gelegenheit gab, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er war nicht besonders groß, besaß jedoch eine Präsenz, die den gesamten Raum ausfüllte, etwas, das mir bei sehr erfolgreichen Menschen schon häufig aufgefallen war. Sein Anzug war elegant, die Krawatte sorgfältig zu einem Windsorknoten gebunden. Er war um die vierzig, doch wie alt genau, hätte ich nicht sagen können. Kein Anzeichen von Grau in seinem dunklen Haar, allerdings schimmerten im grellen Licht des Besprechungszimmers silberne Bartstoppeln auf seinem Kinn. Die Brauen lagen glatt und gerade über moosgrünen Augen. Zwei streng in die Stirn gegrabene Falten verliehen seinem Gesicht eine Intensität, die erahnen ließ, dass er ein knallharter Verhandlungspartner sein musste.
Ich senkte den Blick und sammelte meine Gedanken. Ich war nervös, aber das war ich eigentlich immer, wenn ich mich das erste Mal mit einem Mandanten traf. Mir war stets bewusst, dass ich diejenigen, die meine Gebühren bezahlten, zufriedenstellen musste. Und es war immer schwierig, mit Leuten zu verhandeln, die sich selbst für zäher und schlauer hielten als ihr Gegenüber.
«Sie haben die Akte vermutlich schon gelesen», begann David. «Martin ist in diesem Fall der Antragsgegner. Ich habe Sie ihm als Prozessanwältin empfohlen.»
«Somit sind Sie diejenige, die mich vor Gericht vertreten wird», warf Martin ein und sah mir direkt in die Augen.
«Bestimmt hat David Ihnen schon erklärt, dass niemand vor Gericht ziehen will», sagte ich und nippte an meinem Kaffee.
«Abgesehen von den Anwälten», gab Martin ohne das geringste Zögern zurück.
Ich wusste, wie so etwas ablief. Ich hatte diese Situation schon oft genug erlebt und fühlte mich nicht beleidigt. Mandanten in familiären Rechtsstreitigkeiten neigten zu Ärger und Frust, selbst – besonders – ihren Anwälten gegenüber, weshalb sie bei Erstbesprechungen häufig angespannt und reizbar waren. Jetzt wünschte ich, er würde mir nicht gegenübersitzen – eine Sitzordnung, die ich nicht leiden konnte. Ich betonte lieber, dass wir alle auf derselben Seite waren.
«Tatsächlich bin ich Mitglied einer Organisation namens Resolution. Wir bevorzugen einen möglichst konfliktfreien Ansatz bei Ehestreitigkeiten, vermeiden es, vor Gericht zu ziehen, wo immer es geht, und streben einvernehmliche rechtliche Lösungen an.»
«Einvernehmliche rechtliche Lösungen», wiederholte er langsam. Ich war mir nicht sicher, ob er sich, indem er die hölzerne Juristensprache benutzte, über mich lustig machen wollte. Mich einzuschätzen versuchte er jedenfalls zweifellos. Die Frau. Die Nordengländerin. Die Junioranwältin.
Nun beugte er sich nach vorn und blickte mich an.
«Ich möchte nicht, dass die Angelegenheit kompliziert wird, Miss Day. Ich bin kein uneinsichtiger Mensch; ich möchte, dass die Sache so fair vonstattengeht wie möglich, aber ich kann mich nun einmal nicht einfach zurücklehnen und zulassen, dass meine Frau sich alles nimmt, was sie will.»
«Ich fürchte nur, was ‹fair› ist und was nicht, obliegt weder Ihrer Entscheidung noch der von Mrs. Joy», sagte ich behutsam. «Dafür gibt es Gerichte, Richter, die Rechtsprechung …»
Dann änderte ich meinen Kurs: «Sind denn ihre Forderungen schon bekannt?» Zwar wusste ich bereits einiges über den Fall, nachdem ich ihn am Vorabend zwei Stunden lang durchgeackert hatte. Doch es war immer besser, so etwas direkt aus dem Mund des Betroffenen zu hören.
«Meine Frau will die Hälfte von allem. Den Häusern, dem Geld, dem Unternehmen … und dazu einen Anteil an den künftigen Einnahmen.»
«Was machen Sie beruflich?», fragte ich kurzum.
«Ich leite einen Hedgefonds.»
Ich nickte, als wüsste ich, was genau ich darunter zu verstehen hätte.
«Wir machen uns Marktanomalien zunutze.»
«Sie sind also ein Spieler?», fragte ich.
«Es geht um Finanzinvestitionen.»
«Und haben Sie Erfolg damit?»
«Ja. Großen.»
Das erinnerte mich an das, was Vivienne McKenzie gesagt hatte. Über Männer und ihr überbordendes Selbstvertrauen, das sie glauben ließ, sie wären die Könige der Welt.
«Wir haben zwar nur dreißig Angestellte, aber es ist ein überaus profitables Geschäft. Ich habe das Unternehmen mit einem Partner gegründet, Alex Cole. Mir gehören sechzig Prozent, ihm gehört der Rest. Der Großteil meines Vermögens besteht in meinen Anteilen am Unternehmen. Meine Frau möchte natürlich, dass der Wert meiner Anteile so hoch wie möglich angesetzt wird. Sie würde eine Auszahlung den Unternehmensanteilen vorziehen.»
«Wann haben Sie das Unternehmen gegründet?», fragte ich, während ich eifrig mitschrieb.
«Vor fünfzehn Jahren.»
«Vor Ihrer Hochzeit also», murmelte ich. Der Akte zufolge waren die beiden seit elf Jahren verheiratet.
«Ich schlage vor, Formular E mal zusammen durchzugehen», sagte David Gilbert.
Ich nickte. Ich hatte die Bögen zur finanziellen Selbstauskunft sowohl von Martin als auch von seiner Frau bereits überflogen. Seine ähnelte auffällig den Dutzenden anderer Vermögensauskünfte, die ich im Laufe der Jahre so gesehen hatte. Auf der ganzen Welt verstreute Immobilien, Autos, Kunstwerke und Bankkonten im Ausland.
Jetzt ließ ich meinen Finger über das Formular wandern, das seine Frau abgegeben hatte.
Donna Joy, vierunddreißig Jahre alt und mit Wohnsitz in Chelsea, hatte die typischen hohen Ausgaben und geringen eigenen Einnahmen aufgelistet, die für eine Frau ihrer gesellschaftlichen Stellung ganz normal zu sein schienen.
Das ging seitenweise so, doch mir stachen sofort die bemerkenswerteren Einzelheiten ins Auge.
«Jährliche Ausgaben für Mittagessen: 24000 Pfund», brummte ich laut.
«Das ist ’ne Menge Sushi», sagte Martin.
Ich schaute auf, und unsere Blicke trafen sich. Ich hatte genau dasselbe gedacht.
«Sie behauptet, erwerbsunfähig zu sein. Psychische Instabilität …», bemerkte ich.
Martin gab ein leises Schnauben von sich.
«War sie je erwerbstätig?»
«Als wir uns kennenlernten, war sie Geschäftsführerin einer Modeboutique, aber als wir dann heirateten, kündigte sie. Sie sagte, sie wolle sich weiterbilden, also zahlte ich ihr einen Haufen Kurse. Malkurse hauptsächlich. Ich richtete ihr sogar ein Atelier ein. Dort arbeitet sie, aber wegen der Scheidung wird sie es vermutlich nicht als Erwerbstätigkeit bezeichnen.»
«Verkauft sie ihre Sachen denn?»
«Ein paar. Um ehrlich zu sein, es ist eher ein Prestigeprojekt, aber ihr macht es Spaß. Ihre Bilder sind ziemlich gut.»
Seine Züge wurden weicher, und ich fragte mich, wie sie wohl war. Eine vage Vorstellung hatte ich inzwischen von ihr: sehr attraktiv, ein bisschen unkonventionell … und bestimmt brauchte sie jede Menge Aufmerksamkeit.
«Und das, was hier aufgelistet ist – ist das alles?»
«Sie meinen, ob ich Ihnen etwas verheimliche?»
«Ich muss über alles Bescheid wissen. Rentenzahlungen, Bankkonten im Ausland, Aktienbesitz, Stiftungen. Davon abgesehen verlangt Ihre Frau eine gerichtliche Überprüfung Ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse.»
«Und, was halten Sie davon?», fragte Martin schließlich. Mir fiel auf, wie weiß sein Hemd war.
«Ihre Frau ist noch jung, allerdings hat sie während Ihrer Ehe einen sehr hohen Lebensstandard genossen. Ihre Ehe war von einer, wie wir es nennen, mittleren Dauer. Wären Sie über fünfzehn Jahre verheiratet gewesen, hätte Ihre Frau klarer definierte Ansprüche geltend machen können, bei einer Ehedauer unter sechs Jahren sind die Ansprüche weniger klar definiert.»
«Wir befinden uns also in einer Grauzone, wie das Gesetz sie liebt.»
«Das Unterhaltsrecht ist in diesem Land für den finanziell schwächeren Ehepartner recht großzügig. In der Regel wird zunächst davon ausgegangen, dass Gleichheit herrschen sollte. Wir können jedoch argumentieren, dass Ihre Frau im Grunde nichts zur Vermögensbildung beigetragen hat und Ihr Unternehmen einen außerehelichen Vermögenswert darstellt.» Ich überflog die Akte, um etwas nachzuprüfen. «Sie haben keine Kinder. Das ist hilfreich.»
Ich blickte zu ihm hoch, und mir wurde klar, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Womöglich war die Beziehung gerade daran zerbrochen, dass sie keine Familie hatten gründen können. Das zählte zu den Dingen, die ich als Scheidungsanwältin nur selten erfuhr. Ich wusste, dass sich die Leute scheiden lassen wollten, und beriet sie, wie sie es am besten anstellen sollten. Aber ich wusste nie genau, weshalb, zumindest nicht über grobe Andeutungen wie Untreue oder unangemessenes Verhalten hinaus. Ich fand nie so ganz heraus, weshalb zwei Menschen, die sich, in manchen Fällen zumindest, einmal aufrichtig geliebt hatten, einander eines Tages hassten.
«Wir wollen unbedingt einen sauberen und eindeutigen Vergleich erreichen», sagte David.
«Auf jeden Fall.» Ich nickte.
«Was glauben Sie, welche Aufteilung kann ich realistischerweise erwarten?»
Ich konnte es nicht leiden, auf eine Zahl festgenagelt zu werden, doch Martin Joy gehörte zu den Mandanten, die auf einer Antwort bestehen würden.
«Wir sollten mit einem Angebot von siebzig zu dreißig ins Rennen gehen und dann weitersehen.»
Ich legte den Stift beiseite und fühlte mich plötzlich erschöpft, ausgelaugt. Ich wünschte, ich hätte den Wein zur Mittagszeit nicht angerührt.
Martin schüttelte den Kopf und starrte auf den Tisch. Ich hatte gedacht, er würde sich darüber freuen, dass wir eine Fünfzig-fünfzig-Aufteilung vielleicht vermeiden konnten, doch er sah vollkommen verstört aus.
«Was passiert als Nächstes?»
«Die erste Anhörung vor Gericht ist in zehn Tagen.»
«Wird da schon etwas entschieden?»
Die ganze Besprechung hindurch hatte er sehr gefasst gewirkt, aber nun zeigte er langsam erste Anzeichen von Nervosität.
Ich schüttelte den Kopf.
«Wie der Name schon sagt: Da werden beide Seiten erst einmal angehört.»
«Gut», meinte er gezwungen.
Draußen war es mittlerweile dunkel. Er stand auf, um zu gehen, und zog die Manschetten unter den Sakkoärmeln hervor. Erst die eine, dann die andere. Schließlich blickte er mich an.
«Wir sehen uns dort, Miss Day. Ich freue mich schon.»
Ich reichte ihm die Hand, und als seine Finger sich um meine schlossen, wurde mir klar, dass auch ich mich darauf freute, ihn wiederzusehen.
Für den Weg von der Arbeit nach Hause nahm ich gern den Bus, nicht nur, weil ich leicht klaustrophobisch veranlagt war und die U-Bahn hasste. Mit der Linie 19 konnte ich von Bloomsbury bis fast vor meine Haustür in Islington fahren. Das war nicht unbedingt der schnellste Weg, um zur Arbeit und wieder nach Hause zu kommen, aber es war meine Lieblingsroute. Der kurze Spaziergang zur Bushaltestelle half, den Kopf wieder frei zu kriegen: die Fleet Street und den Kingsway hinunter, vorbei an den roten Telefonzellen vor dem Old Bailey und der Kirche von St.Clement Danes, vor allem, wenn die schwermütigen Glocken die Melodie des alten Kinderlieds Oranges and Lemons schlugen. Und wenn ich dann im Bus saß, genoss ich die Aussicht und die Geräusche der Stadt. Als ich damals nach London gezogen war, hatte ich ganze Tage damit verbracht, mit der Linie 19 zu fahren und, das Gesicht gegen die Scheiben gepresst, die Stadt vorüberziehen zu sehen: Sadler’s Wells, die funkelnden Lichter des Ritz, die Luxusläden auf der Sloane Street, und dann hinunter zum Cheyne Walk und zur Battersea Bridge. Es war wie ein Konzentrat des Besten, was die Stadt zu bieten hatte, alles zum Preis einer Monatskarte. Es war das London aus meinen Kindheitsträumen.
Als ich mich setzte und das Kondenswasser mit den Fingerspitzen von der Scheibe wischte, fragte ich mich, ob ich, was meinen Geburtstag betraf, mehr Aufwand hätte betreiben sollen. Selbst David Gilbert, der größte Workaholic, der mir je begegnet war, hatte angenommen, ich würde zur Feier des Tages etwas trinken gehen. Aber ich sah keinen Grund, weshalb ich meinen gewohnten Wochenablauf unterbrechen sollte, bloß weil ich wieder ein Jahr älter geworden war. Eins der Risiken in meinem Beruf war der Mangel an Sozialkontakten. Natürlich gab es rund um Middle Temple genügend Pubs und Leute, mit denen man sich auf einen Drink verabreden konnte, aber wenn man seinen Job ordentlich machen wollte, musste man eben Opfer bringen.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und rief beim Chinesen bei mir um die Ecke an. Weil ich mich nicht zwischen Rindfleisch mit frischem Basilikum und Huhn mit gelben Bohnen entscheiden konnte, bestellte ich kurzerhand beides; dazu als Beilage ein paar Frühlingsrollen und gebratene Nudeln. Sei’s drum. Immerhin hatte ich Geburtstag.
Nachdem ich aufgelegt hatte, dachte ich an mein Gespräch mit Viv McKenzie über die Bewerbung um den Titel einer Kronanwältin und überlegte, wie es wohl wäre, wenn aus mir die Kronanwältin Francine Day werden würde.
In den vergangenen fünf Jahren hatte es kaum Veränderungen in meinem Leben gegeben. Seit ich Ende zwanzig war, wohnte ich in derselben Wohnung in einer zweifelhaften Gegend am Rand von Islington und hatte es mir in einer festgelegten Routine bequem gemacht. Jede Woche ging ich an denselben zwei Abenden ins Fitnessstudio und fuhr jeden August für zehn Tage in den Urlaub nach Italien. Mein langes Singledasein war nur durch zwei kurzlebige Affären unterbrochen worden. Mit Freunden traf ich mich seltener, als ich sollte. Sogar die alltäglichen Kleinigkeiten in meinem Leben waren auf befriedigend vertraute Weise eingespielt: Auf dem Weg zur Arbeit kaufte ich mir im immer gleichen Starbucks den immer gleichen Kaffee, und vor dem U-Bahn-Eingang Holborn beim immer gleichen Rumänen ein Exemplar der Obdachlosenzeitung. Ein Teil von mir mochte diese beruhigenden Gewohnheiten und sah keinen Grund, etwas am Status quo zu ändern.
Als ich durch die Wassertropfen auf der kalten Scheibe spähte, merkte ich, dass wir schon auf der Highbury Lane waren. Ich stupste den schnarchenden Pendler neben mir an und sprang aus dem Bus, um den restlichen Heimweg über die Straße, die runter nach Dalston führte, zu Fuß zu gehen.
Entnervt stöhnte ich auf, als ich mich meiner Wohnung näherte und sah, wie der Motorroller vom Lieferservice vor dem Haus abbremste und anhielt. Ich verfiel in einen Laufschritt, doch der Gehsteig war nass, und beinahe wäre ich ausgerutscht. Leise fluchend blieb ich stehen und angelte in meiner Tasche nach dem Geldbeutel, worauf Fahrkarten und Bonbonpapierchen auf den Boden segelten wie von einem Baum gewehte Blüten. Ich bückte mich, um den Abfall aufzusammeln, aber da verschwanden die Rücklichter des Motorrollers auch schon wieder in der Dunkelheit.
Bis ich die Haustür erreicht hatte, war ich völlig außer Atem. Im Eingang stand eine Gestalt mit einer weißen Papiertüte voller Pappkartons in der Hand.
«Du schuldest mir dreiundzwanzig Pfund», sagte mein Nachbar Pete Carroll, ein Doktorand am Imperial College, der seit achtzehn Monaten im Erdgeschoss wohnte.
«Hast du auch Trinkgeld gegeben?», fragte ich beunruhigt.
«Ich bin noch in der Ausbildung», meinte er mit gespielter Missbilligung.
Ich erwog, dem Lieferanten hinterherzulaufen. Immerhin war es mein Stamm-Chinese. Dort bekam ich Krabbenchips umsonst, und ich wollte die Leute nicht vor den Kopf stoßen oder sie glauben lassen, ich wäre knapp bei Kasse.
«Ich hab erst vor einer Viertelstunde dort angerufen. Normalerweise brauchen die ewig.»
Ich gab Pete einen Zwanzig-Pfund-Schein und einen Fünfer obendrauf, trat in unseren schmuddeligen Hauseingang, griff nach meiner Post und steckte sie mir in die Tasche.
«Chinesisches Essen an einem Dienstagabend ist aber schon ein bisschen dekadent.» Pete feixte und verschränkte ungelenk die Arme vor der Brust.
«Ich habe heute Geburtstag», sagte ich, ohne nachzudenken.
«Und ich habe mich schon gefragt, was die ganzen bunten Umschläge da zwischen den Werbesendungen machen.» Dann fügte er hinzu: «Gehst du denn nicht feiern?»
«Es ist mitten unter der Woche. Ich hab noch zu arbeiten.»
«Spaßbremse.»
«Ich habe morgen einen Gerichtstermin und muss mich vorbereiten.»
«Wie langweilig. Komm, ich geh mit dir runter in den Pub.»
«Nein danke, Pete. Ich habe wirklich zu tun. Bei mir gibt’s heute Abend nur Arbeit und Frühlingsrollen», sagte ich und hielt die Tüte mit dem Essen hoch. «Ich weiß, es kommt dir wahrscheinlich komisch vor, dass ich auf diese Art meinen Geburtstag feiere, aber so ist das nun mal, wenn man auf die vierzig zugeht.»
«Ein ‹Nein› akzeptiere ich aber nicht», erwiderte er mit heiligem Ernst in der Stimme, der mir klarmachte, dass er meinte, was er sagte.
«Vermutlich habe ich sowieso zu viel chinesisches Essen bestellt. Wenn du was zum Trinken hast, steuere ich die gebratenen Nudeln bei. Aber in einer Stunde muss ich am Schreibtisch sitzen.»
«Ich bin in einer Minute oben bei dir», meinte er grinsend.
Pete verschwand in seiner Erdgeschosswohnung, und ich ging die Treppe hoch.
Ich ließ die Tür einen Spalt weit offen stehen, hängte den Mantel an die Garderobe und stellte die Tasche im Flur ab. Dann schlüpfte ich aus den Schuhen, genoss das flauschige Gefühl des Teppichs unter den Füßen und machte den obersten Blusenknopf auf.
Meine Wohnung war mein Heiligtum. Ein kühler, stiller, in sanften Farben gestrichener Hafen, ideal für eine Einzelperson, und ich bereute prompt, dass ich jemanden eingeladen hatte.
Doch dann fügte ich mich in meine Rolle als Gastgeberin und nahm zwei Teller aus dem Küchenschrank, gerade als Pete mit einem Viererpack Bierdosen im Flur auftauchte.
«Gib mir mal ein Glas. Du gehörst bestimmt nicht zu den Mädels, die direkt aus der Dose trinken, nehme ich an.»
Er schenkte mir ein schäumendes Bier ein und machte sich selbst eine Dose auf, während ich das chinesische Essen ins Wohnzimmer trug.
«Dann bist du jetzt also fast vierzig», sagte er und hockte sich neben mich aufs Sofa. «Siehst gar nicht so aus.»
«Ich bin siebenunddreißig», antwortete ich, und mir wurde klar, wie wenig Pete und ich eigentlich voneinander wussten. Dabei wechselten wir vermutlich mehr Worte miteinander als die meisten Nachbarn in London: Wir begegneten uns an der Bushaltestelle, er half mir bereitwillig bei Problemen mit dem Laptop oder dem Sicherungskasten. Einmal letzten Sommer, als ich gerade an unserem Pub vorbeikam, saß er draußen und trank ein Bier. Er lud mich ein, mich dazuzusetzen, was ich auch tat, denn es war heiß und sonnig, und ich hatte Durst vom Sport. Als einen Freund betrachtete ich ihn allerdings nicht.
«Übrigens habe ich gestern Post von meinem Vermieter bekommen», sagte Pete, während er den Aludeckel von der Schachtel mit den gebratenen Nudeln schälte. «Er hat angekündigt, die Miete zu erhöhen, weil das Dach erneuert werden muss. Geht davon aus, dass die Eigentümer jeder fünfzehn Riesen on top zahlen müssen.»
«Verflucht, davon weiß ich ja noch gar nichts.»
«Ach komm, für fünfzehn Riesen muss so eine noble Kanzleianwältin wie du doch höchstens einen Tag arbeiten.» Er lächelte.
«Schön wär’s.»
«Gib’s zu, du bist stinkreich.»
«Bin ich nicht, Ehrenwort!» Ich schüttelte den Kopf. «Ich bin Junioranwältin und habe dank unbezahlter Abrechnungen Schulden in Höhe von mehreren tausend Pfund.»
«Du kriegst dein Geld schon noch. Die Banken wissen, dass du kreditwürdig bist. Und dann bist du reich.»
Reich, höhnte ich im Stillen. Meine Familie hielt mich für reich, aber das war alles relativ, und in London, wo ich ständig mit Rechtsanwälten und Geschäftsleuten wie Martin Joy zu tun hatte, stellte meine finanzielle Situation sich aus einem anderen Blickwinkel dar. Vielleicht würde sich daran ja etwas ändern, wenn ich Kronanwältin wäre, überlegte ich. Dann würde ich die dicken, fetten Fälle an Land ziehen, und mein Stundensatz würde sich verdoppeln, und eines Tages wäre ich dann vielleicht sogar in der Lage, mir so ein klassizistisches Haus in Canonbury zu leisten – eins von denen, derentwegen ich ursprünglich in den Norden Londons gezogen war und an denen ich immer noch gern vorbeiging und träumte.
Jetzt aber grübelte ich über die 15000 Pfund nach, die ich von irgendwoher auftreiben musste, und trank voller Selbstmitleid einen großen Schluck Bier, obwohl ich wusste, dass ich das besser nicht tun sollte.
«Weißt du was, heute habe ich erfahren, dass es Frauen gibt, die £ 24000 im Jahr für Mittagessen ausgeben», sagte ich und tunkte eine Frühlingsrolle in die Sojasoße.
Pete schüttelte den Kopf. «Und wegen solcher Leute machst du an deinem Geburtstag abends keinen drauf.»
Er lachte, und ich wusste, er hatte nicht ganz unrecht.
«Bei dieser speziellen Scheidung vertrete ich den Ehemann. Aber es wird dich freuen zu hören, dass es in dem Fall morgen, auf den ich mich jetzt eigentlich vorbereiten sollte, um edlere Dinge geht.»
«Noch so ein armer reicher Ehemann, der abgezockt werden soll?», fragte er grinsend.
«Eigentlich nicht. Mein Mandant steht kurz davor, das Umgangsrecht mit seinen Kindern zu verlieren. Er ist ein ganz normaler Kerl, der seine Frau mit einem andern im Bett erwischt hat.»
«So sind die Menschen», sagte Pete gelassen.
Ich nickte. «Ich wette, du bist froh, dass du es den ganzen Tag nur mit Computern zu tun hast. Gefühllosen Gegenständen.»
«Noch.»
«Noch?»
«Folgt man den gängigen Theorien darüber, wie das Bewusstsein in unseren Gehirnen entsteht, wird es wohl niemals empfindungsfähige Computer geben. Andere Ansätze zur künstlichen Intelligenz legen allerdings nahe, dass der Tag kommen wird, an dem Computer die Menschen imitieren können.»
«Was für ein gruseliger Gedanke. Die werden uns noch alle überflüssig machen, oder?»
«Manche Berufe sind in der Tat zukunftssicherer als andere.»
«Wie steht es mit Scheidungsanwälten?»
«Maschinen agieren logisch. Liebe und Beziehungen sind alles andere als das. Ich würde mal sagen, dass du dir in absehbarer Zukunft keine Sorgen zu machen brauchst.»
«Da bin ich aber erleichtert, vor allem wegen des neuen Dachs, das ich noch bezahlen muss.»
Ein langes Schweigen entstand.
«Ich sollte mich jetzt an die Arbeit machen.»
Ich schob die Essensreste zusammen und trug die Teller in die Küche. Als ich mich umdrehte, stand Pete in der Tür. Er machte einen Schritt auf mich zu und legte seine Hand um mein Kinn. Überrascht rang ich nach Luft und kam nicht einmal auf den Gedanken, dass er das als Einladung missverstehen könnte, da pressten seine Lippen sich bereits auf meine. Ich konnte den Ingwer und die gelben Bohnen in seinem Atem schmecken, und sein Speichel lief mir über die Wange.
«Pete, wir sind nur Freunde. Und du bist betrunken», wehrte ich ab und wich zurück.
«Manchmal muss man sich betrinken», sagte er.
Ich machte einen Schritt weg von ihm. Nicht dass ich behaupten konnte, sein Annäherungsversuch wäre völlig überraschend gekommen. Die Art, wie er draußen mit dem chinesischen Essen auf mich gelauert hatte, hätte mich warnen müssen.